DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
„Das Verkörpern von Geschichten –
Die stimmlich-sprachliche Präsenz in den
Figurenkonstellationen von Robert Lepages Lipsynch“
Verfasserin
Elisabeth Kanettis
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag. phil.)
Wien, 2012
Studienkennzahl lt. Studienblatt:
A 317
Studienrichtung lt. Studienblatt:
Theater- Film- und Medienwissenschaft
Betreuerin:
ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister
Inhaltsverzeichnis:
1.
Einleitung............................................................................................................. 5
2.
Die Multimedialität in Lipsynch ............................................................................ 7
2.1
3.
4.
Das Medium Stimme ..................................................................................... 8
2.1.1
Das Bild im Hörbaren ............................................................................ 10
2.1.2
Der Klang im Sichtbaren ....................................................................... 12
2.1.2.1
Der Ereignischarakter der Stimme ................................................. 13
2.1.2.2
Der multimediale Charakter der Stimme......................................... 14
Homi Bhabhas Konzept der Hybridität............................................................... 16
3.1
Die Hybridität der Stimme ............................................................................ 18
3.2
Die Hybridität auf der Bühne........................................................................ 19
Der Einfluss der Méthode Repère auf Lepages Theater ................................... 20
4.1
Imagination statt Textvorlage....................................................................... 22
4.2
Erinnerung statt Fakten ............................................................................... 24
4.2.1
5.
Robert Lepages Theatervokabular ........................................................ 25
Robert Lepages hybrides Theater und seine ästhetischen Verfahren ............... 27
5.1
Die Sprache ................................................................................................. 30
5.1.1
Charakterzüge der Stimme ................................................................... 31
5.1.2
Das Spiel zwischen Körper und Stimme ............................................... 32
2
5.2
Die Transformation in Lepages Theater ...................................................... 33
5.3
Das Kinematografische ............................................................................... 36
5.3.1
Das Erzählen ........................................................................................ 36
5.3.2
Die Bühne ............................................................................................. 38
5.3.3
Das Spiel............................................................................................... 39
5.3.3.1
5.4
Die Figurenfindung ...................................................................................... 42
5.4.1
5.5
Emotion und Energie ...................................................................... 40
Verkörperung und Entkörperlichung ..................................................... 44
5.4.1.1
Der Stimmkörper ............................................................................ 46
5.4.1.2
Der Schauspielerkörper .................................................................. 47
Die Zeit ........................................................................................................ 50
6.
Der Rezipient..................................................................................................... 54
7.
Lipsynch – Das Stück ........................................................................................ 57
7.1
Die Entstehung ............................................................................................ 58
7.2
Die Stimme als Körper ................................................................................. 61
7.2.1
Wenn der Körper einer fremden Stimme geliehen wird ........................ 62
7.2.2
Wenn die Stimme einem fremden Körper geliehen wird ....................... 63
7.3
Das unsichtbare Band zwischen den Figuren.............................................. 66
7.3.1
Ada ....................................................................................................... 66
7.3.2
Thomas ................................................................................................. 67
7.3.3
Marie ..................................................................................................... 68
7.3.4
Jeremy .................................................................................................. 68
3
7.3.5
Sarah .................................................................................................... 70
7.3.6
Sebastian .............................................................................................. 72
7.3.7
Jackson ................................................................................................. 72
7.3.8
Michelle ................................................................................................. 73
7.3.9
Lupe ...................................................................................................... 74
7.4
8.
Die charakteristische Körperlichkeit einzelner Stimmen .............................. 75
Die Schnittstelle zwischen Intention und Vermittlung ........................................ 93
8.1
9.
10.
Zeitliche und emotionale Koordination ......................................................... 94
Fazit................................................................................................................... 96
Literaturverzeichnis ........................................................................................ 99
4
1.
Einleitung
Lipsynch. Bereits der Titel des neunstündigen Bühnenepos von Robert Lepage
enthält
eine
faszinierende
Mischung
aus
sinnlicher
Assoziation
und
schauspielerischem Handwerk.
Auch die Propagierung von Lipsynch als „magisches Theaterepos“1 lässt auf die
etwas unkonventionellere Form eines Bühnenstückes schließen. Diese ersten
Eindrücke also gaben mir den Anreiz, am 12. Mai 2010 erstmals ein Stück des
frankokanadischen Theatermachers zu besuchen, und es fesselte mich mit seiner
imposanten Erzählkraft tatsächlich bereits ab der ersten Minute. So entstand das
Bedürfnis, es zum Thema meiner Diplomarbeit zu machen.
Lipsynch enthält sowohl das englische Wort für Lippe als auch das für
Synchronisation
und
bezeichnet
den
Prozess
des
Angleichens
von
Lippenbewegungen und hörbarem Text oder Gesang. Lepage wählt diesen Titel als
Überbegriff für seine Thematisierung der menschlichen Sprache und Stimme in all
ihren
Facetten
und
Klangfarben,
in
ihren
Aus-
und
Verformungen.
Entlang dieses Grundmotivs offenbart das virtuose Spiel von Lepages Ensemble Ex
Machina sowohl stimmliche Imposanz als auch intimste stimmlich - sprachliche
Details, die sich in jedem Individuum verbergen. Doch Lipsynch ist nicht nur eine
Darstellung des Phänomens Stimme, sondern gleichzeitig eine Geschichte über
neun Figuren auf der Suche nach ihrer stimmlichen Identität und Berufung. Robert
Lepage erzählt diese Geschichte anhand eines imposanten und gehaltvollen
Bühnenspektakels, welches sich in seiner gesamten dramaturgischen, bildlichen,
musikalischen und atmosphärischen Breite zu analysieren gelohnt hätte.
Angesichts meines visuell–akustischen Ausgangsmaterials einer Live–Aufzeichnung
von Lipsynch habe ich mich dazu entschlossen, den Fokus meiner Diplomarbeit auf
den Aspekt der menschlichen Stimme zu legen und Lepages spezifischer
Kunstsprache auf den Grund zu gehen.
http://www.festwochen.at: Wiener Festwochen,
http://www.festwochen.at/index.php?id=eventdetail&detail=494.[Stand:18.05.2012]
1
5
Denn seine Sprache trägt maßgeblich zur Verdichtung menschlichen Lebens auf der
Bühne bei, während sie nicht nur der Kommunikation und Identifikation dient,
sondern ebenso der künstlerischen Gestaltung des Stücks. Bevor sich nun die Arbeit
in einen theoretisch und praktisch orientierten Teil gliedert, soll in der Einleitung der
Raum etabliert werden, der die Plattform für Lepages körperlich-sinnliche
Theaterform bildet.
Der frankokanadische Theater- und Filmemacher, Robert Lepage, ist nicht nur als
Regisseur, sondern auch als Autor, Dramaturg und Schauspieler in seinen Werken
tätig, die er mit seiner multimedialen Theatergruppe Ex Machina inszeniert. Mit dem
Ausdruck „Multimedial“2 ist bereits ein wesentlicher Aspekt von Robert Lepages
Ästhetik genannt. Multimedialität auf der Bühne erlaubt und erfordert den Einsatz
verschiedenster Medien innerhalb des Rahmenmediums Theater, ohne sie dabei zu
theatralisieren.
Lepages Theater orientiert sich nicht an einer konventionellen Theatersprache,
sondern an einer universell verständlichen Sprache wie man sie auch im Alltag
antreffen könnte. Stellt der Regisseur zugunsten seiner Erzählung eine Fernsehoder Radiosendung nach, so wird auch gesprochen wie es das Publikum aus
Fernseh- und Radiosendungen kennt.
Bei Robert Lepage wird die Vorsilbe „Multi-“ keineswegs nur für den medialen Aspekt
verwendet, sondern auch für den kulturellen und narrativen Aspekt. Die
Multikulturalität in seinen Stücken zeigt ein Nebeneinander verschiedener Kulturen,
so wie die Multinarration ein Nebeneinander von mehreren Handlungssträngen zeigt.
Das besondere daran ist, dass nicht nur ein Nebeneinander, sondern auch eine
Verflechtung der unterschiedlichen Medien, Kulturen und Geschichten stattfindet,
ohne sie ihrer eigentümlichen Charakteristik zu berauben oder sie einander
angleichen zu wollen. Lepages Interesse und Offenheit für verschiedene Kulturen
und kulturelle Praktiken erschließt sich aus seinem Herkunftsland Québec, dessen
Mentalität und Kultur ihn sehr geprägt haben. Die Diglossie von Anglophonen und
Frankophonen, sowie die Diversifikation kultureller Identitäten aufgrund der Stellung
Québecs als Immigrationsland verschiedenster ethnischer Gruppen, eröffnen einen
breiten Spielraum für kulturelle Hybridität. Auch dieses Phänomen spielt in Lepages
2
Julia Pfahl (2005): Québec inszenieren – Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im
Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag. S. 12
6
Theater
eine
große
Rolle
und
soll
anhand
der
Erkenntnisse
des
Literaturwissenschaftlers Homi Bhabha genauer erläutert werden.
Lipsynchs mediale und kulturelle Mehrdimensionalität auf der Bühne kreiert
prozesshaft eine eigene, authentische Sprache, die keinen herkömmlichen
Theatertext als Vorlage benötigt. Dieser Aspekt führt bereits zum nächsten
Charakteristikum von Lepages Theater, nämlich der vom Theatermacher Jacques
Lessard begründeten Méthode Repère. Diese beschreibt ein Theater, welches im
Zuge eines kollektiven work – in – progress entsteht, ohne sich dabei an einer
textlichen Vorlage zu orientieren.
Trotz seiner kanadischen Wurzeln ist Lepages Theater im interkulturellen Raum
anzuordnen.Die Ästhetik seiner lokal und global stattfindenden Kulturproduktionen
zeichnet sich durch die Synergie von formalen und inhaltlichen Schwerpunkten aus,
die Lepage aus verschiedensten Kulturen entnommen hat.
2.
Die Multimedialität in Lipsynch
Im Zuge der Recherche zum Theater von Robert Lepage ist der Begriff
Multimedialität keine Seltenheit. Um diesem Phänomen hinter die Worthülse blicken
zu können, beschäftigt sich dieses Kapitel mit Robert Lepages spezifischer Intention
bei dem Einsatz verschiedenster Medien innerhalb des Rahmenmediums Theater.
Lepage pflegt eine Verbindung von Musik, Bild und Text, um auf der Bühne sowie im
Zuschauerraum eine Synthese von visuellen und akustischen Darstellungsmitteln zu
schaffen. Dies führt dazu, dass nicht die Sprache, sondern der Klang und nicht der
Text, sondern die dahinter liegende Intention vorrangig für die Vermittlung einer
Geschichte sind. Formuliert man die erweiterte Funktion der Sprache als Frage,
würde sie folgendermaßen lauten:
„Wie bringe ich das, was in mir vorgeht zum Ausdruck, und wie klingt es, wenn ich
das tue?“
Anders ausgedrückt involviert Lepage verschiedenste mediale Phänomene in sein
Theater nicht, um die einzelnen Medien auszustellen, sondern um von ihrer
spezifischen Erzählweise zu profitieren. Sein Ziel ist es, eine homogene Synthese
von visuellem und auditivem Material zu erzeugen. Das bedeutet, dass auf rein
akustischer Ebene nicht nur auditiv wahrnehmbare Inhalte transportierbar sind,
7
sondern auch visuelle – und umgekehrt. Das Wort homogen bezieht sich also in
diesem Falle auf die gleichzeitige Präsenz und Wahrnehmung von Bild und Klang,
die in ihren medialen Differenzen nicht angeglichen werden, sondern mit ihrer
charakteristischen Beschaffenheit die Grundlage für die Narration bilden. Es existiert
automatisch ein natürliches Zusammenspiel, wobei je nach Dominanz von einem der
beiden Informationsträger entweder das Bild den Klang oder der Klang das Bild
unterstützt.
Sowohl akustische, als auch visuelle Medien besitzen das Potential, die
Wahrnehmung von Sinneseindrücken schlagartig zu ändern. Diese veränderte
Wahrnehmung ist jedoch nicht nur auf die Vermittlung von Klang und Bild
zurückzuführen, sondern auch auf den Raum, in dem die Vermittlung stattfindet.
Damit ist weder nur der Raum des Senders noch der Raum des Empfängers
gemeint, sondern vor allem der Raum des Aufeinandertreffens der beiden.
Anders ausgedrückt entsteht die zu vermittelnde Botschaft von medialen Qualitäten
weder in ihrem Ursprung, noch in ihrem Endpunkt, sondern in jenem Raum, der
dazwischen liegt. Dieses Zwischen zeichnet sich dadurch aus, dass es stets etwas
Unsichtbares oder Unhörbares in sich trägt, was jedoch Einfluss auf das Unbewusste
und die Emotion des Publikums hat.
2.1
Das Medium Stimme
Besonders in Lepages Arbeit für Lipsynch spielt das akustische Moment in seinen
unterschiedlichsten Facetten eine große Rolle.
Das Hauptmotiv der menschlichen Stimme wird nicht nur mit Hilfe von verschiedenen
Sprechtechniken und- Rhythmen, Stimmanalysen, et cetera näher gebracht, sondern
auch mit Hilfe von verschiedensten medialen Genres wie Musik, Radio oder Film.
Diese bekannten und assoziativen Genres sind zu einem großen Teil für die
emotionale Involviertheit des Zuschauers oder besser, des Zuhörers verantwortlich.
Die Stimme stellt - ohne aktiv auf ihre Quelle verweisen zu müssen - ein Dispositiv
dar, welches automatisch persönliche Information über den Sender enthält und
preisgibt. Sie trägt in Lipsynch maßgeblich zur spezifischen Figurenzeichnung bei,
indem sie sowohl auf die Persönlichkeit des Sprechenden und seiner Figur, sowie
auf die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Figuren verweist.
8
Folglich findet man in der Stimme ein Medium, welches nicht nur Information und
Bedeutung vermittelt, sondern gleichzeitig die unmittelbar wahrnehmbare Präsenz
des Senders. Damit ist sowohl seine haptische Präsenz, als auch seine nicht
greifbare, emotionale Präsenz gemeint.
Die Stimme hat in Verbindung mit der individuellen Sprache des Stimmträgers die
Fähigkeit, dessen hinter seiner stimmlichen Äußerung liegende Intention und
Emotion zu transportieren. Außerdem integriert das Medium Stimme nicht nur den
Sender, sondern auch den Empfänger der Botschaft, wie es das vorhergehende
Kapitel der Multimedialität in Lipsynch bereits, anhand des für die Botschaft
ausschlaggebenden Interaktionsraums zwischen Sender und Empfänger, erläutert
hat.
Die Art und Weise, wie das Gesagte oder Gesungene auf der Bühne den Empfänger
erreicht, ist nicht rein kognitiv zu verstehen, da sich das Hören meist als ein
affektives Erleben vollzieht. Dieses wird durch Faktoren wie der momentanen
seelischen oder körperlichen Verfassung, der räumlichen Atmosphäre oder den
visuellen oder akustischen Gestaltungsmitteln beeinflusst.
Die durch persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, sowie durch momentane
äußerliche Umstände empathische Involviertheit des Hörenden, wird durch ein Zitat
von Roland Barthes bekräftigt, der behauptet:
„Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des
Begehrens wäre – oder des Abscheus.“3
Das Hören gewinnt also bei der Verkörperung der Stimme durch seine enge
Verbundenheit mit dem Sinnlichen und Emotionalen einen fast höheren Stellenwert
als das Sehen. Denn die Stimme kann als eigenständiger Körper im Raum stehen,
gleichzeitig Vermittlerin zwischen Sprache und Körper des Sprechenden sein, und
durch ihre Körperlichkeit sogar Beziehungen mit einer Alterität evozieren.
Der Empfänger muss nicht einmal direkt angesprochen werden, um sich
angesprochen zu fühlen. Denn das Was und das Wie der stimmlichen Äußerung
3
Roland Barthes (1990): Die Musik, die Stimme, die Sprache. In: Roland Barthes (Hrsg.): Der
entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
S. 280
9
enthalten unzählige
Informationen,
die einen
unmittelbaren
kognitiven
und
emotionalen Einfluss auf den aktiven Hörer haben.
Eine der Fragen, die mich seit meiner persönlichen Erfahrung mit Lipsynch
beschäftigt, ist, durch welche technischen und/oder ästhetischen Verfahrensweisen
es das Theaterensemble möglich macht, dem Zuhörer Emotion nicht nur zu
vermitteln, sondern ihn auch zu involvieren. Dieser Frage soll in den folgenden
Kapiteln auf den Grund gegangen werden.
2.1.1
Das Bild im Hörbaren
Selbstverständlich lässt die Bildgewalt in Lipsynch verglichen zu Lepages früheren
Stücken keineswegs an Effektivität und Raffinesse nach, jedoch trägt diesmal die
akustische Komponente einen weitaus größeren Teil zum Endresultat bei.
Um den Zugang zu diesem Kapitel zu erleichtern, soll ein wichtiger Aspekt aus dem
Buch Connecting Flights von Rémy Charest herausgegriffen werden. Nämlich, dass
ein Bildmedium für Lepage nicht zwingend jenes ist, das Bilder zeigt, sondern jenes,
das Bilder evoziert.
„[...] to me, radio is the real medium of the image because the listeners have to
create their own pictures.“4
Am Beispiel des Radios wird also erläutert, dass ein Klang mit seiner akustischen
Reichweite nicht nur die Fähigkeit hat, ein visuelles Zitat zu ergänzen oder neu zu
definieren, sondern sogar es zu evozieren. Das bedeutet, dass der Klang mit seiner
akustischen Resonanz in Form von Melodie, Geräusch oder Rhythmus die
Aufmerksamkeit in einer Szene auf die verschiedensten Bezugspunkte lenken kann.
Der medienspezifische Klang des Radios evoziert Bilder, die das visuelle Geschehen
auf der Bühne verstärken und die Wirkung auf den Zuschauer erhöhen. Dies passiert
dadurch, dass das Publikum das Bühnengeschehen mit Auge und Ohr verfolgt,
jedoch die akustische Information aus einem anderen Medium bezieht.
4
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 126
10
Doch Lepage zeigt auch kinematografische Momente, also ein medienspezifisches
Zusammenspiel von Bild und Ton auf der Theaterbühne, was noch weitere
perzeptorische Faktoren in die augenblickliche Rezeptionssituation aufnimmt. Hier
sieht und hört das Publikum die Theaterwirklichkeit und die kinematografische
Wirklichkeit. Die Bilder werden also nicht mehr durch akustische Mittel evoziert,
sondern bestehen bereits auf der Bühne und werden durch das Zutun von nicht –
theatralischen Medien sogar noch verstärkt. Man könnte sagen, dass sich die
eigentliche Essenz eines Bildes erst durch das richtig portionierte Zusammentreffen
von visuellem und akustischem Material im Raum ausbreiten kann.
Der Klang ist also ein eigenständiger Protagonist in seinem Metier und gleichzeitig
ein Nebendarsteller, der das Potential besitzt, den (Sub-) Text eines Bildes
hervorzuheben. Abhängig von der Wahrnehmungsfähigkeit und Phantasie des
Zuhörers können also aus akustischen Lauten und Melodien abstrakte oder konkrete
Bilder und Assoziationen entstehen. Und genau darin sieht Lepage auch das
bildliche Potential der Sprache, das Potential der sprachlichen Visualität. Deshalb ist
der Ausdruck Kunstsprache neben dem der Körpersprache in Lepages Arbeit legitim,
da Sprache und Stimme hier nie rein der (non) verbalen Kommunikation dienen,
sondern auch der Darlegung ihrer ästhetischen Kapazität und Reichweite als
Sprachkörper.
11
2.1.2
Der Klang im Sichtbaren
Selbstverständlich funktioniert das Phänomen des Bildes im Hörbaren auch auf
umgekehrte Weise.
Dank
der
gewonnen
Erfahrungen
und
Eindrücke
von
Produktionen
in
unterschiedlichsten Genres hat Robert Lepage das umfangreiche Repertoire der
menschlichen Stimme kennengelernt. Dabei erkannte er, dass das Auditive stark um
dessen visuelle Dimension, sei es durch konkrete oder imaginierte Bilder, bereichert
werden kann. Und ebenso kann das Visuelle um dessen auditive Dimension
bereichert werden.
Der Stimmklang besitzt neben dem Körper, aus dem die stimmliche Äußerung
kommt, eine eigene Körperlichkeit. Durch die Präsenz dieser beiden Körper ergibt
sich, dass sie nicht nur auf der akustischen Ebene wahrnehmbar sind, sondern auch
aus der Visuellen. Der Stimmkörper ist auch dann präsent, wenn er gerade nicht
hörbar, sondern nur durch seinen Resonanzraum des Schauspielerkörpers
wahrnehmbar ist.
Resonanzräume zeichnen sich durch die zeitliche und räumliche Ausbreitung eines
akustischen Phänomens aus. Im Falle von Lipsynch ist die Quelle dieser Phänomene
der
vorerst
nur
visuell
wahrnehmbare
Schauspielerkörper.
Von
diesem
Ausgangspunkt kann sich die Stimme im Raum ausbreiten. Aus diesem Grund ist die
Verortung des Gesagten im Raum viel ausschlaggebender als die zeitliche
Verortung, die impliziert, wann etwas gesagt wird. Sozusagen entspringt der Klang
des Sichtbaren einem räumlichen Phänomen, welches die Bezugnahme zum visuell
anwesenden
Sprecher
ermöglicht.
Doch
dieses
Phänomen
der
direkten
Zuschreibung ist nicht selbstverständlich, denn die Stimme zeichnet sich genauso
wie durch ihr Raumbewusstsein durch eine gewisse Ortlosigkeit aus.
„Wie allen auditiven Phänomenen ist ihr eigen, dass sie sich von ihrem
Herkunftsort entfernt und dislokalisiert.“5
5
Vgl. Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (2009): Stimm – Welten. Philosophische,
medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S.9
12
Was der Stimme trotz ihres transitorischen Charakters eine Anwesenheit ermöglicht,
ist das Visuelle. Und genau dieses Moment versucht Lepage in Lipsynch erfahrbar
und verständlich zu machen. Denn die meisten seiner Charaktere sind auf der Suche
nach ihrer eigenen oder einer fremden Stimme, die ihrem Körper uneigen ist. Robert
Lepage führt sowohl seine Figuren, als auch die Zuschauer durch das
Zusammenspiel vom Visuellen und Akustischen zum Finden und Verorten ihrer
Stimme. Die Stimme der Charaktere wird dadurch präsent, dass sie den Drang
verkörpert, nach außen zu strömen und gehört zu werden. Ist diese Stimme einmal
etabliert, so klingt sie mit jeder Figur aus Lipsynch zu jeder Zeit mit, ob die Figur nun
gerade ihrer Stimme Herr ist oder nicht.
Das visuell erfahrbare Agieren - die Bilder auf der Bühne - wird stets durch den
narrativen Stimmprozess der einzelnen Charaktere begleitet.
2.1.2.1 Der Ereignischarakter der Stimme
Der Vorgang des klanglichen Phänomens, welches dem Sichtbaren durch räumliche
Ausbreitung entspringt, ist ein Ereignis und verweist somit auf den Ereignischarakter
der Stimme. 6 Das Ereignis zeigt sich also nicht nur in der lokalen Verortung der
Stimme, sondern auch in ihrer anschließenden klanglichen Ausbreitung im Raum.
Das Visuelle wird sozusagen vertont.
Die
zeitliche
Begrenztheit
eines
stimmlichen
Lautes,
das
augenblickliche
Verschwinden der Stimme sobald sie den Raum erfüllt hat und der durch die Stimme
oftmals unterbewusst transportierte emotionale Subtext sprechen dafür, dass die
Stimme ein für Sprecher und Hörer kaum kontrollierbares Eigenleben führt. Doch
obwohl die Stimme ein transitorisches Phänomen ist und augenblicklich nach ihrer
Äußerung verstummt, kann sie einen Raum erfüllen und den Zuschauern auch
akustisch nachhaltig präsent bleiben. Dies ist aufgrund der auditiven Komponente im
Sichtbaren möglich. Der Zuschauer erfährt stimmliche Resonanz also sowohl durch
eine akustische Äußerung, als auch durch die visuelle Präsenz des Sprechers im
Raum. Das bedeutet, dass der Ereignischarakter dafür verantwortlich ist, dass die
Kopräsenz von Schauspieler und Publikum in einem Raum aktiv wahrgenommen
werden kann. Aus diesen beiden Phänomenen also – aus dem Bild im Hörbaren,
6
Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag. S 11
13
sowie aus dem Klang im Sichtbaren - ergibt sich die klangliche und visuelle
Körperlichkeit eines Individuums.
Die neun Geschichten von Lipsynchs Protagonisten werden abwechselnd durch ihre
physische Körperlichkeit und die Physis ihrer Stimme dargestellt. Dabei dient die
Bühne als eine Art Megafon oder Lupe, die das Bühnengeschehen akustisch und
visuell vergrößert, ohne es zu verfälschen.
Der Ereignischarakter der Stimme verdeutlicht dem Publikum, dass Lipsynch seine
Sprachlichkeit nicht nur benützt, um Inhalte zu vermitteln, sondern vor allem, um mit
der Art und Weise der Vermittlung zu spielen. Die einzelnen Geschichten erschließen
sich nämlich vorwiegend über die verbalen und nonverbalen Aktionen der
Schauspieler und benötigen keine weiteren erklärenden Worte. Die Stimme und die
Art und Weise ihrer Artikulierung ist die authentischste Spur des sprechenden
Individuums und seiner kulturellen Herkunft. Sie gibt nicht nur einen Inhalt und eine
Aussage wieder, sondern auch und vor allem einen ersten und sehr privaten
Eindruck der Person, die gerade spricht. Seien es Informationen über ihren
emotionalen Zustand, ihre Aufmerksamkeit, ihre soziale Stellung oder ihre Motivation
und Intention, gerade jetzt zu sprechen.
Als Überleitung zum folgenden Kapitel soll nochmals betont werden, dass die
primäre Vermittlerinstanz für die Bühnenereignisse von Lipsynch die menschliche
Stimme ist. Und diese kann auch durch die Präsenz von visuellem Material evoziert
werden.
2.1.2.2 Der multimediale Charakter der Stimme
Robert Lepage spricht von der existentiellen Bedeutung des Visuellen für das
Theater. Dieses könne extern, also über die Grenzen der Theaterbühne hinaus, nur
als Folge von internen Bilderwelten jedes Einzelnen entstehen. Derartige
Bilderwelten schöpft Lepage aus der Natur des Akustischen, welche vermag, aus
dem Gehörten augenblicklich Bilder entstehen zu lassen.
Lipsynchs Bilderwelten entstehen in einem poetischen Raum, in dem das Akustische
sowohl in Verbindung mit, als auch losgelöst vom Visuellen bestehen kann. Viele
Szenen beanspruchen anfänglich nur einen der menschlichen Sinne - entweder nur
das Ohr oder nur das Auge. Erst in Folge wird das jeweils andere Sinnesorgan aktiv,
14
indem ein Schauspieler einer akustisch hörbaren Stimme seinen Körper, oder einem
visuell
sprechenden Körper
seine Stimme
leiht. Dadurch
können
visuelle
Impressionen entstehen, die die individuelle Stimme und Sprache nicht nur als
Ausdruck des Selbst bestehen lassen, sondern auch als ästhetisches Moment vor
ihrer Vertonung oder Verkörperung.
