Ulrich Pfister (Hg.)
Kulturen des
Entscheidens
Narrative – Praktiken – Ressourcen
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Kulturen des Entscheidens
Herausgegeben von
Jan Keupp, Ulrich Pfister, Michael Quante,
Barbara Stollberg-Rilinger und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 1
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Kulturen des Entscheidens
Narrative – Praktiken – Ressourcen
Herausgegeben von
Ulrich Pfister
Mit 11 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Dieser Band ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1150 »Kulturen des Entscheidens«
entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen
bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Bartholomeus van Bassen: The Ridderzaal of the Binnenhof during
the Great Assembly of 1651, ca. 1651. Rijksmuseum Amsterdam | wikimedia Commons
Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2626-4498
ISBN 978-3-647-35689-1
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Ulrich Pfister
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Entscheiden beobachten
Michael Quante und Tim Rojek
Entscheidungen als Vollzug und im Bericht.
Innen- und Außenansichten praktischer Vernunft
. . . . . . . . . . . . .
37
Robert Schmidt
Entscheiden als retroaktives Regelfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
Narrative und Reflexionen
Martina Wagner-Egelhaaf
Trauerspiel und Autobiographie.
Handeln und Entscheiden bei Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Isabel Heinemann, Sarah Nienhaus, Mrinal Pande
und Katherin Wagenknecht
Heirat, Hausbau, Kinder.
Narrationen von Familienentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Praktiken des Entscheidens
Helene Basu
Praktiken des Finanzmarkts.
Ressourcen des Entscheidens in ethnografischer und
populärer Literatur über das Börsenhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
André Krischer
Die Co-Produzenten der Entscheidungen.
Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen
des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
6
Inhalt
Alexander Durben, Matthias Friedmann, Laura-Marie Krampe,
Benedikt Nientied und André Stappert
Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen
des Entscheidens (ca. 1500–1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Gewalt, Gunst und Normen als Ressourcen des Entscheidens
Birgit Enzmann, Silke Hensel und Stephan Ruderer
Von ›alternativloser Gewalt‹ bis zum Ausdruck
des ›allgemeinen Volkswillens‹.
Gewalt als Ressource in Entscheidensprozessen
im postkolonialen Argentinien und Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Barbara Stollberg-Rilinger
Gunst als Ressource?
Personalentscheidungen am Wiener Hof des 18. Jahrhunderts . . . . . . . 230
Maximiliane Berger, Clara Günzl und Nicola Kramp-Seidel
Normen und Entscheiden.
Bemerkungen zu einem problematischen Verhältnis . . . . . . . . . . . . 248
Experten
Michael Grünbart
Nutzbringende Ressourcen bei kaiserlichem Entscheiden in Byzanz . . . 269
Stefanos Dimitriadis, Florin Filimon, Konstantin Maier,
Sebastian Rothe und Sita Steckel
Expertenentscheidungen in der Vormoderne.
Politisierung von Expertise und Konkurrenz
der Experten in politischen Entscheidungsprozessen
des lateinischen und byzantinischen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . 287
Claudia Roesch
Experten in der Moderne am Beispiel des reproduktiven
Entscheidens in den 1960er bis 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . 314
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
7
Inhalt
Information und Planung in formalen Entscheidungsverfahren
Constanze Sieger und Felix Gräfenberg
Information als Ressource des Entscheidens
in der Moderne (1780–1930).
Entwicklungen und Konstellationen in preußischen Zentralbehörden
und westfälischen Lokalverwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Stefan Lehr
Volkswirtschaftliches Planen im Staatssozialismus.
Die Wirtschaftspläne in der sozialistischen Tschechoslowakei (1945–1989)
356
Matthias Glomb
Verwissenschaftlichte Politik?
Planung und Entscheidung in der bundesrepublikanischen
Bildungspolitik der 1960er und frühen 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . 371
Schlusskommentar
Uwe Schimank
Kulturelles am Entscheiden.
Ein Kommentar aus soziologischer Perspektive
. . . . . . . . . . . . . . . 387
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Vorwort
Der vorliegende Aufsatzband basiert auf Beiträgen zu einer Tagung, die der
SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« am 24.–26. Mai 2017 zum Thema »Ressourcen des Entscheidens« durchgeführt hat. Wir danken der DFG sowohl für
die Förderung unserer Forschung als auch der Tagung und des gegenwärtigen
Bandes. Für die sorgfältige Redaktion des Bandes sei Paul-Simon Ruhmann
herzlich gedankt.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Ulrich Pfister
Einleitung
Der vorliegende Band ist aus einer Tagung des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« hervorgegangen. Er stellt erste Ergebnisse eines größeren Vorhabens
dar, nämlich Entscheiden als genuinen Gegenstand der historisch und vergleichend ausgerichteten Geistes- und Kulturwissenschaften zu etablieren. Die
hier versammelten Beiträge stammen dementsprechend aus einem breiten interdisziplinären Feld. Neben der Geschichtswissenschaft, der die größte Gruppe der
AutorInnen zuzurechnen ist, sind die Germanistik, die Judaistik, die Ethnologie,
die Volkskunde, die Philosophie sowie die Soziologie beteiligt. Zwei an den Anfang gestellte Beiträge widmen sich der grundlegenden Frage, wie Entscheiden
aus einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden
kann. Die empirischen Studien erstrecken sich chronologisch vom byzantinischen und lateinischen Mittelalter bis zur Gegenwart, inhaltlich beziehen sie
sich unter anderem auf Entscheiden im Zusammenhang mit Lebensereignissen,
Gerichtsverfahren sowie mit der Vergabe von Ämtern. Eine Reihe von Beiträgen widmet sich schließlich dem Entscheiden von Herrschern beziehungsweise dem Entscheiden in Herrschaftsverbänden und modernen politischen
Gemeinschaften.
Im Folgenden werden zunächst einige für die Analyse von Kulturen des Entscheidens nützliche Begriffe entwickelt und in Beziehung zur herkömmlichen
Entscheidungsforschung gesetzt. Die weiteren Abschnitte wenden sich dann den
Schwerpunkten der einzelnen Beiträge dieses Bandes zu, nämlich den Narrativen
und den Praktiken des Entscheidens sowie schließlich verschiedenen Arten von
Ressourcen, die Akteure beim Entscheiden zum Einsatz bringen. Mit der Analyse dieser drei Gegenstände lassen sich erste Schneisen ins komplexe Thema der
Kulturen des Entscheidens schlagen. Mit den Narrativen wird Entscheiden auf
der Ebene der Sinnstiftungen, mit den Praktiken auf derjenigen der praktischen
Umgangsweisen und mit den Ressourcen auf der Ebene der Ermöglichungsbedingungen betrachtet. Zentrale Aspekte des Entscheidens als eines sozialen
Vollzugs lassen sich damit unter verschiedenen Perspektiven beleuchten; aus
der Zusammenschau der verschiedenen Beiträge ergeben sich erste Erkenntnisse über die Art und Weise, in der sich Kulturen des Entscheidens zwischen
verschiedenen sozialen Orten unterscheiden und wie sie sich im historischen
Wandel verändert haben.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
12
1.
