Johanna Miecznikowski
Mehrsprachig leben und studieren
Die Sicht studentischer Migranten
1. Einleitung
Biographische Erzählungen können mit Schütze (1984) als Darstellungen von
Erfahrungsaufschichtungen betrachtet werden, deren rhetorische Strukturierung
einen Informationswert hat, der neben der Berücksichtigung der erzählten Fakten
in die Analyse einfließen muss. Besonders hilfreich ist Schützes Unterscheidung
von vier verschiedenen Prozesstypen, die als übergeordnete Strukturschemata
in Erzählungen vorkommen können: biographische Handlungsschemata, d. h.
Handlungssequenzen, in denen der Biographieträger als Agens auftritt; institutionelle Ablaufmuster, innerhalb derer Institutionen als treibende Kräfte wirken;
sowie positiv erlebte Wandlungsprozesse und negativ erlebte Verlaufskurven,
in denen keine eindeutig identifizierbare individuelle oder soziale Instanz als
treibende Kraft ausgemacht werden kann. Der Grad an Agency (vgl. Donzelli/
Fasulo 2007) des Biographieträgers und seine je nach dem starke oder schwache
Prominenz als Aktant in den dargestellten Sachverhalten wird dank sprachlicher
Mittel – bis ins Detail der Deixis und der syntaktischen Konstruktionen hinein –
an der Diskursoberfläche sichtbar und somit für die Analyse greifbar.
Argumentativ verteidigte Standpunkte sind in der Regel Bewertungen
oder verallgemeinernde Aussagen, für deren Legitimierung der im narrativen
Interview grundsätzlich von beiden Gesprächspartnern angenommene Status
des Erzählenden als Experte der eigenen Biographie nicht ausreicht, und die
durch die Anbindung an vom Gesprächspartner bereits akzeptierte Prämissen
gerechtfertigt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf Diskursebene
konstruierten Schlussfolgerungsbeziehungen auf Annahmen zu verschiedenen
Arten von Bezügen zwischen Sachverhalten beruhen (Argumentationsschemata
bzw. topoï oder loci, vgl. Rigotti 2010) und also je nach dem einen engen Zusammenhang mit der erzählerischen Sachverhaltsdarstellung haben. Beispielsweise geht die Darstellung von Handlungsschemata mit ›practical reasoning‹, d. h.
›goal-driven, knowledge-based, action-guiding argumentation‹ (Walton 1990)
einher, während kausale auf Ursache-Wirkung-Bezügen basierende Argumentation besonders gut kompatibel ist mit der Darstellung von Verlaufskurven.
Über die Unterscheidung zwischen Erzählung und Argumentation hinweg
für die Analyse relevant sind schließlich die von den Befragten vorgenommenen Kategorisierungen, insbesondere Personenkategorisierungen und Kategorisierungen von kommunikativen Aktivitäten (vgl. dazu Mondada 1997). Diese
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 40. Jg., 160 (2010)
130
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geben Aufschluss über die Art und Weise, wie die Befragten das Erlebte in eine
übergeordnete soziale Realität einordnen und so als Individuen zur Konstitution dieser Realität beitragen (Schütz 1974), und welche Annahmen über soziale
Gruppen und Aktivitäten sie beim Gesprächspartner als bekannt und akzeptiert
voraussetzen.
Sprachbiographische Interviews, mit denen wir uns hier befassen, enthalten in der Interaktion hergestellte Erzählungen zur eigenen Lebensgeschichte
sowie argumentative Sequenzen, in denen einzelne Aussagen auf Grund einer
Nachfrage des Interviewers oder eines von der befragten Person selbst antizipierten Zweifels zu Standpunkten werden, die der Betreffende durch Argumente
plausibel zu machen sucht (eine nützliche Übersicht über Schlüsselkonzepte der
Argumentationsforschung findet man in van Eemeren u. a. 1996).
Im vorliegenden Beitrag wurde ein Zugang gewählt, der sowohl narrative
als auch argumentative Aspekte in den Blick nimmt, um in einer explorativen
Studie die Situation studentischer Migranten an der »Università della Svizzera
italiana« in Lugano zu beleuchten.
Die Università della Svizzera italiana hat eine von den Herkunftsländern
her sehr heterogene und im Vergleich mit anderen Schweizer Universitäten besonders mobile Studentenschaft.1 Außerdem ist die Universität institutionell
mehrsprachig. Sie legt in ihrer Sprachenpolitik (s. dazu Christopher-Guerra
2010) einerseits Wert auf eine Verankerung am italienischsprachigen Standort.
Aus diesem Grund ist die Unterrichtssprache in allen Bachelor-Studiengängen
Italienisch, und es werden Italienischkurse aller Stufen angeboten. Daneben verlangt die Universität auf dieser Stufe die Entwicklung von Kompetenzen in einer
zweiten Landessprache (Französisch oder Deutsch), die für das Berufsleben im
schweizerischen Kontext wichtig sind. Schließlich werden im Hinblick auf das
Berufsleben und die fortgeschrittene universitäre Ausbildung und Forschung
Englischkenntnisse verlangt. Auf Masterstufe ist Unterrichtssprache eines Großteils der Studiengänge Englisch.
Wie wird die dreisprachige Politik der Universität und die täglich erlebte Mehrsprachigkeit auf dem Campus von den Studierenden wahrgenommen?
Über welche Ressourcen verfügen diese für den Umgang mit kommunikativen
Situationen und Lernsituationen an der mehrsprachigen Universität? Neben
anderen Methoden der qualitativen und quantitativen Studierendenforschung
ist die sprachbiographische Forschung ein möglicher Ansatz, um studentische
Mehrsprachigkeit besser zu verstehen.2 Sprachbiographische Interviews bieten
einen Zugang zur Studierendensicht auf mehrsprachige kommunikative Prakti-
1
2
Vgl. den Ersten Zwischenbericht des Bologna-Monitoring 2008–2011 der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten, S. 17.
Zu sprachpolitischen und didaktischen Aspekten universitärer Mehrsprachigkeitssituationen vgl. Veronesi/Nickenig (2009) sowie in sprachbiographischer Perspektive
Mathé (2009).
Mehrsprachig leben und studieren
131
ken an der Universität, die in den Interviews im Rahmen biographischer Sinnkonstruktionen versprachlicht werden.
2. Fünf Interviews mit studentischen Migranten: Übersicht
Die hier vorgestellten Daten wurden im Herbst 2008 an der Università della
Svizzera italiana erhoben.3 Interviewsprache war Schweizerdeutsch (Interviewte: Sabrina, Elena4) bzw. Hochdeutsch (Anna). Zwei weitere Interviews wurden
von der Autorin selbst auf Italienisch geführt (Dorina, Emma).
Die Interviewten studierten zum Zeitpunkt der Erhebung Kommunikationswissenschaften im ersten Semester des Bachelor.5 Die Gespräche mit ihnen
dokumentieren verschiedene Spielarten der funktionalen Mehrsprachigkeit mit
einer deutlichen Ausdifferenzierung der Teilkompetenzen,6 entstanden dank
Kontakten zu mehreren Sprachen in allen Phasen des Lebenslaufs und in unterschiedlichen Erwerbssituationen. Die Sprachbiographien sind in der Folge übersichtsmäßig zusammengefasst:
Sabrina ist in der Innerschweiz in einer schweizerdeutschen Familie aufgewachsen. Sie hat in der Schule die deutsche Standardsprache sowie Französisch,
Englisch und – als besonders geliebtes Schwerpunktfach – Italienisch gelernt.
3
4
5
6
Drei Interviews wurden jeweils gemeinsam von zwei Deutschschweizer Gymnasiastinnen geführt, Janina Keller und Veronika Gajdos, die im Rahmen einer von der
Stiftung Schweizer Jugend forscht organisierten und von der Autorin geleiteten Studienwoche zum Thema »Grenzen und Grenzüberschreitungen« in die Thematik der
Mehrsprachigkeit und der Sprachbiographien sowie in die Techniken des narrativen
Interviews mit Leitfaden eingeführt worden waren.
Es werden Pseudonyme verwendet.
Die Studierenden jenes Jahrgangs waren von einer Dozentin dieses Studiengangs
während einer Vorlesung über die Studienwoche informiert worden und per Fragebogen angefragt worden, ob sie in einem Interview über die eigene Sprachbiographie
und die Mehrsprachigkeit an der Universität Auskunft geben wollten. Die positiven
Rückmeldungen stammten alle von Studentinnen, die auf den knapp zwei Monate
zurückliegenden Studienbeginn hin nach Lugano zugewandert waren. Sabine Christopher-Guerra sei an dieser Stelle herzlich für ihre Mitwirkung gedankt.
