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Die Kontinuität der Neuigkeit im Werk Hugo Loetschers

2010, COLLOQUIA GERMANICA STETINENSIA

Abstract

So berühmt er war als Schriftsteller, man kann die Rolle Hugo Loetschers im intellektuellen Umfeld der Schweiz nur dann richtig werten, wenn man auch auf seine Bedeutung als Kommentator hinweist. Sprachgewandt wie nur wenige seiner deutschsprachigen Kollegen und fliessend auf Französisch und Italienisch, war er ein gerngesehener Gast im Rundfunk und Fernsehen, um eine Stellungnahme zur kulturellen und politischen Lage seines Landes abzugeben. Ein Text, den er bei solchen Anlässen gerne zitierte, war „Was - wenn der liebe Gott Schweizer wäre“. In dieser Kurzgeschichte, die 1983 im Sammelband Der Waschküchenschlüssel erschien und wegen seiner Beliebtheit seit 1988 als Untertitel fungiert, geht es darum, was wohl passiert wäre, wenn Gott schweizerische Charaktereigenschaften gehabt hätte. Loetschers Fazit: Wenn Gott so schöpferisch gewesen wäre im Abwarten wie die Schweizer, dann würde er heute immer noch auf den richtigen Moment für die Schöpfung warten. Erstaunlich ist, dass er die gleiche Geschichte in einem anderen politischen Kontext immer wieder vom Neuen erzählen konnte, etwa als es um Frauenstimmrecht ging oder um den Beitritt zu den Vereinten Nationen oder angesichts der Mitgliedschaft der Europäischen Union. Wenn man sich die Rezeptionsgeschichte Loetschers literarischen Schreibens anschaut, stellt man fest, dass diese Kontinuität der Neuigkeit eine Konstante ist, die durchaus über diese eine Geschichte hinausgeht. Viele seiner älteren Werke wurden in einem anderen Zusammenhang wieder höchst aktuell, was gar zur Vermutung führt, dass Loetscher der Rezeption nicht selten ein paar Jahrzehnte voraus war.

ZESZYTY NAUKOWE UNIWERSYTETU SZCZECI SKIEGO NR 562 COLLOQUIA GERMANICA STETINENSIA NR 18 2010 JEROEN DEWULF University of California at Berkeley (USA) DIE KONTINUITÄT DER NEUIGKEIT IM WERK HUGO LOETSCHERS So berühmt er ist als Schriftsteller, man kann die Rolle Hugo Loetschers im intellektuellen Umfeld der Schweiz nur dann richtig werten, wenn man auch auf seine Bedeutung als Kommentator hinweist. Sprachgewandt wie nur wenige sei- ner deutschsprachigen Kollegen und ßiessend auf Französisch und Italienisch, ist er ein gerngesehener Gast im Rundfunk und Fernsehen, um eine Stellungnahme zur kulturellen und politischen Lage seines Landes abzugeben. Ein Text, den er bei solchen Anlässen gerne zitiert, ist „Was – wenn der liebe Gott Schweizer wäre“. In dieser Kurzgeschichte, die 1983 im Sammelband Der Waschküchen- schlüssel erschien und wegen seiner Beliebtheit seit 1988 als Untertitel fungiert, geht es darum, was wohl passiert wäre, wenn Gott schweizerische Charakterei- genschaften gehabt hätte. Loetschers Fazit: Wenn Gott im Abwarten so schöp- ferisch gewesen wäre wie die Schweizer, dann würde er heute immer noch auf den richtigen Moment für die Schöpfung warten. Erstaunlich ist, dass er die glei- che Geschichte in einem anderen politischen Kontext immer wieder vom Neuen erzählen konnte, etwa als es um Frauenstimmrecht ging oder um den Beitritt zu den Vereinten Nationen oder angesichts der Mitgliedschaft der Europäischen Union. Wenn man sich die Rezeptionsgeschichte von Loetschers literarischem Schreiben anschaut, stellt man fest, dass diese Kontinuität der Neuigkeit eine Konstante ist, die durchaus über diese eine Geschichte hinausgeht. Viele seiner älteren Werke wurden in einem anderen Zusammenhang wieder höchst aktuell, 42 Jeroen Dewulf was gar zur Vermutung führt, dass Loetscher der Rezeption nicht selten ein paar Jahrzehnte voraus war. Ein erstaunliches Beispiel dafür, wie ein Werk plötzlich wieder aktuell wer- den konnte, ist der im Jahre 1967 erschienene Roman Noah. Roman einer Kon- junktur. Es wird die Geschichte vom Bau der Arche erzählt: Während niemand den ursprünglichen Plan, von allen Tieren der Welt wenigstens ein Paar für die Arche zu retten, ernst nimmt, löst das Arche-Projekt dennoch eine Spekulations- welle aus, sodass Noah am Ende nur noch eines übrig bleibt: Aus [dem] Haus krochen langschwänzige Tierchen, aber auch aus den Häusern ne- benan kamen Ratten und verließen die Keller, liefen durch die Rinnsteine, kletter- ten über Füße und Schuhe. Wenn Tritte sie trafen, schleppten sie sich quietschend weiter; diejenigen, welche den Tritten und Steinen entgingen, sammelten sich zu einem Zug und ßohen der Arche zu. Im Gewühl der Ratten stolperte Noah. Ein Wind erhob sich; Lärm und Gestank hingen schwer in der Luft. Noah ging weiter. Einer, der ihm nachsah, sagte: „Jetzt kann ihn nur noch die Sintßut retten.“1 Die Thematik dieses Romans wurde damals mit dem deutschen Wirtschafts- wunder in Verbindung gebracht, mit der boomenden Konsumgesellschaft und den Gefahren eines zügellosen Kapitalismus. Kein Wunder also, dass Noah eines der wenigen Bücher Loetschers wurde, das auch in der DDR (Noah. Berlin 1976) erschien und zwar mit der sozialistischen Nachbemerkung von Eike Mid- dell zum ironischen Schlusssatz, dass die Sintßut als Metapher einer radikalen Gesellschaftsumwälzung zu verstehen sei.2 Ausserhalb des deutschen Sprach- raums war die Rezeption ähnlich, auch in der schwedischen (Noak i välfärden. Stockholm 1969) und britischen (Noah. London 1970) Presse wurde Loetschers Arche als Menetekel für das Wirtschaftswunder interpretiert. Als Kapitalismus und Konsumgesellschaft in Westeuropa zu einer Selbstverständlichkeit wurden, geriet der Roman allmählich in Vergessenheit. Das änderte sich aber nach dem Ende des Kalten Krieges, als Noah in Osteuropa entdeckt wurde und in einer erfolgreichen russischen (Noah. Moskau 2000) und später auch einer polnischen (Noe. Powie ! o koniunkturze. Kraków 2004) Übersetzung als Mahnung für Pro- Þtsucht und Neoliberalismus gelesen wurde, da sich, so die polnische Übersetze- rin Marzena Górecka in einem Interview mit der Zeitschrift „Eurac“ (2007), die 1 Hugo Loetscher: Noah. Zürich 1984, S. 143. 