In jedem der beiden Fälle ist es so, dass der bereits vorhandenen Stimme ein
zusätzlicher Körper verliehen wird, sei es ein visueller oder ein akustischer. Aus
diesem Grund müssen dem Publikum nicht alle Sprachen, die Robert Lepage in
seinen Stücken verwendet, geläufig sein. Die Art und Weise der repetitiven und
assoziativen Inszenierung des akustischen Potentials der Sprache ermöglicht dem
Zuschauer einen neuen Zugang, der über die linguistische Verständlichkeit hinaus
geht. Mit repetitiver und assoziativer Inszenierungsweise ist das oftmalige
Aneinanderreihen derselben Bedeutungen anhand von verschiedenen akustischvisuellen Bildern gemeint. Beispielsweise vereint Lepages Stück La Trilogie des
Dragons, die Sprachen Französisch, Englisch und Chinesisch zugunsten einer
Gegenüberstellung und einer Synthese von West und Ost. Und da Sprache nicht nur
ein Medium der Kommunikation, sondern gleichzeitig einer der wichtigsten
Indikatoren für kulturelle Identität ist, genügt das Ausformulieren einer Phrase in jeder
der Sprachen, um ein präziseres Bild des Gesagten zu vermitteln. Denn neben den
personenspezifischen Merkmalen der Stimme sorgt die differenzierte Artikulation der
Sprache jeder Kultur für eine unverfälschte und unmissverständliche Wahrnehmung
der getätigten Aussage. Der Zuschauer hört nicht nur chinesisch, sondern hat
gleichzeitig eine Vorstellung des potentiellen Sprechers und seiner möglichen
Intention vor Augen.
Wozu Lepage sein Publikum durch diese Multilingualität auffordert, ist, dass es
Sprache nicht ausschließlich als akustisches Phänomen wahrnehmen soll, sondern
als Theaterzeichen mit einer eigenen visuellen Körperlichkeit. Sozusagen bedeutet
das Nicht-Beherrschen von Sprache keineswegs das Nicht-Zustandekommen von
Kommunikation. Unabhängig davon, was bei den verbalen und nonverbalen
Äußerungen in den zahlreichen Fremdsprachen und Dialekten auch passiert, ist es
immer die Präsenz der an- oder abwesenden menschlichen Stimme, die jegliche
Kommunikationsschwierigkeiten überwindet. Meist dient sie sogar als Beweis dafür,
dass verbale Sprache oftmals unfähig ist, effektive Kommunikation zu etablieren.
15
Aus diesem Grund entscheidet sich Lepage ganz bewusst gegen die englische
Übertitelung jedes einzelnen Satzes. Die momentane Spielsituation mit ihrem Ringen
um Verständnis und Übereinstimmung erklärt sich von selbst, denn es geht in sehr
vielen Szenen nicht um das wortwörtliche Verstehen, sondern um das reine
Aufzeigen von kommunikativen Momenten.
Die Kommunikation auf der Bühne von Lipsynch findet auf unmittelbarem Wege statt,
der eine linguistische Interpretation oder Hinterfragung ausschließt und stattdessen
die Pluralität von auditiven und visuellen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen
fordert.
Voraussetzung für das Verständnis für diese Pluralität ist die Sprachqualität, welche
in ihrer Struktur oder Bedeutung nie komplex und überladen ist. Lipsynchs Sprache
will nicht irritieren oder verwirren, sondern auf natürlichstem Wege und mit
einfachsten Mitteln verstanden werden.
3.
Homi Bhabhas Konzept der Hybridität
Julia Pfahl erklärt das Prinzip der kulturellen Hybridität zu einem essentiellen
Bestandteil interkulturellen Theaters und führt in ihrem Buch7 den Indisch- englischamerikanschen Literaturwissenschaftler Homi Bhabha als dessen Begründer an.
Folgendes Kapitel soll nun, in Bezug auf Robert Lepages Theater, erörtern, inwiefern
die
Paradigmen
Identität8,
Multikulturalität
und
Alterität
nach
dem
sozialwissenschaftlichen Konzept der Hybridität entschlüsselt werden können. Doch
zuvor erfährt man, im Zuge der Erörterung des Begriffs, dass dieser durch komplexe
Bedingungen von Migration und Globalisierung zu einer doppelten Wertung gelangte.
1. Zum einen ist Hybridität aufgrund von sich ständig wandelnden Identitäten und
künstlerischen Praktiken als Folge von soziodemographischen Entwicklungen
negativ konnotiert.
7
Julia Pfahl (2005): Québec inszenieren – Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im
Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag.
8
Vgl. Julia Pfahl. Ebd. S. 22
16
2. Zum anderen entnimmt man dem Begriff eine positive Konnotation, da er
menschliche Orientierungspunkte revidiert, Sicherheiten destabilisiert und
folglich klar definierte Kategorien konstruktiv auf die Probe stellt.
Die Thematisierung dieses ambivalenten Phänomens zeigt sich in Lepages Stücken
in der Dekonstruktion kultureller Identitäten und demzufolge in einer Umorientierung
von kulturspezifischen Wertvorstellungen und künstlerischen Genres.
Die Québecer Metropole Montréal ist für Robert Lepage solch ein privilegierter Ort
des Hybriden, wo kulturelle Differenzen in stark ausgeprägter Form Gang und Gebe
sind.
Die Beschaffenheit dieser breiten und heterogen aufgefächerten Gesellschaft
ermöglicht ein neues Verständnis von Kultur, nationaler Zugehörigkeit und Identität
und setzt die Kunst als vermittelndes und integratives Moment für die Förderung von
gesellschaftlicher Akzeptanz und Vielfalt ein.
Um Theater und Multikulturalität in einem Projekt zu vereinen, ist die Wahrnehmung
von Grenzen und deren Überschreitung, sowie die Begegnung zwischen Eigenem
und Fremdem erforderlich. Dabei kritisiert Homi Bhabha das Machtgefälle vom
Eigenen zum Fremden, welches sich in der Zeit der Kolonisation etabliert hat. Unter
Machtgefälle versteht er die Tendenz, das Selbst erst durch das Vergleichen und
Höherstellen gegenüber dem Anderen zu identifizieren, was die Begriffe nicht im
erstrebenswerten produktiven Verhältnis repräsentiert.
Bhabha betont, dass beide Begriffe - das Eigene und das Fremde - durch die
Erfahrung
verschiedener
kultureller
Zugehörigkeiten
in
die
unmittelbare
Selbsterfahrung gelangen und einander gleichermaßen bedingen sollten.
Der Ort des Aufeinandertreffens zwischen Eigenem und Fremdem ist ein
semiotischer Raum, ein ambivalenter Ort der zugleich verbindet und trennt. Es ist ein
sogenanntes Zwischen, ein hybrider Raum, in dem kulturelle Begegnung stattfindet,
und der produktiv für die Analyse und Darstellung von Ambivalenzen genützt werden
kann. Dieses Zwischen - Homi Bhabha bezeichnet es auch als Third Space zeichnet sich nun durch eine Dichotomie von Eigenem und Fremdem aus und bildet
eine spezifische Existenzform, in der eine transnationale, hybride Kulturüberlagerung
stattfindet. Die Begrifflichkeiten transnational und hybrid bezeichnen die wesentliche
Grundessenz dieses Raumes, nämlich, dass darin das Selbst gleichzeitig mit dem
17
Anderen erlebt werden kann. Darin gibt es keine vorgängige Identität, sondern eine
durch die Unterschiede der Selbst- und Fremdwahrnehmung entstehende Anhäufung
von Identitätsunterschieden.
Mit dieser Charakterisierung öffnet Bhabha den Kulturbegriff nicht nur, sondern
dynamisiert ihn auch, denn er behauptet, dass nur ein derart gedachter Raum der
Differenz und des Übergangs zwischen den Identitäten die kulturelle Identität eines
Individuums ausmachen kann.
3.1
Die Hybridität der Stimme
Lipsynch zeigt, dass Hybridität nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch im Alltag
und im thematisierten Phänomen der menschlichen Stimme existiert. So wie Lepage
als Voraussetzung für die Identitätsfindung das Verständnis für das Andere nennt, so
impliziert auch die Stimme eine Konfrontation des Selbst mit dem Anderen.
Das Verständnis für andere Kulturen, welches im Kapitel 3 diskutiert wurde, überträgt
sich in diesem Kapitel auf die Sprache, die auch verstanden werden kann, wenn sie
vom Gegenüber nicht beherrscht wird.
Die Stimme als Voraussetzung für die artikulierte Sprache kann insofern als Hybrid
bezeichnet werden, als dass sie ununterbrochen zwei Positionen einnimmt, ohne
dabei eine der beiden zu privilegieren: Sei es im Dualismus zwischen Körper und
Geist, zwischen Verstand und Emotion oder zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Die
Stimme verkörpert sozusagen beide Seiten, und durch diese Zwischenposition
entsteht auch ihre eigenwillige Identität. Man könnte auch sagen, dass sich die
stimmliche Identität durch ihr stetiges Potential zum Wandel auszeichnet.
Die Hybridität der Sprechstimme beschreibt also eine Art Nicht–Zustand mit
illusorischem und transitorischem Charakter, da er sich zwischen zwei korrelierenden
Polen stets weiterentwickelt und nie an ein Endstadion gelangt.
Ein derartiger Ort des Nicht- Zustandes wäre beispielsweise der in Lipsynch
thematisierte Sprach- und Kulturkontakt, der durch gegenseitiges Einwirken,
Übernehmen und Abgeben geprägt ist. Es soll abermals betont werden, dass
Kontakt nicht mehr als eine Konfrontation, eine Auseinandersetzung bedeutet.
Selbstverständlich braucht eine derartige Konfrontation eine Art Vermittler, damit es
zu einer verbalen oder non- verbalen Verständigung kommen kann. Und dieser
Vermittler ist die Stimme, die in Lipsynch in die Rolle eines Mediums tritt. Dabei ist
18
ihre Besonderheit einen offenen Raum jenseits von Kategorisierung zu kreieren, in
dem Körper und Sprachen verschiedener Nationalitäten nebeneinander existieren
und kommunizieren können. Genauer gesagt erzählt sich das Gesprochene mehr
über die Spuren der individuellen Erfahrung jedes Ensemblemitglieds, als durch den
Gehalt des Gesprochenen. Die Art und Weise des Gesagten gewinnt gegenüber
dem Inhalt des Gesagten an Bedeutung.
Lepage begibt sich mit seinem Theater auf die Suche nach kultureller und
sprachlicher Identität, doch darüber hinaus und noch viel wichtiger erscheint ihm
darzulegen, dass neben einem gefestigten Identitätssinn Neugier, Akzeptanz und
Offenheit gegenüber anderen Kulturen unabdingbar sind.
Übertragen von Homi Bhabhas Theorie auf die theatralische Praxis von Robert
Lepage geht es also nochmals um das tolerierte Aufeinanderklaffen und (Re-)agieren
von verschiedenen Sprachen, Kulturen, und künstlerischen, medialen Praktiken. Nun
stellt sich die Frage nach der ästhetischen Übersetzung solcher Phänomene, also
nach der Transformation von eben beschriebenen realen Gegebenheiten auf die
Bühne.
3.2
Die Hybridität auf der Bühne
Die von Lepage angewandten Mittel zur Transformation vom Leben auf die Bühne
sind die Reflexion und die Repräsentation. Genauer gesagt erzählt sich sein
theatralisches
Schaffen
über
individuelle
Erfahrung
und
Reflexion
jedes
Ensemblemitglieds, welche nach langjähriger Recherche in einer spezifischen
Repräsentation von Wirklichkeit münden. Dieses Kapitel soll nun dazu dienen, eine
Repräsentation von Homi Bhabhas Phänomen der kulturellen Hybridität auf der
Bühne zu simulieren.
Nachdem die Beschaffenheit des Aktionsraums von Lepages Theater erörtert wurde,
soll ein weiterer Schritt von Realität Richtung Fiktion getätigt werden. Der oft
gefallene Begriff der Multikulturalität bezeichnet die Vielfalt und das Nebeneinander
heterogener sozialer und kultureller Gruppen in einer Gesellschaft.
Gleichzeitig benennt der Begriff auch ein politisches Phänomen im Sinne eines
Bemühens für ein gleichberechtigtes, gegenseitig anerkanntes Nebeneinander und
einen respektvollen Umgang zwischen den Gruppen. Das Wort Gruppe inkludiert
19
jedoch bereits eine Abgrenzung und Kategorisierung innerhalb einer Kultur, was dem
Muster von Homi Bhabha widerspricht. Dieser spricht nämlich von kultureller
Hybridität im Sinne von Zirkulation, Interaktion und Fusion verschiedenster
Komponenten. Die Ähnlichkeit zwischen Homi Bhabhas Ansatz und Lepages
Repräsentation desselben auf der Bühne zeigt sich in der Suche nach einer
homogenen Heterogenität. Übertragen auf Lepages Theater bezeichnet dies die
Vielfalt und das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Sprachen, Kulturen
und Medien.
Was hingegen nicht Ziel der Darstellung und Repräsentation einer multikulturellen
Gesellschaft ist, sind Autonomie, Kategorisierung und festgelegte Definitionen von
Identitäten. Wenn also Multikulturalität im Sinne von Lepage vom Leben auf die
Bühne gelangt, dann muss vorerst ein Ort kultureller Diversität und Toleranz geöffnet
werden, in dem inhaltliche und ästhetische Faktoren neue Bedeutungsformen und
Identifikationsstrategien erfahren dürfen.
„The significance of Lepage´s “mise en scène” lies in the way in which he
employs cultural stereotypes both as a method of characterization and a way of
subverting the audience´s expectations of ethnicity.”9
4.
Der Einfluss der Méthode Repère auf Lepages Theater
Im Kontext des Theaters von Robert Lepage ist der Theatermacher Jacques Lessard
anzuführen, der 1980 in Quèbec das Théâtre Repère gegründet hat, zu dem ein Jahr
später auch Robert Lepage dazu gestoßen ist.
Der Name dieser Theaterform entstand durch die darin praktizierte Arbeitsmethode,
die Méthode Repère.10 Dabei handelt es sich um ein Kreativitätsmodell, welches im
Zuge der Entwicklung eines Stücks nicht auf die Basis einer vorgefassten Idee oder
eines Textes zurückgreift, sondern anhand eines momentan festgelegten Objekts
arbeitet. Dabei wird ein Entwicklungszyklus durchlaufen, der sich in vier Etappen
gliedert und deren Namen die jeweiligen Anfangsbuchstaben der Methode bilden.
9
Natalie Rewa (1990): Clichés of Ethnicity subverted : Robert Lepage´s La Trilogiedes Dragons. In:
Theatre Research in Canada, vol. 11, no. 2 p.107
10
Natalie Rewa. Ebd. p.47
20
REssource, Partition, Evaluation und REprésentation. Diese vier Phasen lassen sich
wie folgt beschreiben:
Am Beginn steht die Suche nach einer inspirierenden Quelle, einer Ressource,
einem illustrierenden Objekt, welches den Ausgangspunkt für ein Sammeln von
Assoziationen bilden soll. Im Falle von Lipsynch wäre dieser Ausgangspunkt
zweifelsohne die menschliche Stimme. Die Gedanken, Emotionen und Erinnerungen
aller Beteiligten, die mit diesem konkreten Objekt verbunden sind, bilden
darauffolgend weiteres Arbeitsmaterial.
Ausgehend von der Ressource als Anfangspunkt passieren die folgenden Prozesse
auf Basis von Intuition und sind nicht intellektueller Natur. Lepage argumentiert, dass
man bei seiner Theaterarbeit mit Gefühlen und Assoziationen konfrontiert ist, die
nicht bewertbar sind, sondern als produktive Impulse im Raum stehen. Mit diesem
intuitiven, emotionalen Material wird dann in der Phase der Partition gearbeitet und
improvisiert, um die Ausmaße und Dimensionen der Ressource zu erfassen und
näher zu erforschen. Dies ist zugleich ein inspirierendes wie auch sehr langwieriges
Procedere, wie Marie Gignac, eine der Darstellerinnen in der Trilogie des Dragons
betont. Es sei anfangs ein ewiges Herumsitzen und Reden, ein Kollektivieren von
Erfahrungen und Assoziationen aller Beteiligten, bis schließlich der Koordinator der
Gruppe, Robert Lepage, beginnt, eine Symbiose aus alledem zu formen und eine
gemeinsame Geschichte zu erzählen.
Anschließend werden die Ideen und Erkenntnisse in der Évaluation analysiert und
nach
Brauchbarkeit
für
den
theatralischen
Prozess
bewertet.
Welche
Gedankengänge und Szenen dann schlussendlich in die Probenarbeit aufgenommen
werden, hängt von deren momentanen dramaturgischen Potential ab. Denn nur weil
sich im Zuge der Brainstorming – Prozesse Gedanken oder Motive wiederholen,
heißt dies noch lange nicht, dass sich durch sie ein dramaturgisch schlüssiges
Konzept entwickeln lässt.
Was eine produktive Idee im Sinne eines dramaturgisch schlüssigen Konzepts
auszeichnet, ist, dass diese sowohl die einzelnen Bausteine - wie beispielsweise ein
subjektiver Charakterzug oder ein Requisit - als auch die Gesamtszenerie bedient.
Geprüft werden diese Qualitäten anhand ihres Potentials in der Improvisations- und
Imaginationsarbeit.
Unter dem letzten Punkt, der Représentation, ist kein Abschluss zu verstehen, auch
wenn es sich dabei um die Aufführung des vollendeten Stücks handelt. Denn das
21
Moment der Repräsentation, der endgültigen Performance der zusammengetragenen
Erfahrungen bildet erst den Schreibprozess, den Lepage als Autor im wortwörtlichen
Sinne umgeht. In anderen Worten wird im Augenblick des Aufführens und im
Austausch mit dem Rezipienten, dem ein monatelanges Improvisieren und Probieren
vorausgeht, das Stück erst geschrieben. Das Besondere an dieser Arbeitsweise ist,
dass die Handlung an sich erst nach Abschluss aller Proben und Vorstellungen fixiert
und definiert wird, denn die Bilder und Töne von Lepages Theater vereinen sich erst
im
prozesshaften,
zyklischen
Schaffensprozess
zu
einem
polyphonen
Zeichensystem.
Lessard
konzipierte
mit
dem Théâtre Repère
eine
Produktionsform ohne
Endgültigkeitscharakter, die sich literarischen oder formalen Vorlagen entzieht und
eine eigene szenische Sprache entwickelt. Diese szenische Sprache ist durch
akustische
und
visuelle
mehrdimensionalen
Darstellungsebenen
Bildlichkeit,
aus
der
geprägt
verbale
und
und
lebt
von
non-
einer
verbale
Kommunikationsformen erst evoziert werden.
4.1
Imagination statt Textvorlage
In Folge dieser Annäherung an Lepages Theaterschaffen ist möglicherweise noch
unklar, wie man sich die Entstehung seiner Stücke nur anhand von assoziativen,
menschlichen Erfahrungswerten vorstellen kann.
Der Vorteil seiner Arbeitsweise ist, dass ein vorgegebener Theatertext, ein
konventionelles Skript nicht erst modifiziert und gestrichen werden muss, sondern mit
der finalen Performance erst entsteht. Das Fehlen einer Textvorlage bringt dem
Theater wieder den Reichtum des phantasievollen und grenzenlosen Erlebens
wieder. Als unabdingbares Instrument für dieses eigentümliche Erzählen und Erleben
von Geschichten beschreibt Robert Lepage die Vorstellungskraft.
Er sagt, dass er nicht zwingend an den Orten gewesen sein muss, die er in seinen
Stücken thematisiert. Im Gegenteil, die Unkenntnis über ein Land oder eine Stadt
würde ihm sogar dazu verhelfen, einen für die Atmosphäre des Stücks essentiellen
mysteriösen Imaginationsraum zu entwickeln.
22
„There is the physical place and then there´s what the place represents for
you.“11
Lepage meint in diesem Zusammenhang, dass es nicht so wichtig sei, geografisch
korrekt zu sein, sondern viel mehr, jene Charakteristika eines Ortes, eines Landes,
oder eines Geschehens heraus zu filtern, die für das Stück brauchbar sind. Und
wenn es nur persönliche, subjektive Assoziationen mit einem kulturell geprägten
Gegenstand oder einem Ort sind. Außerdem betont Lepage, dass ihm das bereits
Bekannte und in seiner Vorstellung Präsente oftmals geholfen haben, das
Unbekannte zu verstehen. In anderen Worten, man muss nicht in China gewesen
sein, um dessen Mentalität zu verstehen. Allein die Faszination für das Land, die
Lepage in La Trilogie des Dragons auf der Bühne thematisiert, verhalf Lepage zu
einem besseren Verständnis und einer ausgeprägten Vorstellungskraft für soziale
und kulturelle Vorgänge im asiatischen Raum. Diese gewonnene, wenn auch
subjektiv orientierte Kenntnis über ein fremdes Land und der anschließende
Vergleich zwischen Ost und West haben Lepage auch ein besseres Verständnis für
den Westen verschafft.
Imagination soll also nicht nur einseitiger Recherche entspringen, sondern ihrem
Betrachter stets einen Spiegel vor Augen halten, der ihm die Kehrseite eines
Phänomens eröffnet. Um diesen Sachverhalt zu erläutern erwähnt Lepage, dass
oftmals das Unbekannte erforscht werden muss, um schlussendlich etwas bereits
Bekanntes neu zu entdecken. Genau aus diesem Grund schließen Lepage und sein
Ensemble eine Stückvorlage zu Beginn ihrer Probenarbeit aus. Lepage nennt in
diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Tourist und Reisendem, sei es
eine imaginäre oder eine reale Reise.
Ein Tourist, der unendlich viel in kurzer Zeit bereist und konsumiert, könne unmöglich
dieselben Eindrücke von der Reise mitbringen wie der Reisende, der sich die Zeit
nimmt, die Essenz eines Ortes zu entdecken und am eigenen Leib zu erfahren.
Die Reise, von der soeben die Rede war, steht sinnbildlich für das Theater von
Robert Lepage, welches es nicht intellektuell anhand des Textverständnisses,
sondern sinnlich und imaginativ zu erfahren gilt.
11
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 35
23
4.2
Erinnerung statt Fakten
Was bei einem Einblick in die Probenarbeit von Lepage sichtbar wird, ist der große
Stellenwert, den die Aufarbeitung von subjektiver und kollektiver Erinnerung hat.
Durch seinen Vater, der nebenberuflich als Taxifahrer für Touristen in Québec
arbeitete, gewann Lepage einen ganz eigenen Zugang zum Geschichtenerzählen.
Nämlich den der Mythologie, die genauso wie die persönliche Wahrheit aus dem
mehr
oder
weniger
wahrheitsgetreuen
generationenübergreifenden
Geschichtenerzählen entsteht. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass man dem
Erzählten den nötigen Freiraum gibt, sich zu entfalten. Denn, wie es Lepage aus den
Erzählungen seines Vaters miterlebt hat, entsteht der ausschlaggebende Effekt der
Narration
nicht
durch
deren
Richtigkeit,
sondern
vielmehr
Unvollständigkeit, welche die Fähigkeit hat, die Fantasie anzuregen.
durch
ihre
Man nennt
dieses Phänomen auch Personalisierung der Narration, da die subjektive Erinnerung
wichtiger ist, als eine objektive Aneinanderreihung von Fakten. Dies ist auch der
Grund, weshalb Lepages Werk, egal welche überdimensionalen Ausmaße es
annimmt, stets eine persönliche und private Note in sich trägt. Das Freilassen der
persönlichen und der kollektiven Erinnerungen innerhalb des Ensembles vermag
eine Bilderwelt entstehen zu lassen, anstatt sie anhand einer Vorlage zu
konstruieren.
Eine weitere Voraussetzung für das Erinnern und die darauffolgende Entwicklung
von Lepages Geschichten ist die Konfrontation mit Zeit und Ort. Die Vergangenheit
und vor allem das Eingeholtwerden durch dieselbe spielen für jede einzelne Figur
eine ausschlaggebende Rolle und werden als manifester Grund für ihr jetziges Sein
dargestellt. Das bedeutet, dass die Narration die Figuren nicht lenkt, sondern sich
rund um die Vergangenheit und Gegenwart der Figuren schlängelt, während diese
Zeit und Ort erfahren, konsumieren und begreifen.
Die Geschichten der einzelnen Figuren im Stück befinden sich allesamt in oder
zumindest kurz vor einem Wandel, was ihre persönliche und geografische
Zugehörigkeit in Frage stellt. Durch das auf der Bühne offengelegte Unbewusste
werden die Erinnerungen der Charaktere und somit ein wichtiger Teil ihres Selbst
nicht nur ihnen, sondern auch dem Publikum erfahrbar.
Als Abschluss der Kapitelreihe über die Arbeit von Ex Machina und ihren
Bühnenraum sollen nochmals die Begriffe Leben und Bühne erläutert werden. Die
24
Trennung zwischen den beiden Existenzformen gibt es im Sinne von Lepage nämlich
gar nicht, sondern es ist ein konstant zirkulierender Fluss, der Ereignisse und
Erfahrungen aus dem Leben auf die Bühne und wieder zurück bringen soll.
Somit konnte in diesem Kapitel belegt werden, dass das gesellschaftstheoretische
Konzept Homi Bhabhas sehr wohl für Lepages Bühnenarbeit übernommen werden
kann, da die körperliche Präsenz auf der Bühne nicht getrennt vom Leben abseits
der Bühne betrachtet werden kann.
4.2.1
Robert Lepages Theatervokabular
Robert Lepage führt die Varietät der sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten
unter
anderem
auf
die
sprachlichen
und
funktionellen
Differenzen
im
Theatervokabular der verschiedenen Sprachen zurück.
Es zeigt sich bereits im Gebrauch des verbalen Instrumentariums der Theaterszene,
dass nicht nur das Theaterspiel in den unterschiedlichen Kulturkreisen divergiert,
sondern auch die Rezeptionsweise. So handelt es sich beim englischsprachigen
Publikum (audience) um eine auditive Praxis des Theatererlebnisses, bei der sich
das Publikum Geschichten anhört, und beim französischsprachigen (spectateur) um
ein primär visuelles Wahrnehmen von erzählten Geschichten. Es ist also ein
essentieller Unterschied, ob man vom französischen Anschauen einer Show spricht,
oder vom englischen Hören einer Show. Das englischsprachige Publikum kommt, um
sich die Essenz des Wortes und der Sprache anzuhören, wobei das Visuelle bei
Weitem nicht den Stellenwert hat, den es beispielsweise im Französischen besitzt.
Das Wort Schauspieler, Acteur im Französischen oder Player im Englischen enthält
ebenfalls wesentliche Eigenheiten in den einzelnen Sprachen:
Der Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken, die das Wort Spiel inkludieren,
und dem Ausdruck Acteur ist ein sehr markanter. Im Deutschen und Englischen ist
jemand, der eine theatralische Performance zeigt, jemand der spielt. Was aber auf
der Bühne meistens tatsächlich stattfindet, ist ein Agieren, kein Spielen. Die
französische Sprache ist dieser Ansichtsweise um Einiges näher, da ihr Ausdruck
Acteur keine Konnotation mit dem Wort Spiel aufweist.
Robert Lepage hält es dennoch für notwendig, das Bewusstsein des Spielens durch
das Einbeziehen von Wettkampf, Spiel und Sport im Theater zu schärfen. Warum
ihm das so wichtig ist, soll im Folgenden klar werden:
25
Sobald der Zuschauer ein Lebewesen aus Fleisch und Blut auf einer Bühne oder
einem Sportplatz erlebt, beobachtet, bewundert, ja verehrt er diesen Körper sogar.
Die physische Präsenz des Körpers auf der Bühne erweitert und vergrößert die
Essenz dessen, was er ausdrücken möchte und katapultiert den Akteur für den
Zuschauer in eine Art jenseitige Unsterblichkeit. Die daraus entstehende Distanz
zwischen dem Bühnenmenschen und dem Publikum wird erst durch das Spiel
minimiert,
welches
die
erhabenen
Bühnenmenschen
zu
menschlichen
Verwandlungskünstlern macht. In anderen Worten nimmt das Einbeziehen des
Spielcharakters das übersteigerte Distanzgefühl zwischen
Schauspieler und
Publikum.