U. Pfister
Entscheidung, Entscheiden und Kulturen des Entscheidens
Die meisten gängigen Ansätze der Entscheidungsforschung zielen darauf ab,
das Ergebnis von Entscheidungen zu erklären und damit deren Ursachen zu
ergründen. Sie unternehmen dies oft mit Hilfe formaler Modelle des Entscheidungshandelns. Ein klassischer Ansatz dieser Art ist die Theorie der rationalen
Entscheidung (rational choice), die ursprünglich vom vollständig informierten,
über eindeutige und stabile Präferenzen verfügenden nutzenmaximierenden
Akteur ausging. Spätere Varianten dieser Richtung haben dieses Grundmodell
in verschiedener Hinsicht modifiziert, insbesondere mit Hilfe des Konzepts der
begrenzten Rationalität und durch die Berücksichtigung der Entscheidung unter
Unsicherheit.1 Ein neuerer Ansatz kommt aus der empirischen Verhaltensforschung, in der Entscheidungen in Experimenten anhand der Beziehung zwischen
variablen, aber kontrollierten Bedingungen und der Handlungsweise der Probandinnen und Probanden untersucht werden. Heuristiken und verschiedene
Arten von Verzerrungen (biases) erweisen sich in dieser Sicht als Hauptbausteine für eine Theorie zur kausalen Erklärung von Entscheidungen verstanden
als Resultate.2
Die Analyse von Kulturen des Entscheidens zielt demgegenüber darauf ab,
Entscheiden als sozialen Prozess aus einer Perspektive der teilnehmend berichtenden Objektivierung zu beschreiben (s. Beitrag Quante / Rojek). Das Augenmerk richtet sich somit nicht auf die Entscheidung als Ergebnis des Entscheidens,
sondern auf den handlungsförmigen Prozess des Entscheidens.3 Dieser Perspektivenwechsel impliziert auch, dass man den Gegenstand, das Entscheiden, nicht
als selbstverständlich voraussetzt. Will man das Ergebnis von Entscheidungen
erklären, so sind Letztere immer bereits da oder werden – so in der Verhaltenspsychologie und der experimentellen Volkswirtschaftslehre – im Forschungsprozess selbst erzeugt. Möchte man hingegen das Entscheiden beobachten, so
muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass dieses nur eine Handlungsform
1 Gary Becker, The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, December 9, 1992,
<https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/1992/beckerlecture.pdf> (Stand: 19. März 2018); James S. Coleman, Foundations of Social Theory,
Cambridge, Mass. 1990; Dietmar Braun, Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft, Opladen 1999; Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt a. M. 2002.
2 Gerd Gigerenzer / Peter M. Todd, Simple Heuristics that Make us Smart, New York 1999;
Richard Thaler / Cass Sunstein, Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin
2009; Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012.
3 Allgemein hierzu und zum Folgenden s. Barbara Stollberg-Rilinger / André Krischer (Hg.),
Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in
der Vormoderne, Berlin 2010; Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, in:
German Historical Institute London. Annual Lectures 36 (2016), S. 1–51; Philip HoffmannRehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, erscheint in: Zeitschrift
für Historische Forschung 2018, hier Abschnitt I.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
13
unter mehreren darstellt. Entscheiden ist somit nicht selbstverständlich, sondern
voraussetzungsvoll, und die Frage, ob Akteure in einer bestimmten Situation
entscheidensförmig handeln, stellt die erste hauptsächliche Blickrichtung eines
Ansatzes dar, der Entscheiden als prozesshaften sozialen Vollzug in den Blick
nimmt.
Worin besteht nun das Spezifische, das Entscheiden von anderen Handlungsformen unterscheidet?4 Entscheiden bezieht sich erstens auf die explizite
Erzeugung von alternativen Handlungsoptionen zu einem bestimmten Gegenstand oder Thema, zweitens auf die explizite Bewertung dieser Alternativen,
sowie drittens auf die kontingente Selektion einer dieser Alternativen. Letztere
beinhaltet eine Entscheidung; der Begriff des Entscheidens ist umfassender und
schließt alle drei genannten Vorgänge mit ein. Das Erzeugen von Handlungsalternativen und deren Bewertung sind dabei zwar auf das Hervorbringen einer
Entscheidung gerichtet, münden aber nur bei erfolgreichen Entscheidenshandlungen in ein Entscheidungsresultat.
Diese Definition beinhaltet drei Gesichtspunkte, die den gegenwärtigen Ansatz von anderen Zugängen zum Thema unterscheiden. Als erstes hebt sie die Explizitheit der Thematisierung von Alternativen, von Vorgängen ihrer Bewertung
sowie der Selektion einer Option hervor, denn sie bildet die Grundlage für die
Geltung des Entscheidens. Hierfür reicht bereits die Kommunikation über Entscheiden aus, wobei Explizitheit durchaus auch ex post hergestellt werden kann.
Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Familienmitglied behauptet, die Entscheidung für das Ziel des nächsten Urlaubs sei schon beim Abendbrot am vergangenen Sonntag gefallen. In anderen Fällen kann Entscheidungshandeln beobachtet werden, und es hinterlässt wenigstens fragmentarische Zeugnisse. Beispiele
sind das formlose Deliberieren und Abwägen (als Art und Weise der Bewertung
alternativer Handlungsoptionen) oder das förmliche Entscheidungsverfahren,
die jeweils Beschlüsse und je nachdem auch Protokolle und Akten hinterlassen.
Rückblickende Zuschreibung, teilnehmende Beobachtung, Erinnerungen und
in Medien festgehaltene Zeugnisse bilden die Grundlage für Geltungsansprüche
von Entscheidensprozessen – Entscheiden ist das, was den involvierten Akteuren
als Entscheiden gilt. Ob Geltung von vornherein feststeht – zum Beispiel als Folge
dessen, dass sich Akteure auf ein formales Verfahren einlassen – oder im Nachhinein zugeschrieben wird, ist dabei variabel.