Vgl. zum Begriff der funktionalen Mehrsprachigkeit z. B. Lüdi (2004, S. 127):
»Même entre spécialistes, la question de savoir ce que la caractérisation ›bilingue‹
ou ›plurilingue‹ veut dire ne fait pas l’unanimité. Pour certains, seul le produit d’une
double (ou multiple) acquisition de la langue première et/ou une maîtrise parfaite
(et parfaitement équilibrée) de deux langues mérite ce label. D’autres, et ils sont
majoritaires, préfèrent une définition fonctionnelle du bilinguisme: est bilingue
(plurilingue) tout individu qui pratique couramment deux (plusieurs) langues et est
en mesure de passer sans difficulté majeure d’une langue à l’autre en cas de nécessité;
par contre, la distance entre les langues, du mode d’acquisition et du degré de symétrie
entre les deux compétences peuvent varier de manière considérable […]«.
132
Johanna Miecznikowski
Mit Italienisch kam sie in der Kindheit und Jugend dank Ferien im Tessin und
eines Landdienstaufenthaltes in diesem Kanton immer wieder in Kontakt. Außerdem kamen ihr ihre Italienischkenntnisse während Ferien in Spanien als Brücke zum Spanischen zugute. Das vom Schulunterricht her nicht hoch geschätzte
Französisch wurde dank zwei Studienjahren an der eidgenössischen Fachhochschule in Lausanne zur dominanten Zweitsprache. Englisch lernte Sabrina außerschulisch dank eines Jobs im Sekretariat einer Sprachschule sowie im Austausch mit Kommilitonen in seiner Funktion als Lingua franca kennen. An der
Università della Svizzera italiana ist Sabrina auf Grund ihrer Vorkenntnisse von
den Sprachkursen des ersten Studienjahres freigestellt worden.
Anna ist in der Nähe von Neapel als Tochter eines italienischen Vaters und
einer Deutschschweizer Mutter aufgewachsen. Schweizerdeutsche Mundart
sprach und spricht sie mit ihrer Mutter (ganz im Gegensatz zu den jüngeren,
nur passiv deutschsprachigen Geschwistern), manchmal gemischt mit Italienisch, sowie wie mit den Verwandten in der Deutschschweiz. Außerdem bediente sie sich des Dialekts während eines Sommerjobs in Zürich sowie während
des dreiwöchigen Besuchs einer Sekundarschule in der Nähe von Zürich, wo
wider ihr Erwarten so gut wie kein Standarddeutsch gesprochen wurde. Sie gibt
an, Deutsch lesen zu können, aber Probleme mit der Grammatik und mit dem
Schreiben zu haben und die Literatur und Kultur nicht gut zu kennen. In Italien
hat sie das Liceo classico mit Latein und Griechisch besucht und ab der dritten
Primarschulklasse Englisch gelernt, wobei Lese- und Schreibfertigkeiten sowie
literarische Kenntnisse besonders gefördert wurden. Im Französischen hat sie
keine Kenntnisse. Sie macht zum Zeitpunkt des Interviews den Anfängerkurs
Deutsch.
Elena ist als Tochter eines italienischen Vaters und einer Deutschschweizer
Mutter in Lausanne aufgewachsen. Sie sprach in der frühen Kindheit Dialekt
mit der Mutter; nach einigen Jahren wurde Französisch einzige Familiensprache und, wie Elena sich im Interview ausdrückt, »Identitätssprache«, und sie
verlernte die Schweizerdeutsche Mundart. Sie hat gute Kenntnisse des Standarddeutschen, da sie im teilweise zweisprachigen Gymnasium neben dem regulären
Sprachunterricht Mathematik- und Geschichtsunterricht auf Deutsch genoss und
zudem als Austauschschülerin drei Monate in Deutschland verbrachte. Ebenso wie ihr Bruder besuchte sie in Lausanne neun Jahre lang die obligatorische
Schulbildung begleitende italienische Schule. Sie attestiert sich im Italienischen
ein gutes Hör- und Leseverständnis, beklagt aber Schwierigkeiten bei den produktiven Fertigkeiten. Englisch hat Elena in der Schule bei einem guten Lehrer
gelernt und während eines fünfmonatigen Australienaufenthalts noch weiter verbessert. Sie muss im ersten Jahr an der Universität keine Sprachkurse besuchen.
Emma ist als Tochter einer französischen Mutter und eines italienischen
Vaters in der welschen Schweiz aufgewachsen. Bis zum Alter von ca. zehn Jahren hörte sie den Vater Italienisch mit der Mutter sprechen, wonach Französisch
sich als einzige Familiensprache durchsetzte. Italienisch – und zwar in erster
Linie die mündlichen Fertigkeiten – lernte sie nach eigenen Angaben übers Fern-
Mehrsprachig leben und studieren
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sehen während langen Sommeraufenthalten bei der italienischen Großmutter in
einem Dorf im Veneto. Mit der Hauptbezugsperson dort, der Großmutter, sprach
sie französisch; den im überalterten Dorf und von der Großmutter gesprochenen
venezianischen Dialekt erlernte sie nicht. Italienisch sprach Emma außerdem als
Jugendliche auf Reisen in Italien. In der Schule lernte sie Deutsch und Englisch.
Ihre Deutschkenntnisse schätzt sie als solid ein; sie hat aber wenig Praxis und
hat im Schulunterricht keinen Bezug zu dieser Sprache und Kultur aufgebaut,
ganz im Gegensatz zum Englischen, das ihr gefällt und das sie während eines
zweimonatigen Aufenthalts bei Verwandten in den USA verbessern konnte. An
der Universität besucht Emma während des ersten Jahres keine Sprachkurse.
Dorina stammt aus einer Stadt in Rumänien mit großer ungarischer Minderheit. Aufgewachsen in einer rein rumänischen Familie, kam sie mit der ungarischen Bevölkerung kaum in Kontakt und versteht kein Ungarisch. Hingegen
erwarb sie dank des Fernsehens Kenntnisse sowohl des Italienischen als auch
des Englischen, Sprachen, die sie auch während eines Aushilfejobs in einer Gelateria, einer Eisdiele, in ihrer Heimatstadt ab und zu hörte. Ihre Italienischkenntnisse vertiefte sie, was die mündlichen Fertigkeiten betrifft, während eines
längeren Aufenthaltes als Hotelangestellte in Italien. In der Schule hatte sie lange Jahre Französischunterricht, der nach ihren Angaben schlecht war, oft nicht
stattfand und so gut wie keinen Lernerfolg brachte. An der Universität macht sie
zum Zeitpunkt der Erhebung einen Englischkurs; sie besucht zudem den Anfängerkurs Deutsch als zweite Schweizer Landessprache, worauf sie sich im Selbststudium vor Studienbeginn vorbereitet hat.
3. Sprachbiographische Erzählung
3.1. Der Spracherwerb als Wandlungsprozess und/oder Konsequenz
eines institutionellen Ablaufmusters
Der Spracherwerb wird von diesen um zwanzig Jahre alten Studierenden grundsätzlich als Wandlungsprozess angesehen, je nach dem – vor allem was das Sprachenlernen in der Schule betrifft – eingebettet in ein institutionelles Ablaufmuster; ein Prozess, der, einmal in Gang gesetzt, nach gewissen Gesetzmäßigkeiten,
weitgehend unabhängig von den Handlungen des Biographieträgers und meist
unproblematisch abläuft. Als Erwerbssituationen werden die mündliche Interaktion innerhalb und außerhalb der Familie in allen bisherigen Lebensphasen, der
schulische Erst- und Fremdsprachunterricht, das Fernsehen in der Kindheit und
in einem Fall das Selbststudium erwähnt, wobei alle Interviewten während ihres
Lebens einer Vielzahl unterschiedlicher Erwerbssituationen ausgesetzt waren.
Erzähltechnisch drückt sich die Auffassung des Spracherwerbs als Wandlungsprozess darin aus, dass der Biographieträger häufig in einer nicht agentiven
Rolle auftritt. Diese Art der Darstellung widerspiegelt sich in den die Erzählungen begleitenden Kommentaren darin, dass Kausalzusammenhänge aufgezeigt
134
Johanna Miecznikowski
werden. Diese können erklärende Funktion haben, das heißt fürs Verständnis
der geschilderten Prozesse nützliche Zusatzinformationen liefern, oder aber als
kausale Argumentationen eine bestimmte Aussage zum Spracherwerb plausibel
machen.