Es folgt die Analyse des Begriffs des Regisseurs, Director im Englischen, und
Metteur en scène im Französischen: Da diese Berufssparte stark mit Autorität
verbunden ist, finden sich die Wurzeln dieser Begriffe in autoritären Regimes oder
Monarchien, und werden beispielsweise im Deutschen (Regisseur) stark mit
Regieren und Führen assoziiert. Im deutschen Theater trägt der Regisseur
schließlich auch ein hohes Maß an Verantwortung, da er die Kontrolle über das
gesamte Projekt haben muss. Hingegen im Französischen (metteur en scène) ist der
Regisseur jemand, der Dinge auf die Bühne bringt, was mehr den Eindruck eines
Ausführenden, als den eines Anweisenden erweckt.
Für Lepages Theater ist die deutsche Art des Theatermachens undenkbar, da im
kanadischen Raum ein viel demokratischerer, gleichberechtigter Umgang zwischen
dem Regisseur und den Schauspielern herrscht. In Japan wird wiederum das
extreme Gegenteil zum deutschen Raum praktiziert, da die Menschen dort
hierarchische Strukturen auch in der Kulturarbeit streng ausleben. Respekt und
Ehrfurcht sind also weitaus wichtiger als eventuelle Missstände oder Schwächen.
Ein weiterer, grundlegender Unterschied zwischen der japanischen und der
deutschen Arbeitsweise, liegt in der Art zu denken. So wie das japanische Idiogramm
das Wort Denken mit Hilfe eines Felds über einem Herzen darstellt, praktizieren
Japaner das Denken mit dem Herzen; diese emotionale Intelligenz wird bei
Deutschen durch ein eher kopflastiges Denken ersetzt.
26
„When I work with actors I tell them they have to play with emotion and
intelligence. The combination of the two creates intuition, which is intelligence of
the heart.”12
Da der westliche Raum, laut Lepage, die Begriffe Emotionalität und Rationalität
trennt, betont er die Wichtigkeit eines Mittelwegs zwischen den beiden Extremen
West und Ost.
Robert Lepage möchte die sich in Sprache und Denken abzeichnenden kulturellen
Verschiedenheiten jenseits des linguistischen Verstehens überwinden, indem er sein
auf Akustik und Visualität beruhendes Theater als semiologisches Zeichensystem
etabliert. Dabei vergleicht Lepage Methoden, Denkweisen und Visionen, die dann auf
einem gemeinsamen Weg zusammen geführt werden sollen.
Die Bühnen-, Inszenierungs- oder Schauspielpraxis verrät sehr viel über die einem
Land
innewohnende
Kultur
und
Wertevorstellung.
Folgedessen
steht
der
Theatermacher vor seiner größten, aber auch spannendsten Herausforderung, sich
bei seinen internationalen Touren durch die Welt bestmöglich an die jeweilige
Lebensrealität eines Landes anzupassen, und etwas davon in das eben genannte
semiologische Zeichensystem zu integrieren, um es in seiner internationalen
Verständlichkeit zu bereichern.
5.
Robert Lepages hybrides Theater und seine ästhetischen Verfahren
Robert Lepage wächst bilingual auf und bezeichnet sich selbst als kulturell
schizophren, da er sich aufgrund seiner Familienverhältnisse - sein Vater ist
frankophon, seine Mutter und zwei seiner Adoptivgeschwister anglophon - sowohl als
Amerikaner, als auch als Europäer bezeichnet.
Durch diese Gegebenheiten privilegiert, schwärmt er von Erfahrungen mit
verschiedenen Kulturen in unterschiedlichen Regionen und Sprachräumen. Diese
kulturelle Vielfalt und der ständige Konflikt des Individuums zwischen innerer,
12
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 64
27
nationaler und äußerer, internationaler Perspektive spiegeln sich auch in seiner
Arbeit als Theater- und Filmemacher.
Robert Lepage absolviert sein Studium am Conservatoire d´Art Dramatique in seiner
Heimatstadt Québec City und schließt daran eine Ausbildung beim Schweizer
Regisseur Alain Knapp in Paris an. Dieser hat ihn neben seinem Dozenten Jaques
Lessard stark geprägt und seine Karriere um den Aspekt der essentiellen
Multifunktionalität des Regisseurs als Autor und Schauspieler gleichzeitig bereichert.
Anschließend beginnt Lepage seine Arbeit als Improvisationskünstler an der Ligue
Nationale d´Improvisation (LNI). Hier begreift er, dass sich seine Tätigkeiten als
Autor, Schauspieler und Regisseur, welche er früher nur getrennt praktiziert hat,
tatsächlich zu einer fruchtbaren Fusion zusammentragen lassen. Es beginnt eine
simultane Arbeit seiner Sinne, Emotionen und Gedanken mit den technischen und
dramaturgischen Anforderungen eines Produktionsprozesses, wobei er als ein und
derselbe Multiakteur das Detail und das Gesamtprojekt im selben Moment sieht.
Diese Tatsache ist wohl ausschlaggebend dafür, dass Lepages Publikum in seinen
Stücken stets ein harmonisches Nebeneinander von technischer Raffinesse und
sinnlicher Feinarbeit erlebt. Das bereits erwähnte Motiv des Work-in-Progress,
welches der Theaterarbeit von Jaques Lessard entstammt, erweist sich als
essentielles Konzept zur Verwirklichung seiner Projekte, da Theater in seinen Augen
stets ein gemeinschaftlicher Prozess ist, bei dem jeder Beteiligte denselben
Stellenwert genießt.
„Die Zusammenarbeit mit Robert Lepage ist immer eine kollektive Arbeit.
Seine Theateraufführungen entstehen gemeinsam mit den Schauspielern über
Recherchen, Improvisationen und Proben. Wir sind alle gleichberechtige
Autoren des Stücks. Robert ist überzeugt davon, dass sich das Stück selbst
schreibt, wenn man sozusagen layer upon layer vorgeht. Es ist eine konstante
work – in – progress – Entwicklung, denn selbst jetzt werden noch laufend
Szenen geändert, obwohl wir bereits seit Herbst 2008 spielen.“ 13
13
Eva Morocutti (2010): „Lipsynch“ von Robert Lepage. “alles unter einem dach”. Interview mit Eva
Morocutti. In: Wiener Festwochen, GAP, 04C
28
Interessant ist jedoch, dass Lepage sein Theater trotzdem weniger als ein
experimentelles, sondern eher als ein untersuchendes und erfahrendes bezeichnet.
Das Experiment nimmt zwar einen wichtigen Platz in seiner spezifischen
Theaterarbeit ein, doch der Fokus liegt viel mehr auf dem vorläufigen Suchen nach
möglichen Formen des Experiments. Diese Tatsache bekräftigt wiederum das
Argument, dass das Wie in Lepages Arbeit eine weitaus größere Bedeutung erlangt
als das Was, handelt es sich um sprachliche, formale, oder ästhetische Phänomene.
Robert Lepages Team, Ex Machina, sucht nach neuen Arten von Kommunikationsund
Ausdrucksformen,
während
es
das Publikum aufgrund
seiner
reinen
Anwesenheit in den Prozess mit einbezieht. Dabei spricht das Ensemble zugunsten
einer internationalen Verständlichkeit keine bestimmten Zielgruppen an, sondern alle
Alters-, Gesellschafts- und Sprachgruppen. Erst diese Absicht macht es möglich, von
einer vorgefassten Idee abzusehen und sie stattdessen aus der gemeinsamen
Erfahrung zwischen Ensemble und Publikum entspringen zu lassen.
Die
folgenden
Kapitel
sollen
zeigen,
dass
Lepages
Theater
dank
der
gleichberechtigten Integration des Gedankenguts jedes einzelnen Beteiligten, sowohl
von kollektivem als auch von individuellem, persönlichem Erleben profitiert.
In Homi Bhabhas Sprache würde dies bedeuten, dass der Austausch von kollektiver
und persönlicher Erinnerung auf der Bühne von Lipsynch, dem Austausch zwischen
dem Selbst und dem Anderen unterschiedlicher Kulturen entspricht.
„Die Zusammenfügung verschiedener Medien und Wahrnehmungsformen
erlaubt die beständige Transformation des Geschehens, indem in und mit
einem Medium und einer Wahrnehmungsform eine Alterität, eine andere
mediale Verfasstheit wie auch ein anderes Wahrnehmen in An- und
Abwesenheit gespiegelt wird.“14
Geht man also davon aus, dass die Erforschung von Identität und Fremdheit nie
getrennt voneinander stattfinden, so erlangt die Beschäftigung mit dem Fremden auf
der Suche nach sich selbst einen viel größeren Stellenwert.
14
Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag. S. 54.
29
5.1
Die Sprache
In Lipsynch sind sowohl die Stimme als auch die Sprache inhaltliche und formale
Hauptmotive. Nun sollen die beiden Phänomene
auch getrennt voneinander
genauer beleuchtet werden.
Sprechen ist die Artikulation von Lauten, wobei die Stimme besonders dann zum
Vorschein kommt, wenn das Gesprochene oder gar der Sprechende selbst nicht
identifizierbar sind. Das bedeutet nicht, dass eine Stimme keinem Individuum mehr
zugeordnet werden kann, sondern dass das Medium Stimme losgelöst von der
sprachlichen
Charakteristika
Artikulation
das
anzunehmen.
Potential
Damit
besitzt,
sind
verschiedenste
sowohl
die
akustische
unterschiedlichen
Stimmqualitäten der Schauspieler gemeint, als auch die veränderbare Stimmqualität
durch ein technisches Medium.
Robert Lepage beleuchtet in Lipsynch die menschliche Stimme sowohl in ihrer
unmittelbaren artikulatorischen Anwesenheit, als auch in ihrer veränderten Präsenz
durch die verschiedenen Medien. Unter diesen finden sich Kommunikations- und
Unterhaltungsmedien wie Telefon, Radio, Fernsehen und Film.
Die Ästhetik solcher sprachspezifischer Verfahren in Lepages Theater entsteht
dadurch, dass sie allesamt durch den Wirkungsraum der Theaterbühne gezeigt und
wahrgenommen werden. Auf diese Weise etabliert er eine universell verständliche
(Kunst-) Sprache, die sich durch folgende Eigenschaft auszeichnet:
Lipsynchs Sprache wird enthierarchisiert, was bedeutet, dass ihre primäre Funktion
als verbales Kommunikationsmittel hierarchisch hinter ihre Funktion als auditives
Moment rutscht. Genauer gesagt ist die Sprache von Lipsynch nicht nur
kommunikatives, sondern vor allem auch darstellerisches Element, welches die
visuelle Ebene des Bildertheaters akustisch unterstützt.
Diese Tatsache legitimiert die Gleichstellung von Stimme und Sprache, da der
akustische Aspekt der Sprache, also die stimmliche Lautbildung, noch wichtiger ist
als
der
inhaltliche.
Und
das
Theater
ermöglicht
es
nun,
dass
sich
zwischenmenschliche Kommunikation mehr über den stimmlichen Gestus überträgt
als über den verbalen. Lepages universelle Kunstsprache ist also eine ästhetische
Form der Kommunikation, die es ermöglicht fünf verschiedene Sprachen und
Dialekte für Figuren und Publikum verständlich zu machen.
30
„What I like to do is use the words as music. People´s talk become music and
what they do are the real verbs, the real actions, the real phrases. [...] People
associate words and senses and objects and imagery.“ 15
Das bedeutet, dass das was gesagt wird, durch das wie verstanden wird. Wie die
Stimme sich äußern kann, wird nun im folgenden Unterkapitel erläutert.
5.1.1
Charakterzüge der Stimme
Ausgehend von den stimmlichen Phänomenen in Lipsynch haben sich fünf
Eigenschaften der Stimme heraus kristallisiert.
1. Die Stimmqualität: Sie bezeichnet die klanglichen Eigenschaften einer
Stimme, wie beispielsweise ihre Heiserkeit oder Sanftheit.
2. Die Stimmdynamik: Sie beschreibt die Lautstärke der Stimme.
3. Die Grundfrequenz: Sie bestimmt die tiefe oder hohe Stimmlage.
4. Die Standardabweichung: Sie prüft die Stimme auf ihre monotone oder
melodiöse Abweichung von der Grundfrequenz.
5. Die Intonation: Sie umfasst das Spektrum der Tonhöhen.16
Diese stimmlichen Charakteristika besitzen das Potential, in Kombination mit
sprachlichen Eigenheiten wie Akzenten, Dialekten oder Sprachfehlern, einzelne
Charaktere zu stilisieren. Das bedeutet, dass sich nicht nur ein wiedererkennbarer,
figurenspezifischer
Stimmklang
entwickelt,
sondern
auch
ein
automatischer
Zusammenhang zwischen visueller Präsenz der individuellen Körperlichkeit einer
Figur und der akustischen Präsenz ihres Stimmklangs. Genauer gesagt ist nur mehr
einer der beiden Sinne - Ohr oder Auge - nötig, um eine Figur identifizieren zu
15
Nigel Hunt (1989): The Global Voyage of Robert Lepage. In: Richard Schechner (Hrsg.): The Drama
Review. New York: University Tisch School of the Arts. S.112
16
Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag. S. 111
31
können. Dies trifft zu, obwohl Lepage in Lipsynch die unterschiedlichsten Sprachen,
Dialekte und Sprachmuster vermischt, und diese sogar teilweise von ein und
demselben Schauspieler sprechen lässt. Dass das Publikum - sogar in den letzten
Reihen - dennoch immer weiß welche Figur gerade spricht, hängt mit dem fein
ausgearbeiteten Sprachgestus der Schauspieler zusammen.
5.1.2
Das Spiel zwischen Körper und Stimme
Lepages Theater kann als Hypermedium bezeichnet werden, da es aufgrund der
zwingenden körperlichen Anwesenheit von Schauspieler und Publikum kein Medium
im konventionellen Sinne ist. Das Charakteristikum eines Mediums ist, dass es
selbst, also seine äußere Erscheinung, hinter seiner Botschaft verschwindet. Doch
am Theater wird die Botschaft, das Innere stets durch die Anwesenheit des Äußeren,
also durch materielle Zeichenträger präsentiert, die keineswegs hinter der Botschaft
verschwinden, sondern einen großen Teil derselben erst ausmachen.
Das Hypermedium als Endprodukt, sofern man bei Lepage von einem finalen
Produkt sprechen kann, schließt eine Vielzahl von medialen Zeichensystemen ein,
die der Zuschauer differenziert voneinander wahrnehmen kann. Das bedeutet, dass
der Zuschauer nicht nur die Theatralität des Theaters erfährt, sondern auch das
Charakteristikum jedes einzelnen in sich aufgenommenen Mediums.
Nun
sollen
im
Hypermedium
Theater
speziell
die
Medien
Stimme
und
Schauspielerkörper untersucht werden. Die Medialität dieser beiden (un-)trennbaren
Einheiten zeigt sich darin, dass sie sowohl die individuelle Basis eines
Resonanzraums bilden, als auch im Falle der Kombination mit technischen Medien in
ihrer Ästhetik wandelbar und flexibel sind.
Das Hypermedium Theater stellt den Körper und die Stimme in ein ständiges
Wechselspiel zwischen Einheit und Gegenübertretung, zwischen Ereignis und
Wahrnehmung, während es ihren performativen Charakter repräsentiert und
phänomenalisiert, und somit den Sinnen zugänglich macht.
Es entsteht ein „Mehrwert an Bedeutung. [...] Wie etwa die Stimme als
Medium der Rede nicht nur deren Inhalt, deren Botschaft vermittelt, sondern
das Gesagte durch Tonfall, Brüchigkeit der Kommunikation oder Versagen auch
32
kommentiert oder gar unterminiert, ihr also nicht nur als [...] Werkzeug dient,
sondern daneben selbst auch Aussagen macht.“17
Im Falle eines Auseinandertretens der Entitäten Stimme und Körper werden ihre
grundspezifischen
Eigenheiten
ausgestellt
und
erzeugen
durch
ihre
Widersprüchlichkeit Konflikte auf ästhetischer und narrativer Ebene.
Wenn sich die Stimme in ihrer eigenen Expressivität vom Körper löst, bedeutet das
nicht, dass sie unabhängig von diesem existiert, sondern dass sie das Hypermedium
eigenständig und selbstverantwortlich in Anspruch nimmt. Dabei können ihr
unkontrollierte und unartikulierte Worte entspringen, die nicht in Einklang mit dem
Schauspielerkörper sind, sondern ihn in den Hintergrund stellen.
Lepages Hypermedium Theater ermöglicht es sowohl der Stimme als auch dem
Körper, die Bühne mit ihrer individuellen Aura zu füllen, was im Falle der Stimme
bedeutet, dass sie sich als eigenständiger Stimmkörper ihrem leiblichen Gesicht
gegenüberstellen kann. Möglicherweise könnte man sogar sagen, dass sich die
Stimme dem Zuschauer erst dann in ihrer vollen Bandbreite offenbart, wenn sie aus
ihrem Schauspielerkörper heraustritt und als eigenständiger Stimmkörper existiert.
5.2
Die Transformation in Lepages Theater
Im Grunde genommen kann man die theatralischen Vorgänge, die bisher analysiert
und beschrieben wurden alle als Transformationen beschreiben; sei es die
Transformation vom Probenprozess zur Aufführung, von dramaturgischen und
technischen Mitteln auf der Bühne, die Transformation eines Objekts oder Charakters
oder die Transformation der Stimme. Auch das Ersetzen des konventionellen
Theatermachens
mit
einem vorgefertigten
Text
durch
eine
zyklische
und
prozesshafte Ensemblearbeit, ist nichts anderes als eine Transformation.
Medialhybride Theaterformen bringen automatisch verschiedenste Arten von
Veränderung und Wandel mit sich, die in diesem Kapitel anhand von Lipsynch
untersucht werden sollen.
17
Julia Pfahl (2010): The medium has a message! – Zur Profilierung eines theaterwissenschaftlichen
Begriffs. In: Forum Modernes Theater, vol. 25, no. 2. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 119 – 132
33
Robert Lepage sieht das Aufkommen fremder Medien wie Film, Fernsehen oder
Radio am Theater nicht als Einschränkung seiner ästhetischen Kapazitäten, sondern
im Gegenteil als eine Möglichkeit der künstlerischen Entfaltung.
Die durch kulturelle und mediale Hybridisierung entstehenden Transformationen in
Lipsynch implizieren Grenzüberschreitung sowie -erweiterung auf inhaltlicher und
formaler Ebene.
Das Bühnenbild ist wohl das offensichtlichste Beispiel dafür, da Robert Lepage die
traditionelle
Theatermaschinerie
illusionistischen
Darstellungsweise
zugunsten
einer
ununterbrochen
phantasievollen
umwandelt,
und
und
diese
Verwandlungen ebenso theatralisch offenlegt wie die einzelnen Geschichten. Warum
Lepage die Transformation für ein so essentielles darstellerisches Mittel innerhalb
der Handlung und auch als Rahmen derselben hält, erklärt er am Beispiel der
Erwartung des Rezipienten. Dieser kommt schließlich in vollem Bewusstsein darüber
ins Theater, dass er Zeuge einer Vielzahl von Verwandlungen vor, hinter und auf der
Bühne
wird.
Ob
dies
nun
eine
Metamorphose
der
Narration
oder
die
bühnentechnische Umwandlung ist.
Die Verwandlung nimmt im Zuge der sich auf der Bühne abspielenden Geschichte
ihren Lauf, ohne erklärt oder kommentiert werden zu müssen. Die Tatsache, dass
diese Prozesse selbstverständlich in die Handlung integriert werden, führt dazu, dass
sie nicht hinterfragt oder interpretiert werden müssen und somit der Fokus stets auf
dem Geschehen haften kann.
Nun muss gesagt werden, dass Veränderung nur aus etwas bereits Vorhandenem
entstehen kann. Und da dies bei Lepage bekanntlich kein Skript oder Theatertext ist,
sondern eine willkürliche Ansammlung von Erfahrung, Assoziation und Erinnerung,
ist es das Chaos, welches die Plattform für Veränderung bietet. Und aus diesem
anfänglichen Chaos entsteht durch gedanklichen und verbalen Austausch ein
Transformationsprozess, dessen Resultat bei Künstlern herkömmlichen Theaters
bereits vor Probenbeginn festgelegt zu sein scheint. Genau das möchte Lepage
vermeiden; er integriert den Transformationsprozess in das Bühnengeschehen,
anstatt ihn vorwegzunehmen und ihn dem Publikum vorzuenthalten. Durch die
Offenheit und Empfänglichkeit für Gedanken und Aktionen seiner Spieler entsteht
eine schrittweise Annäherung an alle offenen Fragen und Zweifel, wodurch sich die
Szenen und Szenenübergänge erschließen.
34
„[...] I think it helps let the play speak without being too sharply forced in one
direction. […] I take notes, I feel things, but mostly I draw on what comes up
during the rehearsal.”18
Die Kunst der Schauspieltruppe liegt nicht nur darin, ihre Kreativität in den Raum zu
stellen, sondern auch und vor allem darin, eine autonome Performance mit ihrer
eigenen Logik und Poesie, ihrem eigenen Rhythmus entstehen zu lassen. Dass aus
diesem
uneingeschränkten
Prozedere
auch
Fehlschlüsse
oder
unfertige
Gedankengänge resultieren können ist selbstverständlich, denn nähert man sich
einer Transformation nach dem Prinzip der Zufälligkeit und Offenheit, ist Chaos
vorprogrammiert.
Robert Lepage sieht diese Vorstufe jedoch als notwendig, um einem Stück Leben
und Authentizität einzuhauchen. So wie es laut ihm hinderlich für eine inspirierende
Produktion ist, auf vorgefertigten Ideen festzusitzen, so ist es auch hinderlich, auf
eine verlässliche und unumstößliche Struktur und Ordnung zu beharren.
Lepage pflegt im Interview mit Rémy Charest in Connecting Flights mehrmals zu
sagen, dass das Endergebnis immer ein Spiegel der anfänglichen Einstellung und
Herangehensweise sei. Und ist die Herangehensweise durch Ordnung und Starre
gezeichnet, so wird dementsprechend auch das Endergebnis aussehen. Eine simple
Metapher, die er zur Festigung dieses Arguments erwähnt, ist die der Entstehung
des Kosmos aus dem Chaos. Denn selbst im Kosmos, in dem sich selbstverständlich
Ordnung und Hierarchie entwickelt haben, besteht das Chaos immer noch in einer
organischen und sich stetig verändernden, nicht statischen Beschaffenheit.
Chaos ermöglicht nicht nur einen Prozess der Kreation und Erneuerung, nein, es
erzwingt ihn sogar im Zuge der Zirkulation des Lebens. Wo kein Chaos besteht, kann
auch nicht die natürliche Tendenz entstehen, Ordnung zu schaffen. Derartige
Dualismen, wie Chaos und Ordnung, sind ausschlaggebend in Lepages Schaffen.
Dabei arbeitet der Regisseur nach dem Motto, dass ein eingetretener Zustand sofort
ein Aktivieren seines Gegenzustands zur Folge hat, sozusagen, dass sich Punkt und
Kontrapunkt automatisch bedingen. Denn ohne ursprünglichen Standpunkt ist es gar
18
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 167
35
nicht möglich, einen Kontrapunkt zu erkennen, der das Positive eines bereits
bestehenden Sachverhalts ans Licht bringen könnte.
Transformation braucht also stets einen Impuls. Ist man sich einmal dieses
natürlichen Kreislaufs bewusst, so kann man Zustände oder Prozesse durch das
Erwägen ihres Gegenteils erzielen, anstatt sie zu forcieren. Dies trifft sowohl im
Theater, als auch im wirklichen Leben zu:
In einem Theaterstück kann beispielsweise das Sinnbild von Leben und Überleben
durch das Bewusstmachen von Tod und Leid erzeugt werden. Im Leben ist das
Gefühl von Freiheit oder Glück erst richtig durch das Loslösen vom Gegenteil,
nämlich
von
emotionaler
oder
physischer
Gefangenschaft
oder
Unglück,
wahrnehmbar. Die Beispiele belegen, dass jegliches Forcieren eines Zustandes den
Verlust des Gesamtbildes zur Folge hat. Anders ausgedrückt kann ein starrer Fokus
auf einen spezifischen Sachverhalt unmöglich zur selben Ausschöpfung seiner
Kapazität führen, wie es ein wandelbarer Transformationsprozess kann.
5.3
Das Kinematografische
In einem WDR-Interview meint Robert Lepage über die Annäherung von Film und
Theater, dass das Publikum einerseits von guten Theaterstücken inspirierte Filme
sehen möchte, und andererseits auch Theaterstücke mit filmischen Qualitäten. Also
versuche er etwas Drittes, Eigenständiges zu entwickeln, bei dem sich die beiden
Medien die Waage halten.
Der Vorteil eines solchen multimedialen Stückes ist, dass es stets eine ausgeprägte
Dynamik von Akzent und Deakzentuierung in den visuellen und akustischen
Darstellungsformen besitzt, die zugunsten der Geschichte in Szene gesetzt wird.
5.3.1
Das Erzählen
Bevor das Theater Lepages Filme inspirierte, inspirierte das Medium Film Lepages
Theater. Das sieht man nicht nur an der technischen Ausrüstung und szenischen
Aufbereitung, sondern auch an der Art und Weise des Geschichtenerzählens. Denn
Lepage erzählt seine zwischenmenschlichen Beziehungen vorwiegend entlang einer
akustisch–bildlichen Ebene, anstelle einer textlichen. Das funktioniert, indem er seine
36
Figuren nicht nur von der Bühne sprechen lässt, sondern auch von der Leinwand,
aus dem Fernsehen oder aus dem Radio.
Durch den Filter des jeweiligen Mediums, durch welches die Charaktere gerade
agieren und/oder sprechen, erschließen sich ihre Eigenheiten und Probleme viel
deutlicher, als würden sie diese nur anhand von Text vermitteln. Anders ausgedrückt
ist die Bilderwelt des Films den Figuren von Lipsynch zugänglicher als die
textorientierte Welt konventioneller Theaterfiguren.
Ein weiterer Grund, warum Lepages Figuren seinem Publikum so zugänglich sind, ist
der aus dem Kinematografischen entnommene Erzählstil des Wiederholens von
immer wiederkehrenden Motiven und Themen. Auf den oben genannten Filter des
jeweiligen Mediums bezogen bedeutet das, dass der Rezipient eine Figur wiederholt
auf mehreren Darstellungsebenen erlebt. Robert Lepages Theater kann also deshalb
als kinematografisch bezeichnet werden, da er nicht nur filmische Momente aus den
Bereichen Produktion, Setting, Schauspiel oder Synchronisationsarbeit auf die
Bühne bringt, sondern das Medium selbst – sei es ein Fernseher oder eine Leinwand
- haptisch auf die Bühne stellt und seine Figuren damit konfrontiert. Das bedeutet,
dass ein auf der Bühne stehender Fernseher, eine Kamera oder eine Leinwand mit
ihrem visuellen und akustischen Gehalt nicht nur in das Bühnengeschehen, sondern
auch in die Narration, in die Handlung einbezogen werden.
Die Grundmechanismen und spezifischen Techniken des Theaters werden dabei
nicht verfremdet, sondern durch die ästhetische und narrative Integration des
Kinematografischen erweitert. Robert Lepage geht es darum, die unterschiedlichen
ästhetischen und narrativen Verfahrensweisen der einzelnen Medien sichtbar zu
machen.
Ein essentieller Unterschied zwischen Film und Theater ist beispielsweise die
Identifikation der Zuschauer mit den Figuren, wie der Regisseur in einem Interview
mit Rémy Charest betont. Die Identifikation mit filmischen Figuren ist davon
abhängig, wie lange die Figur am Bildschirm zu sehen ist.