2 Vgl. Hugo Loetscher: Noah. Berlin 1976, S. 129. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 43 biblische Parabel von der Sintßut ausgezeichnet auf die polnische Realität von heute übertragen lässt.3 Erstaunlich aber ist, dass neuerdings eine ganz andere Idee in der Interpretation von Noah hineinspielt: Ökologie. Tatsächlich lässt sich Noahs Vorgehen nicht nur mit Wirtschaft und Politik in Verbindung bringen, sondern auch mit Umwelt. So hat die indische Autorin Gowri Ramnarayan in der Zeitung „The Hindu“ (2007) festgehalten, dass in Noah die aktuelle Idee mitspielt, dass sich zwar alle der drohenden Umweltkatastrophe bewusst sind, aber anstatt sie mit vereinten Kräften zu verhindern, versucht jeder bis zuletzt noch, aus der Katastrophe Gewinn zu schlagen.4 Die Umwelt spielte ebenfalls eine wichtige Rolle in Loetschers Erstling, Abwässer. Ein Gutachten. Das Buch erschien 1963, in einer Zeit, als Wasser- wirtschaft weit davon entfernt war, die öffentliche Meinung zu bewegen. Man kann durchaus annehmen, dass als Emil Staiger im Zürcher Literaturstreit (1966) seine Abneigung gegen die zeitgenössische deutschsprachige Literatur bekannt gab und in seiner Attacke gegen die jüngste Generation deutschsprachiger Schriftsteller das Wort „Kloaken-Literatur“ benutzte, er es nicht zuletzt auf die Thematik von Loetschers Roman abgesehen hatte. Jedoch, als der Bündnerische Schriftsteller Iso Camartin 25 Jahre später ein Nachwort zu der Ex-Libris-Aus- gabe dieses Buches (1988) verfasste, stellte er fest, Loetscher habe in den frühen sechziger Jahren einen der ersten Öko-Romane der deutschsprachigen Literatur geschrieben, der auch als einer der ersten poetischen Kommentare zu Horkhei- mer und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) gelesen werden kann: Das Verhängnis einer Vernunft, die aus lauter Folgerichtigkeit umschlägt in den Wahnwitz ihrer Anhänger, nimmt hier wie dort den Leser in Beschlag. Wie die erbarmungslose Rationalität des Machens und Mehrens gleichzeitig in die Ver- blendung der Subjekte und die Zerstörung der Natur hineinführt, so verfehlt die Beseitigungsenergie und Reinigungswut der hygienisch so prekären Zeitgenossen ihr eigentliches Ziel: Die Welt wird als Resultat ihrer Anstrengung doch immer trüber.5 3 Marzena Górecka: Bis zum Unübersetzbaren. In: Eurac, 2007. Verfügbar über: http://www. eurac.edu/Focus/ TheTranslation/Translation_Gorezka_de.htm (Zugriff am 15.08.2008). 4 Gowri Ramnarayan: Points of Return. In: The Hindu, 04.11.2007. Verfügbar über: http:// www.thehindu.com/ lr/2007/11/04/stories/2007110450150200.htm (Zugriff am 15.08.2008). 5 Iso Camartin: Der Roman als Aufklärungsanlage. In: Jeroen Dewulf u. Rosmarie Zeller (Hgg.): In alle Richtungen gehen. Reden und Aufsätze über Hugo Loetscher. Zürich 2005, S. 233– 242. 44 Jeroen Dewulf Nun fängt Abwässer mit einem politischen Umsturz an, wobei die alten Kader durch Vertrauenspersonen des neuen Regimes ersetzt werden. Wichtig aber ist, dass es für die Rolle des Abwässer-Inspektors keine ErsatzÞgur gibt. Die zugrunde liegende Ansicht, dass sich eine Gesellschaft auch nach einer ‘säu- bernden’ Revolution immer noch mit Schmutz und Dreck auseinander zu setzen hat, hat wohl dazu geführt, dass diesem Roman in der DDR nicht zu einer Publi- kation verholfen wurde. Dennoch zeigt der Roman, dass trotz Unterschiede in Reichtum und Status, alle Menschen in der Produktion von Dreck gleich sind, was zwar ein sehr sozialistischer Gedanke ist, aber anscheinend nicht einer, der in der DDR willkommen war. Gerade die Tatsache, dass Loetscher keine ein- fache, ideologische Lösung anbietet, hat den Literaturkritiker Massimo Raffaeli anlässlich der italienischen Übersetzung (L’ispettore delle fogne. Bellinzona 2000) dazu gebracht, Abwässer ein „revolutionäres Buch“6 zu nennen. Wichtig ist auch, auf das schweizerische Element hinzuweisen, denn Sauberkeit ist im Land der puren Bergluft fast zu einem Mythos geworden. Noch heute präsentiert sich die Schweiz den Touristen auf der ofÞziellen myswitzerland-Homepage mit dem Slogan „Schweiz, ganz natürlich“7. Wie David Signer in der „Weltwoche“ angedeutet hat, gibt es immer noch viele Schweizer, die an ein solches Selbstbild glauben, an eine agrarische Schweiz, die nicht nur dank ihrer Bauern überlebt, sondern für die sie das Mass aller Dinge bleiben: unverdorben, erdverbunden, traditionell, natürlich, echt, sauber.8 Mit Abwässer stellte Loetscher ein anderes Bild seines Heimatlandes dar, eines das hinter – oder hier vielleicht eher unter – die schöne Kulisse blickt und dort genauso viel Dreck feststellt, wie sonst wo. Ein Jahr nach Abwässer erschien Die Kranzßechterin. Das Buch erzählt die Geschichte von Anna, einer Frau, die, genauso wie Loetschers Grossmutter, aus Süddeutschland nach Zürich kommt und sich dort alleine mit ihrer Toch- ter durchschlagen muss. Als Kranzßechterin ist sie abhängig vom Tod: Je mehr gestorben wird, desto besser gehen die Geschäfte. Diese Kombination von iro- nischem Spiel mit dem Tabuthema Tod und Biographie einer alleinerziehenden Mutter störte damals, 1964, gewisse konservative Literaturkritiker. Eine peinliche Sache sei es, meinte der Literaturkritiker Walter Widmer, dass gerade jemand wie Loetscher sich in die Situation einer Frau zu versetzen versucht und es sogar Massimo Raffaeli: Die Schweiz in der Kloake. In: Dewulf/Zeller (Hgg.): In alle Richtungen 6 gehen, S. 247. 7 Verfügbar über: http://www.myswitzerland.com (Zugriff am 15.08.2008). 8 David Signer: Alle Appenzeller jodeln. In: Die Weltwoche, Nr. 30.06, S. 12. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 45 wagt, eine Abtreibung zu beschreiben. Widmer nannte den Roman abschätzig einen „Volkshochschulkurs in Gynäkologie, gehalten von einem pubertären, pickelgesichtigen Möchtegern-Knutscher“9 und sah sich darin unterstützt von eifrigen Briefschreibern, die sich von der „Perversität“ des Romans in ihrem „gesunden Männergemüt angewidert“ fühlten. Allerdings, zwanzig Jahre spä- ter, wurde Annas Daseinskampf von einer prominenten Feministin wie Laure Wyss als eines der ersten literarischen Beispiele der Frauenemanzipation in der Schweiz gefeiert.10 Zu früh war Loetscher 1964 noch einmal, diesmal mit dem FernsehÞlm Ach, Herr Salazar. Mit dem Geld des Charles-Veillon-Literaturpreises, den er für Abwässer erhalten hatte, hatte er die Möglichkeit bekommen, ein Jahr lang im Ausland zu leben. Er wählte dazu das damals noch recht billige und in der Schweiz relativ unbekannte Portugal. In diesem Land herrschte aber ein Diktator, António de Oliveira Salazar, dem es mittels einer geschickten Propa- ganda jahrzehntelang gelang, ein positives Bild seines Regimes im Ausland zu verbreiten. Als Loetscher vom Schweizer Fernsehen die Möglichkeit bekam, einen FernsehÞlm über Portugal zu machen, entschloss er sich, die Chance zu nützen, um dieses Bild zu korrigieren. Wegen der ständigen Überwachung von Seiten der Geheimpolizei waren die Bilder des Filmes harmlos; es wurden lau- ter Sehenswürdigkeiten Portugals geÞlmt: das Hieronymus-Kloster in Lissabon etwa, der Palast von Queluz oder das Casino von Estoril. Der Text, der zum Film gehörte, war jedoch alles andere als touristische Werbung für Portugal. Er deutet auf politische Gefangene hin, auf die Ermordung von politischen Gegenkan- didaten (gemeint ist Humberto Delgado), er erwähnt den hohen Analphabetis- mus, die Armut, in der die Mehrheit der Bevölkerung lebt, den hoffnungslosen Kolonialkrieg, in den die Jugend geschickt wird, kurz, er stellt Portugal als eine faschistische Diktatur dar, die sich nur mit Hilfe einer Geheimpolizei behaupten kann. Der Film endet in der Stadt Évora, wo sich die berühmte Knochenkapelle beÞndet. Das Bild der dort herrschenden Gleichheit gegenüber dem Tod benutzt Loetscher als eine Metapher und einen Appell, das Land zu demokratisieren: Über der Knochenkapelle von Évora / steht der Satz: / Wir Knochen, / die wir hier liegen, / warten auf die euren. 9 Walter Widmer: Ein Zürcher Totentänzchen. In: Zürcher Woche, 29.01.1965. 10 Vgl. Laure Wyss: Wiedergelesen. In: Dewulf/Zeller (Hgg.): In alle Richtungen gehen, S. 258–261. 46 Jeroen Dewulf Das ist die totale Demokratie. / Hier herrscht die Brüderlichkeit, / Schädel um Schädel, / ohne Opposition, / nur mit etwas Mörtel. Aber vor dem Tode / gibt es andere Möglichkeiten, / jedem das gleiche Recht zu- kommen zu lassen, / selbst wenn der Tod / das Programm besser erfüllt. Ach, Herr Salazar, / ‘Freiheit’ ist auch ein portugiesisches Wort. / Es heisst in Ihrer Sprache: / LIBERDADE.11 Eine Stunde vor Ausstrahlung wurde der Film aus politischen Gründen abge- setzt. Journalisten wehrten sich, die Schriftstellerkollegen aber nahmen die Zensur hin. Vier Jahre später wäre eine solche Passivität unvorstellbar gewesen. 1964 aber war politisches Engagement unter Schweizer Autoren offenbar noch nicht sehr verbreitet.12 Das Thema Engagement spielt eine entscheidende Rolle in Loetschers bekanntestem Roman Der Immune (1979).13 Es ist auffällig, dass während man sich in der Interpretation des Romans in der Schweiz sehr auf die schweizerische und autobiographische Thematik konzentrierte und dabei besonders die Bedeu- tung des ironischen Kapitels „Die Entdeckung der Schweiz“ hervorhob, die fran- zösische Rezeption anders ausÞel. Nicht zuletzt der andere Titel des Romans – Le déserteur engagé (Paris 1989) – hat dazu geführt, dass dort das Wech- selspiel von „absurdité“ und „engagement“ im Zentrum des Interesses stand; Alain Bosquet sah im Immunen gar eine Candide-Figur.14 Als der Roman 2006 in der Reihe ‘Schweizer Bibliothek’ neu herausgegeben wurde, deutete Corina Caduff daraufhin, dass bei der Ersterscheinung vom Immunen die autobiogra- phische Komponente zu stark betont worden war und man zu wenig beachtet hatte, wie sehr Der Immune solchem Tun voraus war, da das eigene Leben nicht 11 Hugo Loetscher: Ach, Herr Salazar. In: Georg Sütterlin (Hg.): Das Hugo Loetscher Lese- buch. Zürich 1984, S. 38. 12 Der Text fand 1971 Eingang in das von Theo Ruff und Peter K. Wehrli herausgegebene Dieses Buch ist gratis (Zürich) und wurde später von Georg Sütterlin in das Hugo Loetscher Lesebuch aufgenommen. Kurz nach der Absetzung in der Schweiz war die Rede davon, dass das Hamburgische Fernsehen ihn kaufen würde, aber der Verkauf hat nie stattgefunden. Seitdem das deutschschweizerische Fernsehen von Bellerive nach Zürich-Oerlikon umgezogen ist, gilt der Film als verschwunden. Auch in der 1987 erschienenen Schweizer Filmgeschichte von Mar- tin Schlappner und Martin Schnaub fand er keine Aufnahme, angeblich weil es sich um einen 16-Millimeter-Film und nicht um einen 32er handelte. Vgl. Martin Schlappner u. Martin Schaub: Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896–1987). Eine kritische Wertung. Zürich 1987. 13 Zu diesem Roman siehe besonders: Romey Sabalius: Die Romane Hugo Loetschers im Spannungsfeld von Fremde und Vertrautheit. Bern 1995. 14 Alain Bosquet: Le Candide d’Hugo Loetscher. In: Le Figaro, 29.08.1989. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 47 der narzisstischen Selbstbespiegelung dient, sondern als Archiv, Fundgrube und Forschungsmaterial.15 In wissenschaftlicher Hinsicht sei angesichts der Rezep- tion des Immunen besonders die Rolle der Basler Literaturprofessorin Rosmarie Zeller zu betonen, da sie als Erste die Bedeutung der Polyglossie oder Vielspra- chigkeit dieses Romans erkannte16 und eine Beziehung zum französischen Nou- veau Roman und der Neuentdeckung des russischen Literaturwissenschaftlers Michael Bachtin legte: Damit sind die vermeintlichen DeÞzite in Loetschers Romanen zu Qualitäten modernen Erzählens geworden, so zum Beispiel, dass er die Literatur immer als Literatur zu erkennen gab, dass er nie die Illusion erzeugte, die Wirklichkeit fo- tograÞsch getreu oder jedenfalls wiedererkennbar abzubilden, sondern dass er im Gegenteil die Sprache als Mittel der Darstellung ständig thematisierte, dass er mit seiner Vorliebe für Listen und Aufzählungen demonstrierte, was man alles über die Welt sagen kann oder dass er vor Reßexionen nicht zurückscheute. Loetschers unzeitgemässe Modernität ist zeitgemäss geworden.17 Loetschers Streben nach Vielsprachigkeit, so wie er es auch in seinem eng- lischsprachigen Sammelband How Many Languages does Man Need? (New York 1982) zum Ausdruck brachte, hat Peter von Matt später zu dem Hinweis veranstaltet: Loetscher hat den Faksimile-Charakter der Zivilisation, in der wir heute angelangt sind, schreibend denunziert, bevor die französischen Poststrukturalisten ihn auf ihre ßirrenden Begriffe brachten.18 15 Corina Caduff: Hugo Loetscher: „Der Immune“ 1975–2006. In: Das Magazin, 15.04.2006, S. 15. 16 Rosmarie Zeller: Vielsprachigkeit und Verfremdung im Werk Hugo Loetschers. In: Schwei- zer Monathefte, H. 12, Dezember 1989, S. 1036. Zeller schreibt auch: „Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache bedeutet zum einen, die vielen vorhandenen Sprachen ausnützen, die Soziolekte genauso wie die Fachsprachen, zum andern bedeutet es, neue Sprachen schaffen im Sinne des Immunen, der nach einer kugelförmigen Sprache verlangt, nach einer Sprache, die die Erdumdre- hung mitmacht“ (ebd.). Siehe dazu auch Anil Bhatti: „Der Schweizer Hugo Loetscher gehört zu jenen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart, welche die Mehrsprachigkeit aufgewer- tet haben.“ Anil Bhatti: Postkoloniale Diskurse. In: Jean-Marie Valentin u. Jean-François Can- doni (Hgg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: Germanistik im Konßikt der Kulturen. Bern 2007, S. 97. 17 Rosmarie Zeller: Der unzeitgemässe Zeitgemässe. Zu Rezeption und literarischem Kontext von Hugo Loetschers Romanen. In: Dewulf/Zeller (Hgg.): In alle Richtungen gehen, S. 225. 18 Peter von Matt: Konstrukteur und Brückenbauer. Über Hugo Loetscher. In: Neue Zürcher Zeitung, 03./04.10.1992, S. 22. 48 Jeroen Dewulf Im Immunen hat jedes einzelne Kapitel einen eigenen Stil. „Das Hohe Lied des Alkohols“ liest sich wie der Ablauf einer Messe, „Proletarier Sightseeing“ ist wie ein Reiseführer geschrieben worden, „Das Monster-Experiment“ ist eine Hor- rorgeschichte und das Kapitel „Wie benutzt man einen Homosexuellen“ ist wie eine Gebrauchsanweisung konzipiert, dies alles entsprechend Loetschers Devise, dass Stil eine Frage der Situation ist oder, wie er es in seinen Poetikvorlesungen im Band Vom Erzählen erzählen (1988) selber sagte: Es ist die Situation, welche die Sprache mitbestimmt. [...] Simultaneitat und Situa- tion [sind] für das Erzählen unseres Autors Schlüsselbegriffe. Damit, hoffen wir, ist klarer geworden, was es heißt, wenn unser Autor bei einer anderen Gelegenheit einmal meinte: er bemühe sich um eine Sprache, die nicht nur einen Mund hat, sondern auch Ohren.19 Dieses späte Lob von prominenten Germanisten galt aber nicht nur der Kon- zeption und dem Sprachstil. Paul Michael Lützeler etwa, Germanist an der Washington University in Saint Louis, stellt Loetscher in Der Postkoloniale Blick (1997) auf eine Linie mit Autoren, die – wie Hans Christoph Buch oder Hubert Fichte – in ihrem Werk die postkoloniale Wende thematisiert haben.20 Tatsäch- lich wird die Vielsprachigkeit im Immunen nicht als rein sprachliches Problem aufgefasst, sondern auch als existentiales, und Þndet seine Entsprechung zu einer Gesellschaft des Nebeneinanders, der Gleichzeitigkeit, die die traditionell euro- zentrische Sicht auf die Welt in Frage stellt. Dazu hat sich auch der indische Literaturwissenschaftler Anil Bhatti folgendermassen geäussert: Es ist faszinierend zu sehen, wie [Loetscher] in seinen Reisefeuilletons aus den siebziger Jahren eine Haltung vorwegnimmt, die man heute mit dem postkolo- nialen Sinn für das Hybride und für Diversität assoziiert. Dabei betreibt er kei- nen Exotismus, obwohl er über das Exotische schreibt. [...] In seinen Reisetexten werden der Kolonialismus und die postkoloniale Situation weder besserwisserisch noch sentimental oder mit politischer Korrektheit erfasst. Loetschers Ironie er- 19 Hugo Loetscher: Vom Erzählen erzählen. Münchner Poetikvorlesungen. Zürich 1988, S. 122 f. 20 Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.): Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Frankfurt a. M. 1997. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 49 zeugt einen Sinn für den transitorischen Reiz der Spuren des Kolonialismus und der Ruine, was die Quelle des textuellen Gelingens ist.21 Wie revolutionär Loetschers Ansichten im Immunen wohl waren, wird heute etwa durch die Lektüre von Rüdiger Safranskis Bestseller Wieviel Globalisierung ver- trägt der Mensch? (2003) klar. Nicht nur der Titel enthält in nuce die gleiche Fragestellung, die Loetscher vor fast dreissig Jahren aufwarf, auch die Antwort lässt sich fast wörtlich im Immunen Þnden. Safranski vertritt die These, dass in der globalen Informationsgemeinschaft die Menge der Reize und Informationen den möglichen Handlungskreis dramatisch überschritten hat. Deswegen schlägt er vor: Wir müssen nämlich selbst ein Filtersystem entwickeln, das Reize, auf die man gar nicht angemessen reagieren kann oder auch nicht zu reagieren braucht, weg- Þltert.22 Und dazu braucht es „die Entwicklung eines kulturellen Filter- und Immunsys- tems“. Im Immunen hatte Loetscher, allerdings etwas poetischer, das Gleiche gesagt: Hätte er voll und ganz mitempfunden an dem, was an einem einzigen Tag auf die- ser Welt geschah, er hätte am Abend an seinen Gefühlen sterben müssen. Und hät- te er versucht, zu verstehen, was an diesem einen Tag geschah, er hätte am gleichen Abend verrückt sein müssen. [...] Er begann sich in dem Masse zu immunisieren, als er die Fähigkeit bewahren wollte, zu empÞnden und zu agieren.23 Und auf Safranskis Frage „Wieviel Wahrheit verträgt der Mensch?