Eines unter vielen Beispielen findet sich im Interview mit Dorina (Bsp. 1),
die angibt, ihre Englischkenntnisse außerschulisch dank amerikanischen Filmen
mit rumänischer Untertitelung erworben zu haben.
Beispiel (1) (Dorina)7
1 I ma l’inglese per lei m: . eehm . se ho capito bene non è come il tedesco completamente nuovo\
2 D no
3 I no . [l’inglese è già: è già stato in qualche modo presen- presente
4 D [<non è nuovo ((a bassa voce))
((11 Zeilen ausgelassen))
5 D e allora/ cos’è successo quAndo Ceausescu non c’era più/ … tutti andavano da tutte
le parti/ . a comprare/ a vedere/ a capire/
6 I mhm
7 D a: . sono esplose le televisioni/ no/ a far vedere immagini da . fuori da romania a far
vedere come vivono gli altri a aprIrci un po’\ no/ a v- a- a aprirci gli orizzonti no/
8 I mhm
9 D e allora/ . su tutti i canali si diffusavano i film . americani\
((27 Zeilen ausgelassen))
10 D e allora sentendo sempre/ . avendo sotto gli occhi . che leggi il . la traduzione/
11 I hm
12 D anche se sei stupido ti si attacca qualcosa . no/ . in anni e anni e anni
13 I sì . penso di sì
14 D ecco . e si vede che si è attaccato di là
15 I mhm
16 D se s- adesso . come ho visto nei corsi .. se ci mette un CD su che bisogna sentire/
capisco . quasi perfettamente\ . se devo parlare/ no
17 I hm
18 D perché quando guardavo un film non parlavo mai con nessuno
7
Transkriptionskonventionen:
Beginn einer Überlappung;
. .. …
Pausen (< 2 sec.);
(2s)
Pausen in Sekunden (> 2 sec.);
xxx
unverständliche Passage;
/\
steigende/ fallende\ Intonation;
:
Dehnung;
parAbbruch;
&
Fortsetzung eines Turns über
=
schneller Anschluss;
eine Zeilenschaltung hinweg;
(h)
Einatmen;
(il va)
Transkriptionsvorschlag;
exTRA dynamischer Akzent;
wIrklich melodischer Akzent;
((lacht)) nicht transkribierte Phänomene;
<>
Abgrenzung der Phänomene;
Kommentare des Transkribenten
zwischen (( )).
Italienische Interviewausschnitte werden im Anschluss auf deutsch übersetzt, wobei
der sequentielle Ablauf vereinfacht worden ist und die tief gestellte Ziffer sich auf die
Redebeitragsnummerierung im Originaltranskript bezieht.
1[
Mehrsprachig leben und studieren
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(I1: Aber das Englische ist für Sie, wenn ich richtig verstanden habe, im Unterschied
zum Deutschen nicht gänzlich neu. D2: Nein. I3: Nein: das Englische ist also irgendwie schon präsent gewesen. D4: Es ist nicht neu. ((11 Zeilen ausgelassen)) D5–9:
Gut, und was ist passiert, als Ceausescu nicht mehr da war? Alle gingen überall hin,
um zu kaufen, um zu sehen, um zu verstehen; die Fernsehstationen haben plötzlich
Bilder von ausserhalb Rumänien gezeigt, Bilder von wie die anderen leben, haben
uns ein wenig geöffnet, nicht wahr? Haben uns neue Horizonte eröffnet, nicht?
Und da wurden auf allen Kanälen amerikanische Filme ausgestrahlt. ((27 Zeilen
ausgelassen)). D10–12: Und so, wenn man immer [den englischen Originalton] hört
und die Übersetzung vor Augen hat und also liest: auch wenn man dumm ist, bleibt
etwas hängen . nicht wahr? Wenn das Jahre und Jahre so geht. – I13: ja, ich denke
schon, ja – D14–18: Genau. Und offensichtlich ist es von daher hängen geblieben.
Wenn sie jetzt – das habe ich im Unterricht gemerkt – wenn sie uns eine CD zum
Hören auflegen, verstehe ich fast alles; wenn ich sprechen muss, nicht. Denn wenn
ich einen Film schaute, sprach ich nie mit jemandem.)
Die Aneignung des Englischen wird in eine ausführliche und rhetorisch ausgeschmückte (s. die Dreierfiguren in den Redebeiträgen 5 und 7) Erzählung des
gesellschaftlichen Wandels in Rumänien nach dem Fall Ceausescus eingebettet,
im Zuge dessen besagte Filme in den rumänischen Fernsehprogrammen Einzug
hielten und Dorinas Erzählung nach als Sinnbilder einer ›Öffnung des Horizonts‹ rezipiert wurden (7). Die Biographieträgerin erscheint hier als Mitglied
eines historisch situierten Kollektivs (5: ›alle‹; 7: ›wir‹).
Die Erzählung wird von einem Kommentar abgeschlossen (14–18). Es wird
ein Kausalzusammenhang zwischen Dorinas Fernsehkonsum und ihrem Englischerwerb als Standpunkt formuliert, markiert durch das evidentielle si vede
che ›offensichtlich‹ (»si vede che si è attaccato di là«).8 Dieser Standpunkt wird
durch eine Argumentation gerechtfertigt, in der die eingangs durch Dorina und
die Interviewerin gemachte Feststellung zu Dorinas Englischkenntnissen bei
Studienbeginn sowie die nachfolgende Erzählung eine erste komplexe Prämisse über zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Gegebenheiten liefern. Danach wird
eine weitere, allgemein formulierte Prämisse zum kausalen Zusammenhang
zwischen Fernsehkonsum mit Untertiteln und dem Aufschnappen der gehörten
Sprache explizit formuliert und das Einverständnis der Interviewerin mit dieser Prämisse eingefordert (10–13). Von beiden Dialogpartnerinnen akzeptiert,
rechtfertigt diese den Schluss vom post hoc zum praeter hoc.
In dieser kausalen Argumentation besetzt eine unpersönlich konstruierte
Figur die semantische Rolle eines Erfahrenden (»sentendo«, »avendo sotto gli
occhi«), und dann eines auch Nutznießers (12, 14), der nicht Subjektfunktion
erfüllt und also auch syntaktisch defokussiert ist. Beim an und für sich agentiven
Ereignis des Lesens (10: »che leggi il . la traduzione«) wird der Handlungscharakter weitgehend ausgeblendet, da das Lesen über eine Kausalverbindung mit
che als unvermeidliche Konsequenz des Sehens dargestellt wird.
8
Evidentielle und modale Ausdrücke können als argumentative Konnektoren fungieren; vgl. dazu Rocci (2010) und Miecznikowski (i. Dr.).
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Johanna Miecznikowski
Die Biographieträgerin tritt als Ich erst in der darauf folgenden Passage auf,
wiederum als in einem Wandlungsprozess begriffen, den sie nicht aktiv beeinflusst. In dieser Passage gibt Dorina eine aktuelle Beobachtung zur Unausgewogenheit ihrer Englischkompetenzen wieder (16), die sie als direkte Konsequenz der
vorher skizzierten Erwerbssituation darstellt (18). Dabei werden durch sprachlich
Mittel Strukturähnlichkeiten unterstrichen: »sentire« (16) wiederholt »sentendo«
(10); »se devo parlare/ no« (16) findet eine Entsprechung im folgenden »non parlavo mai con nessuno« (18). Die Passage hat sowohl detaillierende Funktion –
der Erwerbsprozess wird weiter analysiert – als auch argumentative Funktion: die
besagten Strukturähnlichkeiten zwischen den aktuellen Kompetenzen und dem
Medienkonsum in der Vergangenheit plausibilisieren weiter den Standpunkt, es
bestehe ein direkter Kausalzusammenhang zwischen beiden Gegebenheiten.
Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Interview mit der Deutschschweizerin Sabrina. Hier löst eine Frage der Interviewerin zur Ankunft in Lugano (1)
eine laut gedachte Überlegung zum Erwerb des Italienischen aus.