Im Theater hingegen sind es die Ereignisse und Rituale, durch die sich die Figur dem
Zuschauer vermittelt und einprägt. Präziser ausgedrückt tragen im Theater Raum
und Zeit viel mehr zum Einfühlungsvermögen des Rezipienten bei, als die Häufigkeit
des Erscheinens und das spezifische Tun einer Figur. Dies ist deshalb so, weil das
Theater seinem Zuschauer nicht nur den augenblicklich spielenden Protagonisten,
sondern gleichzeitig die gesamte Bühne und sein Umfeld offenbart.
37
Die Kamera hingegen zeigt gezielt eine ausgewählte Sequenz und ein vorgefertigtes
Umfeld.
Durch
das
Vermischen
von
filmischen
und
theatralischen
Darstellungsformen entsteht eine epische Bandbreite, wie sie weder das Theater
noch der Film als alleinstehende Medien erreichen könnten.
Anhand der Gegenüberstellung und Verflechtung von Film und Theater, von
Leinwand und Bühne, zeigt sich also ein zweiter essentieller Dualismus, der eine
Vielzahl von Darstellungsmöglichkeiten auf der narrativen Ebene ermöglicht. So zum
Beispiel das Verhältnis zwischen Ost und West, Mann und Frau, Verwüstung und
Wiedergeburt, persönlicher und kollektiver Identität, Realität und Erinnerung,
Wissenschaft und Forschung, Wahrheit und Mythos oder aufgenommener und realer
Stimme. Doch der Rezipient erlebt diese Gegensatzpaare keineswegs in einem
Oppositionsverhältnis, sondern in einer produktiven Koexistenz.
5.3.2
Die Bühne
Das Bühnenbild, welches sowohl in Dimension und Ausmaß brilliert als auch in
Präzision
und
minimalistischer
Reduktion,
verwundert
den
traditionellen
Theaterbesucher möglicherweise als erstes, wenn er eines von Lepages Stücken
besucht. Auch diese Charakteristika beruhen auf der Integration der Filmkunst auf
die Theaterbühne.
Ein Film erzeugt durch subjektive Kameraführung und bedeutungsgeladene
Einstellungen, wie beispielsweise das Close-up, ein sehr individuelles, ja fast
persönliches Verhältnis zwischen Gefilmtem und Beobachter, der sich nicht bewusst
ist, durch welche Faktoren er sich plötzlich mit dem Gesehenen identifiziert.
Robert
Lepage
spitzt
dieses
Moment
noch
zu,
indem
er
die
filmische
Rezeptionssituation auf die Bühne stellt und mit Aktionen aus dem Medium Film, und
Reaktionen aus dem Medium Theater spielt, und umgekehrt. Ein Beispiel dafür ist
jener bis ins Detail ausgeführte narrative Strang in Lipsynch, in dem eine
Filmproduktion auf der Bühne inszeniert wird. Dabei werden filmische Charakteristika
nicht nur durch filmische Darstellungskonventionen simuliert, sondern auch und vor
allem durch die Produktions- und Zuschauersituation auf der Bühne. Plötzlich ist die
Bühne sowohl der Rahmen für Filmproduktion, Dreharbeiten und Filmausschnitte, als
auch für die unmittelbare Reaktionen des gesamten Filmteams, welches sich zu
38
einem großen Teil auch hinter der Kamera beschäftigt und die bereits abgedrehten
Szenen kritisch beäugt und kommentiert.
Robert Lepage kreiert also durch die gleichzeitige Präsenz seiner Medien eine Art
doppelte Rezeptionssituation, die das Publikum mit so vielen Eindrücken und
multimedial
vermittelter
Information
füttert,
dass
es
in
seiner
selektiven
Wahrnehmung an Kontrolle verliert. Dies bildet den Grundbaustein für Manipulation
in Lepages Theater. Der Film und auch das Filmsetting arbeiten mikroskopisch
genau, und nicht in einer Ganzheitlichkeit und Gesamtheit wie es das Theater mit
seinen Figuren und seiner Bühne tut. Die Kombination von Film- und Theaterästhetik
verleiht der Bühne von Lipsynch sowohl imposante Dimension, als auch intime
Detailarbeit.
5.3.3
Das Spiel
Auch in den Bereichen der Schauspieltechnik, Körperarbeit und Sprechweise
vermischen sich die Herangehensweisen von Film und Theater. Doch allen
Grenzüberschreitungen und Genrevermischungen zum Trotz, ist es eine Tatsache,
dass der Theaterschauspieler in seiner Leiblichkeit und körperlichen Präsenz immer
noch wahrhaftiger wirkt als der Filmschauspieler, dessen Regungen und Emotionen
auf dem Weg zum Zuschauer erst ein Medium überwinden müssen.
Ein Schauspieler kann an den Bühnenrand treten und in direkten, unmittelbaren
Kontakt mit seinem Publikum treten, ohne ein potentiell manipulierendes Medium
zwischen sich und seinem Beobachter überwinden zu müssen.
Der Film oder das Fernsehen hingegen zeigen nie nur den Schauspieler, sondern
gleichzeitig eine Vielzahl von perspektivisch implizierten Details. Hinzu kommt, dass
Filmschauspieler selten von Originalton begleitet werden, was die Wahrhaftigkeit der
akustischen Komponente massiv einschränkt. Das bedeutet, dass die Beziehung, die
der Zuschauer zu filmischem Material aufbaut, nicht auf natürlicher und
unbeeinflusster, sondern auf gelenkter Wahrnehmung beruht. Man kann also auch
im Schauspiel durchaus zwischen theatralischem und filmischem Realismus
unterscheiden, und durch das Vermischen der beiden Realitäten vermitteln Lepages
Schauspieler sowohl Intimität und Nähe, als auch Distanz.
Die Distanz wird durch die Weite und Tiefe der Theaterbühne suggeriert, während
die Nähe wiederum durch die alltägliche Sprache erzeugt wird. Genauer gesagt ist
39
Lipsynchs Sprache in ihrer Syntax und Semantik sehr filmisch; dies bedeutet, dass
sie im Gegensatz zur klassischen Theatersprache, die Illusion von Realität zu
erzeugen vermag.
Abschließend für dieses Unterkapitel gilt es also zu sagen, dass das Schauspiel in
Lipsynch - abgesehen davon, dass es auf einer Bühne stattfindet - von
kinematografischer Natur ist. Das folgende Kapitel Emotion und Energie wird sich
nun tiefer in die Beweggründe des Schauspielers stürzen, dessen Existenz im
Vergleich zur Existenz seiner Figur weitaus wichtiger ist.
5.3.3.1 Emotion und Energie
Also ähneln nicht nur Ausstattung und Darstellungsweise von Lipsynch einer
filmischen Aufbereitung, sondern auch das Schauspiel.
alltagstaugliche
Sprache
des
Ensembles
Ex
Tatsächlich ist es die
Machina,
die
eine
weitaus
realitätsnähere Darbietung liefert als man es vielleicht vom Theater gewöhnt ist.
Das Spiel an sich ist natürlich an den Rahmen einer großen Bühne angepasst, doch
die Integration von Nahaufnahmen durch die ständige Anwesenheit von Kameras
ermöglicht einen realgetreueren Energie- und Emotionshaushalt der Schauspieler.
Robert Lepage betont in so vielen seiner Interviews, dass eine grundlegende
Unterscheidung zwischen der Emotion und energetischen Arbeit des Schauspielers
und der des Zuschauers stattfinden muss. Dieses Postulat erscheint völlig logisch,
wenn man in Betracht zieht, dass der Schauspieler Emotion zeigen kann und diese
zwar vom Zuschauer verstanden, aber nicht gefühlt wird.
Der Zuschauer kann aus dem Theater gehen und ganz rational die Intention des
Stücks erklären, was jedoch nicht davon zeugt, dass er vom Ensemble emotional
erreicht wurde. Folgedessen konnte er sich auch nicht auf die Magie der Erzählung
einlassen, die schließlich ein primäres Interesse in der Theaterarbeit von Lepage
darstellt.
Emotion beim Zuschauer kann und soll sogar dadurch erreicht werden, dass der
Schauspieler eine spezifische Situation eben nicht aus seinem emotionalen
Repertoire holt, sondern seine Energie auf eine Art und Weise steuert und
kanalisiert,
dass
ein
vorstellbares
Bild
entsteht.
Ein
Beispiel
für
das
Nichtfunktionieren der emotionalen Herangehensweise an einen Charakter, bietet die
40
Schauspielerin Marie Gignac in der Rolle einer vergewaltigten Frau. Was hingegen
Sinn ergeben hat, war ihr Versuch, ein Bild der gewaltsamen Energie bei einem
derartigen Unglück zu generieren, indem sie nicht nur Energie freigegeben, sondern
auch zurückgehalten hat. Anders ausgedrückt ist eine gewisse Selbstkontrolle, sowie
eine damit verbundene Distanz zur dargestellten Emotion seitens des Schauspielers
weitaus zielführender als die völlige Hingabe in eine Emotion.
Der Vorteil einer rational erarbeiteten bildlichen Vorstellung der darzustellenden
Situation ist, dass dem Zuschauer keine vorgefertigte Schablone vorgelegt wird, mit
der er möglicherweise überfordert ist, sondern das Bild selbst interpretieren kann.
Der Kampf des Akteurs mit dieser rational portionierten Energie ermöglicht es dem
Zuschauer oft viel eher, die Situation emotional greifbar fassen zu können. Nun soll
diese Differenzierung zwischen Energie und Emotion keinesfalls aussagen, dass sich
der Schauspieler zwischen einem der beiden entscheiden muss, sondern dass ein
überlegtes Wechselspiel nötig ist, um Szenen einen speziellen Fokus zu verleihen.
Dazu ein Zitat von Robert Lepage, dem in seiner Zeit am Konservatorium oft
vorgeworfen wurde, er sei viel zu distanziert und kalt in seinem Spiel:
„It isn´t a question of emotion for me. Emotion in an actor provides him with
tears, not understanding, nor a mastery of this very complex art that consists in
moving the audience.”19
Diese Äußerung erscheint auf den ersten Blick souverän und professionell; doch
geht Lepage hier nicht zu weit, indem er behauptet, dass ein Schauspieler zwar die
Energie finden muss, um den Zuschauer emotional zu berühren, diese Emotion aber
selbst nicht fühlen soll?
Der energetische Aspekt macht durchaus Sinn und zeugt von einer gut durchdachten
Arbeitsweise. Jedoch fehlt etwas, was ich bisher als grundlegend für Lepages Arbeit
erachtet habe, nämlich der essentielle (emotionale) Bezug des Schauspielers zu sich
selbst und die persönliche Einbringung eigener Erfahrungen und Gefühle. Erst das
Zusammenspiel einer Situation mit einer bestimmten Emotionalität macht das
19
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 157
41
Gesamtbild aus, das auf den Zuschauer wirken kann. Dabei kann die gewünschte
Emotion auch oftmals durch das Praktizieren ihres Gegenteils erzielt werden.
Lepage bestärkt sein Argument, indem er Bertold Brechts Verfremdungseffekt
heranzieht und diesen als Arbeitsweise beschreibt, bei der es nicht darum geht, den
Charakter, sondern den Schauspieler zu spüren. Betrachtet man das Argument von
dieser Seite, so bekommt das Verständnis für den emotional distanzierten
Schauspieler einen anderen Stellenwert. Denn wie soll der Rezipient fähig sein, den
Schauspieler in seinen Gebärden zu verstehen, wenn dieser nur danach trachtet,
sich in die Emotion seines Charakters einzufühlen?
Der Schauspieler ist emotional keineswegs distanziert, sondern schlicht und einfach
bei sich, anstatt bei seiner zu verkörpernden Figur. Es entwickelt sich sozusagen
eine gesunde Distanz zum emotionalen Zustand der Figur, die dem Akteur einen
klareren und definierteren Zugang zu derselben erlaubt. Diese Herangehensweise ist
deshalb fruchtbar, weil das Publikum vielleicht manipulierbar, jedoch nicht
kontrollierbar ist, und eine bewusste Lenkung zur gewünschten emotionalen
Reaktion ohnehin aussichtslos wäre.
Ziel für eine überzeugende Performance ist es also nicht, so viel Emotion wie
möglich zu zeigen, sondern dieselbe wohl überlegt zu stilisieren und zu portionieren.
5.4
Die Figurenfindung
Lepages Art Regie zu führen und mit dem Schauspieler zu arbeiten, erklärt sich
folgendermaßen:
Er verliert kaum Zeit, über die spezifische Psychologie eines Charakters zu sprechen
und zu philosophieren, denn gerade das würde dem Schauspieler seine Arbeit
eigentlich erschweren. Robert Lepage charakterisiert gute Schauspieler als
emotional und intellektuell intelligente Geschichtenerzähler, denen er nur immer
wieder kleine Hinweise in Bezug auf die Entwicklung der Handlung gibt. Wie sie
diese dann in der Probezeit umsetzen, sei völlig ihnen und ihrer persönlichen
Erfahrung und Kapazität überlassen.
Das Andere an Lepages Arbeit im Vergleich zu konventionellem Theater ist, dass er
seinen Fokus von der Interpretation von Geschichten zum reinen Erzählen von
Geschichten verschiebt. Dabei ist deren Bedeutung zunächst unwichtig und
erschließt sich ihm und seinem Ensemble oft erst gegen Ende der Recherchearbeit.
42
Man könnte Lepage als einen Autor beschreiben, der statt mit Buchstaben und
Wörtern mit seinen Schauspielern und der Bühnentechnik Geschichten schreibt.
Dabei geht Lepage von einem inneren Verständnis und Gefühl des Schauspielers für
das Stück und den Produktionsprozess aus.
„Ich sage: Lasst uns eine Übung machen, wie man einer fremden Stimme den
eigenen Körper gibt, bringt etwas mit, das ihr „verkörpern“ wollt. Und John Cobb
(einer der Schauspieler, Red.) bringt eine Tonkassette mit einem Interview, das
er mit einer Stimmtherapeutin gemacht hat. Wir hören uns das an, weil es um
unser Thema geht, die Stimme. Und dann sage ich: So, und jetzt nimm die
Stimme dieser Therapeutin und gib ihr deinen Körper. Er tut es, und weil die
Frau Alzheimer hat, wird daraus eine ganze Studie über Alzheimer. Das ist die
Art wie wir improvisieren. Wir wussten vorher nicht, dass es in dem Stück auch
um Alzheimer gehen würde und um das Gehirn. Aber eine Sache führt zur
Nächsten und so gab es plötzlich diese Themen.“20
Dieses Kapitel erforscht nun, ausgehend von Lepages Theaterschaffen, die
unkonventionelle Herangehensweise an eine Figur und Stückthematik aus der
Perspektive des Schauspielers. Dafür soll nicht nur wissenschaftliche Literatur
herangezogen
werden,
sondern
auch
persönliche
Erfahrung
aus
meinem
Schauspielstudium.
Da die Proben- und Recherchearbeit des Ensembles Ex Machina für Außenstehende
nicht zugänglich ist, kann diese natürlich nicht detailgetreu wiedergegeben werden;
jedoch ist folgender Abschnitt, anhand der bisherigen Erkenntnisse über Lepages
Schaffen, eine Annäherung an das spezifische Prozedere der Figurenfindung.
20
Renate Klett (2010): Nahaufnahme. Robert Lepage. [http:// www.Falter.at.], Observer, no.18,
[05.05.2012]
43
5.4.1
Verkörperung und Entkörperlichung
Zu Beginn eines künstlerischen Projekts steht ein Performer, welcher Art auch
immer, mit seinem Instrumentarium im Raum. Im Falle des Theaters ist dieses
Instrument sein Körper, der jedoch mehrere physische Erscheinungsformen
annehmen kann.
Wie vorausgehende Kapitel erörtert haben, wird auch die Stimme als eigenständiger
Körper betrachtet und gehört somit maßgeblich zum körperlichen Instrumentarium
eines Schauspielers dazu. Trotz ihrer Zusammengehörigkeit sind Körper und Stimme
dualistische Phänomene, die im lebendigen Moment ihrer Äußerung (un-)
kontrollierbare Züge aufweisen. Das wirft die Frage auf, ob man bei einer Analyse
der Körperlichkeit der beiden die Sprache als etwas Losgelöstes vom Leib betrachten
sollte.
Bevor nun die stimmliche und physische Körperarbeit in Lepages Theater genauer
analysiert werden, folgt ein kurzer Diskurs zu Erika Fischer–Lichte und ihrem Buch
Verkörperung.
Der Titel deutet bereits auf die Hauptessenz dieses Kapitels hin, nämlich auf das
Kapital des Schauspielers – seinen Körper, der in der Lage sein sollte psychologischrealistische Schauspielkunst zu kreieren. Laut Fischer–Lichte soll der Akteur sein
Instrument dafür in einen semiotischen Körper transformieren und zu einem
materiellen Zeichen machen. Dem Vorgang der Semiologisierung geht sozusagen
eine vollständige Entkörperlichung voraus, bis der Körper als reiner Zeichenträger
übrig bleibt. Doch dies würde bedeuten, dass der Körper seiner Stimme, oder die
Stimme ihres Körpers beraubt werden würde. Mit diesem Vorgang stößt man bereits
auf das Problem der Verkörperung, denn wie soll eine Verkörperung stattfinden,
wenn
ihre
Voraussetzung
die
Entkörperlichung
ist?
Wie kann eine Figur entstehen, wenn der sie darzustellende Körper nichts als ein
körperloses Zeichen ist? Betrachtet man diesen Aspekt unter dem Gesichtspunkt,
dass ein Schauspieler erst in eine Figur schlüpfen kann wenn er seine persönlichen
Charakteristika abgelegt hat, so mag das Argument der Entkörperlichung noch
sinnvoll erscheinen. Doch die Verkörperung einer Figur schließt nicht nur das
44
Endprodukt der Theater- oder Filmfigur ein, sondern auch den ursprünglichen
Körper, dessen Instrumentarium die essentielle Basis für die Figur bildet.
Dieser Ansatz entspricht auch Homi Bhabhas Überzeugung des stetigen und
notwendigen Zusammenspiels von Eigenem und Fremdem. Eine Figur entspringt
einem performativen Akt oder einer Haltung, und die natürliche Basis dafür ist der
ursprüngliche Körper des Akteurs.
Entkörperlichung in diesem Sinne ist nicht hilfreich, da durch sie die individuelle
Physis und spezifische Körperlichkeit des Schauspielers als Arbeitsmaterial verloren
geht. Als Arbeitsmaterial
wird in diesem Falle ein (Stimm-) Körper bezeichnet,
dessen natürliche Präsenz notwendigerweise vor dem Prozess der Verkörperung
anwesend und aktiv sein muss. Denn ein Zuhörer hört nicht nur was die Stimme
vermittelt, sondern auch Art und Weise wie der Inhalt transportiert wird. Und dieses
Wie ergibt sich aus der Kombination der individuellen Schauspielerstimme und der
studierten Stimme der darzustellenden Figur. Entkörperlichung kann also kein
Fundament für ein semiotisches Zeichensystem sein, da dieses erst aus der
Symbiose von darstellendem und dargestelltem Körper entstehen kann.
Fischer–Lichte führt den Aspekt des semiologischen Körpers fort, indem sie zwei
Arten der Beschaffenheit einer Figur unterscheidet:
Erstens die Figur im Text und zweitens die verkörperte Figur. Und auch diese
Herangehensweise betont den Dualismus von Sprache und Körper, denn erstere
Figur benötigt keinen Körper außer den Textkörper. Letztere jedoch übersteigt in
ihrer Leiblichkeit jede instrumentelle und semiotische Funktion.
Nun ist es so, dass die Figuren in Lipsynch dem Entstehen und Sein klassischer
Theaterfiguren überhaupt nicht entsprechen. Robert Lepages und sein Ensemble Ex
Machina arbeiten nicht mit dem Prinzip der Verkörperung, und schon gar nicht mit
dem der Entkörperlichung. Was in der Probenarbeit von Lipsynch passiert, ist ein
Auskundschaften und schrittweises Suchen und Finden von Ähnlichkeiten und
Unterschieden zwischen dem Schauspieler und seiner Figur.
Es geht genauer
gesagt nicht darum, eine fremde Figur zu verkörpern, sondern anhand der
Stückthematik aus den eigenen psychischen und physischen Gegebenheiten eine
Figur zu konstruieren.
45
5.4.1.1 Der Stimmkörper
In diesem Zusammenhang soll die entkörperlichte Stimme erwähnt werden.
Robert Lepage setzt in Lipsynch oft das Schweigen als stilistisches oder narratives
Moment ein, wobei bereits geklärt wurde, dass das Schweigen definitiv keinen
Verlust der Stimme bedeuten muss. Sowohl Schweigen als auch der hörbare Klang
der Stimme haben das Potential bewusst oder unterbewusst Atmosphäre und
Stimmungen zu erzeugen.
Die Wahrnehmbarkeit durch den Zuschauer impliziert die Tatsache, dass beide
Phänomene eine Materialität, eine Körperlichkeit besitzen und somit nicht nur
akustisch, sondern auch visuell erfahrbar sind.
Unter dem Aspekt, dass Stimme sowohl im Sprechen als auch im Schweigen zu
verorten ist, kann ausgeschlossen werden, dass mit der entkörperlichten Stimme das
Schweigen gemeint ist. Denn nur weil sich der Körper sprachlich nicht mehr
auszudrücken vermag, bedeutet dies noch lange nicht, dass er keine Stimme mehr
hat. Daher stellt sich die Frage, ob der Ausdruck entkörperlichte Stimme nicht auf
den visuellen Aspekt zurückzuführen ist. Das würde bedeuten, dass eine an- oder
abwesende Stimme plötzlich nicht mehr mit einem spezifischen Körper assoziiert
werden kann. Szenisch gesehen bedeutet das die Abwesenheit einer der beiden
Entitäten, entweder der des Körpers oder der der Stimme. Die Abwesenheit oder der
Mangel des Stimmkörpers kann also dadurch inszeniert werden, dass ein visuell
sichtbarer Körper auf der Bühne steht, der sich akustisch nicht mehr äußern kann.
Der Begriff der stimmlichen Präsenz verweist also nicht nur auf die akustisch
anwesende Stimme, sondern auch auf die rein visuelle Anwesenheit eines Körpers
und dessen Lippenbewegungen.
Doris Kolesch erklärt, dass die gehörte Stimme ein Begehren nach Verkörperung
auslöst. Die Stimme zeigt sich in ihrer Klanglichkeit, die sich nicht nur lautlich,
sondern auch räumlich ausbreitet und spricht somit automatisch die Körper und
Sinne der im Raum anwesenden Menschen an. Schließlich kann ein Schauspieler
auch trotz größerer Distanz verstanden werden; nicht im hermeneutischen Sinne,
sondern vielmehr im Sinne der Berührung. Der Zuhörer nimmt die Stimme entgegen,
er nimmt sie als leiblichen Impuls in sich auf und lässt ihre spezifische Körperlichkeit
auf sich wirken. Und eine derartige Körperlichkeit besitzt auch eine schweigende
Stimme.
46
Da die Stimme als Voraussetzung der Sprache, wie alle Laute, den Gesetzen der
Akustik und somit einer auditiven Physiologie unterworfen ist, gehört sie zwar in den
Bereich des Hörbaren; doch eine Stimme, ein Stimmklang impliziert automatisch
einen visuell imaginierbaren Körper, so wie ein schweigender Körper einen akustisch
imaginierbaren Stimmklang impliziert. Beide Phänomene haben den natürlichen
Drang, sich auf eine bestimmte Art und Weise mitzuteilen.
Warum das so ist, erklärt sich aufgrund des im Kapitel 2.2 angeführten stimmlichen
Ereignischarakters. Denn sogar wenn sich eine Stimme äußert, steht sie im
Augenblick ihres Erklingens als vergängliches Ereignis im Raum. Um ihre Präsenz
dennoch zu wahren, verweist sie auf mindestens zwei Personen - auf den
Sprechenden und den oder diejenigen, die sich angesprochen fühlen. Spricht eine
Stimme nicht, so teilt sie sich zwar auf einer nicht hörbaren Ebene mit, doch der Akt
eine Botschaft zu vermitteln ist derselbe.
Dieses Kapitel beweist also, dass es keine entkörperlichte Stimme gibt; denn auch
wenn man die Stimme aufgrund ihres Schweigens nicht hört, oder den sprechenden
Körper momentan nicht sieht, so hat die Stimme, genauso wie der Leib, stets einen
wahrnehmbaren Körper.
5.4.1.2 Der Schauspielerkörper
In Lepages Theater gibt es keine konventionelle Form der Rolle, in die der
Schauspieler schlüpfen muss. Es gibt auch keinen Text, kein Skriptum, welches sich
der
Akteur
aneignen
Rollenerarbeitung
nicht
kann.
Demzufolge
Bestandteil
der
ist
der
Stückarbeit
herkömmliche
des
Weg
der
frankokanadischen
Theaterensembles. Was Lepages Schauspieler auf der Bühne tun, könnte man mit
einer Lebenssimulation vergleichen, an die sich die einzelnen Figuren Schritt für
Schritt anschmiegen.
Nun steht man also als Schauspieler mit nichts als dem eigenen (Sprach-) Körper
und Geist am Beginn einer Fülle von assoziativen Experimentformen. Eine mögliche
Annäherung an das narrative Potential des eigenen Körpers ist das spielerische
Erfassen. Robert Lepage wäre in diesem Falle der Spielleiter, der nicht von höherer
Instanz als seine Schauspieler ist und sogenannte Grundsätze des Spiels,
Spielregeln festlegt.
47
Dies könnte im Sinne von Lepage eine weit gefasste Idee sein, an die sich sein
Ensemble herantastet. Damit ist der Rahmen gegeben, mit dem sich jedes
Individuum vertraut machen muss. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für dieses
Vertrautmachen ist die Aufmerksamkeit. Damit sind nicht nur wache Sinne in Bezug
auf die Kollegen und mögliche Veränderungen im Raum gemeint, sondern
insbesondere die selbstbezogene Aufmerksamkeit. Auftauchende Fragen könnten
sein: „Wie verhält sich der Körper im Proberaum, wie in Bezug auf die anderen
Körper im Raum, welche Haltung nimmt er automatisch beim Fokussieren auf den
gegebenen Impuls ein, wie reagiere ich auf meine eigene Stimme und wie wirkt sie
auf die anderen?“
Aus dieser Grundsituation der Selbst- und Fremdwahrnehmung, zwei äußerst
wichtige und aussagekräftige Bestandteile in der Arbeit des kanadischen
Theatermachers, kann sich nun eine Haltung entwickeln. Eine Haltung zur Thematik,
zu den Kollegen und zur möglichen Herangehensweise bei der Figurenzeichnung.
Die unterschiedlichen personenspezifischen Reaktionen auf die bisher minimalen
Einschränkungen sind notwendig für das Fortschreiten der Recherche.
Die nächste Stufe, die auf die Aufmerksamkeit aufbaut, ist schon etwas präziser.
Dabei handelt es sich um das bewusste Wahrnehmen. Mittlerweile sind die
Schauspieler mit sich selbst, den anderen, dem Raum und der groben Thematik (im
Falle von Lipsynch wäre dies die menschliche Stimme) vertraut. Nun erfährt man aus
Lepages Arbeit, dass der Großteil der Recherche rund um eine Ressource auf
verbalem und nonverbalem Austausch basiert.
„Wenn wir nichts zu sagen haben, bleibt die Form einfach nur die Form und
das Medium nur das Medium. Aber wenn wir etwas zu sagen haben, wird das
Medium zur Message.“21
Ziel ist es also, dass die Schauspieler ein Gespür für ihre Wahrnehmung entwickeln
und anhand dieser ihre eigenen Assoziationen und Erinnerungen zur Ressource
aussprechen.