“ könnte man aus den Papieren des Immunen, dem Nachfolgeroman aus dem Jahre 1986, mit dem Kapitel „Der Sündenpriester“ antworten: Wenn Gott dem Menschen etwas nicht zumuten wollte, war es, für immer am Le- ben bleiben zu müssen. Er selber hatte die Welt erschaffen, um aus seiner Einsam- keit heraus zu Þnden, aber zu seiner eigenen Einsamkeit war noch die der Men- 21 Anil Bhatti: Für Hugo Loetscher, vom Rande aus geschrieben. In: Dewulf/Zeller (Hgg.): In alle Richtungen gehen, S. 148 f. 22 Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? München, Wien 2003, S. 78. 23 Hugo Loetscher: Der Immune. Zürich 1988, S. 40. 50 Jeroen Dewulf schen hinzugekommen. Denn Allwissen macht einsam, und so Þelen Allwissen und Einsamkeit zusammen; angesichts dieser Einsamkeit war das Alleinsein der Menschen nur Stückwerk. Und Georg, der Sündenpriester, gewann eine Vorstel- lung wie diese: Gott ist die Bereitschaft, von allem, was auf dieser Erde je geschah und geschehen wird, Kenntnis zu nehmen, und er ist zugleich die Fähigkeit, ein solches Wissen in seiner Totalität auszuhalten.24 Der Immune, sowie der Fortsetzungsband Die Papiere des Immunen sind das Ergebnis der vielen Reisen, die Loetscher als Student und Journalist machte. Bereits während seines Studiums (1948–1956), wo er an der Universität Zürich und 1950 auch ein halbes Jahr an der Sorbonne Politikwissenschaften, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte studierte, schrieb er für Schweizer Zeitungen. Da er als Vertreter der Schweizerischen Studentenschaften zu mehreren internationa- len Konferenzen eingeladen wurde, hatte er die Gelegenheit, Reisereportagen zu schreiben.25 Dies zu einer Zeit, als Auslandsreisen noch keine Selbstverständ- lichkeit waren. Nach seinem Studium arbeitete Loetscher zuerst eine Zeitlang als Literaturkritiker für die „Neue Zürcher Zeitung“ und „Die Weltwoche“. 1958 bis 1962 war er Redaktor der Kulturzeitschrift „du“, später wechselte er zur „Weltwoche“, wo er zuerst als Feuilleton-Redaktor und später als Mitglied der Chefredaktion bis 1969 blieb. Sein Vertrag ermöglichte ihm, die Hälfte des Jahres im Ausland zu arbeiten. Dank seiner Mitarbeit an der „Swissair-Gazette“ hatte er auch später noch die Möglichkeit, um die Welt zu reisen. Südostasien und Lateinamerika, besonders Brasilien, waren seine bevorzugten Reiseziele. Loetscher hatte eine klassische, humanistische Bildung genossen; dank seiner Reisen konnte er dies allmählich zu einer globalen Welterfahrung ausbauen. Erstaunlich ist, dass er bereits 1956 in seiner (leider immer noch ungedruck- ten) Dissertation an der Universität Zürich schrieb: Heimatlosigkeit ist dies nur dann, wenn man mit Heimat den Begriff der Nation, des Geburtsortes identiÞziert. Man nehme Heimat nicht als etwas Gegebenes, son- dern als etwas, das man sich fortwährend erwirbt, als etwas, das man sich stets vergrössert und dessen Grenzen man stets verschiebt.26 24 Hugo Loetscher: Die Papiere des Immunen. Zürich 1988, S. 102. 25 Zu erwähnen sind etwa Galip von Goldenden Horn (Tages Anzeiger, 14.09.1953) und By- zantinische Fahrt (ebd., 08.10.1953). 26 Hugo Loetscher: „Der Philosoph vor der Politik. Ein Beitrag zur Politischen Philosophie (illustriert an der neueren Politischen Philosophie Frankreichs)“. Doktorarbeit an der Universität Zürich, 1956, S. 110. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 51 Diese Idee wurde im Immunen wieder aufgenommen, wo sich Loetscher mit dem Gehen auseinandersetzt: Am liebsten wäre er in alle Richtungen gegangen und aus allen Richtungen zu- rückgekehrt, bis jeder fremde Ort ein vertrauter wurde, jeder vertraute sich einem fremden anglich und es keinen Unterschied mehr gab zwischen vertraut und un- vertraut.27 Das hat zur Konsequenz, dass klassische Metaphern in Frage gestellt werden, wie etwa diese, dass Menschen Wurzeln haben. In Die Papiere des Immunen wird diese traditionelle Auffassung von Identität völlig dekonstruiert: Wenn [der Immune] jemanden vom Menschen und seinen Wurzeln reden hörte, konnte er aufspringen und ihn bitten, die Schuhe auszuziehen, er möchte einmal einen sehen, der statt Füssen Wurzeln hat. Ja, wir wollten nicht mit Wurzeln, son- dern mit Füssen leben. [...] Natürlich belehrten die Gäste den Immunen, der Ver- gleich mit den Wurzeln sei nur ein Bild, und der Gebildetste unter den Eingeladenen sprach von einer Metapher. Doch der Immune entgegnete scharf, die Leute würden immer dann symbolisch, wenn sie keine Lust hätten, zu Ende zu denken.28 Im gleichen Roman hat Loetscher versucht, diese persönliche Entwicklung eines globalen Bewusstseins anhand einer Kurzgeschichte zu illustrieren. Die Geschichte spielt in Griechenland und erzählt von einer Begegnung zwischen einem schweizerischen und einem amerikanischen Studenten. Als Schweizer meint der junge Lukas, er müsse dem Amerikaner ‘die’ Antike zeigen: „Wie Þndest du unsere Antike?