Beispiel (2) (Sabrina)
1 I ja . und jetzig was isch da so der erschti schueltag dahie/ 9 . wie isch das so gsi/
2 S ja isch . isch cool gsi
3 I ((lacht leicht))
4 S äigentlich ja: italienisch han ich äigentlich i de m- im mi- im gymi äh: besser glert
gha\
5 I 1[okay
6 S 1[aso ich ha’s als äh: ähm wie säit mer . schwerpunktfach 2 [ gha/
7 I 2 [ja
8 S und . de lerer isch vill besser gsi/
9 I ja
10 S und . mer händ würklich mega vill gredt
11 I mhm
12 S und de han i’s äigentlich am schluss a der matur ä vill besser chönne als französisch\
13 I okay
14 S und vo däm här isch mer de scho no e chli10 blube11
Die Frage der Interviewerin wird mit einer allgemein formulierten positiven
Bewertung beantwortet (2), von der im Nachhinein klar wird, dass sie unter
anderem spezifisch auf Sabrinas Fähigkeit, am neuen italienischsprachigen Ort
zurecht zu kommen, bezogen werden muss. Die implizite positive Einschätzung
der eigenen Italienschkompetenz12 wird darauf zurückgeführt, dass zum Zeit-
9
10
11
12
»dahie«: ›hier‹ (d. h. an der Universität in Lugano).
»e chli«: ›ein wenig‹.
»blube«: ›geblieben‹.
Es handelt sich um eine konversationelle Implikatur nach Grice’s Relevanzmaxime, die es erlaubt, die nachfolgende Erklärung als kohärente Anknüpfung an die
Sequenz der Redebeiträge 1 und 2 zu begreifen. Diese implizite Darstellungsart kann
Mehrsprachig leben und studieren
137
punkt der ungefähr drei Jahre zurückliegenden Matur solide Kenntnisse vorhanden waren, und zwar bessere als im kurz zuvor erwähnten und daher nicht
explizit genannten Französischen (4: »besser«). Dafür werden wiederum mehrere Ursachen genannt (6, 8, 10). Die Einschätzung, Sabrina habe bei der Matur
besser Italienisch gekonnt als Französisch, wird dabei als Standpunkt reinterpretiert, der durch eine Reihe kausaler Argumente untermauert wird und zum
Ende wiederholt wird, gekennzeichnet durch eine epistemische Modalisierung
(›eigentlich‹) und einen argumentativen Konnektor (de…ä ›dann/denn…auch‹).
Als Ursachen, die sich positiv auf den Spracherwerb ausgewirkt hätten, werden
die Intensität der Beschäftigung mit der Sprache (6: »schwerpunktfach«), die
Hilfestellung durch Lehrer (8) (zum Stellenwert von Stützpersonen vgl. auch
Franceschini 2001) und die mündliche Interaktion (10) aufgezählt. Abschließend
wird die Brücke zur Gegenwart geschlagen (14).
Dass hier Sabrina trotz des Fehlens jeglicher (verbaler) Äußerung von
Zweifel seitens der Interviewerinnen argumentiert und nicht nur erzählend oder
erklärend informiert, ist umso wahrscheinlicher, als in ihrer Schulbildung der
Unterricht des Französischen früher begonnen hat als der des Italienischen und
mehr Schulstunden umfasste. Diesen Umstand erwähnt Sabrina zu diesem Zeitpunkt des Interviews nicht. Sie kann aber das Wissen darum bei den Deutschschweizer Interviewerinnen voraussetzen und davon ausgehen, dass es Zweifel
an ihrer Einschätzung aufkommen lässt, die es präventiv aus dem Weg zu räumen gilt; später im Interview kommt sie außerdem explizit darauf zu sprechen.
Auch in diesem Beispiel entspricht der Darstellung von Kausalzusammenhängen eine Sicht auf die Biographieträgerin als Protagonistin eines Wandlungsprozesses, hier verknüpft mit einem schulischen institutionellen Ablaufmuster.
Der einzige Sachverhalt, der potentiell als Handlung verstanden werden kann
– das Sprechen (10) – betrifft das kollektive Wir der Schulklasse und erscheint,
ähnlich wie das Lesen in Beispiel 1, als Konsequenz eines Stimulus von außen
(man inferiert die Anregung durch den Lehrer). Im abschließenden Kommentar
(14) erscheint die Biographieträgerin, analog der Darstellungsweise von Dorina
in Beispiel 1, als Nutznießerin und tritt auf der syntaktischen Ebene zu Gunsten
der italienischen Sprache zurück (Subjekt: ›ein wenig [dieser Kenntnisse]‹).
3.2. Entscheidungsspielraum
Obwohl also die Befragten ihren eigenen Spracherwerb mehrheitlich als positive Verlaufskurven beschreiben und darin kausale oder anderweitig übergeordnete Zusammenhänge erkennen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, so spielen doch
im Kontrast zur Alternative einer expliziten Aussage zu den eigenen guten Sprachkenntnissen als höfliche Vermeidungsstrategie gedeutet werden, vielleicht zusätzlich
motiviert durch den Umstand, dass die Interviewerin nicht direkt nach diesen Sprachkenntnissen gefragt hat.
138
Johanna Miecznikowski
Handlungen in den erzählten Sprachbiographien ebenfalls eine Rolle. Eher als von
biographischen Handlungsschemata, die einen Prozess als Sequenz von Handlungen strukturieren, könnte man von einzelnen Schlüsselhandlungen sprechen,
durch die der Biographieträger in bestimmten Momenten der Lebensgeschichte
den Erwerbsprozess anstößt (s. zu den Anfangspunkten des Erwerbsprozesses
auch Miecznikowski 2004), ihm eine Wendung gibt oder ihn behindert. Darunter
fallen einerseits Entscheidungen zu einer Reise oder einem Arbeitsaufenthalt in
einem anderem Sprachgebiet, die Wahl des Studienorts, die Gegenstand des nächsten Abschnitt ist (5.3.), und die Wahl von Schultypen oder von Fremdsprachen
aus einer Menge an Wahlfächern an der Schule oder der Universität (s. u. Bsp. 4).
Andererseits werden Verweigerungs- und Unterlassungshandlungen erwähnt wie
z. B. der Entschluss, sich nicht in einem bestimmten naheliegenden anderssprachigen Gebiet aufzuhalten (s. Bsp. 5), die Verweigerung der Sprache eines Elternteils
durch jüngere Geschwister (s. Bsp. 6) oder die Vermeidung der Standardsprache
zu Gunsten des Dialekts (erwähnt von Sabrina in Bezug auf das Deutsche).13
Als Protagonisten von solchen Schlüsselhandlungen figuriert der Biographieträger in erster Person als denkendes und handelndes Agens. Neben der
Wiedergabe der Handlung an sich werden immer auch Beweggründe angegeben, die sowohl mit der emotionalen Bewertung von Sprachen, Sprechern und
Sprachräumen zu tun haben als auch zweckrational mit bestimmten übergeordneten Zielen. Oft werden Beweggründe aufwändig ausgebreitet, indem ein Entscheidungsprozess in der Vergangenheit geschildert wird, bei dem die Biographieträgerin Argumente für und gegen die geplante Handlung abwägt. Solche
Inszenierungen von practical reasoning (Walton 1990) können eine rechtfertigende Funktion haben: sie unterstreichen den rationalen Charakter der Handlung
und, in dem Maße wie die in der Vergangenheit gefundenen positiven Argumente auch in der Gesprächsgegenwart gelten, die Richtigkeit der Handlung und die
entsprechende positive Bewertung ihrer Konsequenzen.
Ein erstes Beispiel für ein aktives Eingreifen in den Spracherwerbsprozess
ist der folgende Ausschnitt aus den ersten paar Minuten des Interviews mit Dorina. Sie schildert darin auf eine allgemein gehaltene Frage zu ihrer mehrsprachigen Kompetenz hin, wie sie im Hinblick auf das Studium an der Universität hin
im Selbststudium (s. 8–14) Deutsch gelernt hat, und welche Entscheidungen sie
bezüglich des Englischen getroffen hat. Dabei stellt sie sich selbst als Agens dar
(6: »la faccio«, 8: »l’ho fatto«, »volevo scegliere«) und als denkendes, wahrheitssuchendes Subjekt (8: »ero convinta che«, 16: »ho scoperto che«).
13
Interessanterweise wird im Gegensatz zu anderen Kontexten (s. Veronesi im Druck
zu den sprachbiographischen Erzählungen von Sprechern des Deutschen und des
Italienischen in Südtirol/Alto Adige) das Verhältnis zwischen Standardsprache und
Dialekt nicht weiter unter dem Gesichtspunkt der Norm oder des guten bzw. schönen
Sprechens analysiert. Generell werden in den hier untersuchten Interviews soziolinguistische und normative Aspekte, die über die Problematik der grammatikalischen
Korrektheit in der Fremdsprache hinaus gehen, kaum angesprochen.