Renate Klett (2010): Nahaufnahme. Robert Lepage. [http:// www.Falter.at.] Observer, no.18,
[05.05.2012]
48
21
Es entsteht ein Austausch zwischen unterschiedlichsten Nationen und individuellen
Erfahrungswelten, was in Bezug auf die eigene Stimme bedeutet, dass sie in einem
sozialen Feld lebendig wird. Die eigene und die fremde Stimme überlagern sich und
zeichnen sich in der jeweils anderen ab, sodass eine Art hybride Stimme entsteht,
eine Mehrstimmigkeit, welche jede individuelle Stimme homogen in sich aufnimmt.
Nun wird die etablierte Leiblichkeit von Körper und Stimme mit Emotionen
konfrontiert. Welche positiven oder negativen Erfahrungen haben den Schauspieler
in Bezug auf die Stimme geprägt? Gab es spezifische Vorfälle in der Familie oder im
Bekanntenkreis oder gibt es gar publik gewordene reale Begebenheiten, die mit dem
Kontext des Stimmverlusts, -gewinns oder -experiments eng verwoben sind?
Selbstverständlich tragen zu dieser Arbeitsphase nicht nur Fakten und handfeste
Erinnerungen bei, sondern auch die Phantasie jedes Einzelnen.
Nachdem also unterschiedlichste Erfahrungen zusammengetragen wurden, können
bereits mehrere kleine Handlungsketten entstehen. Diese bilden die stoffliche
Voraussetzung für einen der faszinierendsten Aspekte von Lepage Stücken, nämlich
die psychologisch und narrativ effiziente Handlungsketten – Verstrickung. Zu diesem
Zeitpunkt beginnen sich auch schon Figuren herauszukristallisieren, die es nun zu
prägen gilt.
Lepages Idee hinter seiner persönlichkeits- statt textorientierten Arbeitsweise ist,
dass dadurch auf natürliche Weise ganz individuelle Wesenszüge jedes Einzelnen in
die jeweiligen Figuren einfließen können. Die Essenz jeder der neun Figuren soll aus
einer spezifischen Note der dahinterstehenden Person entstehen. Das ist der Punkt,
an dem die szenische Arbeit beginnen kann. Wichtig dabei anzumerken ist, dass es
sich auch dabei keinesfalls um eine herkömmliche Szenenerarbeitung handelt, da
weder Dramentext, noch vorgeschriebene Szenenabfolgen existieren.
In dem Moment, in dem der sinnlich erfahrende Schauspieler mit einem
inszenatorischen Konzept die Bühne betritt, entsteht ein neuer Raum in einem
spezifischen Kontext. Das heißt genauer gesagt, dass es sich in der Theatersituation
nicht um einen neuen Menschen handelt, sondern schlichtweg um eine neue
Situation, die dem Schauspieler immer noch genügend Freiraum für bestimmte
Bewegungsmuster und Verhaltensweisen gibt. Dieser offene Raum und der
zugängliche Geist des Schauspielers sind für Lepage die Voraussetzungen für eine
Szene.
49
In der Probenarbeit zu Lipsynch war schon zu Beginn der Arbeit nicht nur der Körper,
sondern ganz besonders die menschliche Stimme als fixer Bestandteil des Körpers
ein tragendes Hauptaugenmerk. Und da die Stimme, genauso wie die physische
Beschaffenheit des Körpers, durch das bisher gelebte Leben gezeichnet ist, konnten
durch die zusammengetragene Erfahrung
umso
reichere Bilder entstehen.
Aufbauend auf diese Basis der Selbsterarbeitung kann nun ein reproduzierbarer Text
entstehen, der den Körper zu unterstützen beginnt. Zwar kann man bei Lepage nicht
von einem Endergebis sprechen, doch falls es in der Probenarbeit ein Ziel zu
benennen gibt, so ist es das der ganzheitlichen, gleichzeitig körperlich, sprachlich
und geistigen Aktion und Reaktion auf die spezifischen Gegebenheiten des
Theaterstoffes und des Raumes, in dem er sich zuträgt.
5.5
Die Zeit
Ein weiteres ausschlaggebendes ästhetisches Verfahren in Robert Lepages
Theaterarbeit ist die Zeit. Sie spielt eine wichtige Rolle für das Agieren und
Reagieren der Schauspieler.
Der philosophische Begriff Chronos versinnbildlicht in der griechischen Mythologie
den Ablauf der Zeit und steht ebenso für das Verständnis der zeitlich ausgedehnten
Lebenszeit.22 Kairos hingegen bezeichnet den günstigen Zeitpunkt für eine Aktion
oder Entscheidung, deren ungenütztes Verstreichen die nachfolgenden Handlungen
negativ beeinträchtigen kann. Wir sehen also, dass es sich um zwei verschiedene
zeitliche Dimensionen handelt deren Inkrafttreten nun auch auf der Bühne genauer
untersucht werden soll.
Zeit
und
homogene
Einteilung
derselben
sind
unumstritten
essentielle
dramaturgische und narrative Mittel auf der Bühne. Wie wichtig es ist, den
entscheidenden Augenblick zum richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen und zu ergreifen,
ist in der Aufmerksamkeit der Zuschauer ablesbar. Denn der Moment, in dem sich
der dynamische Kairos gegenüber dem tragenden und andächtigen Chronos in den
Vordergrund drängt, ist ausschlaggebend für die Wachsamkeit des Beobachters. Für
den Schauspieler bedeutet dies, die Chance eines verbalen oder physischen
Ausdrucks im richtigen Augenblick zu ergreifen. Die spezifische Zeitlichkeit der
Stimme, deren Merkmal ihr Ereignischarakter ist, beruht im Augenblick, also im
22
Vgl. http://de.wikipedia.org: Wikipedia, http://de.wikipedia.org /wiki/Chronos [13.03.2012]
50
Kairos. Das Einzige was es dabei noch zu klären gilt, ist, woran sich dieser richtige
Augenblick erkennbar macht – am impulsiven Gefühl des Schauspielers oder am
inszenatorischen Handwerk des Regisseurs?
Um dieser Frage und somit der Gewichtung von Spontaneität und Reproduzierbarkeit
auf den Grund zu gehen, sollen die beiden aus dem Griechischen stammenden
Begriffe Chronos und Kairos am Beispiel von Lepages Lipsynch analysiert werden.
„Die stimmliche Artikulation ist punktiert und fragmentiert, sie vollzieht sich im
Ablauf der Zeit, doch führt sie eher vereinzelte, diskrete Zeitpunkte,
Miniaturereignisse und lose Neuanfänge vor denn eine kontinuierliche
Geschichte.“23
Wie bereits erläutert ist Kairos ein zeitlich limitiertes Moment innerhalb der größeren
Zeitspanne Chronos. Übernimmt man nun die beiden Einheiten in die Welt von
Lipsynch, sollen diese nicht nur in Hinblick auf Zeitpunkt und Zeitspanne beleuchtet
werden, sondern ebenso in Hinblick auf die Verortung von Zeit. Genauer gesagt
erfüllen Chronos und Kairos nicht nur die zeitliche Dimension auf der Bühne, sondern
auch die räumliche, wenn beispielsweise von innerer und äußerer Zeit gesprochen
wird.
Die innere Zeit (Kairos) steht für die persönliche Wahrnehmung der Handlungen auf
der Bühne und die äußere Zeit (Chronos) für die äußere Wirkung dieser Handlungen.
Sobald ein Schauspieler die Bühne betritt, ist er mit diesen beiden Dimensionen
konfrontiert und muss stets die innere und die äußere Wirklichkeit im Auge behalten.
Anders ausgedrückt muss er ein Bewusstsein dafür entwickeln, was er tut und wie
dies wahrgenommen wird. Dieses Phänomen kann am besten anhand des Tempos
von Lipsynch erklärt werden.
Sprachrhythmus ist genauso wie der Sprachklang weitaus schwieriger beherrschund kontrollierbar als beispielsweise ein Stücktext. Und dennoch ist allen neun
Geschichten und der Körperlichkeit jeder der neun Schauspieler das verlangsamte
Tempo auf der Bühne gemeinsam. Dabei handelt es sich um eine Art
Verführungsstrategem, welches der Regisseur bereits zu Beginn der Vorstellung
extrem betont, als Ada mit ihrer Arie die Bühne betritt.
23
Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag. S. 54
51
Verglichen zu alltäglichen Handlungen vergehen die Bühnenhandlungen von
Lipsynch alle um einen merklichen Hauch langsamer, so als würde sie der
Zuschauer in Zeitlupe erleben. Erzielt wird dieses Stilmittel durch die gesteigerte
Aufmerksamkeit, mit der jeder einzelne Schauspieler spricht und seine Handlungen
ausübt; und wenn er nur einen Telefonhörer aus der Gabel hebt, tut er es mit
dezentem Nachdruck. Der Effekt, der durch dieses Bewusstsein für Chronos und
Kairos erzielt wird ist im wahrsten Sinne des Wortes verführerisch, da er den
neugierigen und sinnsuchenden Zuschauer in seinen Bann zieht. Anders gesagt
wirkt sich die gesteigerte Aufmerksamkeit des Schauspielers auf den beobachtenden
Zuschauer aus, der mit jeder weiteren Bewegung glaubt und hofft, dass jeden
Moment etwas passieren könnte. Der Zuschauer verfolgt den Schauspieler in seinen
Tätigkeiten mit penibler Genauigkeit, eben weil es ihm durch die verlangsamte und
präzise Haltung der Akteure auf der Bühne erlaubt wird.
Und dann, gerade in dem Moment als der Zuschauer Gefahr läuft die
Aufmerksamkeit für einen in die Länge gezogenen Handlungsstrang zu verlieren, legt
Lepage den Kippschalter um und lässt tatsächlich etwas passieren. Das bedeutet,
dass er in diesem Moment Kairos vor Chronos den Vortritt gibt; sei es auch nur ein
minimaler verbaler oder körperlicher Akzent, der die aufgebaute Spannung für einen
Moment auflockert. Robert Lepages Lipsynch lebt sozusagen von diesem
Wechselspiel zwischen Chronos und Kairos, indem beide Einheiten in ihrer vollen
zeitlichen und räumlichen Dimension ausgereizt werden.
Der tranceartige Zustand des Zuschauers kann nur durch die konsequente und
unbeirrbare Präsenz des Chronos entstehen, die wiederum die Basis für die Präsenz
des Kairos auslöst. Denn ein schlagartiger Augenblick wirkt nur dann effizient, wenn
er aus einer vorhergehenden konträren Langsamkeit hervorspringt. Nun stellt sich die
Frage der Inszenierung solcher Timings auf der Bühne. Werden sie durch
wiederholte Durchgänge erzielt bis sich ein präzise durchdachtes Zeitbild erschließt,
oder durch das spontane, intuitive Zeitgefühl des Schauspielers? Eine weitere Frage
ist, ob denn nicht auch die Spontanität auf der Bühne inszeniert ist? Und damit ist der
Punkt erreicht, an dem sich die Meinungen über Lepages Theater spalten, denn all
diese scheinbar so homogen und natürlich erscheinenden Abläufe auf der Bühne
sind inszeniert und bis ins kleinste Detail durchdacht und durchprobt. Es wird
bewusst mit Chronos und Kairos gespielt, indem selbst das Zeitgefühl der Akteure in
der Probenarbeit bis an seine wahrnehmbaren Grenzen getrieben wird.
52
Die Proben dienen also als Forschungsetablissement, in welchem mit derartigen
räumlichen und zeitlichen Abläufen experimentiert wird bis der richtige Moment des
Wechselspiels zwischen Chronos und Kairos gefunden ist. Und dieses Moment gilt
es nun für die Schauspieler und Bühnenbildner so oft und genau wie nur möglich zu
reproduzieren, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich um einen natürlich
entstandenen Augenblick.
Was Kritiker an Lepages Theater bemängeln, ist diese scheinbare Täuschung des
Publikums, die jedoch keine Täuschung im eigentlichen Sinn ist. Robert Lepage
etabliert mit seinen Schauspielern zwar eine Atmosphäre, die einen manipulativen
Effekt auf den Zuschauer prädestiniert, doch die Intention dabei ist eine andere.
Die Darstellung zeitlicher Langsamkeit besitzt das Potential, eine positive und
vertraute Atmosphäre und
Veränderungen
zu
somit eine solide Plattform für narrativ-performative
etablieren.
Da
die
drastischen
Veränderungen
oder
Schicksalsschläge auf der Bühne von Lipsynch meist einen tragischen und
melodramatischen Charakter haben, ist es notwendig, dass sich der Zuschauer zuvor
auf bejahendem emotionalen Terrain befindet. Tut er das nicht, so läuft ein derartig
langes und dramatisches Epos wie Lipsynch, Gefahr, eine zu dominante Melancholie
auf den Rezipienten auszuüben, welche durch die vereinzelt und gezielt gesetzten
komödiantischen Szenen nicht mehr aufgelockert werden könnte.
Dieses Kapitel rechtfertigt also die Schlussfolgerung, dass Timing am Theater und
vor allem bei Stücken mit Überlänge ein äußerst sensibles Thema ist. Dabei ist nicht
nur das Timing in den einzelnen Szenen, sondern ebenso das Timing zwischen den
Szenen entscheidend – gerade bei einem Bühnenbild wie dem von Lipsynch, das ein
offengelegtes, wandelbares Modul ist und von einem Flugzeugkorpus zum Zug, zum
Wohnzimmer oder zum Café ummoduliert wird.
Der kanadische Theatermarathon-Künstler deklariert das aus der Antike stammende
Bestreben der Einheit von Raum, Zeit und Handlung auf der Theaterbühne als ein
künstlerisches Missverständnis. Zumindest interessiert sich Robert Lepage nicht
dafür. Allerdings betreibt er die Überwindung dieses Missverständnisses mit
allerhand technischem Aufwand, der die Umbauten oftmals länger dauern lässt als
die anschließende Szene. Doch gerade die offengelegte Inszenierung von
Szenenwechseln
theatralischen
machen
Ereignissen
Zeitund
Raumsorgen
und
Ortsprünge
dafür,
dass
zu
der
eigenständigen
Rezipient
seine
Aufmerksamkeit und somit den roten Faden nicht verliert.
53
6.
Der Rezipient
Da ein akustisches Ereignis als räumliches Phänomen verstanden wird, welches auf
bestimmte Richtungen und Orte verweist muss der sich ebenfalls im Raum
befindliche Rezipient als Zuhörer des Sprechenden mit einbezogen werden.
Die sensible Wahrnehmung von sprachlichen und gesanglichen Performances kann
auf die leibliche Befindlichkeit des Rezipienten übergreifen, wobei der Wirkungsgrad
von tragischen Lauten und Bildern durch die höhere empathische Involviertheit
größer ist als der von komischen.
Das verbindende Glied zwischen vermittelten, fremden Schmerzen und dem eigenen
emotionalen Zustand ist die sogenannte „Sonosphäre“ 24. Sie verweist auf den
Wahrnehmungsraum, der zwischen Sprecher und Hörer entsteht und bildet einen
essentiellen Teil der atmosphärischen Wahrnehmung im Raum. In dieser werden
nämlich alle Sinne zugleich angesprochen, wobei der Begriff der Sonosphäre primär
um die Rezeption akustischer Ereignisse kreist. Dasselbe Spannungsfeld, welches in
vorigen Kapiteln primär zwischen den Sprechern erläutert wurde, entsteht in diesem
Fall im Bereich der leiblichen Anwesenheit des Hörers.
Der Zwischenraum zwischen dem Sender akustischer Signale und dem Empfänger
wird dadurch überwunden, dass beide im selben Raum agieren und wahrnehmen.
Der Stimmklang des Sprechers löst beim Rezipienten unweigerlich Emotionen,
Erinnerungen und Assoziationen aus, was zu individuellen Reaktionen von
Zustimmung und Einlassung bis hin zur Ablehnung führen kann.
Durch diese
emotionale Beteiligung wird der Rezipient mit seiner Anwesenheit und seiner
momentanen Stimmung zu einem wichtigen Teil des sonosphärischen Ereignisses.
Also kann man sowohl von einem Stimmraum als auch von einem Stimmungsraum
sprechen; denn sowohl der Ton als auch die Atmosphäre sind Phänomene, die sich
im Raum ausbreiten und ihn ausfüllen. Es kann also angenommen werden, dass
man einen Raum in dreifacher Hinsicht mit der eigenen leiblichen Anwesenheit füllen
24
Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (2009): Stimm – Welten. Philosophische,
medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld. Transcript Verlag. S. 87
54
kann. Nämlich als handelnder, wahrnehmender und atmosphärisch spürender
Mensch.25
„Der Körper kann zum Resonanzkörper für die gehörten Laute werden, mit
ihnen
mitschwingen; bestimmte Geräusche vermögen sogar lokalisierbare
körperliche
Schmerzen
auszulösen.
Gegen
Laute
vermag
sich
der
Zuschauer/Zuhörer nur zu schützen, wenn er sich die Ohren zuhält. Er ist
ihnen – wie den Gerüchen – in der Regel wehrlos ausgesetzt.“26
Da im Verlauf dieser Arbeit bereits mehrmals das Wort Manipulation gefallen ist und
klar gemacht wurde, dass dies ein notwendiger und charakteristischer Effekt in
Lepages Theaterschaffen ist, soll Manipulation nun auch in Bezug auf den
Rezipienten untersucht werden.
Robert Lepage spielt, durch den Einsatz der Medien Film, Radio und Fernsehen im
Rahmenmedium Theater, mit der visuellen und akustischen Wahrnehmung des
Zuschauers. Dabei gewinnt nicht nur das auf die Bühne blicken, sondern auch das
von der Bühne herunter blicken stark an Bedeutung und betont eine ausgeprägte
Form von Voyeurismus. Beobachtet man die Rezeption eines Lepage Stückes
genauer, so ist ein dreigeteilter Reaktionsverlauf zu erkennen.
Auf den ersten Blick, oder besser auf das erste Erleben, folgt meist ein Zustand von
positiver Fassungslosigkeit und Bewunderung der teilweise mystischen Vorgänge auf
der Bühne. Hat der Zuschauer dann mehrere Stücke, oder ein Stück mehrmals
absorbiert, so folgt nicht selten der Fall, dass er diese begeisterte Hingabe zu
hinterfragen beginnt. Der Rezipient beginnt sich zu fragen, ob das Wahrgenommene
und die dadurch ausgelösten geistigen und emotionalen Höhenflüge nicht bloß Folge
von gekonnter technischer Manipulation waren. Es ist eine logische Folge, dass
anfängliche Begeisterung und Faszination über eine derart neuartige Belebung der
Theatermaschinerie
zumindest
kurzzeitig
zu
einer
kritischen
Hinterfragung
abschwächen. Doch dieser Grad der Abschwächung führt Lepages Publikum vom
reinen Lobgesang schlichtweg zu einer kritisch durchdachten Analyse und somit zur
25
Vgl. Sybille Krämer (2004): Performativität und Medialität. In: Doris Kolesch. Ebd.
München: Wilhelm Fink Verlag. S. 134
26
Erika Fischer – Lichte (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.
207
55
dritten Phase in der Lepage´schen Rezeptionschronologie. Manch einer beginnt nun
vielleicht zu verstehen, weshalb der Theatermacher emotionale Reaktionen von
unglaublicher Intensität hervorrufen kann und dass die Art wie er das tut, keinesfalls
eine manipulative ist, wenn auch manipulative Elemente herangezogen werden.
Denn was man anfangs dem Effekt von opulenten Bildern und detailreich
ausgefeilten Szenen zuschreibt, ist im Grunde nur die oberflächliche Silhouette von
etwas viel Tiefergehendem; nämlich von der jahrelangen und ursprünglichen
Herangehensweise Lepages an einen Theaterstoff.
Die enorme Fülle der durch Bild und Ton gestützten Erzählstränge ist der Grund für
die erste Reaktion auf Lepages Stücke, da der Rezipient auf den ersten Blick nicht
erkennen kann, wie fein und detailreich verwoben die Handlung auf tieferer Ebene
eigentlich ist. Erst nach einiger Zeit beginnt der Rezipient ein Gespür und ein
grundlegendes Verständnis für die unterhalb der Ebene von visuellen und
akustischen Feinheiten liegende Kraft zu entwickeln.
In der Arbeit des frankokanadischen Theatermachers ist nicht zu unterschätzen,
dass, trotz der möglichen sensorischen Überforderung seines Publikums, niemals
eine Form von Unverständnis herrscht. Diese Fähigkeit der unkomplizierten
Darstellung von komplexen Handlungssträngen ist definitiv eine der vielen
Charakteristika von Robert Lepages Theaterstücken.
Die Verständlichkeit seiner Stücke schreibt Lepage nicht technischen und
manipulativen Mitteln zu, sondern einem „oralen Gedächtnisspeicher“27 von
Schauspieler und Rezipient, der Ereignisse rein aus der Erinnerung rekonstruieren
kann, ohne dabei von momentan hör- oder sichtbaren Fakten abhängig zu sein.
Dieser Speicher sei allen Menschen von Natur aus gegeben und wird beim Erleben
von Lepages Stücken sensibilisiert. Selbstverständlich verstärken der Regisseur und
sein Ensemble diesen Effekt durch medien- und bühnentechnische Raffinessen,
doch das Künstlerische oder Poetische einer Szene entspringt der Mischung von
detailgetreuen und verschwommenen Erinnerungen jedes am Theaterabend
involvierten Individuums. Das Schauspiel erweckt vor dem Hintergrund des
Bühnenbildes
Prozesse des Wachrufens, Rekonstruierens,
Umformens und
Gestaltens wieder zum Leben und ermöglicht die Umwandlung von Erzähltem in eine
phantasievolle und bilderreiche Mythologie. Diese Vorgänge erfolgen nicht anhand
27
Vgl. Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by
Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 20
56
von chronologischer Dokumentation, sondern anhand von phantasievoller geistiger
und physischer Auseinandersetzung mit den einzelnen Geschichten. Diesem Zugang
zu theatralischer Arbeit, welcher primär über das Erwecken und Entdecken des
Unbewussten funktioniert, steht jedoch noch ein Aspekt im Weg um die Thematik für
Spieler und Zuschauer greifbar und zugänglich zu gestalten. Nämlich die Erkenntnis,
dass Intention und Resultat nie nahtlos ineinander überlaufen. Der Zuschauer muss
akzeptieren, dass Bedeutung immer erst in Folge des Gesehenen auf natürliche
Weise zu ihm gelangen kann. Dieses Argument rechtfertigt, dass das Geschehen auf
der Bühne dem Zuschauer von Lipsynch zunächst wichtiger ist als dessen
Interpretation.
In Bezug auf das Verhältnis zwischen Rezipient und Regisseur oder Ensemble
betont Lepage die Wichtigkeit des gegenseitigen Lernens und des damit
einhergehenden Dialogs während einer Vorstellung.
Dieser Dialog entsteht in
diesem spezifischen Falle eben dadurch, dass Lepage mehr Fragen aufwirft als
Antworten bietet; auf diese Weise weckt er die Motivation des Zuschauers, Dinge
durch präzises Verfolgen des Bühnengeschehens in Erfahrung zu bringen. Schon
nur das Anbieten einer möglichen Antwort würde laut Lepage den Verlauf der
Handlung zu sehr einschränken. Der daraus entstandene Drang Robert Lepages,
multidisziplinäres und universell verständliches Theater zu machen, führte schließlich
auch zur Loslösung vom „Théâtre Repère“ und seiner immer fester gelegten
Methodik.
Mit dieser Annäherung zum 2010 im Rahmen der Wieder Festwochen präsentierten
Lipsynch von Robert Lepage, soll nun der Übergang zur Analysearbeit des Stücks
gegeben sein.
7.
Lipsynch – Das Stück
Robert Lepages Theaterepos Lipsynch, das 2008 in London Premiere gefeiert hat, ist
Welttheater, Unterhaltungstheater, Theatersoap und Familiendrama in einem und
durchquert dabei mit fünf Sprachen sieben Länder und zehn Städte.
Entlang
des
Phänomens
der
menschlichen
Stimme
spielt
Lepage
mit
Mehrsprachigkeit, Sprach- oder Stimmverlust und dem anschließenden Ringen um
die Wiedergewinnung der eigenen Sprachfähigkeit. Dabei ist es primär die Stimme,
57
die die Charaktere in Lipsynch ausmacht. Doch die Stimme dient im Stück nicht nur
dem Etablieren von Charakteren, sondern auch und vor allem von sich selbst. Um
also die verschiedenen physischen Besonderheiten der Stimme in sein Stück
einzugliedern, entwirft Lepage mit seinem Ensemble neun Geschichten, in denen ein
Film gedreht und synchronisiert, ein Lied ohne Worte aufgenommen, Lippenlesen,
Sprachanalyse und Sprachtherapie praktiziert werden. Man könnte sogar sagen,
dass nicht die Stimme der Figurendarstellung und Narration dient, sondern
umgekehrt.
Lipsynch
durchquert
all
die
geografischen
Stationen
und
zwischenmenschlichen Beziehungen, um die menschliche Stimme in all ihren
Facetten zu präsentieren.
7.1
Die Entstehung
„Mein Urlaub ist meist eine Kulturreise, die dann zur Arbeitsreise wird… Die
allererste Zeichnung, die ich für Lipsynch machte, war ein Flugzeug. (Zeichnet.)
Ich saß in einem Flugzeug nach Südamerika, und ganz hinten saß eine Frau
mit einem Baby, das während des gesamten Fluges schrie. Ich saß so etwa in
der Mitte, hier, konnte in die Business Class sehen, weil der Vorhang offen war,
und ich beobachtete eine Geschäftsfrau, die sich andauernd umdrehte, weil sie
durch das Geschrei irritiert war.
Das war ein gutes Bild für Lipsynch: die Frau hinten mit dem Baby, aus
Südamerika, arm, die Frau vorne mit viel Geld, irritiert. Und ich dachte, wenn
das jetzt Rebecca wäre, eine Opernsängerin, die ihre Partitur studiert, die
ausgebildete, kultivierte, raffinierte, gepflegte Stimme, und hinten hast du die
menschliche Stimme in ihrer häßlichsten, unharmonischsten Form, gemacht,
um dich zum Wahnsinn zu treiben. Und die Sitze dazwischen, das könnte die
Entwicklung sein, jeder Sitz ein Schritt auf dem Weg unserer Geschichte …“ 28
Der Entstehungsprozess von Lipsynch zog sich über eine Zeitspanne von mehreren
Jahren; von den ersten Gesprächen im Jahr 2005 über die fünfstündige erste
Fassung im Februar 2007, bis zur überarbeiteten acht stündigen Version im Jahr
2008. Doch das Projekt bietet die richtige Struktur, um es immer wieder neuen
28
Rémy Charest. Ebd. S.120
58
kleinen Veränderungen und Erweiterungen zu unterziehen. Das Ensemble hat stets
die Freiheit das Stück um neue Bilder zu bereichern, sofern sie für den Verlauf der
Geschichte inspirierend und folgender Voraussetzung gerecht bleiben:
„Im Vordergrund steht die menschliche Stimme. Archetypisch sprechen
Psychoanalytiker von „Muttersprache“ und der „Stimme des Vaters“, oder auch
„Gottvaters“. Sie beschreibt den Einfluss dieser Stimme des Vaters, oder jenes
Menschen mit dem die Mutter während der Schwangerschaft eine enge
seelische Beziehung hat, auf den Embryo und den Versuch des Neugeborenen,
diese Stimme in der Welt zu identifizieren. In diesem Sinne spielt die Suche
nach Vätern und Müttern eine wesentliche Rolle in Lipsynch.“29
Robert
Lepages
Herangehensweise
an
das
Phänomen
der
stimmlichen
Ausdruckskraft entstammt nicht nur der kreativ assoziativen Recherchearbeit seines
Ensembles, sondern auch der Forschung der psychoanalytischen Gruppe GIFRIC.
Diese analysiert Parallelen zwischen der Vater – Mutter – Kind Rollenverteilung und
deren sprachlicher Kommunikation. Demnach besagen Studien dieser Gruppe, dass
der Mensch seine Stimme durch den Vater erhält, da er im Mutterbauch diese als
erste wahrnimmt. Diesen Aspekt erzählt Lepage mit Maries Geschichte, die nach der
Stimme ihres Vaters sucht und sie schließlich in sich selbst findet.