Zweites Merkmal ist die Offenheit der Beziehung zwischen der Erzeugung
und der Bewertung von Handlungsalternativen einerseits sowie dem Treffen
einer Entscheidung andererseits. Es gibt keinen theoretischen Grund dafür, dass
das Erzeugen und Bewerten von Handlungsalternativen zwingend ins Treffen
einer Entscheidung mündet. Auf der einen Seite kann Entscheiden enden, ohne
dass eine Entscheidung gefällt wird: Die Selektion kann vermieden werden, je
nachdem sogar mit einer expliziten Nicht-Entscheidung, wenn es sich im Zuge
der Bewertung von Alternativen herausstellt, dass eine Entscheidung negative
4 Zum Folgenden vgl. ebd., Abschnitt II .
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
14
U. Pfister
Folgen hätte. So entschied die römische Kurie in der Frühen Neuzeit gelegentlich,
ein Verfahren ohne Entscheidung zu beenden – der Heilige Stuhl beschloss, eine
von Missionaren an ihn herangetragene Frage nicht zu beantworten.5 Eine Entscheidung lässt sich aber auch aufschieben oder verlagern; sie kann einfach im
Sande verlaufen. Auf der anderen Seite existieren formale Verfahren, die auf das
zwingende Hervorbringen einer Entscheidung hin angelegt sind. Ein Beispiel ist
das Rechtsverweigerungsverbot in der modernen Rechtspflege.6
Das letzte zentrale Merkmal des hier vertretenen Konzepts stellt seine dezisionistische Akzentuierung dar, die es besonders deutlich von vielen entscheidungswissenschaftlichen Ansätzen abhebt: die Kontingenz des Entscheidens. Es lassen
sich nur Probleme entscheiden, für deren Lösung keine Ableitung aus existierenden Normen oder aus einem Kalkül zur Verfügung steht.7 Da somit das Treffen
einer Entscheidung keinesfalls mit der vorgängigen Evaluation von Alternativen
zusammenfällt, stellt die eigentliche Selektionshandlung einen Einschnitt nicht
zuletzt im Prozess des Entscheidens selbst dar. Mit der Entscheidung in Beziehung stehende Wortfelder und Metaphern – decisio, krisis, ›Beschluss‹, ›Urteil‹,
das Schwert des Jüngsten Gerichts, der Scheideweg und so weiter – machen das
unmittelbar anschaulich. In konkreten Entscheidungshandlungen kommt dieser
Hiatus in manchmal symbolisch ausgestalteten Übergängen zwischen der Entscheidungsvorbereitung und der Selektionshandlung zum Ausdruck, so etwa
beim Schließen der Diskussion und dem Übergang zur Abstimmung in einer
Sitzung.
Die kontingente Natur der Selektion unter Alternativen impliziert, dass zu
einem gegebenen Problem auf der Grundlage von Kalkül oder der Kombination
von Normen abgeleitete Schlüsse keine Entscheidungen darstellen. Es lohnt sich
somit, Entscheidungen im gegenwärtigen Sinn abzugrenzen von Wahlakten,
die durch implizites Kalkül oder auch Heuristiken zustande kommen.8 In unterschiedlichem Ausmaß entscheidungstheoretisch unterfütterte Techniken zur
Ableitung einer als richtig geltenden Wahl – aus religiösen oder rechtlichen Normen beziehungsweise auf der Basis eines Optimierungskalküls – stellen vielmehr
5 Vgl. Christian Windler, Praktiken des Nichtentscheids. Wahrheitsanspruch und Grenzen
der Normdurchsetzung, in: Wolfram Drews u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven (erscheint Würzburg 2018).
6 Vgl. Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot. Anmerkungen zu einer Selbstverständlichkeit, in: Cornelia Vismann / Thomas Weitin (Hg.), Urteilen / Entscheiden, München 2006, S. 37–50.
7 Vgl. Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140; Heinz von Foerster, Ethics
and Second Order Cybernetics, in: Cybernetics and Human Knowing 1 (1992), S. 9–20;
Niklas Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungs-Archiv 84 (1993),
S. 287–310, hier S. 289; ders., Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 32011, S. 228 f.
8 Ähnlich Uwe Schimank, Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 43–48.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
15
Mittel entweder zur Maskierung der einer Entscheidung innewohnenden Kontingenz oder zur methodischen Beseitigung von Entscheidungsproblemen dar.
Aus dem Gesagten folgt, dass Entscheiden alles andere als selbstverständlich
und durchaus voraussetzungsvoll ist. Damit ein Entscheidensprozess stattfinden
kann, müssen Akteure deshalb mehrere Dinge zustande bringen. Die Art und
Weise, in der sie dies angehen, begründet die für einen Ort des Entscheidens – sei
es ein Regierungsapparat, der Hof eines Herrschers, ein Gericht, ein Paar am Küchentisch, oder ein fiktionaler Text – spezifische Kultur des Entscheidens. Drei
Vorgänge erscheinen dabei für das Hervorbringen von Entscheidensprozessen
und damit als Elemente von Kulturen des Entscheidens besonders bedeutsam:
Die Herauslösung einer Sphäre expliziten Entscheidens aus dem Alltag und ihre
Rahmung als solche, weiter die Ausgestaltung von Institutionen des Entscheidens, schließlich die eben schon angesprochene Bewältigung der Kontingenz
einer Entscheidung.
Der erste Vorgang bezieht sich auf das Herauslösen einer Sphäre expliziten
Entscheidens aus der selbstverständlichen, nur begrenzt hinterfragten Lebenswelt des Alltags. Entscheiden setzt voraus, dass Akteure für ein bestimmtes
Handlungsfeld Kontingenz zulassen und bereit sind, für die Erzeugung und Bewertung von Alternativen Zeit aufzuwenden beziehungsweise sozialen Stress auf
sich zu nehmen. Entscheidungsgegenstand und Entscheidungssituation müssen
deshalb aus einem Alltag, der durch habituelles Verhalten, Routinen und die Befolgung von Traditionen geprägt ist, herausgelöst werden. Dies erfordert, dass
Menschen entscheidungsförmiges Handeln an sich kennen und in Anspruch
nehmen können und dass der fragliche Gegenstand als einer Entscheidung zugänglich oder gar als einer Entscheidung bedürftig erachtet wird. Beides ist nicht
selbstverständlich; ob bestimmte Themen entscheidungsförmig behandelt werden können oder gar müssen und wie dies geschieht, unterscheidet sich zwischen
Gesellschaften und unterliegt historischem Wandel.
Das Herauslösen einer Entscheidungssituation aus dem Alltag basiert auf
ihrer Rahmung als solcher.9 Einerseits leistet die Rahmung eine Situationsdefinition; Rahmen ermöglichen den Beteiligten eine Antwort auf die Frage: »Was
geht hier eigentlich vor?«10 Die Rahmung einer bestimmten Situation als Entscheidungsfeld kann dabei auf verschiedene Weise erfolgen: Sie kann in einer
9 Zur nachfolgenden Unterscheidung zwischen Rahmung als Situationsdefinition und
Rahmung als Festlegung des relevanten Deutungshorizonts s. Art Dewulf u. a., An Interactional Approach to Framing in Conflict and Negotiation, in: William A. Donohue u. a.
(Hg.), Framing Matters. Perspectives on Negotiation Research and Practice in Communication, New York 2011, S. 7–33, hier S. 8–11.