Mehrsprachig leben und studieren
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Beispiel (4) (Dorina)
1 I per te eeh com’è .. saper parlare .. abbiamo già menzionato . hai già menzionato . il .
l’italiano/ . il tedesco che stai iniziando/
2 D sì ma a me/ sembra il tedesco difficile [anche perché
3 I [il rumeno/
4 D il rumeno è lingua madre e . per forza quella . magari quella la mane- la manovro
bene\ . però … secondo me/ il tedesco è difficile però è bellissima\
5 I mhm
6 D la faccio perché mi piace\
7 I m[hm
8 D [l’ho fatto un pochettino prima di venire all’università/ perché appunto perché . ero
convinta che (h) invece di inglese . cioè se si può scegliere inglese o tedesco volevo
scegliere il tedesco\ visto che .. 1[nell’inglese me la cavo\
9 I 1[ancora . ancora in romania/ o . 2 [o qui/
10 D 2 [no:/ qua qua qua
11 I mhm
12 D qua l’ho fatto ma . per tre mesi per conto proprio
13 I mhm/
14 D giusto per . sapere dire buongiorno in tedesco no/
15 I ecco
16 D e: poi ho scoperto che .. l’inglese/ . è essenziale\ .. [perciò devo approfondire il mio
inglese\
17 I [mhm
(I1: Wie ist das für dich, du sprichst – wir haben schon, du hast schon das Italienische
erwähnt, das Deutsche, das du gerade zu lernen beginnst – D2: Ja, aber mir kommt
das Deutsche schwierig vor, auch weil ich – I: das Rumänische – D3–8: das Rumänische ist Muttersprache und natürlich beherrsche ich es darum einigermaßen;
aber … meiner Meinung nach ist das Deutsche schwierig aber es ist sehr schön. Ich
mache es, weil es mir gefällt. Ich habe es ein wenig gemacht, bevor ich an die Universität kam, weil, eben weil ich überzeugt war, dass anstatt des Englischen – das
heißt, wenn man zwischen Englisch und Deutsch wählen kann, wollte ich Deutsch
wählen, da ich im Englischen schon zurecht komme. – I9: Noch in Rumänien oder
hier? – D10–16: nein, hier, hier. Hier habe ich es gemacht, aber … drei Monate auf
eigene Faust. Nur um »guten Tag« auf Deutsch sagen zu können, nicht? Und dann
habe ich entdeckt, dass das Englische enorm wichtig ist. Deshalb muss ich mein
Englisch vertiefen.)
Nach der Erzählung in den Redebeiträgen 8 bis 14 hat Dorina Deutsch in der
Überzeugung zu lernen begonnen, dass sie an der Universität zwischen Deutsch
und Englisch wird wählen können (8). In dieser Situation hat sie sich fürs Deutsche entschlossen hat und entschieden, den universitären Sprachkurs in Eigeninitiative vorzubereiten. Sie nennt das Etappenziel dieser drei Monate (14: »per
. saper dire buongiorno in tedesco«) und einen Beweggrund (8), und zwar, dass
sie Englisch schon ein wenig konnte. Man inferiert, dass sie das Bildungsangebot
der Universität maximal nutzen wollte, um eine für sie ganz neue Sprache zu
lernen. Einige Voraussetzungen der damaligen Überlegung stellten sich wenig
später als teilweise falsch heraus, da Dorina im Englischen Nachholbedarf hat
140
Johanna Miecznikowski
(16) und also in Wirklichkeit keine Wahlmöglichkeit zwischen beiden Sprachen
besteht. Trotzdem schreibt sich Dorina in Bezug auf die Wahl des Deutschen
auch in der Gegenwart eine aktive Rolle zu: in der Tat betont sie eingangs ihre
positive Einstellung zum Deutschen, die als Hauptmotivation für ihre Beschäftigung mit dieser Sprache gelten kann (4: »bellissima«, 6: »la faccio perché mi
piace«). Die Liebe zum Deutschen wird denn auch im Interview noch weitere
Male erwähnt, wobei Dorina angibt, selbst darüber erstaunt zu sein. Weitere Begründungen kann sie nicht angeben und zweckrationale Überlegungen zu dieser
Sprache werden nicht mehr thematisiert. Dies gilt nicht für das Englische, mit
dem sich Dorina in erster Linie auf Grund seiner zentralen Funktion – vermutlich im Studium und, vorausschauend, im Berufsleben – beschäftigt (16). Bei der
Einschätzung dieses wichtigen Stellenwerts des Englischen hat ein Einstufungstest der Universität möglicherweise eine Rolle gespielt, da Dorina weder Schulbildung noch Sprachzertifikat besitzt. Im Interview gibt es dafür aber keinen
Hinweis; Dorina übernimmt auf jeden Fall Eigenverantwortung für die Bewertung ihrer Englischkenntnise und also für den Eintritt in den Englischkurs (16:
»ho scoperto che«, »perciò devo approfondire il mio inglese«).
Aus demselben Interview stammt Beispiel (5), in dem Dorina eine Unterlassungshandlung thematisiert, die die bewusste Unterlassung einer Beschäftigung
mit im Lauf der Lebens angetroffenen Sprachen impliziert, und zwar die Entscheidung, sich nicht in Ungarn oder der Ukraine aufzuhalten (7: »non mi sono
fermata«).
Beispiel (5) (Dorina)
1 D poi sono andata in vacanza a perugia/ poi un po’ a xxx/ . sempre così\ ho viaggiato
un po’
2 I in italia\
3 D solo in italia\
4 I aha
5 D ma f- va be’ ho transitato ungher[ia o ucraina queste cose qua
6 I [mm . sì certo
7 D però non mi sono fermata perché non mi piacciono i posti no/
8 I mhm
9 D per imparare una lingua
10 I [mhm
(D1: dann bin ich nach Perugia in die Ferien gegangen; dann ein wenig nach xxx; immer
in dieser Art. Ich bin ein wenig herumgereist. – I2: In Italien. – D3–11: nur in Italien.
Aber f- nun ja, ich bin auf der Durchreise auch in Ungarn und der Ukraine und so
gewesen, aber ich habe mich nie dort aufgehalten, da mir diese Orte nicht gefallen
– um eine Sprache zu lernen.)
Für die Entscheidung, die fraglichen Länder nicht zu bereisen, wird eine negative Bewertung als Beweggrund angegeben, wobei die Formulierung mit einem
Nachschub (7,9: ›da mir diese Orte nicht gefallen – um eine Sprache zu lernen‹)
anzeigt, dass sich die Bewertung nicht in erster Linie auf diese Länder als touristische Reiseziele bezieht, wie die Anbindung an den vorigen Ko-text nahe le-
Mehrsprachig leben und studieren
141
gen könnte. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass Dorina mit diesem Nachschub
die fraglichen Länder als kulturell-politisch-ökomonische Räume umdeutet, die
über das Lernen der Sprache als Stationen der eigenen Lebensplanung erschlossen werden könnten. Die Etcetera-Formulierung »Ungheria o Ucraina queste
cose qua« deutet darauf hin, dass hier eine generell negativ besetzte Kategorie relevant ist, die die nicht rumänischen Nachbarnationen umfassen oder aber
weiträumiger mit den ehemaligen Ostblockländern zusammenfallen könnte.
Vermeidungs- oder Verweigerungsentscheidungen werden von den Befragten nicht nur bezüglich der Sprachen der Nachbarn, die sich auf Grund der
guten Kontaktmöglichkeiten als potentielle Zielsprachen anbieten, sondern wie
oben auch bezüglich von schulischen Fremdsprachen, der Standardsprache sowie Familiensprachen thematisiert. Ein Beispiel für letzteren Fall findet sich im
Interview mit Anna, und zwar in Bezug auf ihre jüngeren Geschwister, die im
Gegensatz zu ihr nicht mit der Mutter schweizerdeutsch sprechen.
Beispiel (6) (Anna)
1 Ia
sind . dini gschwüschterti so im nachhinein .. wi füled si sich dass du no en
witeri schprach chasch mit dim mami rede und
2A
ich glaub si sind e chli ifersüchtig
3 Ia
glaubsch du okay/
4A
ja aber . irgendwie si wend s glich nid lere/
5 Ia
ja
6A
und ich wäiss no mini schwöschter wenn si chli gsi isch hät albe zu miner
mueter gsäit (h) mamma red mit mir nid Änglisch
7 Ia, Ib [lachen
8A
[und derbi het si genau gwüsst das isch . nid Änglisch oder das isch tütsch
9 Ia
ja
10 Ib
mhm
11 A
aber ja: .. ich wäiss nid si fü- si schÄmt sich au ähm . tütsch rEde\
12 Ia
ja
13 Ib
mhm
14 A
wil Ich glaub si chunnt scho drus/14 und si chönnt scho e paar wörter säge und
paar sätz\
15 Ia
ja
16 Ib
mhm
17 A
si hät’s so vill ghört\ und mini grossmueter redt au die ganz zit mit . mini
gschwüschterti: uf tÜtsch\
18 Ia
ja
Anna stellt die Verweigerung des Schweizerdeutschen als bewusste Handlungsentscheidung der Geschwister dar (4). Wie die erzählte Anekdote zeigt, wurde
diese Verweigerung in der Vergangenheit explizit geäußert (6) und ging sogar
so weit, dass die Schwester vorgab, das Schweizerdeutsche als Sprache nicht zu
erkennen, und ihm bewusst einen falschen Namen gab (8). Anna vermutet als
14
»sie chunnt scho drus«: ›sie versteht schon‹.