“, fragte er. Er sagte ganz gezielt „unsere“, obwohl er wusste, dass zu der Zeit, als die Griechen diesen Tempel gebaut hatten, seine Vorfahren noch dabei waren, Pfähle in den See zu rammen, und eben herausge- funden hatten, wie man Honig zu Met vergären lässt. Joe schob seinen Kaugummi in die Wange und meinte: Im Gegensatz zur amerikanischen Antike sei die euro- päische ... Da horchte Lukas auf, er war fast beleidigt, dass Joe das Wort Antike für einen Kontinent wie Amerika beanspruchte, er hörte nicht genau hin, als Joe ausführte, dass die Griechen sich mehr an menschliche Vorbilder gehalten hätten im Gegensatz zu den Olmeken, wenn er zum Beispiel an ihre Kultur von La Venta in Villahermosa denke. Da wollte Lukas wissen, wo sich diese Villa beÞndet, und 27 Loetscher: Der Immune, S. 93. 28 Loetscher: Die Papiere des Immunen, S. 193. 52 Jeroen Dewulf Joe klärte ihn auf: Sein Vater stehe in diplomatischen Diensten, so habe er die Chance gehabt Mexiko kennenzulernen, sicherlich dürfe man bei den Statuen in Villahermosa wegen ihrer negroiden Züge auch auf menschliche Vorbilder schlies- sen, ihn locke es, die Tänzer von Monte Alban mit denen auf griechischen Schalen und Gefässen in einer gemeinsamen Show auftreten zu lassen, aber viel neugieri- ger sei er darauf, die amerikanische Antike mit der asiatischen zu vergleichen, sein Vater sei nach Indien versetzt worden, da habe er gedacht, er nehme auf dem Weg dorthin die europäische Antike mit.29 Die Tatsache, dass der Begriff ‘Antike’ hier im Plural gesehen wird, deutet auf eine intellektuelle Entwicklung hin, bei der die klassische Bildung seiner Jugend globalisiert wird. Wenn heute so viele für eine deutsche Literatur plädieren, die weltoffen und global angelegt ist und man etwa auf dem Umschlag zu Raoul Schrotts Die ErÞndung der Poesie (Frankfurt a. M. 1997) lesen kann, „dass sich Schrotts Spurensuche ins Zweistromland, zu den Arabern, den Kelten und den Sizilianern, zu den Griechen und Römern, aber auch zu den Iren, den Hebräern, den Troubadouren und nach Wales führe, und dass damit ein neues Weltbild im Reich der Dichtung entstanden sei, da es ein solches Buch nie gegeben habe“, dann sollte daran erinnert werden, dass Loetscher bereits 1975, immerhin 22 Jahre vor Schrott, Ähnliches geleistet hatte. Im Immunen-Kapitel „Ein Robot- Bild des Dichters“ begibt sich der Erzähler auf die Suche nach ‘dem’ Dichter. Dieser setzt sich aus den verschiedensten Dichtern zusammen, aus Frauen und Männern, die – geographisch und zeitlich weit voneinander entfernt – sich dem gleichen Ziel hingegeben haben: aus Worten eine Welt zu erschaffen.30 Stärker noch als im Immunen hat sich Loetscher mit dem Thema Globa- lisierung in Die Augen des Mandarin (1999) auseinander gesetzt. Der Roman wurde als Antwort an Francis Fukuyamas Verkündung vom Ende der Geschichte (1992) konzipiert.31 Während Fukuyama die globalisierte Zivilisation als einen Endpunkt in der Geschichte der Menschheit bestimmt, vertritt Loetscher die her- ausfordernde These, dass die Geschichte erst jetzt anfängt: 29 Ebd., S. 248. 30 Zu diesem Kapitel siehe besonders Dietrich Rall: Translation und Transtextualität in Hugo Loetschers „Ein Robot-Bild des Dichters“. In: Dewulf/Zeller: In alle Richtungen gehen, S. 284– 296. 31 Vgl.: Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man. New York 1992. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 53 Jetzt, da die Welt zusammenkommt, beginnt ihre Geschichte. Was sich bisher abspielte, war lokal, wobei sich Kontinente als lokal erweisen.32 Auf einem „Kontinent, der seine Zentrallage hinter sich hatte“ phantasiert Loet- scher eine Begegnung zwischen einem älteren, vielgereisten Zürcher und einem chinesischen Mandarin, der in den Westen reisen wollte, viel weiter noch als das – aus chinesischer Perspektive – ‘West-Land’ Indien. Ausgangspunkt des Werkes ist die (historisch belegte) Frage eines Mandarin aus dem 16. Jahrhun- dert, der zum ersten Mal einen Europäer traf: „Kann man mit blauen Augen sehen?“33 Die gleiche Frage, ob man mit blaugrünen Augen sehen kann, richtet Past, die HauptÞgur, an sich selbst und baut so eine eigene Welt, eine, in der es weder geographische noch zeitliche Grenzen gibt. Allerdings wird im Immunen das globale Weltbild deutlich noch im multi- kulturellen Sinne aufgefasst, d. h., zwar wird im Immunen kapitelweise die Kul- tur und damit auch die (literarische) Sprache gewechselt, die Kulturen erscheinen aber nach wie vor als geschlossene Einheiten. In Die Augen des Mandarin ist Loetscher radikaler; hier wird oft drei- bis viermal pro Seite die Kultur gewech- selt, wobei keine Kultur mehr selbständig und geschlossen dasteht. Anders gesagt, anstelle des multikulturellen Nebeneinanders der Kulturen ist ein trans- kulturelles Ineinander getreten. Das Gefühl der Perplexität gegenüber einer sich globalisierenden Welt, das im Immunen noch am Ende stand, ist hier Ausgangs- punkt zu einer Entdeckungsreise durch eine Welt geworden, in der nichts mehr an seinem Platz zu bleiben scheint, in der man sekundenweise von Brasilien über Thailand nach China hüpfen kann und in der alles in Relation gesetzt wird. Dieser Unterschied lässt sich anhand der Darstellung Brasiliens illustrieren. Im Immunen wurde Brasilien noch in einzelnen Kapiteln thematisiert, wie etwa in „Weg und den Amazonas hinauf“. In Die Augen des Mandarin sind es aber die Erinnerungen an einen brasilianischen Freund, Gil, die Pasts Brasilienbild bestimmen. Wenn dort von einer Siedlung die Rede ist, „die auf Stecken, Stege und Behausungen, [...] weit ins Niemandsland des Wassers gebaut [worden war]“, von „Kindern, [die] halbnackt, eine Plastikschüssel neben sich herschiebend oder eine Blechdose in der Hand [...] nach Krebsen [suchen], die der Fluss nicht mitnimmt, wenn er sich zurückzieht“34, stellen sich sofort Assoziationen zu den 32 Hugo Loetscher: Die Augen des Mandarin. Zürich 1993, S. 316. 33 Ebd., S. 7. 