10 Vgl. Herbert Willems, Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans, Frankfurt a. M. 1997, S. 35. Zum Begriff der Situationsdefinition
s. unter anderen Esser, Soziologie (wie Anm. 1); Ingo Schulz-Schaeffer, Die drei Logiken
der Selektion. Handlungstheorie als Theorie der Situationsdefinition, in: Zeitschrift für
Soziologie 37 (2008), S. 362–379.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
16
U. Pfister
Gruppe von Anwesenden oder in einem größeren Kollektiv ausgehandelt oder
auch einseitig festgelegt und durchgesetzt werden.11 Wie oben erwähnt werden
vor allem fluide Entscheidungssituationen, wie etwa die Beratung am Familientisch, dagegen manchmal auch erst nachträglich in einer retrospektiven Sinngebung gerahmt.12 Dasselbe gilt für die Schilderung von Entscheidenssituationen in autobiographischen Zeugnissen. Demgegenüber können bei formalen
Verfahren situationsdefinierende Rahmen ex ante gegeben sein, sodass man
regelrecht in sie eintreten kann; Beispiele sind das Gerichtsverfahren oder das
Gesetzgebungsverfahren.
Andererseits bezieht sich die Rahmung eines Felds des Entscheidens auf den
Deutungshorizont, in den ein Problem gestellt wird. Rahmen in diesem zweiten
Sinn stellen Salienzstrukturen dar, das heißt, sie heben bestimmte Aspekte im
Sinnhorizont, in den ein zu entscheidender Gegenstand gestellt wird, besonders
hervor und rücken andere Aspekte in den Hintergrund.13 Sie beinhalten überdies
kausale Geschichten, die einerseits Ursachen beziehungsweise VerursacherInnen eines Problems benennen und andererseits durch Wenn-dann-Aussagen
den Raum umschreiben, in dem sich Handlungsoptionen entwickeln lassen.
Dies erlaubt nicht zuletzt die Imagination zukünftiger Zustände, die durch Entscheidungen erreicht werden sollen. Insgesamt bestimmen somit die Strukturen
des Deutungshorizonts maßgeblich die inhaltliche Ausgestaltung von Entscheidungsfeldern etwa in Unternehmen oder in der Politik.14 Beispielsweise gibt die
Meinung, dass Armut primär durch Faulheit verursacht wird, eine ganz andere
Richtung sozialpolitischer Intervention vor als eine Erklärung von materieller
Bedürftigkeit durch gewerbliche Konjunkturzyklen.
Die zweite Grundlage für das Stattfinden von Prozessen des Entscheidens besteht in der Entwicklung und dem Vollzug von darauf bezogenen Institutionen.
Entscheidensförmiges Handeln wird von Akteuren nicht in jeder Situation neu
entwickelt, sondern folgt Skripten und Routinen sowie habitualisierten Verhaltensweisen. Wird die Frage danach, was hier eigentlich vorgeht, mit »Entscheiden!« beantwortet, dann wissen Akteure in der Regel, welche Handlungsweisen der Situation angemessen sind und von ihnen erwartet werden; zugleich
richten sie spezifische Handlungserwartungen an andere. Entscheiden stützt
11 Vgl. Werner Vogd, Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von System- und Zweckrationalität. Eine qualitativ rekonstruktive Studie unter dem
besonderen Blickwinkel von Rahmen (»frames«) und Rahmungsprozessen, Berlin 2004;
vgl. auch nochmals Dewulf u. a., Interactional Approach (wie Anm. 9).
12 Vgl. Karl E. Weick, Der Prozess des Organisierens, Frankfurt a. M. 1995, S. 194 f.
13 Als Übersicht über dieses zweite in der Kommunikations- und der Politikwissenschaft
verbreitete Konzept s. Jörg Matthes, Framing, Baden-Baden 2014.
14 Siehe zum Beispiel Deborah Stone, Causal Stories and the Formation of Policy Agendas,
in: Political Science Quarterly 104 (1989), S. 281–300; John W. Kingdon, Agendas, Alternatives and Public Policies, New York 32011; Jens Beckert, Imagined Futures. Fictional
Expectations in the Economy, in: Theory and Society 42 (2013), S. 219–240.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
17
sich somit auf Institutionen im Sinn von Handlungserwartungen, die Akteure
an sich selbst und andere stellen und die verbindliche Geltung beanspruchen.15
Eine derart allgemeine Fassung des Begriffs schließt sowohl formale als auch
informelle Institutionen ein.
Entscheiden kann in sehr unterschiedlicher Weise institutionalisiert sein.
Man kann etwa differenzieren zwischen einer Entscheidungsfindung im Rahmen des Palavers, einer Entscheidung durch Autorität, durch Externalisierung
oder auch durch formale Verfahren.16 Beim Palaver (der Begriff ist nicht pejorativ gemeint) ist das Interaktionsfeld wenig strukturiert; Entscheiden ist deshalb nicht eindeutig als solches definiert, der Übergang zwischen Beratung und
dem Treffen einer Entscheidung ist diffus. Dass es zu einer solchen kommt, ist
auch keineswegs sicher, ja sogar eher unwahrscheinlich. Anders beim Entscheiden, das sich auf Autorität stützt. Die Entscheidung gründet in diesem Fall auf
Eigenschaften, die einer Person zugeschrieben werden: auf Charisma, politischsozialem Status, überlegener Machtposition oder Amtsgewalt – auf Faktoren
jedenfalls, die außerhalb der Sachlogik des Entscheidens selbst liegen. Durch
den Einsatz von Autorität aber lassen sich im offenen Gespräch auftretende
Blockaden lösen und Kontingenz legitimieren; dass eine Entscheidung getroffen
wird, ist in dieser Konstellation eher zu erwarten als in einem Palaver. Eine Alternative zum Einsatz von Autorität besteht im Rekurs auf eine externe Instanz,
also in der Verschiebung eines Problems aus dem Kontext des mit ihm befassten sozialen Zusammenhangs mittels Externalisierung. Bei den externen Instanzen kann es sich um eine höherstehende Behörde, den König, den Papst oder
Gott handeln.
Der Einsatz formalisierter Verfahren verändert den Prozess des Entscheidens
in vielerlei Hinsicht grundlegend. Es kennzeichnet die Moderne, dass sie das
Entscheiden in besonders vielen Kontexten formalisiert – was nicht bedeutet,
dass es nicht auch vorher formale Verfahren gegeben hätte. In formalen Verfahren wird Entscheiden an generalisierte Normen gebunden, die ohne Rücksicht auf ein konkretes Entscheidungsproblem gelten. Im Unterschied zu den
drei bisher genannten institutionellen Formen des Entscheidens sind Verfahren
durch entschiedene Entscheidungsprämissen gekennzeichnet. Dies meint, dass
die Festlegung von Entscheidungsproblemen, das Vorgehen bei der Erzeugung
und Bewertung von Alternativen zusammen mit der Selektion einer Alternative
in unterschiedlichem Ausmaß selbst Resultate vorgängiger Entscheidungen darstellen. Als Folge davon lässt sich Entscheiden selbst durch Verfahren intern
differenzieren. Entscheiden kann über mehrere Runden und Arenen verteilt werden, in denen sowohl die alternativen Handlungsoptionen zunehmend genauer
spezifiziert als auch der Raum möglicher Optionen zunehmend verengt wird,
15 Vgl. Esser, Soziologie (wie Anm. 1), Bd. 5: Institutionen.
16 Ausführlich zum folgenden Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem (wie Anm. 3),
Abschnitt III .