142
Johanna Miecznikowski
Beweggrund bei der Schwester eine Art Scham (11), was sowohl eine negative Bewertung des Schweizerdeutschen oder der eigenen Kompetenzen in dieser
Sprache impliziert als auch das übergeordnete Handlungsziel, in der italienischsprachigen Umgebung nicht aufzufallen und keine negativen Sanktionen zu erleiden. Zum Schluss unterstreicht Anna den Handlungscharakter der Verweigerung noch einmal zusätzlich dadurch, dass sie auf dem Spracherwerb förderliche
Umstände und vermutlich vorhandene Minimalkompetenzen hinweist (17, 14)
und so eine Interpretation ausschließt, nach der das Schweigen der Schwester die
Konsequenz äußerer Umstände und eines einfachen kognitiven Unvermögens
wäre.
3.3. Eine Schlüsselhandlung: der Beginn des Studiums jenseits
der Sprach- oder Landesgrenze
Unter den Schlüsselhandlungen, die den Spracherwerb beeinflussen und in bestimmte Bahnen lenken, ist der Entscheid, jenseits der Sprach- oder Landesgrenze zu studieren, bei diesen studentischen Migranten besonders wichtig. Zum
Zeitpunkt des Interviews kurz nach Studienbeginn ist die Wahl des Studienorts
außerdem noch hochaktuell für die Betroffenen. Alle fünf Befragten erzählen
ausführlich davon, wie es zu ihrem Entscheid für die Tessiner Universität gekommen ist und welche Überlegungen sie angestellt haben.
Es folgen zwei Beispiele aus den Interviews mit Emma und Dorina, in denen eine ganze Reihe an Beweggründen genannt wird, die zusammengenommen
das Argumentarium aller fünf Befragten in etwa abdecken:
– die Absicht, die eigenen Sprachkompetenzen zu fördern, der die Sprachenpolitik der Universität entgegenkommt (Emma, 1: früher im Interview erwähnt
und hier von der Interviewerin wieder aufgenommen);
– die Absicht, an einem Schweizer Standort zu studieren (präsupponiert bei
Emma, 9, und explizit als ein Hauptgrund genannt von Dorina, 9);
– die Absicht, Kommunikationswissenschaften auf Bachelor-Niveau zu studieren, was in der Schweiz nur an der Università della Svizzera italiana möglich
ist (Emma, 4–9);
– die Notwendigkeit, eine italienischsprachige Universität in der Schweiz zu
finden, wobei die Università della Svizzera italiana die einzige solche ist (Dorina, 16);
– die Absicht, weit weg von den Eltern zu studieren (Emma, 17);
– die positive Bewertung des Orts Lugano und den dort angetroffenen Menschen nach einem Probebesuch an der Universität bzw. Ferien (Emma, 11–17
und Dorina, 1–7, beide mit der gleich lautenden Bewertung »mi ha [sic]/è
piaciuto tantissimo« ›es hat mir sehr gut gefallen‹).
Mehrsprachig leben und studieren
143
Beispiel (7) (Emma)
1 I:
Come mai è venuta . poi a Lugano/ all’inizio ha detto be’ sono venuta qua perché
pensavo . che: m: qui a- avrei imparato: tante lin[gue:
2 Em [xx
3I
che era proprio la ragione per cui
4 Em anche perché comunicazione era . l’unico modo per farlo\
5I
sì [è vero\
6 Em [non esiste [da altre parti a:&
8I
[sì certo
9 Em in Svizzera/ e volevo fare: qualcosa tipo: m: pubblicità: l’evento:=
10 I
=ah=
11 Em =qualcosa del tipo\ eehm: e mi ha consigliato un’amica di venire a=
12 I
=mhm=
13 Em =visitare/ sono venuta in novembre l’anno scorso/
14 I
mhm
15 Em mi ha piaciuto tantissimo/ è aperto/ la gente (h)
16 I
mhm
17 Em simpatica/ e anche era <lontano di casa ((lachend))> quindi potevo prendermi
un appartamento ((zwei Zeilen ausgelassen)) così vedevo un po’ meno i genitori\
(I1–3: Wie kam es, dass Sie nach Lugano kamen? Zu Beginn sagten Sie, Sie seien
hergekommen, weil Sie dachten, dass Sie hier viele Sprachen lernen würden;
dass das eigentlich der Grund war warum- – Em4: Auch weil für Kommunikationswissenschaften das die einzige Möglichkeit war. – I5: Ja, das stimmt. –
Em6–17: Es gibt sie anderswo in der Schweiz nicht und ich wollte etwas machen
mit Werbung oder Event Management, etwas in der Art. Und eine Freundin hat
mir geraten, einen Besuch hier zu machen; ich bin dann im letzten November
hergekommen; es hat mir sehr gut gefallen; es ist offen; die Leute sympathisch;
und auch weit von zuhause; so konnte ich mir eine Wohnung nehmen ((lacht))
und ein bisschen weniger mit meinen Eltern zusammen sein.)
Beispiel (8) (Dorina)
1D
ma io sono venuta qua/ … allora conosco già xxx la svizzera\ . sono venuta/ [in
vacanza
2I
[< ah ecco si è scoperta ((ridendo))>
3D
sono venuta in vacanza=
4I
=ehe
5D
=e mi è piaciuto tantissimo=
6I
=ehe
7D
sono venuta due anni di fila/ . poi ho deciso di fare l’università qua\
8I
mhm
9D
anzi\ non volevo proprio qua volevo in svizzera ma . io in romania avevo iniziato
. l’università . di psicologia\
10 I
ehe/
11 D
e ho deciso così\ (h)
(2,5 s)
12 D
se vengo io qua porto anche il: perché avevo so- fatto solo un anno di lo porto
qua
13 I
mhm
144
Johanna Miecznikowski
14 D e lo continuo no/
15 I sì
16 D però/ . qua in svizzera .. dove si parla italiano che io lo capisco e lo parlo/ . non c’è/
psicologia\
17 I mhm
18 D c’è solo in svizzera interna 1[dove per forza bisogna essere . sapere il tedesco e io
2 [non lo so/
19 I 1[sì sì certo 2 [mhm
((vier Zeilen ausgelassen))
20 D ho cambiato il profilo <completamente ((lachend))>
(D1: Aber ich bin hierher gekommen – also ich kenne die Schweiz schon, ich bin hier
in den Ferien gewesen. (I2: Aha, jetzt haben Sie sich verraten! (lacht) – D3–18: Ich
bin hier in den Ferien gewesen und es hat mir schrecklich gut gefallen, und ich
bin zwei Jahre hintereinander hergekommen, dann habe ich beschlossen, hier zu
studieren. Das heißt, ich wollte eigentlich nicht unbedingt hier, sondern einfach in
der Schweiz; aber ich hatte in Rumänien ein Psychologiestudium begonnen, und ich
habe mich so entschieden: wenn ich herkomme, dann bringe ich mein- weil ich hatte nur ein Jahr gemacht – dann bringe ich es mit und mache hier damit weiter, nicht?
Aber: hier in der Schweiz gibt es da, wo man Italienisch spricht, das ich verstehe
und spreche, kein Fach Psychologie; das gibt es nur jenseits der Alpen, wo man
zwingend Deutsch können muss, und das kann ich nicht. – I19: ja=ja klar. – D20 : Ich
habe die Ausrichtung komplett geändert (lacht).)