34 Ebd., S. 29 f. 54 Jeroen Dewulf ‘choças’ von Recife ein, den dortigen Elendsquartieren im Mündungsdelta des Beberibe, wo sich viele als Krebssucher durchschlagen müssen.35 Jedoch, mittels einer Technik, die stark an Joyces Stream of Consciousness erinnert, geben die brasilianischen Erinnerungen sofort zu anderen Erinnerungen und Phantasien in anderen Kontinenten oder in anderen Epochen Anlass. Brasilien ist hier also nur in einer globalen Perspektive zu verstehen. In seiner Studie Mosaïques (2001) hat der Romanist Lucien Dällenbach Loetschers Augen des Mandarin „une auto-Þction planétaire passionante“36 genannt. Mit dem Begriff ‘planétaire’ trifft Dällenbach den zentralen Punkt des Romans: den Versuch, das globale oder, so man will, globalisierte Lebensgefühl zu einem literarischen Thema zu machen. Globalisierung wird denn auch von Loetscher nicht als eine Bedrohung erfahren, als die Gefahr einer kulturellen Gleichförmigkeit oder, so George Ritzer, einer ‘McDonaldisierung’ der Welt, sondern vielmehr als ein Prozess, der immer mehr transnationale Kontakte, Aus- tausche und Dialoge ermöglicht, damit Neues entstehen kann.37 In seiner Studie Welt in Stücken hat der Anthropologe Clifford Geertz darauf hingewiesen, dass „die verfügbaren Genres der Beschreibung und Beurteilung nicht viel für die vielfältige, vermischte, unregelmässige, wandelbare und diskon- tinuierliche Welt, in der wir leben“38, taugen. Tatsächlich scheinen die Möglich- keiten einer literarischen Arbeit für eine solche Herausforderung beschränkt zu sein, schliesslich würde das Prinzip ‘Wirrnis’ in einer Romanstruktur automa- tisch auch die Aufhebung desselben bedeuten. Jedes Gefühl von Wirrnis in der Literatur wird immer eine erzeugte Form von Wirrnis sein, eine Wirrnis zweiten Grades. Die Frage ist also: Wie vermittelt man dieses Gefühl von Wirrnis mit- tels Literatur? Eine Antwort auf diese Frage bietet Geertz indirekt selbst an, wo er doch in einem anderen Werk vom postmodernen Lebensgefühl als „living in a collage“39 spricht. Dieses Collage-Gefühl ist eines der Hauptmerkmale von 35 Es ist ein Schicksal, das vom pernambukanischen Soziologen Josué de Castro eindrücklich als der ‘Ciclo do Caranguejo’, der ‘Zyklus des Krebses’, beschrieben wurde und 1967 zum Roman Homens e Caranguejos (São Paulo) Anlass gab. Dieses Werk hat Loetschers Brasilienbild stark geprägt. Siehe dazu: Jeroen Dewulf: Hugo Loetscher und die ‘portugiesischsprachige Welt’. Wer- degang eines literarischen Mulatten. Bern 1999, S. 92 f. 36 Lucien Dällenbach: Mosaïques. Un objet esthétique à rebondissements. Paris 2001, S. 54. 37 Vgl. George Ritzer: The McDonalidization of Society. Thousand Oaks 2000. 38 Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kulturen und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien 1996, S. 30. 39 Clifford Geertz: Available Light. Anthropological Reßections on Philosophical Topics. Prin- ceton 2000, S. 87. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 55 Loetschers Die Augen des Mandarin. Es wird durch einen ständigen Szenen- wechsel erzeugt, wobei jeder neue Wechsel den vorangehenden ergänzt, aber dennoch den Eindruck entstehen lässt, dass nichts zu Ende geschrieben wurde oder dass bis ins Unendliche hinein weitere Szenenwechsel stattÞnden könnten. Der Roman zeichnet sich durch die Stichworte Perplex und Wirrwarr aus, zwei Begriffe, die ursprünglich sogar als Titel des Romans vorgesehen waren. Die HauptÞgur Past hat als Spitzname „der Perplexe“, in Analogie zu Aleister Crowley, dem britischen Okkultisten und Mystiker, dessen letztes Wort auf dem Sterbebett ‘I’m perplexed’ war. Past selber aber meint zu seinem Spitznamen, ‘perplex’ sei nicht sein letztes Wort, sondern vielmehr sein erstes.40 Mit anderen Worten, Perplexität wird hier als Ausgangspunkt genommen.41 Wichtig dabei ist, dass Loetscher gezielt die Frage aufwirft, ob denn die Globalisierung wirk- lich so neu ist, wie man gemeinhin anzunehmen pßegt. Dies tut er anhand von Gedankenverbindungen, die wir von Michail Bachtin her kennen und die in der Bachtin-Forschung ‘recurring patterns’ genannt worden sind. Konkret handelt es sich um ein bestimmtes Phänomen, das man traditionellerweise mit nur einer einzigen Kultur in Verbindung bringt, in Relation zu anderen Kulturen und sogar zu anderen Epochen gesetzt und so zu einem ‘transhistorischen’ Phänomen wird.42 Genau das macht auch Loetscher immer wieder, etwa beim Thema Gold- hunger, das einmal bei der Eroberung Perus durch die Spanier vorkommt, dann in Thailand bei einer Plünderung durch burmesische Krieger und schliesslich bei den Lydiern, die den Goldhunger eines Römers stillen, indem sie ihm ßüssiges Gold in den Rachen giessen.43 Gezeigt werden soll, dass Menschen, unabhängig voneinander, zu ganz verschiedenen Zeiten und geographisch weit voneinander getrennt, dennoch ähnlich gehandelt haben. So wird der Mensch als ein indivi- duum varietas varietatis44 deÞniert, als die Varietät einer Varietät. Auch deutet Loetscher daraufhin, dass es immer schon globalisierende Tendenzen gegeben hat, sogar noch vor den portugiesischen und spanischen Entdeckungsreisen. Er illustriert dies unter anderem anhand der Kurzgeschichte über einen jungen 40 Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 371. 41 „Ein Erstaunen darüber, was es an Welten gibt“, ist ein typischer Immunen-Satz. Man könn- te diese Aussage gar als einen Hinweis auffassen, dass Die Augen des Mandarin eine Idee weiter- führt, die in Der Immune (1975) und Die Papiere des Immunen (1986) angefangen worden war. 42 Michael Holquist (Hg.): Dialogism. Bakhtin and his world. London, New York 1990, S. 112. 43 Vgl. Loetscher: Die Augen des Mandarin, S. 151 ff. 44 Ebd., S. 263. 