Die Mutter hingegen steht für das ganzheitliche Konstrukt der Sprache. Diese
Tatsache inszeniert Robert Lepage anhand der Frauenfiguren, die in vielen seiner
Stücke dominieren. So auch in Lipsynch, dessen Handlung vom Schicksal zweier
charakterstarker Frauen - Ada und Lupe - umrahmt wird. Beide Frauen sind liebende
Mütter und unterscheiden sich jedoch stark in ihrer Herkunft und Persönlichkeit.
Während die stimmlich und körperlich zerbrechlich wirkende Lupe aufgrund ihrer
zermürbenden Vergangenheit kurz nach der Geburt ihres Sohnes stirbt, nimmt sich
Ada
diesem
schützend
an.
Ada
kann
dank
ihres
stark
ausgeprägten
Beschützerinstinkts und Vertrauensbewusstseins - akustisch dargestellt durch ihre
klare Sprech- und kräftige Gesangstimme - als eine Art Urmutter der Geschichte
angesehen werden.
29
Rémy Charest. Ebd. S. 120
59
Als
anschließenden,
ausschlaggebenden
Schritt
auf
dem
Weg
zur
Individualitätsbildung in der stimmlichen Entwicklung, sieht die Gruppe GIFRIC das
Wort, welches sich aus der Kombination von Stimme und Sprache formen kann.
Dieser Punkt legitimiert, dass Lepages Theaterkunst ohne das Heranziehen eines
Skripts oder einer strukturierten Form fruchten kann, seine Figuren durch die
Phänomene
Stimme,
Sprache
und Wort
geprägt,
geformt,
verändert
und
charakterisiert werden. Eine textliche Vorgabe würde sie hingegen in ihrer Freiheit
der lautlichen und körperlichen Entfaltung einschränken.
Die akustischen Darstellungsmittel in Lipsynch sind sowohl inhaltlicher, ästhetischer
als auch formaler Natur.
Robert Lepage berücksichtigt in seinen Erzählungen keine der drei aristotelischen
Einheiten; weder Ort, Zeit, noch Handlung. Sein Bühnenbild mutiert in extremen
Sprüngen von einem Raum zum anderen und die Zeitspanne, in der erzählt wird, ist
weder chronologisch noch regelmäßig. Dementsprechend zeichnet sich Lipsynch
nicht durch eine Haupthandlung aus, sondern durch das assoziative und sprunghafte
Suchen und Finden von Bildern der einzelnen Handlungsstränge, die dann
zusammengeführt werden.
Es werden in raschem Tempo immer wieder neue Figuren etabliert, denen der
Zuschauer anfangs (fälschlicherweise) nicht so viel Bedeutung zuschreibt. Denn
plötzlich erlangt eine Figur nach der anderen unabdingbaren Wert für die fortlaufende
Geschichte und ihre Zusammenhänge.
Dass Lepage Umwege in seiner Erzählung macht, ist reine Illusion, denn er und sein
Ensemble Ex Machina erzählen die Geschichte genauso, wie sie sich aus der
Probenarbeit
ergeben
hat.
Anders
ausgedrückt
ergeben
die
einzelnen
Geschichtsstränge den Leitfaden der Handlung und werden nicht zuletzt durch das
Bühnenbild zusammengehalten.
Es entsteht eine real fiktive Welt für das Publikum, welches dem Bühnengeschehen
von Lipsynch rational und emotional folgen kann. Robert Lepage inszeniert die
Wirklichkeit von ihrer außergewöhnlichsten und zugleich banalsten Seite und erweckt
den Eindruck, dass fast jedes sich auf der Bühne ereignende Schicksal auch in
unserem Alltag eintreten könnte.
60
7.2
Die Stimme als Körper
Wie vorausgehende Kapitel bereits erläutert haben, steht die menschliche Stimme
als Spur des Körpers eigenständig im Raum. Doch genauso wenig wie man
behaupten kann, dass Physis und Psyche voneinander getrennt funktionieren, kann
gesagt werden, dass Körper und Stimme zwei voneinander unabhängige Entitäten
sind.
Der Weg der Stimme aus dem Körper muss ebenso aus einer umgekehrten
Perspektive beleuchtet werden: Die Stimme trägt die Leiblichkeit des Sprechenden
bereits in sich, was ihn daher auch rein akustisch und ohne visuelle Unterstützung
erkennbar und verständlich macht.
Wenn jemand spricht, werden nicht nur Inhalt und Bedeutung transportiert, sondern
auch dessen ganzheitliche, körperlich-seelische Verfassung. Beispielsweise kann es
der Hörende einer Figur anmerken, wenn sie im Innersten unausgefüllt und traurig
ist, obwohl sie nach außen hin eine enorme Stärke, Ruhe und Sicherheit ausstrahlt.
Diese Behauptung soll durch folgendes Argument legitimiert werden:
Da Lipsynch in Wien in der großen Halle E des Museumsquartiers zur Aufführung
gelangte, erlebten die Zuschauer in den letzten Reihen visuelle Anhaltspunkte, wie
mimische oder gestische Ausdrucksweisen, nicht derart leibhaftig wie die weiter
vorne platzierten Zuschauer. Das bedeutet, dass sie emotionale Vorgänge in ihrer
Präzision teilweise nur über die auditive Ebene wahrnehmen konnten. Dies ist dem
körperlichen Potential der Stimme zu verdanken.
Die Vermittlung von Emotion über die stimmliche Ebene funktioniert deshalb, weil die
Stimme aus dem Inneren des Körpers kommt - produziert durch Organe wie
Kehlkopf, Brustraum, Lunge, Zunge und Lippen. Da aus diesem Inneren auch die
Emotionen stammen, werden sie unweigerlich mit dem Stimmklang mittransportiert.
Man kann also sagen, dass die menschliche Stimme sowohl ein Teil der körperlichen
Verfassung ist, als auch ein eigenständiges Produkt desselben.
Als in sich geschlossener heterogener Körper zeigt sich die Stimme in ihrer Dynamik
des Erklingens und Verschwindens, während sie der physischen und seelischen
Existenz ihres Schauspielerkörpers entsprechen oder widersprechen kann. Doch der
Aspekt der Ungleichheit zwischen akustischer und visueller Existenz eines Körpers
findet auf der Bühne von Lipsynch keinen Raum, denn Lepage arbeitet in diesem
Stück stark mit der gegenseitigen Unterstützung von Sicht- und Hörbarem. Mit
61
anderen Worten arbeiten Stimme und Körper meist zugunsten desselben
Sachverhalts. Es wird versucht, visuelle Charakteristika der Figuren rein durch
akustische Mittel sichtbar zu machen und umgekehrt.
Verkörperung der Stimme bedeutet also einerseits das eigenständige Existieren des
Stimmkörpers im Raum und andererseits das stimmliche Nachaußenkehren
seelischer Zustände eines Individuums. In Bezug auf Letzteres darf nicht auf die
Eigenwahrnehmung der eigenen Stimme vergessen werden. Denn die Komplexität
der Bedeutungsübertragung vom Sprecher zum Hörer liegt nicht zuletzt darin, dass
bereits das Phänomen der eigenen Hörbarkeit äußerst komplex ist.
Es ist bekannt, dass man selbst die eigene Stimme meist als fremd wahrnimmt,
sobald man sie entweder durch ein anderes Medium hört oder die akustische
Aufmerksamkeit plötzlich nach innen kippt. Dieser Aspekt betont wiederum die
Wichtigkeit der differenzierten Wahrnehmung der Körperlichkeit des Sprechenden
und des Hörenden.
7.2.1
Wenn der Körper einer fremden Stimme geliehen wird
„Lipsynch bedeutet im Englischen nicht „Lippensynchronisation“, sondern das
Gegenteil: Personifizieren einer vorhandenen akustischen Aufnahme. Das
heißt, wir verwenden bei Lipsynch drei akustische Originalinterviews und lassen
diese Menschen dann auf der Bühne real werden.“30
Genauer gesagt steht der Titel des Stücks nicht nur für das nachträgliche Vertonen
von Bildern oder für das Übersetzen von Empfindungen in Wort und Ausdruck,
sondern genauso für den umgekehrten Vorgang. Beispielsweise kommt der Dialog in
einigen Szenen vom Band und die Schauspieler bewegen nur die Lippen dazu,
leihen also einer fremden Stimme ihren Körper.
Lepage will nicht nur die Fähigkeit der Stimme zeigen, Sprecher und Hörer zu
stigmatisieren und ihn sozialen Schichten oder emotionalen Zuständen zuzuordnen,
sondern auch das Versagen von Stimme und Sprache, sowie die Schwierigkeit
30
Eva Morocutti (2010): „Lipsynch“ von Robert Lepage. “alles unter einem dach”. Interview mit Eva
Morocutti. In: Wiener Festwochen, GAP, 04C
62
Sprache und Lippenbewegungen zu koordinieren. Doch ist das scheinbare
Hauptaugenmerk auf Stimme und Sprache nicht zu wörtlich zu nehmen, was im
Folgenden erläutert werden soll:
Jede der neun Figuren hat eine private oder berufliche Verbindung zur Sprache, sei
es im künstlerischen, medizinischen oder alltäglichen Sinne, in der Beschäftigung mit
sich selbst oder mit anderen. Ihre Auseinandersetzung mit dem akustischen
Phänomen erfolgt über die Kraft und/oder Machtlosigkeit von Sprache und Stimme,
über die Musik als universell verständliche Sprache und über Mechanismen, die
gesprochene sowie stumme Sprache reproduzieren können. Einige Beispiele dafür
sind Video-, Sound- und Live Performances, das Synchronisieren eines Films in eine
Fremdsprache,
Sprech-
und
Körpertheater,
Lippenlesen,
Sprachtherapien,
Geräusche, Gesang in den unterschiedlichsten Genres, Telefonate, Voice-over
Erzählungen sowie Dialoge und Monologe. In jedem Fall dienen die Körper der
Schauspieler, also die Körper der Figuren der stimmlichen Ausdrucksfähigkeit und
werden auch primär über dieselbe definiert. Man sieht also, dass die Kapazität des
akustischen
Hauptmotivs
ohne
den
Einsatz
und
die
Ausdruckskraft
des
ganzheitlichen Körpers nie voll ausgeschöpft werden kann.
Lipsynch zeigt, dass die Darstellung der menschlichen Stimm- und Sprachlichkeit viel
mehr an medialem und physischem Repertoire benötigt als den konventionellen
verbalen Ausdruck.
Der Ausdruck to lipsynch bekräftigt, dass Lipsynchs Sprache viel mehr eine
Körpersprache ist, als ein Sprachkörper.
7.2.2
Wenn die Stimme einem fremden Körper geliehen wird
Genauso wichtig ist die differenzierte Wahrnehmung der Körperlichkeit des
Schauspielers und der Körperlichkeit seiner Figur. Denn sobald es um die körperliche
und stimmliche Beweglichkeit, Wandelbarkeit und Wiedererkennbarkeit einer Figur
geht, stellt sich die Frage nach der Gewichtung von Schauspieler und seiner Figur.
Beim Einstudieren der spezifischen stimmlichen Eigenheiten einer Figur ist es stets
eine Gratwanderung zwischen der eigenen und der fremden Stimme. Fest steht
allerdings, dass die Stimme des Schauspielers, bevor er sich überhaupt eine fremde
63
Stimme aneignen kann, genauso gefestigt und trainiert sein muss wie sein übriger
Körper. Die beiden Entitäten müssen sozusagen eine profunde Basis bieten.
„Der Körper ist [...] eine Spannung [tension]. Und die griechische Wurzel des
Wortes ist tonus, der Ton. Ein Körper ist ein Ton.“31
Jean-Luc Nancy beschreibt die beste Spannung, die eine körperliche Bewegung
haben kann, als statisch, da dieser Zustand jene genuine Dynamik und
Wandelbarkeit aufweist um einen durchlaufenden Fluss zu kreieren. 32 Dieser
Zustand impliziert unweigerlich ein Bei-sich-sein, das nicht nur für körperliche,
sondern genauso auch für sprachliche Aktionen unumgänglich ist. Wenn nun
Schauspieler ihre Stimmen anderen Charakteren leihen als sich selbst, einverleiben
sie sich sowohl deren individuelle Körperlichkeit, als auch deren Stimme. Nachdem
sich also der Schauspieler eine stimmliche Stabilität angeeignet hat, geht es darum,
die nötige Flexibilität und Durchlässigkeit für einen stimmlichen Wandel zu zeigen.
Bei der akustischen Verkörperung handelt es sich um eine Verkörperung der Stimme
im doppelten Sinne – nämlich zum Einen um die Verkörperung der eigenen
Persönlichkeit in der Stimme, und zum Anderen um die stimmliche Verkörperung der
darzustellenden Persönlichkeit.
Lipsynch verleiht diesem Prozess eine eigene Note, denn die Schauspieler schlüpfen
nicht im klassischen Sinne in eine Rolle, sondern erarbeiten eine Figur, ausgehend
von ihren eigenen persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen. Demzufolge ist eine
natürliche Authentizität der Stimme als Voraussetzung für eine Charakterbildung von
vorn herein gegeben. Was im weiteren Verlauf passiert, ist jedoch sehr wohl eine
schrittweise Anpassung der eigenen Persönlichkeit an die zu spielende, da der
Schauspieler schließlich nicht dasselbe Schicksal erlebt hat wie die zu verkörpernde
Figur. Doris Kolesch spricht in diesem Fall von einem „Charakter in der Erscheinung,
[einer] artikulierten Anwesenheit von jemandem“.33 Stimmlich gesehen bedeutet dies
eine intensive Arbeit an der Intonation des Schauspielers, welche die Figur neben
31
Jean-Luc Nancy (2003): Corpus. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm –
Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript
Verlag. S. 124
32
Vgl. Doris Kolesch. Ebd. S. 81
33
Doris Kolesch (2009): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische
Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S. 28
64
ihren visuellen Charakteristika für den Zuschauer noch viel klarer und spürbarer
macht. Der Schauspieler kann durch sprechtechnische Mittel nicht nur seiner Figur
deutlich hörbare emotionale Zustände einverleiben, sondern auch dem Zuschauer
automatisch die entsprechende Reaktion entlocken.
Robert Lepage gelingt es in seinem Epos über die menschliche Stimme, dass der
Zuhörer für alle neun Charaktere Empathie und Verständnis entwickeln kann, was
unter anderem auch daran liegt, dass die Figuren stimmlich bis ins letzte Detail
ausgearbeitet sind. Genauer gesagt zeigen die Charaktere von Lipsynch eine
unmissverständliche Klarheit in all ihren emotionalen Regungen, die sich akustisch
und visuell entsprechen. Anhand der Inszenierung des Hörbaren in Lepages
Lipsynch zeigt sich also, dass der Stimmkörper als eine Art Synthese zwischen
visueller und akustischer Körperlichkeit zu verstehen ist. Zumal mit Körperlichkeit am
Theater und in der bildenden Kunst primär ein visuelles Phänomen assoziiert wird,
gilt es hier zu betonen, dass die akustische Artikulation für die Verkörperung einer
Figur ebenso maßgeblich ist, wie die visuelle.
65
7.3
Das unsichtbare Band zwischen den Figuren
Die Leiblichkeit der Stimme ist nicht nur auf akustischer Ebene hörbar, sondern auch
auf materieller Ebene spürbar. Ein essentielles Kriterium, welches sich aus diesen
Eigenschaften der Stimme erschließt, ist ihr Potential zur sozialen Bindungskraft.
Diesem Aspekt soll sich nun das folgende Kapitel, mit Hilfe des narrativ schlüssig
ausgearbeiteten Figurennetzes von Lipsynch, widmen. Die Stimme schafft und
kreiert
Begegnungen
und
ist
somit
maßgeblich
für
das
Etablieren
zwischenmenschlicher Beziehungen in Lipsynch.
Robert Lepages Ensemble baut die neun Geschichten in Lipsynch nicht nur nach
den jeweiligen Figuren, die den Geschichten ihre Titel verleihen, sondern verknüpft
dieselben auch, indem jede Geschichte neben ihrem Protagonisten bereits eine oder
zwei weitere Figuren etabliert und diese in einem detailliert gezeichneten und für
spätere Handlungsstränge notwendigen Verhältnis inszeniert. Dieses Verhältnis wird
nicht primär durch den Gehalt des Gesagten, durch Worte evoziert, sondern durch
den individuellen Klang der Stimme, der an die Intention des Gesagten gebunden ist.
Durch die räumliche Ausbreitung der Stimme kann sie automatisch Anklang bei jenen
Figuren finden, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Abhängig von dem
Stimmklang und der Intonation des Sprechers richtet sich dessen Stimme
unweigerlich an einen oder mehrere Ansprechpartner.
Der Moment des Ansprechens einer Person, ob auf der Bühne oder im realen Leben,
ist ein Phänomen spezifischer sozialer Interaktion, und diese soll nun anhand eines
Überblicks auf das Figurennetz von Lipsynch untersucht werden.
7.3.1
Ada
Robert Lepage eröffnet das Epos mit dem Schicksal der berühmten Opernsängerin
Ada Weber, indem er sie vor dem noch ungeöffneten roten Vorhang stehend eine
Opernarie aus Gorèckis34 dritter Sinfonie zu Gehör bringen lässt.
34
Henryk Mikołaj Gorècki. Polnischer Komponist und Professor. 1933 – 2010.
66
Als dann die erste Szene zu sehen ist, befindet sich Ada als Passagierin auf einem
Flugzeug und erlebt dort, wie eine Mutter, Lupe, mit ihrem Baby in der Hand kurz vor
der Landung stirbt. Die zunächst unsichtbare Verbindung dieser beiden Frauen
etabliert dennoch sofort ein starkes matriarchales Bild, welches durch die ständige
verbale und melodische Präsenz von Adas Stimme betonend verstärkt wird.
Schließlich wird die Verbindung zwischen Ada und Lupe durch das Baby verständlich
gemacht, denn es wird nach diesem tragischen Vorfall Ada statt Lupe zur Mutter
haben. Am Ende dieser ersten Geschichte kreuzen sich vor dem Hintergrund des
Flugzeugkorpus die Wege der beiden Frauen ein zweites Mal. Doch diesmal ist das
von Ada adoptierte Baby Jeremy erwachsen und blickt aus einem der
Flugzeugfenster in der Bühnenmitte, während Ada seinen Blick im Diesseits und
Lupe im Jenseits durchqueren. Adas Erzählung schließt noch eine weitere wichtige
Person ein, Thomas, der neben seiner medizinischen Ausbildung zum Chirurgen sein
Geld als Telefonist bei Lufthansa verdient.
In einer Szene, die an den beiden Enden einer Telefonleitung spielt, etabliert Lepage
die nächste Figurenkonstellation. Ada, die nach dem Flug versucht Informationen
über das Waisenkind zu bekommen spricht zu guter Letzt mit Thomas, der sich als
großer Fan der Opernsängerin bekennt und sie kennenlernen möchte. In einer
Zugfahrtsszene im späteren Verlauf der Geschichte wird ein zufälliges Treffen von
Ada und Thomas in Anwesenheit des mittlerweile pubertierenden und revoltierenden
Jeremy inszeniert, was die zukünftige Beziehung dieser drei Figuren ankündigt.
7.3.2
Thomas
Die zweite Geschichte offenbart die Figur Thomas, den der Zuschauer nun in seiner
wahren Berufung als Gehirn-Chirurg erlebt. Dies zeigt Lepage einerseits mit Thomas
persönlichen Kampf zwischen Wissenschaft und der menschlichen Psyche und
andererseits mit Hilfe eines weiteren Charakters, der an dieser Stelle in das Stück
tritt. Die Sängerin Marie, eine Patientin von Thomas, muss erfahren, dass sie nach
einer Operation aufgrund eines Hirntumors ihre Sprechfähigkeit verlieren könnte. Als
Anknüpfung an diese im Stück vorherrschende Thematik der Sprach(un)Fähigkeit
baut Lepage am anderen Ende der Bühne ein Interview mit einer mittlerweile selbst
behinderten Sprachtherapeutin ein, welches als Nahaufnahme auf eine Leinwand
67
projiziert wird. Diese scheinbar beiläufige, jedoch markante und einprägende Figur
wird im Laufe des Stücks noch mehrmals erscheinen.
Nach einigen philosophisch–wissenschaftlich fundierten Krisen des Arztes und einer
gesanglichen Performance von Marie, zeigt die letzte Szene nicht nur den operativen
Eingriff, sondern auch den im Zuge der Operation zunehmenden Sprachverlust der
Jazz-Sängerin.
7.3.3
Marie
Mit dieser Figur fährt Lepage in seiner nächsten Erzählung auch gleich fort, indem er
sie wortlos mit einbandagiertem Kopf an einen Tisch setzt, an dem sie ihre eigene
Stimme, für das Publikum akustisch und visuell erfahrbar, auf vier nacheinander
aufgenommen Ebenen wortwörtlich zur Schau stellt.
Nachdem einige Umbauten Maries gesundheitliche Besserung und ihre Tätigkeit als
Synchronsprecherin skizzieren, lädt sie eine taube Lippenleserin ein, um sich aus
alten, stummen Familienvideos die Aussagen ihres Vaters übersetzen zu lassen. Der
Charakter der Lippenleserin spielt für die Figurenkonstellation im Allgemeinen zwar
keine Rolle, jedoch etabliert er einen wichtigen Aspekt verbaler Kommunikation mit
einer taubstummen Figur. Maries Geschichte birgt im Grunde genommen die größte
Anhäufung verschiedenster sprachlicher und stimmlicher Phänomene.
In einer weiteren Szene erlebt man die nach ihrer Operation so aktive Marie in ihrer
Funktion als Kirchenchorleiterin, als sie unerwarteten Besuch von ihrer etwas
zerstreuten Schwester Michelle bekommt.
7.3.4
Jeremy
Als nächste Figur betritt nicht wie erwartet Michelle die Bühne, sondern der
mittlerweile erwachsene Jeremy, der in Spanien auf der Suche nach den Wurzeln
seiner leiblichen Mutter ist.
Nachdem er eine Vision seiner singenden Mutter mit ihm als Baby im Arm erlebt,
erfolgt ein starker akustischer und visueller Schnitt in ein Restaurant in Los Angeles,
in dem Jeremy als Regisseur eine Filmcrew zur Vorbesprechung für seinen neuen
68
Film versammelt. In dieser Sequenz sind alle neun Schauspieler mit ihren Figuren
vertreten, um das Flair eines multikulturellen Sprachgewirrs zu etablieren. Im Zuge
mehrerer physischen und sprachlichen Kollisionen erfährt man, dass der Film die
Geschichte von Jeremies leiblicher Mutter erzählen soll.
Als ein Szenenwechsel die Schauspieler in ein chaotisches Filmset versetzt,
passieren die ersten Überschneidungen der einzelnen Figuren, die jedoch narrativ
detailliert durchdacht sind. Beispielsweise mimt die Darstellerin, die zu Beginn
Jeremies leibliche Mutter gespielt hat nun die Schauspielerin Maria Gonzales, die
tatsächlich seine Mutter im Film verkörpern soll. In diese Schauspielerin wird sich
Jeremy verlieben und ein Kind von ihr bekommen. Außerdem erlebt der Zuschauer
während der ersten zu drehenden Filmszene die Vorgeschichte zu einer bereits
gesehenen Szene in der Geschichte von Marie; denn die gedrehte Szene ist
dieselbe, die Marie in ihrer Geschichte synchronisiert hat, um der spanischenglischen Schauspielerin Maria Gonzales ihre französische Stimme zu leihen. Bei
einer Pressekonferenz für den Film spielt Lepage mit weiteren Parallelen zu den
bereits
gesehenen
Geschichten.
Seine
Schauspieler
treffen
also
in
unterschiedlichsten Konstellationen immer wieder aufeinander. Beispielsweise
interviewt Ada in der Pressekonferenz den Schauspieler Herrn Swoboda, der von
jenem
Schauspieler
gemimt
wird,
der
in
der
zweiten
Szene
ihr
Lebensabschnittspartner Thomas ist.
Eine etwas weniger offensichtliche Parallele zwischen den Geschichten „Thomas“
und „Jeremy“ bieten in dieser Sequenz der Regisseur Jeremy und der männliche
Hauptdarsteller in seinem Film, Herr Swoboda. Zwischen den beiden Männern spielt
sich nämlich ein ähnlicher Machtkampf (hier um Maria, die Hauptdarstellerin in
Jeremies Film) ab, wie man ihn zuvor zwischen Jeremy und seinem unerwünschten
Stiefvater Thomas erlebt hat. Dies führt zur Annahme, dass Jeremy in fast allen
Abschnitten des Stückes um eine Frauenfigur kämpfen muss, allen voran natürlich
um seine Mutter. Doch er bangt nicht nur um sie, sondern auch um seine
Adoptivmutter Ada und schlussendlich auch um seine Geliebte Maria Gonzales.
Selbstverständlich kommen auch Figuren vor, die keine tragenden Parts spielen und
dennoch eine wichtige Funktion für das Stück oder für national und sprachlich
geprägte Stereotype erfüllen, wie beispielsweise Maria Gonzales´ eifersüchtiger
italienischer Ehemann oder die schroffe britische Regieassistenz.
69
Nach einer rasanten Abfolge mehrerer geglückter und missglückter, komischer und
dramatischer Drehtage meldet sich Jeremy nach langer Zeit wieder bei seiner
Adoptivmutter Ada und erzählt ihr von seinem neuen Film über seine leibliche Mutter.
Das Telefonat endet jedoch tragisch, als er, im Glauben seine leibliche Mutter sei
eine Sängerin gewesen, von Ada erfährt, dass seine Mutter in Wirklichkeit als
Prostituierte arbeiten musste.
7.3.5
Sarah
Die nächste Geschichte führt den Zuschauer in scheinbar noch völlig unbekanntes
Terrain. Zunächst bewegt sich die Putzfrau Sarah in einer stummen Szene in der
Küche ihrer Arbeitgeberin dezent zu einem Lied, das aus dem Radio zu hören ist.
Doch als die Hausinhaberin im Rollstuhl in die Küche gefahren kommt erkennt sie
der Zuschauer als dieselbe behinderte Frau, die in Thomas´ Geschichte das
Interview über Sprachtherapie gegeben hat. Ohne Worte wird das sehr kühle und
unpersönliche Verhältnis zwischen den beiden etabliert, bis Sarah die Wohnung
verlässt. Einige Minuten später läutet die Hausglocke; und durch die sich plötzlich
zum Positiven veränderte Körperhaltung der alten Dame im Rollstuhl, wird wortlos
ein weiteres zwischenmenschliches Verhältnis etabliert. Der neue Besuch ist Ada,
deren warmes und inniges Verhältnis zur alten Dame Anfangs nicht verständlich
wird. Während Adas Anwesenheit auf der Bühne wird die Küche lautlos in ein
Nachrichtenstudio umgebaut, was impliziert, dass Ada die Sendung im Radio verfolgt
bis dann auch sie die Wohnung der Alten verlässt.
Die Nachrichtensendung, die für den Zuschauer live ausgestrahlt wird, handelt von
der sozialen und moralischen Benachteiligung weiblicher Prostituierter gegenüber
männlichen Eskorten in der Sexindustrie. Selbstverständlich nützt Lepage diese
Szene, um Sarahs Figur zu spezifizieren und man erfährt, dass sie in einem
Kinderheim vergewaltigt wurde und seitdem mit Prostitution ihr Geld verdient.
Nach Beendigung der Radiosendung wechselt der Sender während einer kurzen
Werbedurchsage rasant zum nächsten Beitrag, geführt durch einen Herrn namens
Toni Brix. Sarah, die das Studio noch nicht verlassen hat erkennt diesen als ihren
Bruder und beobachtet ihn später von draußen durch ein Fenster. Als er sie sieht
und von seiner Arbeit abgelenkt wird, entfernt man sie von der Radiostation.