4. Unterschiedliche Wahrnehmungen der mehrsprachigen Universität
Wie im vorangehenden Abschnitt 3 klar geworden ist, finden sich in den Erzählungen und Argumentationen rund um die eigene mehrsprachige Lebensgeschichte trotz leicht unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Hintergründe
zahlreiche Parallelen zwischen den fünf Interviews, was die subjektive Sicht auf
den Spracherwerbsprozess und den eigenen Handlungsspielraum in Bezug auf
diesen betrifft. Im Gespräch über die aktuelle Situation an der Universität hingegen treten deutliche Unterschiede zu Tage, die mit praktischen Aspekten der
mehrsprachigen Hochschule und des Studentenlebens zu tun haben, insbesondere mit den sprachlichen Anforderungen im Fachunterricht und in den Sprachkursen sowie mit der sozialen Integration im Verband der Erstjahresstudenten. Die
Studentinnen stehen vor Problemen, die sie mit mehr oder weniger Erfolg meistern. In der Auseinandersetzung mit diesen Problemen beurteilen die Befragten
ihre gegenwärtige soziale Situation, positionieren sich (vgl. Bamberg 1997 und
Lucius-Hoene/Deppermann 2004) gegenüber anderen, und ergänzen so die narrative Darstellung der eigenen Biographie mit aus der Gegenwart hervorgehenden und auf sie zugeschnittenen Selbst- und Fremdeinschätzungen.
In den Interviews mit Sabrina, Emma, Anna und Elena fällt die Bilanz zur
gegenwärtigen Situation an der Universität überwiegend positiv aus: sie fühlen
sich den Anforderungen gewachsen, haben soziale Kontakte geknüpft und scheinen sich im Einklang mit der neuen Umgebung zu befinden. Sabrina, Emma und
Mehrsprachig leben und studieren
145
Elena berichten, dass sie mit den Mitstudierenden Französisch, Italienisch sowie
vereinzelt Englisch sprechen. Dies mag Beispiel 9 aus dem Interview mit Elena
illustrieren, in dem Französisch und Italienisch erwähnt werden:
Beispiel (9) (Elena)
1 Ia
ja . wie war denn dein erster tag als du hier hin gekommen bist/
2E
uh: ((lacht))
3 Ia,b ((lachen))
4E
schwierig .. nein ich bin allein gekommen/ und am ersten Tag war ich hier <uh:
((jammernd))>
5 Ia
((lacht leicht))
((einige Zeilen ausgelassen))
6 Ia
was sprecht ihr denn alle zusammen für eine sprache/ wenn xxxxx
7E
äh: entweder französisch/ oder . italian\
8 Ia
aso mit denen die- deine engen Freunde . mit denen die du9E
mit . denen die französisch sprechen sprechen wir französisch\
10 Ia,b mhm
11 E
aber . ich habe auch eine ähm … ähm … t=t=t . jetzt hab ich eine freundin die
aus Zug/
((zwei Zeilen ausgelassen))
12
die aus zug kommt und zusammen sprechen wir (h) nicht deutsch nicht franfranzösisch aber italian\
13 Ia [okay
14 Ib [WOW . also sie kann dann auch italienisch [sprechen\
15 E
[ja . ja sie redet italienisch perfekt=nicht perfekt aber auch sehr gut\
Das Französische wird für diese Studierenden zur wichtigen Ressource, die im
spezifischen Kontext ihres Jahrgangs die Zugehörigkeit zu einer Gruppe garantiert, unabhängig davon, ob es Erstsprache oder, wie im Fall von Sabrina,
dominante Zweitsprache ist. Die Befragten berichten einstimmig, dass sich
dieses frankophone soziale Netz bereits in den ersten Tagen des Aufenthalts
am neuen Ort gebildet hat, sich dann durch einmal in der Woche stattfindende
gemeinsame Abendessen gefestigt hat und für die Betroffenen neben andern
sich entwickelnden Bekanntschaften ein wichtiger Bezugspunkt geblieben ist
(ex negativo bestätigt dies im übrigen auch Anna, die beklagt, sie werde aus den
betreffenden Abendessen ausgeschlossen, obwohl sie mit einer regelmäßig daran teilnehmenden französischsprachigen Mitstudentin eine Wohngemeinschaft
teile). Diese Gruppenbildung kann man mit Mathé (2009) als einen Vorgang
der ›Kapitalisierung‹ betrachten, durch den sprachliche Fertigkeiten als inkorporiertes kulturelles Kapital gegen soziales Kapital (ein Netz von Beziehungen)
getauscht wird.
Analog dazu erzählt die in Süditalien aufgewachsene Anna, ihre Bezugspersonen seien vor allem italienische Mitstudierende. Sie sieht die Ausbildung
dieses sozialen Netzes als hilfreich, kritisiert aber, dass sie mit Vorurteilen von
Tessiner Kommilitonen den Italienern und insbesondere den Süditalienern gegenüber konfrontiert wird. Diese gleichen nach Annas Aussagen den Vorurteilen, die Norditaliener gegenüber Süditalienern hegen und verhindern – wie auch
146
Johanna Miecznikowski
der enge Zusammenhalt der frankophonen Gruppe – engere Kontakte zwischen
den verschiedenen Gruppen. Ein weiterer Unterschied zur frankophonen Gruppe
ist, dass als entscheidendes Zugehörigkeitskriterium kein in erster Linie sprachliches, sondern eines der regionalen kulturellen Zugehörigkeit genannt wird.
In einem Fall, dem Interview mit Dorina, wird die gegenwärtige Situation teilweise negativ beurteilt. Betreffend den Spracherwerb unterstreicht Dorina den Leistungsdruck, der durch die an sie gestellten Anforderungen entsteht;
Ursache-Wirkung-Verkettungen und Zwänge wie kognitive Funktionsweisen,
institutionelle Vorgaben und Konsequenzen der Schulbildung werden hier nicht
positiv erfahren wie im Kontext der weiter zurückliegenden Ereignisse, sondern
negativ. Dies nimmt streckenweise die Form einer Krisenerzählung und -analyse an, wobei Risse und mögliche Brüche im biographisch konstruierten Selbst
offenbar werden, wenn die Studentin die Enttäuschung von Erwartungen, Selbstzweifel und Versagensangst thematisiert.
Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Positionierung gegenüber den
Kommilitonen, die Dorina sehr früh im Interview vornimmt. Im als Beispiel 10
zitierten Ausschnitt gibt sie zunächst an, Mühe mit den zwei Sprachkursen zu
haben, die sie zum italienischsprachigen Unterricht hin gleichzeitig besucht (10,
1–3), wobei sie auf ihre stets notwendige Übersetzungsarbeit hinweist. Schon dadurch wird der exolinguale Charakter (vgl. z. B. Lüdi/Py 2003) der kommunikativen Aktivitäten und daher das eigene Fremdsein in den involvierten Sprachen
betont, inklusive des auf hohem Niveau beherrschten Italienischen. Damit einher
geht eine Darstellung der Biographieträgerin als benachteiligt gegenüber »allen
anderen« (1). Die Kategorie der »anderen« ist Gegenstand einer Nachfrage der
Interviewerin (6–8), die aber an dieser Stelle des Interviews noch keine präzise
Antwort erhält: vielmehr konstruiert Dorina eine Kategorie der radikal »anderen« im Sinne einer Gruppe von Personen, zu denen sie keinerlei Bezug hat.
Bespiel (10) (Dorina)
1 D allora . adesso faccio una confusione miserabile/ . perché . vado a fare il corso di
inglese/ devo tradurmelo in italiano/ e dall’italiano in rumeno . in tedesco uguale\
allora:/ sono un po’ più . diciamo un passo indietro di tutti gli altri no/ perché=
2 I =mm=
3 D =ho altri passi da fare nella mia mente/ che mi chiedono 1[tempo
4 I 1[m m 2 [mhm/
5 D 2 [((lacht))
6 I tutti gli altri/ come <sono . cioè ((lachend))>
[quando dice gl7 D [ma/ tutti gli altri/ io non lo so perché io non li conos- non non entro in non entro in
eeh .. tangenza con nessuno . 1[cioè
8 I 1[mhm . però dice che . per lei le .. ha l’impressione che per lei è diverso ..
2 [che è un passo indietro
9 D 2 [io/ mi sento diversa\
10 I mm
11 D e provo di farla: meno pesante possibile\
12 I mm/
Mehrsprachig leben und studieren
147
13 D però/ anche il fatto di essere lontana di casa . penso che . conosce anche lei sa anche
lei
14 I [eh sì
15 D [è difficile . senza famiglia senza no/
16 I mhm
(D1–5: Nun, und jetzt mache ich ein furchtbares Durcheinander. Warum: ich gehe in den
Englischkurs, muss alles auf italienisch übersetzen, und vom Italienischen ins Rumänische. Bei Deutsch das Gleiche. Und deshalb bin ich etwas – sagen wir ich
hinke den anderen einen Schritt hinterher, nicht? Weil ich zusätzliche Schritte im
Kopf machen muss, die Zeit brauchen – I6: Alle anderen, wie sind denn die? Das
heisst – D7: Naja, alle anderen, das weiss ich nicht, denn ich kenne sie n-, ich komme mit niemandem in, äh Berührung, also – I8: Mhm, aber sie sagten, dass für Sie
– Sie haben den Eindruck, dass es für sie anders ist, dass sie einen Schritt hinterher
hinken. – D9–13: Ich fühle mich anders. Und ich versuche, es mir so wenig schwer
wie möglich zu machen. Aber dass ich weit von zuhause weg bin, ich denke – sie
kennen das, sie wissen das auch. – I14: Ja, schon. – D15: Es ist schwierig, ohne Familie, ohne – nicht?)