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
18
U. Pfister
sodass sich die Selektion einer bestimmten Handlungsalternative allmählich
konkretisiert.17
Empirisch kommen die vier genannten institutionellen Formen oft in Kombination vor. Das Entscheiden im Umfeld von Herrschern konnte beispielsweise
das Palaver der Berater (für das Erzeugen und Bewerten von Handlungsalternativen) mit der Autorität des Monarchen (für die Selektion einer Handlungsoption)
kombinieren. Der Einsatz des Loses in Wahlen als Form der Externalisierung
erfolgte meist im Rahmen entschiedener Entscheidungsprämissen in Verfahren,
denn anders hätte es gar nicht zu einer inhaltlichen Aussage führen können.18
Als drittes wichtiges Element von Kulturen des Entscheidens ist die Bewältigung der einer Entscheidung innewohnenden Kontingenz zu nennen. Entscheidungen stehen unter einer immanenten legitimatorischen Herausforderung.19
Die vorher erzeugten, aber nicht gewählten Alternativen werden durch eine
Entscheidung nämlich keineswegs vernichtet, sondern bleiben sowohl für die
Beteiligten als auch für ihr Publikum im Sinnhorizont der Entscheidung präsent.
Angesichts der oben herausgestellten Kontingenz einer jeden Entscheidung gilt
es, die gewählte Alternative zu erklären, zu rechtfertigen und zu begründen. Sie
hat sich entsprechend dem jeweiligen Kontext als mit dem göttlichen Heilsplan
vereinbar, als richtig, vernünftig oder als letztlich alternativlose Ableitung auszuweisen; auch dass sie von der mit ausreichend Autorität ausgestatteten Person
beziehungsweise nach den geltenden Verfahrensregeln getroffen wurde, leistet
einen Beitrag zur Legitimierung einer Entscheidung.
Zusammengenommen stellen die sozialen Techniken des Umgangs mit den
drei beschriebenen Vorgängen, die Entscheiden hervorbringen, Kulturen des
Entscheidens dar, die für einen sozialen Ort, an dem entscheidungsförmig gehandelt wird, jeweils spezifische Ausprägungen annahmen und annehmen.
Kulturen des Entscheidens konkretisieren sich als sprachliche und nicht-sprachliche Vollzüge, die es aus einer Perspektive der teilnehmend berichtenden Objektivierung zu verstehen gilt. Die Beiträge dieses Bandes nehmen drei Aspekte
von Entscheidensvollzügen in den Blick: Narrative, Praktiken und die bei ihrem
Vollzug zum Einsatz kommenden Ressourcen. Mit diesen Zugängen wird Ent17 Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Darmstadt 1969; Carol H. Weiss,
Knowledge Creep and Decision Accretion, in: Knowledge. Creation, Diffusion, Utilization 1 (1980), S. 381–404; Michael Howlett, Analyzing Multi-Actor, Multi-Round Public
Policy Decision-Making Processes in Government. Findings from Five Canadian Cases,
in: Canadian Journal of Political Science 40 (2007), S. 659–684; vgl. auch den Beitrag von
André Krischer in diesem Band.
18 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Entscheidung durch das Los. Vom praktischen Umgang
mit Unverfügbarkeit in der Frühen Neuzeit, in: André Brodocz u. a. (Hg.), Die Verfassung
des Politischen, Berlin 2014, S. 63–83; Wolfgang Eric Wagner, Der ausgeloste Bischof. Zur
Situation und Funktion des Losverfahrens bei der Besetzung hoher Kirchenämter im
Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 307–333; Beitrag von Durben u. a. in
diesem Band.
19 Vgl. Luhmann, Paradoxie des Entscheidens (wie Anm. 7), S. 305.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
19
scheiden auf drei Ebenen untersucht, nämlich auf derjenigen der Sinnstiftungen
(Narrative), der praktischen Umgangsweisen (Praktiken) sowie schließlich der
Ermöglichungsbedingungen (Ressourcen).
2. Entscheiden beobachten
Den Studien, die sich Narrativen, Praktiken und Ressourcen des Entscheidens
widmen, sind zwei Beiträge vorgelagert, in denen es um die methodischen Herausforderungen einer geistes- beziehungsweise kulturwissenschaftlichen Theorie des Entscheidens und ihre Möglichkeiten, Entscheiden zu beobachten, geht.
Der Beitrag von Michael Quante und Tim Rojek schlüsselt aus philosophischer Perspektive eine für die Zwecke einer eigenständigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Entscheidungstheorie hinreichende Differenz zwischen
den herkömmlichen zumeist sozialwissenschaftlich-ökonomischen Entscheidungstheorien und einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Zugangsweise
auf. Die Autoren zeigen, dass das Berichten aus einer hermeneutischen Teilnehmerperspektive die Grundlage für eine kulturwissenschaftliche Theorie des
Entscheidens bereithält. Sie erlaubt in ihrer Berichtssprache den Einbezug von
askriptiven, emotiven und beschreibenden Ausdrücken, die mentale Gehalte in
ihrer sozialen Konstituiertheit, ebenso wie die sie leitenden Normen und Regeln
umfasst. Durch den Rückgriff auf spezifische, über lebensweltliche Verstehensleistungen hinausgehende hermeneutische Verfahren, im Sinne einer Kunstlehre
des Verstehens, erfasst eine kulturwissenschaftliche, hermeneutisch teilnehmende Perspektive Entscheiden als Folge von Handlungssequenzen. Der Rückgriff auf hermeneutische Regeln ist dabei vielfältig und nicht mit einem spezifisch mentalistischen hermeneutischen Programm, etwa im Sinne des frühen
Dilthey verbunden, sondern anti-mentalistisch konzipierbar.20 Damit ist die
gesuchte Unterscheidung zu den decision-sciences hergestellt, die sich auf die
Beobachterperspektive und damit rein kausal-funktionale Erklärungen verlässt.
Dadurch gerät der Eigensinn unserer normativ und regelhaft strukturierten sozialen Praxis aus dem Blick, die zum Gegenstand zu machen gerade die Geistesund Kulturwissenschaften befähigt sind.
Aus der Perspektive einer anti-individualistischen Soziologie betont auch Robert Schmidt die basale Rolle unserer lebensweltlichen Teilnehmerperspektive.