70
Während Sarahs nächster Schicht in der Wohnung der alten Dame muss sie
erschrocken feststellen, dass diese in ihrem Rollstuhl verstorben ist. Dies führt
wiederum dazu, dass sich die Wege von Ada und Sarah kreuzen, als sie das weitere
Handhaben der Wohnung und Habseligkeiten der alten Dame besprechen. Dank
dieses
Gesprächs
erfährt
der
Zuschauer,
dass
die
alte
Dame
Adas
Sprachtherapeutin war, als diese in ihren jungen Jahren einen Sprachfehler hatte.
Diese Tatsache macht Sarah hellhörig; sie fragt Ada, ob man denn auch seine
Stimme und Sprache in einer Therapie verändern könne. Sie offenbart, diesen
Verdacht bei ihrem Bruder zu haben, der in der Radiosendung so anders klang und
hinterlässt ihm daraufhin eine Nachricht.
Der nächste Bühnenumbau führt den Zuschauer wieder in das Radiostudio, wo Toni
mit seiner tatsächlich neu angelernten und professionell geschulten Stimme ein
Hörspiel aufnimmt. Plötzlich erscheint Sarah im Studio und unterbricht Toni diesmal
hartnäckiger bei seiner Arbeit. Er trägt seinem Mitarbeiter auf, das Mikrophon
abzudrehen, und der Zuschauer erlebt das Gespräch zwischen Toni und Sarah
tonlos durch das Glas des Aufnahmeraums. Allein durch die dringliche, fordernde
Körpersprache von Sarah und die abwehrende, aggressive Erwiderung Tonis kann
der Zuschauer erahnen, warum Sarah weinend aus dem Raum läuft. Als Toni den
Besuch schnellst möglich abtun und sich wieder in seine Arbeit stürzen will, versagt
seine Stimme.
Ein neuer Raum etabliert ein Verhör, nachdem Sarah ihn des sexuellen Missbrauchs
und Inzests angeklagt hat. Erst an diesem Punkt der Geschichte erfährt man, was in
seiner und Sarahs Kindheit wirklich geschehen ist: Sarah wurde von ihrem Stiefvater
vergewaltigt und flüchtete daraufhin zu ihrem Bruder, den sie verstört zum
Geschlechtsverkehr überredete. Als der Stiefvater davon erfuhr, missbrauchte er
Toni ebenfalls mehrere Male, woraufhin dieser eines Tages nach London flüchtete,
seine Identität änderte und fünf Jahre lang einen Sprachtherapeuten aufsuchte, der
auch seine Sprache und Stimme verändern sollte. Während er völlig aufgebracht von
den Geschehnissen berichtet, fällt er immer weiter in seine alte, ursprüngliche
Stimme zurück.
71
7.3.6
Sebastian
Die darauffolgende kurze Sequenz fügt sich am wenigsten in den Geschichtsverlauf
ein
und
spielt
dennoch
eine
wichtige
Rolle.
Sebastian,
der
in
einem
Synchronisationsstudio arbeitet, wird plötzlich durch das Läuten seines Handys
unterbrochen und erhält die Nachricht, dass sein Vater gestorben ist. Im
Leichenschauhaus identifiziert er ihn und sucht anschließend seine Wohnung auf, wo
er von seinem kleinen, behinderten Bruder Simon überrascht wird, der sich in einem
Schrank versteckt hat. Aus seinem Leben gerissen versucht Sebastian nun eher
unwillig in Spanien seine Familienverhältnisse zu klären. Es folgt eine komische und
bizarre Szene nach der anderen, in der mit der Leiche und deren Vergangenheit
hantiert wird bis endlich die Trauerfeier stattfinden kann.
7.3.7
Jackson
Die Szene beginnt, als der schottische Detektiv Jackson in sein modernes Auto
einsteigt
und
alsbald
mit
der
französisch-sprachigen
Stimme
seines
Navigationssystems zu kämpfen hat.
Bei einem Telefonat auf dem Weg zu seiner Arbeit in New Scotland Yard erfährt
man, dass ihn seine Frau verlassen will, weswegen er vergeblich seine übrigen
Tanzstunden annullieren lassen möchte. In seinem Büro angekommen bestätigt er
einberufenen Zeugen eines tragischen Unfalls, dass ihr Kollege Toni Brix bei einem
möglichen Selbstmord auf einem Bahngleis ums Leben gekommen ist. Damit ist
Jacksons Bezug zum bisherigen Verlauf des Stücks hergestellt. Als ihm seine
griechische Sekretärin Kiriaki mitteilt, dass ein gewisser Sebastian beruflich eng mit
Toni gearbeitet haben soll, nimmt auch dieser Charakter im Figurengewirr seinen
Platz ein.
Jackson steigt also wieder in sein Auto und fährt in das Tonstudio von Sebastian, der
gerade von dem Begräbnis seines Vaters aus Spanien zurückgekehrt ist. Im
Gespräch erfährt Jackson, dass Toni nicht nur die Stimme von BBC, sondern
72
ironischerweise auch die Stimme der British Railways war, vor die er sich gestürzt
haben soll. Verwirrt über den Umstand, dass Toni gleichzeitig eine Zugankündigung
vorgenommen und sich im selben Moment vor das Gleis geworfen haben soll, bittet
Jackson Sebastian um Aufklärung. Nachdem Jackson einiges über den Beruf der
akustischen Berichterstattung erfahren hat, geht er ab. Gleich darauf vernimmt man
aus der verdunkelten Bühne Sarahs Nachricht auf Tonis Anrufbeantworter mit der
Bitte, er solle sich melden.
Als das Licht die Bühne erhellt, befinden wir uns wieder in Jacksons Büro, wo er
gemeinsam
mit
Ada
versucht,
Sarahs
Stimme
zu
identifizieren
und
zu
charakterisieren. Ada ist also scheinbar nicht nur künstlerisch sondern auch
psychologisch auf dem Gebiet der Sprache und Stimme bewandert.
Bisher sind also Jeremy und Ada als Einzige beinahe konstant in ihrer ursprünglichen
Figur geblieben und haben nur kurzfristig zusätzliche Charaktere gemimt.
Mittlerweile befindet sich Jackson zwecks forensischer Untersuchungen in Toni Brix´
Wohnung. Da ruft Sebastian in der Wohnung an, wissend, dass er Jackson dort
erreicht und teilt diesem mit, dass er nun wisse, wer die Frau im Tonstudio war. Er
beschreibt sie als Ex-Prostituierte, die zuvor in einem BBC Interview zu Gast war und
sendet jene Aufzeichnung zu Ada, die diese analysiert und mit Sarahs Nachricht auf
Tonis Anrufbeantworter vergleicht. Der Zuschauer sieht dabei Sarahs Stimme auf
zwei nebeneinander aufgestellten Leinwänden visuell aufgezeichnet. Sarah wird als
Tonis Schwester verifiziert, woraufhin Jackson nach Manchester fährt, wo auch das
Unglück passiert ist. Dort angekommen steigt aus einer Gruppe von Prostituierten
Sarah in sein Auto und schildert nach und nach, dass sie es war, die Toni
unabsichtlich zu weit von sich und somit vom Bahnsteig gestoßen hatte.
7.3.8
Michelle
Nun fährt Lepage mit Maries geistig kranker Schwester Michelle fort. Marie holt sie
nach einem Gespräch mit dem Arzt von der Klinik ab. Die nächsten zwei Szenen
zeigt Lepage aus zwei verschiedenen Perspektiven: Einmal aus dem Inneren eines
Ladens, und einmal von draußen.
Michelle besitzt einen Bücherladen und kann dort, abgesehen von ihren Kunden,
noch andere Menschen wahrnehmen, die scheinbar nur sie sehen kann. Ein Priester
73
und ein Mädchen verweilen eine Zeit lang in einer charakteristischen und repetitiven
Aktivität vor der Schaufensterscheibe und verschwinden dann wieder. Michelle ist
zwar neugierig, doch sobald ihr diese Geister zu nahe kommen, flüchtet sie vor
ihnen. Das nächste Bild ist Michelles Wohnung, ein dreieckiger Raum, in dem sie
ihre Schwester Marie mit ihrem neuen Geliebten Thomas besuchen kommt.
7.3.9
Lupe
Die Geschichte über Jeremies leibliche Mutter Lupe beginnt mit einer Szene in einem
Lokal, in dem Ada auf ihren Stiefsohn Jeremy wartet, der ihr sein Neugeborenes
vorstellen will. Sie zeigt ihm ein Bild seiner Mutter, woraufhin ein plötzlicher
Szenenwechsel in ein lateinamerikanisches Lokal folgt, in dem Lupe zu ihren
Lebzeiten als junges Mädchen gearbeitet hat. Das Bühnenbild wird in blass oranges
Licht getaucht und man hört kubanische Musik, während die damals erst
fünfzehnjährige Lupe von den Inhabern des Lokals unwissentlich an deutsche
Zuhälter vermittelt wird.
Beim darauffolgenden Kulissenwechsel werden die Klänge der Musik atonaler und
münden in einem in blaues Licht getauchten Arztzimmer, wo Lupe untersucht wird.
Während Lupe noch gut zugeredet wird, schlittert sie bereits in das Prostituierten
Milieu Hamburgs, wo sie gleich in der ersten Szene vergewaltigt und entjungfert wird.
Alsbald wird sie von ihren Zuhältern an ein Freudenhaus verkauft, bis sie eines
Tages durch Zufall bei einer Frau landet, die ihr helfen will. Dieselbe Frau sucht auch
Ada Jahre später auf, als sie mehr über Lupes Existenz erfahren will. Nach einigen
tragischen, selbsterklärenden Szenen über Lupes Missbrauch und Hilflosigkeit und
dem anschließenden tödlichen Autounfall ihrer Zuhälter, kehrt Stille ein und Ada, die
mittlerweile sehr viel über Lupes tragisches Leben weiß, singt eine Arie für sie.
Das Bühnenbild zeigt nun Lupe in der Mitte der Bühne vor einer weißen Leinwand,
zusammengekauert auf einem Sessel - Ada an ihrer rechten und Jeremy an ihrer
linken Seite. Dann wird die Leinwand nach oben gezogen und Lupe verlässt mit der
Frau, die sich ihrer angenommen hat, von hinten den Raum. Langsam geht sie auf
Ada zu und versinkt in ihren Armen, während Jeremy und ihre Retterin im
Hintergrund stehen und die berührende Szene beobachten. Schließlich überreicht
74
Ada Lupes Körper ihrem Adoptivsohn Jeremy, der somit endlich seine Mutter
gefunden hat.
Dieses Kapitel hat sich nun den narrativen und dramaturgischen Aspekten in den
Figurenkonstellationen von Lipsynch gewidmet, welche im folgenden Kapitel anhand
der stimmlich–sprachlichen Aspekte noch spezifischer beleuchtet werden sollen.
7.4
Die charakteristische Körperlichkeit einzelner Stimmen
Nachdem nun die Beziehungen zwischen den Figuren und die groben narrativen
Zusammenhänge untersucht wurden, sollen also im Folgenden die einzelnen Figuren
in Bezug auf ihre Stimmlichkeit und Sprachlichkeit untersucht werden.
Bei der Analyse der Figurenkonstellationen in Lepages Lipsynch taucht unweigerlich
die Frage auf, was denn zuerst Bestandteil der prozesshaften Probenarbeit war. Die
Geschichte oder die Figuren? Selbstverständlich kann man das Eine nicht vom
Anderen trennen, doch bei genauem Hinsehen scheint es, als würden zugunsten der
Geschichte immer mehr Charaktere dazu stoßen. Und weil bei Robert Lepage alle
Figuren dieselbe Wichtigkeit haben, es also keine Einteilung in Haupt- und
Nebendarsteller gibt, werden die für den Geschichtsverlauf kurzfristig neu dazu
gekommenen Figuren ebenso stilisiert wie die Figuren, die das Grundmodell der
Geschichte tragen. Jede einzelne Figur auf der Bühne des frankokanadischen
Theatermachers gewinnt an Wichtigkeit und Bedeutungskraft.
Aufgrund dessen ist es notwendig, die stimmlich–sprachliche Charakteristik jedes
einzelnen Schauspielers und der Figur, die er gerade mimt, genauer zu untersuchen.
Rebecca Blankenship spielt in erster Linie Ada, die das Stück mit einer Opernarie
eröffnet. Diese Eröffnung dient nicht nur als dramatischer Auftakt des Stückes,
sondern gleichzeitig als Etablierung der Figur. Adas Stimme ist kräftig und voll und
breitet sich mit einem sehr tiefen Klang in ihrem Resonanzkörper aus, bevor sie den
Raum erfüllt.
Lepage setzt es als interessantes Stilmittel ein, dass er Ada zuerst singen und erst
danach sprechen lässt, was den melodischen Klang und die warme Stimmfarbe ihres
Sprechorgans als wichtigeres Element vor die sprachliche Artikulation stellt. Dadurch,
dass der Zuschauer Ada zuerst singen und erst in der darauf folgenden zweiten
75
Szene sprechen hört, nimmt er deren Stimme von einem ganz anderen
Ausgangspunkt wahr. Denn er hört primär den bereits etablierten melodischen
Aspekt der Stimme, bevor er den artikulatorischen wahrnimmt.
Die Stimme steht mit ihrer charakteristischen Dominanz sowohl als eigenständiges
Element, als auch als Spiegelung ihrer Besitzerin auf der Bühne. Genauer gesagt
stimmt die Charakterisierung von Adas Stimmklang exakt mit der physischen und
psychischen Beschreibung ihrer Figur überein. Ada ist eine sehr große und eher
korpulente Frau, die gleichzeitig eine immense Ruhe und Friedfertigkeit ausstrahlt.
Von Anfang an wird sie als eine Art Urmutter und verbindende Instanz für Lipsynch
etabliert, was die folgenden Geschichten bestätigen. So wie Adas laute und
gleichzeitig sanfte Stimme ihre Zuhörer fast schützend in ihre Aura aufnimmt, so
handelt auch die Figur im Laufe der Erzählungen. Sie adoptiert Jeremy aus
Mitgefühl, recherchiert über das Leben seiner verstorbenen Mutter Lupe, die sie am
Ende des Stücks ebenfalls in ihre Arme schließt, und nimmt in gewisser Weise auch
den verzweifelten Thomas bei sich auf. Dieser Aspekt der alles umschließenden und
zusammenhaltenden Instanz spiegelt sich auch formal in den Hauptauftritten Adas,
die Lepage als markantes Zeichen an den Anfang und an das Ende des Stücks setzt.
Zwischen diesen beiden Auftritten erlebt man Ada als fürsorgliche und ambitionierte
Adoptivmutter, die Jeremy in seiner Musikalität und künstlerischen Entfaltung schulen
möchte und als liebevolle Partnerin von Thomas, der ihrer Persönlichkeit noch vor
ihrer Stimme verfallen ist. Rebecca Blankenship mimt im Zuge des Stückes auch
noch weitere Figuren, wie beispielsweise als Stimmendiagnostikerin in Sarahs
Geschichte, als Schülerin ihrer mittlerweile dementen Sprachtherapeutin, als
Journalistin in der Pressekonferenz von Jeremies Film oder als Regieassistenz
desselben. Davon können jene Figuren, die sich durch die enge Verbindung zu
Stimme und Sprache auszeichnen, mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls als Ada
wahrgenommen werden.
Fest steht, dass der Zuschauer bei Blankenships Anwesenheit auf der Bühne noch
vor der darzustellenden Figur ihre Stimme erkennt und sich somit automatisch die
Frage stellt, ob es sich gerade um Ada oder jemand anderen handelt. Doch Lepage
hat dieses Stilmittel in seinem Epos Lipsynch nicht ohne Grund eingesetzt;
schließlich dreht es sich stets um die Identifizierung der eigenen und fremden
Stimme. Aus diesem Grund gibt er in dieser Inszenierung auch keine Antwort auf
mögliche Unsicherheiten des Publikums in Bezug auf die verschiedenen Charaktere,
76
die die einzelnen Schauspieler darstellen. Diese sollen sich nämlich rein aus den
Figurenkonstellationen erschließen, worum sich auch dieses Kapitel dreht.
Die nächste Figur in der Chronologie des Stückes ist Thomas, gespielt vom einzigen
deutsch-sprachigen Schauspieler des Ensembles, Hans Piesbergen. Er hat seinen
ersten Auftritt in Adas Geschichte, in der er gleich mehrere Charaktere von
unterschiedlichen Telefonisten der Lufthansa Fluggesellschaft mimt. Nachdem er
sich als übertrieben freundlicher und aufmerksamer Franzose und als schwerfälliger
und etwas langsamer Deutscher durch die charakteristischen Dialekte und
Körperhaltungen der verschiedenen Nationen gespielt hat, hört man ihn schließlich
als den lockeren und freundlichen, akzentfrei englisch-sprechenden Österreicher
Thomas Bruckner.
Lepage stilisiert hier in den ersten paar Minuten von Piesbergens Auftritt eine
Anhäufung von sprachlich und gestisch völlig unterschiedlichen Individuen, bevor er
den sympathischen Thomas etabliert. Seine Stimme hat einen sehr hellen und
positiven Klang, der, sobald er seine Gesprächspartnerin als die Ada Weber erkennt,
sogar noch zuvorkommender wirkt. Bei diesem Telefonat treffen die beiden Stimmen
von Ada und Thomas zum ersten Mal aufeinander und harmonieren sofort. Nicht
umsonst betont Thomas, dass ihm Adas Stimme seit dem Konzert noch immer im
Kopf herum schwebt.
Das besondere an Thomas´ Stimme ist, dass sie im Gegensatz zu Adas Stimme
stark variiert, je nachdem mit wem Thomas gerade spricht. Genauer gesagt hat
Thomas Stimme in Lipsynch eine starke Tendenz, sich ihren Gesprächspartnern
anzupassen. Beispielsweise ist sie in Adas Anwesenheit immer sehr gedämpft und
warm, was die Rollenverteilung im Verhältnis zwischen den beiden authentisch
widerspiegelt. Denn von Anfang an ist Thomas eine Art Verehrer und Bewunderer
Adas, und das führt dazu, dass sie das Sagen hat, was sich auch in der Entwicklung
ihrer Beziehung kaum ändert. Dabei ist interessant zu beobachten, dass sich diese
Rollenverteilung völlig natürlich und ohne Widerstand einpendelt; dies ist zu einem
Großteil den stimmlichen Merkmalen der Beiden zuzurechnen. Denn Ada drängt sich
ihre Funktion als dominantere Figur keineswegs auf, sondern bringt diese
Bodenständigkeit und Selbstsicherheit einfach durch die Präsenz ihrer Stimme mit.
Und Thomas „unterwirft“ sich ihr ebenfalls völlig freiwillig, indem er seinen Ton von
dem Augenblick an zurücknimmt, als er Ada als die Künstlerin Ada Weber erkannt
hat, zurücknimmt, und in die Rolle des Fragenden schlüpft. Ada hingegen hat mit
77
ihrer klaren und standhaften Stimme stets die Antworten dazu parat. Aufgrund dieses
friedlichen und natürlichen zwischenmenschlichen Übereinkommens wirkt die
Beziehung zwischen Ada und Thomas sehr harmonisch, bis auf jene Momente, in
denen der Adoptivsohn Jeremy ihnen unwillig Gesellschaft leistet. Für das schroffe
und fast aggressive Verhältnis zwischen Thomas und Jeremy steht Thomas Tonfall,
der sich wesentlich verhärtet sobald er mit Jeremy spricht.
Hinzu kommt, dass
Thomas immer wieder zwischen den Sprachen Deutsch und Englisch wechselt.
Schon allein die Gegenüberstellung dieser beiden Sprachen spricht Bände, da das
Deutsche im Vergleich zum Englischen viel härtere und ungebundene Laute
impliziert.
Ada pflegt mit Jeremy Englisch zu sprechen, und so auch Thomas, der jedoch radikal
zu seiner Muttersprache Deutsch wechselt als er merkt, dass er bei Jeremy auf
Granit
stößt.
Beispielsweise
erfährt
der
Zuschauer
in
einer
Szene
am
Wohnzimmertisch plötzlich einen ungewohnt lauten Thomas, als dieser Jeremy in
deutscher Sprache zurechtweisen will. All diese Stimm- und Sprechcharakteristika
der Figur Thomas zeigt Lepage noch während Adas Geschichte. Was er
anschließend in Thomas eigentlicher Erzählung zeigt, ist dessen Wesen und
Sprache in seinem Beruf als Gehirnchirurg. Dabei eröffnet sich noch ein weiterer
stimmlicher Aspekt des Protagonisten, nämlich der professionell wissenschaftliche
und manchmal etwas gestresste Stimmklang. Thomas spricht mit großem Ernst und
Respekt über seine Arbeit; gleichzeitig merkt man, dass es ihm schwer fällt, seine
Patienten über ihr oft tragisches Schicksal zu informieren. Dies zeigt Lepage in der
Szene mit der Sängerin Marie, die von Thomas erfahren muss, dass sie nach einer
notwendigen Operation ihre Sprache verlieren wird. Zunächst erklärt ihr Thomas auf
Englisch und relativ trocken den medizinischen Sachverhalt, bis seine Stimme auf
Maries emotionale Reaktion hin immer leiser und gebrochener wird. Als sie sein Büro
verlässt und Thomas allein zurückbleibt wechselt er wieder zu seiner Muttersprache,
die als trauriges Flüstern kaum mehr verständlich ist. Als er dann auch noch einen
wichtigen Freund und Mentor in seinem Leben verliert, und sich vor Ada immer mehr
verschließt wird hörbar, wie die Figur Thomas immer mehr verstummt. Die Wärme
und Herzlichkeit in seiner Stimme verschwinden und werden durch einen sehr
gedämpften und bedrückten Stimmklang ersetzt. Durch diese akustisch abfallende
Kurve, die Thomas Stimme im Zuge seines Kapitels durchläuft, wird deutlich
78
gemacht, wie er gegen Ende seiner Geschichte immer mehr der psychischen
Belastung seiner Arbeit, sowie dem Unausgefülltsein in seinem Privatleben verfällt.
Wie es bei den ersten beiden Geschichten bereits der Fall war, überschneidet sich
auch Maries Geschichte mit der von Thomas. Dort erlebt sie der Zuschauer als noch
aktive Jazz-Sängerin, die ihren letzten Auftritt hat.
Marie leidet an einem Hirntumor und verliert nach einer Operation ihre Fähigkeit zu
sprechen. Verzweifelt darüber, dass sie ihrem Beruf und ihrer Leidenschaft – dem
Singen – nicht mehr wie gewohnt nachgehen kann, zeichnet Marie ihre Stimme auf,
was für den Zuschauer durch die bildliche Projektion eines Spektogramms auf einer
Leinwand visuell verdeutlicht wird.
In dieser Szene betont Robert Lepage das Potential der Körperlichkeit einer Sprache
ohne Worte anhand der Präsenz des Akustischen und des Visuellen. Ohne die
hörbare Stimme der Protagonistin würde das Bild keinen narrativen Sinn ergeben,
und
umgekehrt
würde
die
akustische
Aufzeichnung
ohne
das
sichtbare
Spektogramm ebenfalls keinen Sinn ergeben. Das Spektogramm zeichnet die
Frequenz und die Zeitspanne von Maries stimmlichen Äußerungen auf. Dabei ist eine
akustisch höhere Energie visuell durch eine stärkere Schwärzung auf der
Frequenzachse erkennbar. Die sichtbaren schwarzen Linien unterstützen die hörbare
Intonation der Stimme, und umgekehrt.
Der Zuschauer erlebt also eine narrativ–ästhetische Korrespondenz zwischen Bild
und Klang. In der akustischen Intonation ist die Anstrengung und Leidenschaft der
Patientin wahrnehmbar, womit sie nicht nur die Aufmerksamkeit des Ohrs erreicht,
sondern auch die der Seele. Interessant dabei ist, dass Lipsynch in diesem Abschnitt
der Geschichte keine klassisch schöne Stimme im eigentlichen Sinne präsentiert,
sondern eine raue und mitgenommene Singstimme einer Jazzsängerin. Diese
Eigenschaften, die eine Stimme als rau oder mitgenommen bezeichnen, fallen in den
Bereich
der
Stimmqualität
personenspezifischen
und
Abweichung
haben
von
-
neben
derselben
der
-
Tonhöhe
das
und
der
Privileg,
die
ausschlaggebendste Charakteristik eines stimmlichen Individuums offenzulegen. In
Maries Fall vernimmt der Zuschauer eine Mischung aus sehr hohen Klängen und
dumpfen Geräuschen, die sich aus abgehackten, gekeuchten oder gepressten
Tönen ergeben.
79
Diese spezielle Artikulation der Stimme wird zusätzlich durch die hörbare Präsenz
der Atmung stark unterstützt, und lässt damit tiefer in das Innere der Figur „blicken“
als es die perfekte Stimme einer Virtuosin zulassen würde.
Interessant ist auch, dass Maries brüchige und teilweise krächzende Stimme
keineswegs an melodischer Qualität einbüßt, wie man es vielleicht von einer
Opernstimme erwarten würde. Das Beispiel macht also klar, welch große Rolle das
Gehörte für das Spürbarwerden der Körperlichkeit einer Figur spielt. Die emotionale
Anteilnahme steigt zwar, je näher man am Geschehen sitzt und die mimischen und
gestischen Gebärden der Figur auch visuell miterlebt, doch das Sprechen und
Singen der Figuren ist derart plastisch erfahrbar und fern von jeglicher Monotonie,
dass die Intensität der Stimmen sogar die letzten Reihen emotional involviert. Dabei
wirkt Maries Stimme angeschlagen und heiser, was jedoch genauso gut ihre
persönliche Interpretation des Songs sein könnte. Wahrscheinlich treffen beide
Vermutungen zu, da Marie von Natur aus und/oder durch ihren Beruf bedingt eine
sehr raue und heisere Stimme hat. Jedenfalls drückt dieser Song ihren inneren
Gefühlszustand aus, indem sie ihre Stimme verausgabt und immer wieder in ein
inszeniertes Schluchzen, Schreien und Weinen ausbricht. Marie wechselt dabei in
verschiedene Tonlagen, wobei die hohen Töne für den Zuschauer schon fast
unangenehm sind und ein Einfühlen in die entmutigende Situation der Patientin
vereinfachen. Doch gerade diese geballte Kraft in, und der gewollte Druck auf ihrer
Stimme spiegelt Maries Charakter. Sie ist mit ihrem persönlichen Schicksal wohl die
Figur, die die größte innere Überwindung durchleben muss, um sich weiterhin durch
das Leben zu kämpfen.
Während Thomas´ Stimme in der letzten Szene bei Maries Operation noch sehr
präsent wahrgenommen wird, erlischt Maries Stimme langsam. Das bedeutet, dass
Maries Kapitel erst nach der Operation und somit bei der Thematisierung ihres
Sprachverlustes einsetzt. Die Protagonistin nimmt also ihre wortlose Stimme auf
mehreren Ebenen auf, die dem Zuschauer jeweils unterschiedliche Gemütszustände
und Befindlichkeiten vermitteln.
Hört man sich die Sequenz an, ohne dabei das Bild von Marie und der visuellen
Aufzeichnung ihrer Töne vor sich zu haben, so spiegelt die erste Tonspur
Schwerfälligkeit und Ermüdung der Stimme. Dieser Effekt wird dadurch erzielt, dass
Marie die Atmung stark in ihre Interpretation integriert. Sie beginnt mit einem hohen
Ton, wandert etappenweise nach unten, und versucht sich dann immer wieder die
80
Tonleiter hinaufzurappeln. Marie kombiniert für sich stehende Töne mit Tongruppen
derselben Tonart, wobei sie die einzelnen von den aneinandergereihten Klängen
stets durch ein bewusstes Einatmen trennt. Dieses Einatmen kann als ein fast
lebensnotwendiges Luftschnappen verstanden werden, welches je nach Anzahl der
aufeinanderfolgenden Töne in seiner Intention und Dringlichkeit variiert.