Dorina unterstreicht ihre Isolation durch Verneinungen (2: »non entro in tangenza con nessuno« und 10: »è difficile . senza famiglia senza no/«) und Ausdrücke
der sozialen und geographischen Distanz (4: »mi sento diversa«, 8: »lontana di
casa«). Das Thema der Isolation wird im Interview dann noch mehrere Male
aufgegriffen, wobei Dorina nach Erklärungen ringt: sie vermutet, sie werde auf
Grund von antirumänischen, vielleicht rassistischen Vorurteilen von den anderen gemieden, spricht aber auch Zweifel an sich selbst aus. Dorina unterstreicht
den Gegensatz zwischen dieser Erfahrung und den positiven Erwartungen auf
Grund vorheriger Aufenthalte im Tessin, die sie dazu bewogen hatten, in der
Schweiz zu studieren. Es wird klar, dass ihre Integrationsschwierigkeiten unvorhergesehen sind und sie zum Zeitpunkt des Interviews die gegenwärtigen
Erfahrungen nicht in einen größeren Sinnzusammenhang innerhalb der Lebensgeschichte einordnen kann. Im Gegensatz zur Arbeitsbelastung durch die
zusätzlichen Sprachkurse, die sie auf für sie verständliche Ursachen zurückführen kann (Lernmechanismen und biographische Voraussetzungen) und in einen
Zusammenhang mit einem von ihr gewünschten Resultat sieht, kann sie bei den
Schwierigkeiten im sozialen Bereich, die sie antrifft, keine Erklärungen finden
und keinen Sinn erkennen.
Zieht man in Betracht, welch zentrale Rolle für die anderen Befragten Einstiegskontakte zu Studierenden mit ähnlicher Herkunft oder Erstsprache gespielt
haben, kann die Minderheitsposition ohne rumänische Mitstudierende als wichtige, von der Biographieträgerin nicht beeinflussbare Ursache für ihre Integrationsschwierigkeiten in der Klasse gelten. Gleichzeitig wird im Interview aber
auch deutlich, dass Dorina selbst die Möglichkeit, zunächst mit anderen zugewanderten Studierenden Kontakte aufzubauen, gar nicht in Betracht zieht. Sie
stellt keinen Bezug her zwischen ihrer gegenwärtigen Erfahrung und der Zeit als
Hotelangestellte in Italien, wo sie vorwiegend mit rumänischen und ungarischen
Kollegen Kontakt hatte. Zudem erwähnt sie zu keinem Zeitpunkt im Gespräch
Johanna Miecznikowski
148
überhaupt die Präsenz der (grossen) italienischen Minderheit sowie anderer Studierender ausländischer Herkunft in ihrem Jahrgang; später im Interview wird
sie ihre Kommilitonen gesamthaft als Schweizer bezeichnen.
In Bezug auf die italienischsprachigen Mitstudierenden ist es möglich, dass
Dorina zum Zeitpunkt des Interviews sowohl die sprachliche Kompetenz als
auch das kulturelle Wissen fehlt, um die komplexe regionale Zusammensetzung
dieser Gruppe und die hohe soziale Relevanz der jeweiligen Abgrenzungen mit
aller Deutlichkeit zu erkennen. Sie hat damit andere Voraussetzungen als beispielsweise Anna (s. o.), welche auf Grund ihrer bisherigen Erfahrung in Italien
herkunftsbedingte Unterschiede in der Sprache und im kommunikativen Verhalten gut wahrnimmt und über einen Interpretationsrahmen verfügt, der ihr die
Kategorisierung ihrer Mitstudierenden erleichtert und in den sie angetroffene
Vorurteile einordnen kann.
5. Schluss
Die fünf im Rahmen dieser Untersuchung befragten Studentinnen verfügen über
eine reiche Erfahrung im Erlernen und im Gebrauch von Sprachen. Die Gespräche mit ihnen lassen erkennen, dass diese bis zum jungen Erwachsenenalter gesammelte Erfahrung in vielerlei Hinsicht ihr Studium an einer mehrsprachigen
Universität beeinflusst:
– Angesichts der Anforderungen im Englischen und in der zweiten Landessprache, die zu den fachlichen Lernzielen hinzukommen und eine nicht zu unterschätzende Zusatzbelastung bedeuten, sind schon vorhandene Kenntnisse in
mehreren der verlangten Sprachen eine wesentliche Voraussetzung, um an der
Universität zu bestehen.
– Bei der Wahl des Studienorts spielen bewusste Überlegungen zur Sprachenpolitik der Universität eine gewisse Rolle. Die Befragten schätzen nicht nur
ihre Chancen ab, den sprachlichen Anforderungen zu genügen, sondern betrachten ihrerseits die Möglichkeit als positiv, ihre Sprachkenntnisse über
Kurse und in einer internationalen Umgebung aufrecht zu erhalten und zu
verbessern.
– Die bisherigen variierten Lernerfahrungen werden von den Studierenden reflektiert. Sie erkennen Lernmechanismen und schätzen ihren eigenen Handlungsspielraum und den anderer ein. Dies gibt ihnen Instrumente in die Hand,
um sowohl mit Situationen des gelenkten Spracherwerbs in Sprachkursen
umzugehen als auch, wie vielfach in den Interviews thematisiert, das Lernpotential von alltäglicher mündlicher Kommunikation an einer stark internationalisierten Hochschule zu erkennen.
Aus den Gesprächen geht aber auch hervor, wie sehr die Möglichkeit, das erwähnte Lernpotential auch wirklich zu nutzen, vom Knüpfen von Kontakten
abhängt, für das wiederum die Kenntnis von Sprachen als einfachem Kommuni-
Mehrsprachig leben und studieren
149
kationsmittel nicht genügt. Es wird deutlich, dass die Studierenden in den ersten
Wochen des Studiums das Vertraute suchen und sich relativ stark am Kriterium
der Herkunft orientieren, um einander in Kategorien einzuordnen und Gruppen
zu bilden. Dies bietet Einstiegschancen für die einen, aber auch das Risiko des
Ausgeschlossenseins für andere.
Wie sich sprachliche Fähigkeiten, soziale Netzwerke und kulturelle Vorstellungen der Studierenden sowie sprachliche Anforderungen an der Universität
während des Grundstudiums verändern, könnte Gegenstand weiterer qualitativer Forschung sein. Eine longitudinale Studie unter Einbezug der verschiedenen sprachlichen und regionalen Gruppierungen könnte zeigen, ob studentische
Migranten wie die hier befragten, aber auch einheimische Mehrsprachige, auf
Grund ihrer Lebensgeschichten Brücken zwischen den Kulturen zu bauen vermögen, die über die Raster der nationalen und regionalen Zugehörigkeiten hinaus Möglichkeiten zum Austausch und zum Dialog bieten.
Summary
Multilingual biographies and academic environments:
Student migrants’ accounts
Student migration, universities’ institutionalized multilingual language policies and the
use of English for academic purposes make academic environments increasingly multilingual. Biographical narratives may provide useful insights about the students’ view
on this development. In this paper, five narrative interviews with multilingual first year
students of the Università della Svizzera italiana (Lugano) have been analyzed, paying
attention to the rhetorical organization of narrative and argumentative discourse. The
university requires these students to learn Italian, a second Swiss national language
and English. All students have acquired competences in several languages and have
developed similar lay theoretical explanations of language acquisition. When it comes
to the way the first period of studying at university has been experienced, however, the
students’ narratives and assessments differ. One student feels isolated and under strong
time pressure because confronted with three foreign languages in top of the regular
study program. The others consider one or two of the required languages as a first language and have satisfying social contacts, partly within groups of students having the
same origin. Besides good linguistic competence in several languages, shared cultural
experience appears to be a key resource for accessing social networks and informal
learning situations in the first weeks of study.
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150
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