Als Alternative zu individualistischen Sozialtheorien entwirft er einen praxeologischen Ansatz, in dem das Mentale nicht negiert wird, sondern adäquater verstanden wird, indem unter Rückgriff auf Wittgenstein und Theodore Schatzkis
handlungsphilosophische Überlegungen das Mentale und die Rede über Mentales als ›verkörpertes Denkhandeln‹ und damit als etwas Öffentliches und Beobachtbares statt als etwas Privates und Unbeobachtbares konzipiert wird. Es gilt
20 Vgl. Carl Friedrich Gethmann / Thorsten Sander, Anti-Mentalismus, in: Carl Friedrich
Gethmann, Vom Bewusstsein zum Handeln, München 2007, S. 203–216.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
20
U. Pfister
also nicht, das Mentale abzulehnen, sondern es angemessen zu verstehen. Unter
Rückgriff auf Beispiele der Ethnomethodologie Harold Garfinkels arbeitet er im
Folgenden heraus, dass eine praxeologische Perspektive einen präziseren Blick
auf die Handlungssequenzen erlaubt, die faktisch zu Entscheidungsresultaten
führen und die nicht mit der retroaktiven Inszenierung derselben als rational,
folgerichtig und vorgeplant verwechselt werden dürfen.
Eine so aufgestellte Praxeologie harmoniert in ihrem anti-mentalistischen, sozial-externalistischen und handlungstheoretischen Grundlagen weitgehend mit
der wissenschaftsphilosophischen Zuordnung, die Quante und Rojek für eine
eigenständige geistes- und kulturwissenschaftliche Beobachtung von Entscheidensprozessen vorschlagen. Dass sich eine solche, aus der Soziologie kommende
Praxeologie auch für historische und ethnologische Untersuchungen fruchtbar
machen lässt, zeigen insbesondere die Beiträge in der Sektion »Praktiken des
Entscheidens«, die diesem methodologischen Pfad folgen.
3. Narrative, Reflexionen und Semantiken
Wenn man sich nun der Frage zuwendet, wie Entscheiden als sozialer Prozess
abläuft, so fällt der Blick zuerst auf sprachliche Vollzüge. Diese bestehen in erster
Linie aus Erzählungen, die ebenfalls eine prozesshafte Struktur aufweisen, oder
sie rekurrieren auf solche.21 Erzählungen gründen ihrerseits auf Narrativen als
konventionalisierten Erzählmustern, die in der Regel einer kausal-temporalen
Erzähllogik folgen. Als typisierte Muster fassen sie Mengen von Erzählungen auf
einer hohen Abstraktionsebene relativ zu (impliziten oder expliziten) Identitätsbedingungen zusammen. »Ich habe so entschieden, weil mich Gott gelenkt hat«
und »Wir haben so entschieden, weil sich Option X als die Variante mit dem
höchsten Nutzen erwiesen hat« sind zwei hoch abstrakte Entscheidungsnarrative. Als Rechtfertigungsnarrative leisten sie einen Beitrag zur Bewältigung der
einer Entscheidung innewohnenden Kontingenz, wobei je nach sozialem Ort
einzelne Narrative unterschiedlich angemessen und legitim sind; das zweite genannte Grundnarrativ passt in ein modernes Unternehmen besser als das erste.
Kulturen des Entscheidens sind damit wesentlich Erzählgemeinschaften, die mit
verstandenen und akzeptierten Entscheidungsnarrativen operieren.
Entscheidensnarrative werden einerseits im Vollzug und in der erzählenden
Mitteilung einer Entscheidung als Teil ihres retroaktiven Vollzugs konkretisiert;
die Erzeugung der Begründung einer Gremienentscheidung oder eines Gerichts21 Zum erzähltheoretischen Hintergrund des Nachfolgenden s. insbesondere Wolfgang
Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien 22008; Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012; Ansgar Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Alexandra
Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 15–53.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
21
urteils zählen dazu (Beitrag Schmidt). Andererseits liegen auch dem retrospektiven Erzählen von Entscheidungen spezifische Narrative zugrunde. Solche Erzählungen finden sich beispielsweise in Chroniken und anderen Formen der
Tradierung von Geschichten, in Selbstzeugnissen autobiographischer Art oder
in durch ForscherInnen geführten narrativen Interviews. Auch fiktionale Texte
beinhalten Erzählungen über Entscheidungen. Erzählungen von erinnerten beziehungsweise fiktionalen Entscheidungen stellen für die Forschung oft den
wichtigsten Zugang zur Beobachtung des Entscheidens dar. Darüber hinaus
bilden sie einen Ort der Reflexion des Entscheidens und sie stellen Modelle und
Rezepte bereit, in deren Licht Rezipientinnen und Rezipienten ihre eigenen Entscheidungen wahrnehmen, gestalten und reflektieren können. Dies gilt nicht zuletzt für Darstellungen des Entscheidens in der Mythologie; Beispiele sind Herkules am Scheideweg, das Urteil des Paris und so weiter.22 Nicht selten erweisen
sich mythologische Entscheidensszenarien als überaus komplexe Reflexionen der
Problematiken, die dem Entscheiden innewohnen.
Erzählungen erinnerter Entscheidungen reproduzieren nun nicht einfach
das Vergangene, sondern konstruieren daraus eine sinnhafte und vielleicht
auch interessante und spannende Biographie mit einer spezifischen erzählerischen Struktur. Dies zeigt insbesondere die diesbezügliche Analyse von Goethes ›Dichtung und Wahrheit‹ durch Martina Wagner-Egelhaaf. Eine autobiographische Erzählung weist zwei Zeitperspektiven auf: den rückschauenden
Blick des erzählenden Beobachters in die Vergangenheit und das Fortschreiten
der erzählten Biographie in die Zukunft. Entscheidungen stehen an der Schnittstelle der beiden Zeitlinien: Durch die ihnen unterlegten Gründe schaffen sie
sinnhafte Vergangenheit, über die inhaltlichen Festlegungen definieren sie den
Zukunftshorizont einer neuen biographischen Phase. Auf diese Art und Weise
erweisen sich biographisch sinnvolle Entscheidungen aber meist erst in der
Rückschau als solche; Lebensentscheidungen – nähert man sich ihnen über retrospektive Narrationen – sind das Ergebnis einer biographischen Konstruktionsleistung, die ihrerseits durch die Erfahrung der Lebenszeit seitens der erzählenden Person geprägt wird.23 Im Fall von Goethes ›Dichtung und Wahrheit‹
kann darüber hinaus gezeigt werden, wie eine zentrale Lebensentscheidung, die
nicht nachvollziehbar begründet werden kann, im intertextuellen Bezug auf ein
anderes Narrativ, das des Grafen Egmont, dramatisiert und damit literarisch
plausibilisiert wird.
Narrative des Entscheidens führen auch eine Semantik des Entscheidens
mit.24 Zwei Aspekte erscheinen vor dem Hintergrund der Beiträge dieses Ban22 Siehe demnächst Helene Basu u. a. (Hg.), Mythen und Narrative des Entscheidens (erscheint Göttingen 2018), sowie Martina Wagner-Egelhaaf, Herkules – (k)ein Entscheider?,
in: Philipp Hoffmann-Rehnitz u. a. (Hg.), Semantiken und Narrative des Entscheidens
(erscheint Göttingen 2018).