56 Jeroen Dewulf Basler aus dem 14. Jahrhundert, der sich die verschiedenen Kathedralen seiner Zeit anschauen möchte, aber feststellen muss, dass genau die gleichen gotischen Elemente überall auftauchen. Dennoch steht ausser Frage, dass der Grad der Globalisierung in der heu- tigen Zeit einzigartig in der Menschheitsgeschichte ist. Dieses globalisierte Lebensgefühl unserer Zeit versucht Loetscher besonders anhand der Massen- medien zu exempliÞzieren. Das Fernsehen erscheint denn auch nicht prinzipiell als Informationsquelle, sondern eher als Quelle der Verunsicherung, wobei wir mit so vielen Daten zur gleichen Zeit konfrontiert werden, dass die Übersicht zu verloren gehen droht: Die Friedhofsschändung und das Eisenbahnunglück, ineinanderverkeilte Wa- gen, aus denen die Opfer herausgeschweisst werden mussten, und umgestürzte Grabsteine. Hatte er das heute gesehen? Oder gestern? Die verkohlte Leiche eines Stammesangehörigen, auf die der Angehörige eines andern Stammes sein Bajonett richtete, die Verleihung des „Prix Art Design“ – doch, das war gestern gewesen nach der Pille gegen Glatzenbildung und dem Stau wegen Schneefalls, aber vor den Folterspuren – von welchem Regime schon wieder?45 Mehr noch als das Fernsehen wird das Internet als das Thema par excellence ver- wendet, um das Ineinander – oder, so man will, das ‘Durcheinander’ – unseres globalisierten Zeitalters wiederzugeben. So wird in Die Augen des Mandarin manche Reise durchs World Wide Web unternommen: „Enter“; wir brausen los. Beat klickte in „Favoriten“. Er rief eine Bekannte in Neu- seeland an. Off to bed, die war schon schlafen gegangen. [...] Dann versuchte er es bei einer Freundin in Brüssel. Not found on this server. Er kehrte zurück in die Schweiz; er vertat sich und tippte nicht „ch“ ein, sondern „ci“, sie landeten statt in der Schweiz an der Elfenbeinküste. Sie hatten sich verlaufen.46 Obwohl die Figuren ihre Stühle nicht verlassen, verlaufen sie sich dennoch welt- weit. Die Cyberkultur bringt uns zum zweiten Stichwort des Romans: Wirrwarr. Die Welt und die Zeit von heute werden als ‘die Welt des Wirrwarrs’ beziehungs- weise die ‘Zeit des Wirrwarrs’ deÞniert. Das Wort ‘Wirrwarr’ sei aber nicht negativ zu deuten, vielmehr sollte es als Vorbedingung interpretiert werden, 45 Ebd., S. 225. 46 Ebd., S. 369. Die Kontinuität der Neuigkeit ... 57 damit Neues entstehen kann. Was Loetscher über die Post-Wirrwarr-Zeit aus- sagt, tut er anhand von Metaphern aus der Computersprache, genauer gesagt, anhand des Computerspiels Shanghai. Dieses Spiel fängt mit Wirrwarr an: Der Norden, Süden, Westen und Osten liegen völlig durcheinander, und erst, als die Mitte ganz aufgeräumt worden ist, erscheint der Drache, das chinesische Symbol für Neujahr, für eine neue Hoffnung, auf das, was kommen wird. Auch im Roman selber wird gegen den Schluss hin tüchtig aufgeräumt, indem Past und der Mandarin alles gespeicherte Material in den Papierkorb des Computers schicken. So endet der Roman mit einem grossen Löschfest; was ein Leben lang gespeichert worden war, wird nun schonungslos geleert, damit Platz geschaffen wird für Zukünftiges. In unserer heutigen Gesellschaft, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie möglichst viel aufbewahren, retten, schüt- zen, speichern und archivieren möchte, hört sich der Aufruf, vieles fortzuwerfen, damit Platz für Neues da ist, recht ketzerisch an. Man könnte den Schluss daher auch als eine eigene, postmodern geprägte Variante der buddhistischen Entsa- gung interpretieren oder als eine deÞnitive Absage an statische Denkstrukturen, wobei alles Feste wieder ßüssig wird. Loetscher hat Probleme und Fragen, die heute im globalisierten Zeitalter geläuÞg geworden sind, bereits thematisiert, als es das Wort Internet noch nicht einmal gab. Es bestätigt seine Originalität als Schriftsteller und es lädt ein zu weiteren Studien nach der Kontinuität der Neuigkeit in der Rezeption seines Werkes. KONTYNUACJA NOWO CI W UTWORACH HUGO LOETSCHERA Streszczenie W artykule scharakteryzowano twórczo ! Hugo Loetschera pod k"tem jej nad- zwyczajnej uniwersalno ci. Wiele bowiem utworów szwajcarskiego pisarza z biegiem lat nie tylko nic nie straci#o na aktualno ci, lecz mo$na je wr%cz odnosi! do coraz to innych sytuacji, które w sposób niezwykle trafny puentuj". W tym kontek cie wskazano zarówno na debiutanck" powie ! Loetschera z 1963 roku Abwässer. Ein Gutachten, jak i na s#ynn" Powie ! o koniunkturze – Noe (1967), któr" przet#umaczono na wiele j%zy- ków i która wci"$ na nowo interpretowana jest w odniesieniu do sytuacji gospodarczej i politycznej ró$nych krajów. Obraz twórczo ci Loetschera dope#nia analiza jego naj- 58 Jeroen Dewulf s#ynniejszych powie ci: Der Immune (1975) i Die Papiere des Immunen (1986) oraz Die Augen des Mandarin (1999), które poprzez sw" tematyk% i struktur% s" odzwierciedle- niem wspó#czesnego wiata w dobie globalizacji.

References (3)

  1. Es ist ein Schicksal, das vom pernambukanischen Soziologen Josué de Castro eindrücklich als der 'Ciclo do Caranguejo', der 'Zyklus des Krebses', beschrieben wurde und 1967 zum Roman Homens e Caranguejos (São Paulo) Anlass gab. Dieses Werk hat Loetschers Brasilienbild stark geprägt. Siehe dazu: Jeroen Dewulf: Hugo Loetscher und die 'portugiesischsprachige Welt'. Wer- degang eines literarischen Mulatten. Bern 1999, S. 92 f. 36 Lucien Dällenbach: Mosaïques. Un objet esthétique à rebondissements. Paris 2001, S. 54. 37 Vgl. George Ritzer: The McDonalidization of Society. Thousand Oaks 2000.
  2. Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kulturen und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien 1996, S. 30.
  3. Clifford Geertz: Available Light. Anthropological ReÀ ections on Philosophical Topics. Prin- ceton 2000, S. 87. sáynniejszych powieĞci: Der Immune (1975) i Die Papiere des Immunen (1986) oraz Die Augen des Mandarin (1999), które poprzez swą tematykĊ i strukturĊ są odzwierciedle- niem wspóáczesnego Ğwiata w dobie globalizacji.