23 Ähnlicher Befund auf der Basis narrativer Interviews bei Gunter Weidenhaus, Soziale
Raumzeit, Berlin 2015.
24 Hierzu demnächst Hoffmann-Rehnitz u. a., Semantiken und Narrative (wie Anm. 22).
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
22
U. Pfister
des besonders wichtig. Der erste bezieht sich auf die Entscheiden ermöglichende
Handlungsmacht, das heißt auf die Fragen, wer über welche Gegenstände entscheiden darf beziehungsweise kann, und auf welchem Weg diese Ermächtigung erlangt wird. Der Beitrag von Isabel Heinemann, Sarah Nienhaus, Mrinal
Pande und Katherin Wagenknecht zeigt dies anhand von Entscheidensprozessen, die im Zusammenhang mit unterschiedlichen Lebensereignissen stehen:
der Eheanbahnung von Frauen sowohl im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts als auch in Indien am Übergang zum 21. Jahrhundert, anhand der
Debatten um die Legalisierung der Abtreibung in den USA in den 1980er Jahren
sowie anhand des Hauserwerbs von münsterländischen Paaren in der Gegenwart. Die Aushandlung einer Semantik der berechtigten und legitimen Entscheidung durch das Individuum erfolgt dabei im Spannungsfeld zwischen (hier:
patriarchalen) Machtverhältnissen, gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen
auf Autonomie beziehungsweise Selbstverwirklichung. Über die Semantik von
Handlungsmacht bewirken Narrative des Entscheidens, dass grundsätzlich keineswegs selbstverständliches Entscheiden (siehe oben) in bestimmten Konstellationen und für bestimmte Arten von Akteuren als angemessen und legitim gilt.
So entwickelt das autobiographische Ich in Fanny Lewalds Lebensgeschichte
in Auseinandersetzung mit ihrer Familienkonstellation und fiktionalen Biographien von Frauen ein Narrativ, das ihr Entscheidungsmacht über ihre Heirat verleiht. Ein gegenläufiges Beispiel betrifft den Bau eines Eigenheims durch
junge Paare in einem münsterländischen Dorf der Gegenwart; angesichts der
Einbettung der Lebensführung in eine lokale Lebenswelt folgt der Weg zum
Eigenheim hier deutlich ausgeprägter einem kulturellen Dispositiv als bei Paaren, die in Kleinstädten oder Städten wohnen und diesen Übergang im Lebenslauf stärker entscheidungsförmig gestalten.
Der zweite Aspekt, bezüglich dessen Semantiken des Entscheidens differieren,
betrifft das Vorhandensein eines expliziten Entscheidungsbegriffs. Vor allem in
der Vormoderne trifft man auf Narrative des Entscheidens, die mit einer unausdrücklichen Begrifflichkeit des Entscheidens operieren.25 Eine Reihe von
Beiträgen des vorliegenden Bandes sprechen diesen Sachverhalt an. Ein Beispiel
sind die von Michael Grünbart untersuchten byzantinischen Fürstenspiegel,
die zwar von Vorgängen sprechen, bei denen verschiedene Alternativen in Betracht gezogen werden – wo also Entscheidungshandeln im hier gemeinten Sinn
thematisiert wird –, ohne das aber explizit so zu nennen. Stattdessen wird dieses
Handeln mit Begriffen nachdenklichen Abwägens beschrieben oder als Urteil,
Ratschluss etc. bezeichnet (apophasis, bulē, doxanta, psēphos, skepsis); nur bei der
Bezugnahme auf das göttliche Gericht schwingt der Begriff krisis mit. Es stellt
sich die Frage, was das über die damalige Kultur des Entscheidens aussagt. Mit
25 Vgl. ebd., Beitrag von Tim Rojek, Redehandlungstheoretische Überlegungen zur Semantik und Performatorik von ›Entscheiden‹; allgemein vgl. Katharina Jacob, Linguistik des
Entscheidens. Eine kommunikative Praxis in funktionspragmatischer und diskurslinguistischer Perspektive, Berlin 2017.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
23
anderen Worten: Die Klärung der kulturspezifischen Begrifflichkeit im Sprechen über das Entscheiden stellt einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis
von Kulturen des Entscheidens dar.
4. Praktiken
Vor dem Hintergrund des eben Gesagten ist es sinnvoll, die Analyse von Kulturen des Entscheidens nicht allein auf Sprechakte und darauf aufbauende Redeweisen auszurichten, sondern auch in einer Perspektive anzugehen, die sprachliche und nicht-sprachliche Vollzüge in ihrer Gesamtheit in den Blick nimmt.
Hierbei lässt sich am oben erörterten Sachverhalt anschließen, dass Entscheiden
institutionalisiert ist. Entscheidensförmiges Handeln wird somit von Akteuren
nicht in jeder Situation neu entwickelt, sondern folgt Skripten und Routinen sowie habitualisierten Verhaltensweisen. Entscheiden besteht im Aufführen eines
sozialen Dramas: Die Akteure wissen auf der Bühne Bescheid, haben Vorstellungen zum Plot, verfügen über Skripte, kennen wenigstens ihre eigene Rolle
und können Letztere mehr oder weniger gut aufführen.26 Dies alles legt es nahe,
Entscheiden aus einem praxeologischen Blickwinkel zu betrachten (siehe auch
nochmals den Beitrag von Robert Schmidt).
Aufbauend auf einem älteren Praxis-Begriff können Praktiken als ein »typisiertes, routinisiertes und sozial ›verstehbares‹ Bündel bezeichnet werden«.27
Drei Merkmale sind für sie konstitutiv:28 Erstens beinhalten sie zwar Sprechakte,
sind aber zugleich verkörpert, an Materialitäten und Artefakte zurückgebunden,
26 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München
10
2011; Victor Turner, Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic Action in Human Society,
Ithaca 1975; Dennis Brissett / Charles Edgley, Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook, New York 1990. Speziell auf Gerichtsverfahren bezogen: Cornelia Vismann, Das
Drama des Entscheidens, in: Dies. / Weitin, Urteilen / Entscheiden (wie Anm. 6), S. 91–101.
27 Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301, hier S. 289.
28 Für das Folgende s. neben Goffman, Wir alle spielen Theater (wie Anm. 26) sowie Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 27) vor allem Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris
1980, Kap. 3; Theodore R. Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian Approach to
Human Activity and the Social, Cambridge 1996; ders. u. a. (Hg.), The Practice Turn in
Contemporary Theory, London 2001; Gregor Bongaerts, Soziale Praxis und Verhalten.
Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory / Social Practice and Behavior. Reflections on the Practice Turn in Social Theory, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007),
S. 246–260; Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012; Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis. Studien
zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft s. insbesondere die Sammelbände von Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der
frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln 2015; sowie Dagmar Freist (Hg.),
Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung,
Bielefeld 2015; aus handlungsphilosophischer und askriptivistischer Perspektive: Anne
Mazuga, Ausdruck und Zuschreibung, Berlin 2013, S. 299–352.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
24
U. Pfister
wozu neben Instrumenten auch Medien, Körper und physische Räume zählen.
Zweitens entfalten sie sich in der Zeit, das heißt, sie können als Vollzüge beobachtet und nicht auf Resultate reduziert werden. Drittens gründen sie auf
praktischem Wissen. Dies kann ein Wissen um Bedeutungen, ein Rezeptwissen oder ein motivationales Wissen sein (»ein impliziter Sinn dafür, ›was man
eigentlich will‹«).29 Gleichzeitig ist es aber nicht vollständig explizierbar und
stellt insofern immer auch Routine, Know-how und praktische Kompetenz
dar. Auf Praktiken bezogenes Wissen ist deshalb intelligibel und beobachtbar; es äußert sich in körperlichen »doings and sayings«, als »verkörpertes
Denkhandeln«.30
Die Beiträge dieses Bandes, die den Akzent auf Praktiken des Entscheidens
legen, betonen zunächst die Bedeutung der praktischen Kompetenz für den
Vollzug des Entscheidens. Helene Basu zeigt dies anhand der Beratungsliteratur für nicht-professionelle Trader an heutigen Wertpapierbörsen. Die Aneignung der in diesem Genre dargestellten Rezepte verspricht den LeserInnen
einen praktischen Sinn, der es ihnen erlaubt, auf einem Feld zu bestehen, das
meist durch professionelle Händler dominiert und durch eine hohe Verlustwahrscheinlichkeit mit entsprechendem Enttäuschungspotential gekennzeichnet ist.
Dabei erweisen sich finanzwissenschaftliche Konzepte nicht als universelle Gesetzmäßigkeiten, sondern als situative Gebrauchsanweisungen, die Akteure zum
Basteln (im Sinn des bricolage)31 eines Habitus des Entscheidens über Wertpapieranlagen nutzen.
Ein beim Entscheiden zum Einsatz gelangender Habitus gründet aber nicht
nur auf praktischem Wissen, sondern vollzieht sich darüber hinaus im Wechselspiel mit Räumen und materiellen Artefakten, die je nachdem in zweckdienlicher
Weise sowohl erzeugt als auch genutzt werden müssen. Im Fall der Börse bezieht
sich dies auf die Aneignung und die Verwendung von maschinell erzeugter und
verbreiteter Finanzmarktinformation; in den von André Krischer untersuchten
englischen Zivilgerichtsprozessen des 18. und 19. Jahrhunderts stellen die Struktur von Gerichtsräumen, die einen Rechtsfall darstellenden Handakten sowie die
Notizbücher von Richtern eigentliche »Co-Produzenten der Entscheidungen«
dar: Raumstrukturen leisten einen wesentlichen Teil der Situationsdefinition
gerichtlichen Entscheidens, Handakten rahmen den Deutungshorizont eines
Falls, und mit der Arbeit an ihren Notizen basteln (wiederum im Sinn von bricolage) die Richter ihre Bewertung der Sachlage.
Der von Alexander Durben, Matthias Friedmann, Laura Marie Krampe, Benedikt Nientied und André Stappert verfasste Beitrag geht schließlich der Medialität von Praktiken an verschiedenen Orten des Entscheidens sowie ihrem
Wandel vom 16. zum 19. Jahrhundert nach. Betrachtet werden die frühreforma29 Reckwitz, Grundelemente (wie Anm. 27), S. 292.
30 Schatzki, Social Practices (wie Anm. 28), insbes. S. 89 f.
31 Eingeführt wurde dieser Begriff von Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt
a. M. 1968, Kap. 3.
Ulrich Pfist er (Hg.): Kult uren des Ent scheidens
Einleitung
25
torischen Disputationen, städtische Ratswahlen in Unna um 1600, das englische
beziehungsweise britische Parlament im 17. und 19. Jahrhundert sowie englische Gerichtsprozesse um 1800. Als Leitdifferenz dient die Gegenüberstellung
zwischen der mündlichen Interaktion unter Anwesenden und der Nutzung der
Schriftform. Die AutorInnen erklären den langfristigen Trend zum vermehrten
Schriftgebrauch in Verfahren des Entscheidens mit dessen Potential zur Komplexitätssteigerung in sozialer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht: Die Nutzung
schriftlicher Medien diente dazu, Abwesende in einen Entscheidensvorgang
einzubeziehen, erleichterte den Rückbezug auf früheres Entscheiden und unterstützte die Entwicklung mehrstufiger Verfahren. Zwar weist der Einsatz schriftlicher Dokumente und schriftgestützter formaler Verfahren auch eine symbolische Komponente auf: Das britische Parlament unterstrich im 19. Jahrhundert
mit demonstrativem Informationskonsum seine Informiertheit nicht zuletzt
gegenüber der Regierung, und mehrstufige Losverfahren in den Ratswahlen
in Unna um 1600 dienten der augenscheinlichen Durchbrechung informeller
mündlicher Kommunikation unter den Mitgliedern der Elite. Mündliche Interaktion unter Anwesenden blieb aber wegen ihrer unverzichtbaren performativen Leistung auch am Ende des Untersuchungszeitraums zentral, denn sie verschaffte einer Entscheidung Geltungskraft und ermöglichte deren Zuschreibung
an legitime Entscheidungsträger.
5. Ressourcen
Als letzter und umfangreichster Themenkomplex werden in diesem Band Ressourcen angesprochen, und zwar als Mittel, die Entscheiden sowohl ermöglichen
als auch bei seinem Vollzug zum Einsatz gelangen.
Führen wir uns vor dem Hintergrund der eingangs erfolgten allgemeinen
Ausführungen zunächst vor Augen, wozu im Entscheiden Ressourcen mobilisiert und eingesetzt werden können oder müssen. Generell dienen sie dazu,
Handlungsalternativen zu erzeugen, zu bewerten und eine Option zu selegieren.
Konkret heißt das, dass bestimmte Ressourcen etwa dem Erwerb von Handlungsmacht dienen können, die erst entscheidungsfähig macht. Daneben erfordern jeweils die Rahmung einer Situation als Entscheidungssituation sowie die
Rahmung ihres Deutungshorizonts den Rekurs auf Ressourcen. Ferner tragen
Letztere auch dazu bei, eine bestimmte institutionelle Form des Entscheidens
festzulegen und sie zu vollziehen. Dies schließt nicht zuletzt diejenigen Handlungen ein, die bei der Selektion einer Handlungsoption zum Einsatz gelangen.
Schließlich helfen Ressourcen, mit der Kontingenz einer Entscheidung umzugehen, insbesondere durch den Einsatz von Rechtfertigungsnarrativen, die eine
Entscheidung legitimieren.
Die beim Entscheiden zum Einsatz gebrachten Ressourcen existieren nicht
einfach. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um materielle und immaterielle Bestände, die Akteure im Zusammenhang mit der Entwicklung bestimmter insti-