Die zweite Tonspur wird direkt von der ersten bereits aufgenommenen begleitet, was
sie etwas schwerer differenzierbar macht. Fest steht, dass diese nun in einer
höheren Stimmlage ist und bereits kleine Melodien formt, während die Erste sich
primär auf die einzelnen Töne und das Geräusch des Atems festlegt. Doch auch
diese Aufnahme setzt mit nur drei aufeinanderfolgenden Tönen ein, die zu immer
größeren Tonreihen geformt werden bis auch diese in einem langen Finalton enden.
Auch visuell ist die massivere Anhäufung und raschere Aneinanderreihung der Töne
sichtbar, da die einzelnen Sensoren kaum mehr getrennt voneinander wahrnehmbar
sind.
Betrachtet man nun die visuelle Aufzeichnung ohne akustische Unterstützung, so
erkennt man eine Art Tonsensor, der anfangs klar voneinander getrennte Töne zeigt,
die zur Mitte hin immer dichter werden. Im Mittelteil flacht die Quantität der Töne
wieder etwas ab, bevor sie im letzten Drittel wieder steigt und in einem langen,
finalen Ton endet. Auffallend bei der Kombination der beiden Tonspuren ist, dass
das Luftschnappen der ersten Aufnahme durch das Hinzufügen der zweiten fast
noch extremer zu hören ist. Außerdem fällt auf, dass die zweite Variante der
Stimmwiedergabe fast konträr zur ersten steht. Genauer gesagt verdeutlicht letztere
ein Nachvornedrängen und Flüchten aus der Situation, während erstere einen
bremsenden Charakter hat.
Die beiden Tonspuren stehen also in einem Dialog miteinander, der den inneren
Kampf der Protagonistin zwischen Selbstaufgabe und Wiederbelebung stilisiert.
Damit macht dieser Aspekt die Bedeutung und Wichtigkeit der Aufnahme deutlich, da
Marie erst durch sie langsam wieder zum Sinn ihres Lebens und ihrer gesanglichen
Karriere findet.
Nun folgt die dritte Tonspur, die abermals mit den bereits aufgenommenen
kombiniert wird. Diese schließt sich in Tonhöhe, Melodiebildung und Tempo der
Zweiten an und bestärkt diese somit. Die Geschwindigkeit nimmt sogar zu, was
visuell daran erkennbar ist, dass die vielen Töne innerhalb der Balken auf dem
Tonsensor kaum mehr differenzierbar sind.
81
Auf inhaltlicher Ebene lässt sich diese Tatsache auf eine zunehmende Hektik
zurückführen, der Marie aufgrund ihrer wachsenden Motivation Stimme verleiht. Es
wirkt sogar so, als würde sie auf die vierte und letzte Aufnahme hindrängen, die nun
tatsächlich einen finalen Charakter hat. Die vierte Tonspur ist nämlich bei weitem in
der höchsten Tonlage und erinnert mit ihrer ausgeprägten melodischen Linie schon
fast an eine Opernarie. Visuell zeichnet sie sich dadurch aus, dass sich der Abstand
zwischen den Tonbalken nach anfänglichen Lücken immer mehr verringert und im
Gegensatz zu den ersten drei breit ausgehaltenen Finali als ausdünnender Faden
ausläuft.
Anhand dieser Szene wird das Phänomen der stimmlichen Verkörperung erklärt, da
der Zuschauer nicht nur Maries Stimme erkennt, sondern sie gleichzeitig mit ihrer
Person verbindet. Doch auch der gegenteilige Aspekt wird in Maries Geschichte
thematisiert, nämlich der der Entkörperlichung der Stimme. Der Begriff wird in diesem
Fall auf zweierlei Weise inszeniert; einmal als Stimme, der kein physischer Körper
mehr zugeordnet werden kann, und ein anderes Mal als Körper, dem keine
spezifische Stimme mehr eigen ist. Doch mit letzerem ist nicht gemeint, dass der
Körper schweigt, sondern nur, dass das Gesagte nicht mehr hörbar ist. Es folgt nun
eine Analyse beider Phänomene:
Nach Maries Genesung lernt der Zuschauer im Synchronisationsstudio eine weitere
von Maries vielen Stimmen kennen, die sie im Zuge ihrer beruflichen Laufbahn
einstudiert hat, um sie anderssprachigen Schauspielern zu leihen. Anhand von
dieser Szene zeigt Lepage eine andere Art von Sprachlosigkeit. Die Körper der
Figuren auf der Leinwand, denen Marie ihre Stimme leiht, machen sich bis zu diesem
Punkt nur durch ihre visuelle Präsenz verständlich. Durch die Präsenz der Körper
und die gleichzeitige Absenz der Sprache entsteht eine enorme Dringlichkeit und
Expressivität in den Bewegungen der Figuren. Doch der Zuschauer weiß, dass die
verstummten Körper auf der Leinwand schlussendlich mit einem synchronisierten
fremden Sprachkörper bereichert werden. Es geht also in diesem Falle nicht um jene
Sprachlosigkeit, die Marie nach ihrer Operation erleben musste, sondern vor allem
um das bewusste Ausblenden der eigenen Stimme zugunsten einer anderen. In die
andere Richtung gedacht bedeutet dies das Verschenken der eigenen Stimme an
einen fremden Körper.
Erst als sich Marie in ihrer Wohnung befindet und dort eine taube Lippenleserin
einlädt, um stumme Familienvideos analysieren zu lassen, erlebt der Zuschauer
82
erstmals ihre persönliche Stimme. Diese ist tatsächlich um einiges melodischer und
klarer als man es nach ihrer gesanglichen Verausgabung angenommen hätte. Nur
wenn sie aus Elan, Trauer oder Wut lauter wird, erlangt ihre Stimme kurzfristig
wieder ihren gedrückten, rauen Klang.
Unter dem sprachlichen Aspekt ist die Szene sehr amüsant, weil Marie sich
sinnloserweise die Seele aus dem Leib schreit und die Lippenleserin nicht drauf
reagiert, da sie die Sprache schließlich nur auf visueller Ebene wahrnehmen kann; im
Gegensatz zu Marie, die ihren Vater auf den stummen Bildern hoffnungslos zu
verstehen versucht. Voller Elan zeigt sie der Frau den Stummfilm, doch die
Lippenleserin kann entweder die Lippen von Maries Vater nicht sehen, oder sie
sprechen nur Belangloses. Lepage inszenierte hier also einen Körper, dessen
Stimme nicht mehr hörbar ist. Enttäuscht engagiert Marie einen männlichen
Synchronsprecher, der ihrem Vater eine authentische Stimme und bedeutende Worte
einhauchen soll. Doch auch dieser Versuch missglückt, da Marie eine derart präzise
(Wunsch) Vorstellung ihres Vaters hat, dass ihr keine der Stimmen charakteristisch
genug ist. Wieder ein Zeichen dafür, dass nicht nur die Stimme auf das Äußere eines
Menschen schließen lässt, sondern auch das Auftreten, die Körperhaltung und Präsenz auf den Stimmklang. Kurz bevor Marie die Hoffnung aufgibt, die Stimme
ihres Vaters wieder zu hören, wird ihr empfohlen, es doch selbst einmal zu
versuchen. Zunächst ungläubig stellt sich Marie also vor das Mikrophon - und
plötzlich dringt die Stimme ihres Vaters aus ihr. Der letzte Satz, gesprochen von ihrer
Schwester, erklärt, dass sie als Tochter die Stimme ihres Vaters die ganze Zeit in
sich getragen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Man kann also sagen, dass
das Phänomen der entkörperlichten Stimme in diesem Beispiel insofern auftaucht,
als dass Maries Stimme plötzlich nicht mehr mit ihrem eigenen Körper assoziiert
wird, sondern mit dem ihres Vaters.
Der ausschlaggebende Grund dafür, dass Maries Sequenz nicht übertitelt wird, ist,
dass Lepage in diesem Abschnitt das Nichtverstehen des menschlichen Sprechens
thematisiert. Sei es aufgrund der eigenen Unfähigkeit zu sprechen,
des
Unverständnisses einer fremden Sprache, des Fehlens von Klang oder aufgrund der
unzugänglichen Fremdartigkeit in der eigenen Stimme. Infolge dessen zeigt Lepage
jedoch, dass eine Fremdsprache oder eine verstummte Sprache auch ohne
grammatikalisches oder verbales Verständnis erschlossen werden kann.
83
Jeremy bildet die nächste essentielle Figur in der Handlung von Lipsynch. Jeremies
englischer Akzent, als er versucht, sich mit einem Spanier über die Wurzeln seiner
Mutter zu verständigen, fällt dem Publikum als erstes auf. Nachdem er
verschiedenen Berufungen nachgegangen ist, versucht er sich nun als Regisseur
und möchte die Geschichte seiner leiblichen Mutter verfilmen.
Es folgt eine Restaurantszene, die das Treffen der Filmcrew zeigt. Lepage lässt auch
dieses Ereignis ohne Übertitelung passieren, da für den Zuschauer unübersehbar
und unüberhörbar alle im Stück vertretenen Nationen mit verschiedenen Akzenten
aufeinander prallen. Es geht Lepage in dieser Szene vielmehr darum, ein
multikulturelles Sprachgewirr zu inszenieren, als Inhalt zu vermitteln. Genauer gesagt
ist das multikulturelle Sprachgewirr der Inhalt. Der Regisseur Jeremy wechselt wie
gewohnt zwischen akzentfreiem Deutsch und Englisch und lenkt die Aufmerksamkeit
der Anwesenden primär durch seine prägnante und starke, aber doch beruhigende
Stimmfarbe auf sich. Dabei ist jedoch anzumerken, dass sich der Tonfall seiner
deutschen Stimme von dem seiner englischen unterscheidet. Jeremies Deutsch ist
weitaus härter als sein Englisch, was vermutlich mit der Bedeutung der deutschen
Sprache in seiner Kindheit zusammenhängt. Auch Spanisch beherrscht Jeremy im
weiteren Verlauf seiner Geschichte immer besser, auch wenn dies wahrscheinlich
auf seine attraktive spanische Hauptdarstellerin im Film zurückzuführen ist.
Da das Bühnengeschehen nun von einem Filmset zum nächsten wechselt, ist Chaos
vorprogrammiert, weshalb man Jeremies Stimme kaum mehr zu hören bekommt. Die
einzigen Momente, in denen sie aus dem restlichen Stimmen- und Geräuschgewirr
hervordringt, sind seine kurz angebundenen und präzisen Anordnungen, den Ablauf
der Dreharbeiten betreffend.
Doch Lepage zeigt Jeremy in seiner Geschichte auch in einer anderen stimmlichen
Verfassung, was auf die Beziehung zu den beiden Müttern in seinem Leben
zurückzuführen ist. Seine Stimmfarbe ändert sich nämlich immer dann, wenn er mit
einer weiblichen Person spricht, die ihm nahe steht, wie beispielsweise die spanische
Protagonistin Maria, die ihm sichtlich gefällt. In einem gemeinsamen Gespräch
wandelt sich seine Stimme von der gewohnten Bestimmtheit und Klarheit zum leisen,
verschwommenen Hauch eines Flüsterns. Plötzlich verkörpert Jeremies Stimme
keinen selbstsicheren, autonomen und erfolgreichen Mann mehr, sondern einen
unsicheren, besorgten und fürsorglichen Jungen. Warum Jeremy in dieser Sequenz
mit Maria tatsächlich jungenhaft wirkt, kann dadurch erklärt werden, dass er sich
84
gegenüber dem weiblichen Geschlecht, durch den Verlust seiner leiblichen Mutter,
stets schwach und voller Hoffnung fühlt. Zwar hat er Ada, die ihn in jungen Jahren
adoptierte und ihm eine liebevolle Mutter war; doch seine Stimm- und
Sprachentwicklung zeigt, dass Adas europäische und erfolgsorientierte Erziehung
nicht seinem lateinamerikanischen Gemüt entsprach. Obwohl sich Jeremy von der
Opernsängerin Ada als stimmliches Vorbild später abgewandt hat, prägte und formte
sie seine Stimme.
Und eben diese gewonnene Sicherheit in seiner Stimmfarbe
verliert Jeremy, als er nun mit einem fremden weiblichen Wesen in Kontakt kommt.
Den Tränen nahe erzählt er Maria von seiner leiblichen Mutter, denn schließlich soll
sie diese auch in seinem Film verkörpern. Als Jeremy am Ende seiner Geschichte
seine Adoptivmutter Ada nach langer Zeit wieder anruft, begibt er sich in denselben
unsicheren und schuldbewussten Tonfall, der sich von seinem sonst so bestimmten
und professionellen Tonfall stark unterscheidet.
Als Jeremy Maria ein Jahr nach Beendigung des Films aufsucht, scheint es, als
würde er selbst eine Erklärung für seine Gemütswechsel und somit auch seine
stimmliche Veränderung liefern. Er gibt nämlich zu, dass ihn das Gefühl von etwas
oder jemandem beraubt zu werden, automatisch verändere. Und die Stimme seiner
leiblichen Mutter, die er nur als Kleinkind wahrnehmen und seitdem nie mehr hören
konnte, ist die verantwortliche Instanz für diese Veränderung seiner Stimme und
seines Auftretens.
Sarah etabliert sich zu Beginn der ersten Szene in ihrer Geschichte, die ganz im
Stummen stattfinden wird, rein über ihre Körperlichkeit. Doris Kolesch bezeichnet
Schweigen nicht als Gegenteil von Stimme, sondern als Gegenteil des Redens35,
was für die Inszenierung von Lepages Lipsynch ein äußerst wichtiger Hinweis ist.
Denn die erste Szene in Sarahs Geschichte erzählt sich quasi nur über dieses
Ausdruckmittel des Schweigens. Sie steht zu Radiomusik wippend in einer Küche
und betreut eine alte, im Rollstuhl sitzende Frau. Sarahs Körperhaltung skizziert eine
etwas unsichere und in Gedanken versunkene Frau, die durch ihr unbeholfenes und
etwas zappeliges Wippen mit einer Zigarette in der Hand ein wenig unglücklich wirkt.
Das Bild, welches der Zuschauer von dieser Figur bekommt, entsteht eben über
diese spezifische Stimmlichkeit, in der nicht gesprochen wird.
35
Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag. S. 238
85
Das Schweigen muss nicht zwingend mit einer bestimmten Bühnenfigur assoziiert
werden, sondern kann genauso gut als eigenständiges Gestaltungsmittel die Bühne
füllen und für eine ganze Gruppe von Menschen stehen. In dieser Szene aus Sarahs
Geschichte steht das Schweigen für zwei Personen im Raum; zum einen für Sarah
selbst, die die lautliche Leerstelle durch ihre Körpersprache ausfüllt, und zum
anderen für ihre geh- und sprechbehinderte Patientin, die nicht nur nicht sprechen
kann, sondern sich auch weigert mit Sarah in körpersprachlichen Kontakt zu treten.
„Kollektives Schweigen erzeugt eine Atmosphäre, für die das Zugleich einer
Absenz von Stimmen und der Präsenz von <Etwas> konstitutiv ist.“36
Dieses <Etwas> ist in diesem spezifischen Fall ein sich ausbreitendes negatives
Gefühl von Schwere und bedrückender Stimmung, da sich die beiden Figuren auf
der Bühne nicht nur nichts zu sagen haben, sondern jede einzelne für sich durch ihre
Körperlichkeit ihr persönliches Leid vermittelt. Interessant dabei ist, dass die
Unausweichlichkeit und Intensität dieses Schweigens dabei nicht geringer sind als
die des gehörten Stimmklangs; dies bestärkt das Argument, dass Schweigen
keineswegs die Abwesenheit der Stimme bedeutet.
Umso abrupter passiert der Wechsel in die nächste Szene, welche die Protagonistin
dieser Geschichte in einem Setting zeigt, in dem nun die akustische Komponente
wesentlich wichtiger ist als die visuelle. Das Setting ist nämlich ein Radiostudio, in
dem Sarah in ihrer Identität als Prostituierte als Gast geladen ist. Als sie der
Zuschauer nun zum ersten Mal sprechen hört, klingt ihre Stimme sicherer und
bestimmter als er es in der Küchenszene angenommen hätte. Dies liegt wohl daran,
dass sie über ein ihr vertrautes Metier spricht. Doch Sarahs Stimmfarbe wirkt durch
das nasale Formen der langgezogenen Laute ihres britischen Akzents teilweise
gedrückt und verstellt. Wenn sie also über positive Aspekte in ihrem Beruf spricht,
fällt es schwer ihr zu glauben. Außerdem ist es in dem Interview auffallend, dass
Sarahs Worte oft in einem rauen und heiseren Endton absterben.
Sie wirkt weder glücklich noch stolz in ihrer Tätigkeit als Prostituierte, vermittelt
jedoch den Eindruck, als hätte sie sich mit dem Gedanken abgefunden, es aus
finanziellen Gründen tun zu müssen.
36
Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag. S. 257
86
Zusammenfassend spiegelt sich Sarahs Unentschlossenheit zwischen Initiative und
Aufopferung im Leben sowohl in ihrer Stimm- und Sprechcharakteristik, als auch in
ihrer Körperhaltung und ihren hektischen und unbeholfenen Bewegungen. Doch ihre
Intonation ändert sich, als sie mit Ada über die verstorbene Dame spricht, die sie
betreut hat. Plötzlich stellt sie unheimlich viele Fragen und ihre Stimme bekommt
einen sehr hohen, ja fast penetranten Klang. Dies erklärt sich von selbst, wenn man
bedenkt, dass sie mit dem Tod ihrer Klientin ein neues finanzielles Standbein finden
muss. Doch ihr Stimmklang ist keineswegs traurig, sondern im Gegenteil noch
bestimmter, als wolle sie sich in ihrer jetzigen Situation verstärkt behaupten. Umso
entschlossener wird Sarahs Ton, als sie im Nachrichtenstudio ihren Bruder erkennt
und ihm eine Nachricht hinterlässt.
Dieser Bruder, der seinen Namen auf Toni Brix geändert hat, spielt in der
Stimmanalyse von Sarah eine wichtige Rolle. Denn im Laufe der Geschichte erfährt
man, dass Toni nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Stimme ändern ließ,
um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seine neue Identität definiert sich also
primär über eine professionell geschulte Radiostimme, über die er bis zu Sarahs
Auftritt auch die volle Kontrolle hat. Denn Sarah erkennt ihn trotz seiner veränderten
Stimme und bringt ihn mit ihrer Anwesenheit wortwörtlich aus der Fassung. Während
Sarah fest entschlossen ist, Toni zur Rede zu stellen, bemerkt man in seiner Stimme
eine zunehmende Unsicherheit. Er stottert und räuspert sich und versucht verkrampft
seine angelernte Stimme wiederzufinden.
Die stimmlichen Veränderungen von Sarah und Toni sprechen auf der narrativen
Ebene für die Labilität der Figuren, die beide auf ihre Art und Weise der
Vergangenheit entfliehen wollten. Doch anders als Toni ist Sarah nun fest
entschlossen, ihre Vergangenheit einzuholen. Als Sarah ihn diesbezüglich im Studio
aufsucht, ist das Gespräch zwischen Sarah und Toni in einer Tonkabine ohne
Mikrophonanschluss zwar nur visuell wahrnehmbar, doch Sarahs unterwürfige
Körperhaltung zeigt, dass sie von Toni in ihrem Vorhaben zurückgeworfen wird. Der
Zuschauer erlebt in dieser Szene einen stummen Kampf zweier Stimmen, die eine,
die die Vergangenheit rächen und die andere, die sie leugnen will. In der letzten
Szene versagen jedoch beide Stimmen – Sarah verdeutlicht ein letztes Mal in lauten
und abgehackten Sätzen die Wut über ihren Bruder, bis ihre Stimme in leiser
Verzweiflung verstummt und Toni wird in seiner Verzweiflung so laut, dass seine
utopische Stimme versagt.
87
Obwohl Toni kein eigenes Kapitel gewidmet ist, soll hier auf einen besonderen
akustischen Aspekt seiner persönlichen Geschichte eingegangen werden. Nämlich
auf die durch die Stimme geprägte Kunstform des Hörspiels. Dabei begegnen
Sprache und Stimme dem Zuhörer entweder als autonome Rede oder als
Figurenrede. Im Falle von Toni ist es schwierig zwischen den beiden Varianten eine
Grenze zu ziehen, denn die Figur, die der Zuhörer wahrnimmt ist nicht Toni selbst,
sondern eine manipulierte Version seiner selbst. Insofern könnte man behaupten,
dass seine Stimme in gewisser Weise getrennt von seinem Körper wahrnehmbar ist.
Denn was Toni möchte, und was ihm auch gelingt ist, dass der Zuschauer aufgrund
der gehörten Stimme ein anderes Bild seines Körpers oder gar seiner Persönlichkeit
gewinnt. Sobald er alleine auf der Bühne ist, erlebt der Zuhörer Toni meistens in
einem Tonstudio, was eine Einweg-Kommunikation, eine eindimensionale Erzeugung
und Ausstrahlung akustischer Phänomene bedeutet. Dabei spielt die im Kapitel des
Rezipienten diskutierte Sonosphäre eine wichtige Rolle; mit dem einzigen
Unterschied, dass die Stimme des Sprechers aus einem elektronischen Medium zum
Zuhörer gelangt. Robert Lepage inszeniert diesen Umstand mit der Verwendung
eines Mikrofons hinter einer Glaswand und schafft somit wiederum eine völlig neue
Atmosphäre.
Trotz dieser Tatsache bleibt das Wort „der unmittelbarste, primärste Ausdruck
in der Bewusstseinssphäre. [Das Wort bildet] die Brücke zwischen dem rein
geistigen und dem Materiellen, zwischen dem Erkenntnissubjekt Ich und der
dieses umgebenden Welt.“37
Übersetzt in Tonis Geschichte bedeutet dies eine klare Entscheidung, das eigene
Wort als Vermittler zwischen Ich und der Welt zu verfälschen, um damit ein akustisch
manipuliertes Bild des eigenen Selbst zu vermitteln. Genauer gesagt versteckt sich
Toni hinter seiner jahrelang einstudierten Radiostimme, die keine Ähnlichkeit mehr
mit seinem individuellen Stimmklang hat.
Das ursprüngliche seelische Wesen38 erschließt sich in Tonis Fall hauptsächlich
aufgrund seiner zusätzlichen visuellen Anwesenheit auf der Bühne. Denn würde der
Zuhörer nur seine verstellte Stimme hören, könnte sich ihm Tonis komplexe
37
Richard Kolb (2009): Das Horoskop des Hörspiels. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl
(Hrsg.): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld.
Transcript Verlag. S. 94
38
Vgl. Richard Kolb. Ebd. In: Doris Kolesch. Ebd. S. 117
88
Persönlichkeit nicht authentisch erschließen. Dies ist jedoch nur die Perspektive des
Zuschauers von Lipsynch. Denn was das Stück eigentlich erzählt, ist, dass Toni als
Radiosprecher von seinen Hörern tatsächlich nicht gesehen wird. Seine Stimme ist
also in der Geschichte eine entkörperte Stimme im doppelten Sinne. Zum einen ist
sie körperlos aufgrund des fehlenden visuellen Bezugspunktes innerhalb des
Mediums Radio, und zum anderen entspricht sie nicht Tonis ursprünglicher Stimme.
Durch diese doppelte Abstraktion also wird die Stimme zu einem eigenständigen
Medium ohne Körper. Robert Lepage schafft es mit dem einfachen medialen Mittel
des Hörspiels, Toni eine neue Identität zu geben. Und neben dieser neuen Identität
etabliert er zugleich das Potential der Sprache als Material im Sinne ihrer
Reproduzierbarkeit durch Schnitt und Montage. Denn der Zuhörer erlebt Tonis
Stimme nicht nur live durch das Tonstudio, sondern auch in abgespielter Form aus
den Lautsprechern am Bahnsteig. In dieser Form ist seine Stimme der abstrahierten
Form des entfigurierten Charakters sogar noch näher, da es sich bei den
Durchsagen nur um standardisierte, aneinandergereihte Satzfetzen handelt. Durch
den Protagonisten Toni zeigt der Regisseur also, wie schnell man Stimmen als
Stereotypen wahrnehmen und identifizieren kann, sobald sie isoliert von ihrem
Körper in einem bestimmten wiedererkennbaren Rhythmus auftreten.
Jacksons Stimme erlebt der Zuschauer zum ersten Mal, als er Anrufe von seinem
Autotelefon erledigt. Sofort etabliert er sich als frustrierte und recht einsame Figur,
die im Leben nichts als ihren Beruf als Detektiv hat. Dort lebt Jackson wieder ein
wenig auf, als er seinen Klienten die neuesten Nachrichten vermittelt. Seine Stimme
gewinnt plötzlich einen positiven und neugierig ambitionierten Unterton, was
Jacksons eigentlich sehr heiteres und schelmisches Gemüt hervorblitzen lässt.
Kennzeichnend und ebenfalls unterstützend für die charakteristischen Merkmale der
Detektivfigur ist Jacksons schottischer Akzent, der die Figur trotz ihrer Kompetenz
stets etwas ins Lächerliche zieht. Die Art wie Jackson seine Sätze überbetont und in
die Länge zieht ist äußerst komisch, da die starke Betonung seiner Worte einer
Kompensation seiner Unsicherheiten gleicht. Diese Unsicherheiten sind jedoch rein
persönlicher, nicht beruflicher Natur und können ebenfalls aus Jacksons Intonation
entnommen werden, die stets einen fragenden Charakter hat und fast nie am
Satzende nach unten geht. Jacksons melancholischer Stimmklang mit seinen in die
Länge gezogenen Lauten und nicht enden wollenden Sätzen nimmt vorweg, dass er
89
keine Erfüllung mehr in seinem Privatleben findet und sich gerne mit jemandem
austauschen würde.
Michelle wurde bereits in Maries Geschichte als ihre Schwester etabliert und ist
psychisch krank. In ihrer Körpersprache äußert sich dies an ihrer leicht gebückten
Haltung und ihrem äußerst vorsichtigen Gang. Im Grunde genommen kann man ihrer
Stimme dieselben Merkmale zuschreiben, denn Michelle spricht sehr leise, langsam,
zart und unscheinbar. In ihrer freundlichen und stets etwas kränklich wirkenden
Stimme zeichnet sich sozusagen ihr gesamtes Wesen ab. Ganz im Gegensatz zu
Marie, die Robert Lepage bewusst als ihre Schwester wählt um den so
verschiedenen Charakteren ein direktes Pendant gegenüber zu stellen. Im Dialog
zwischen Marie und Michelle wird der Gemütsunterschied sehr deutlich, als Marie mit
ihrer überaktiven Art ihre Schwester drängt die Klinik zu verlassen, während Michelle
in aller Ruhe ihre Sachen packt.
Als der Zuschauer Michelle in ihrem Buchladen zuerst ohne und beim zweiten
Durchlauf mit Ton erlebt, entspricht auch hier ihre Stimme genau ihrer Körperhaltung,
die in der tonlosen Szene so deutlich erkennbar war.
Ein weiteres ausschlaggebendes Moment in Michelles Geschichte ist, dass die
tonlose Sequenz auf der Bühne das ebenfalls stumme Publikum plötzlich auf seine
eigene Passivität aufmerksam macht. Michelle spricht das Publikum sozusagen still
schweigend durch das unangenehme Gefühl des Ertapptwerdens an, woraufhin sich
der Zuschauer als Teil der Szene fühlt und diese auf einmal performativ miterlebt.
Michelle begegnet ihren Klienten stets mit einer gewissen räumlichen aber auch
sprachlichen Distanz. Sie möchte sicher gehen, dass ihr niemand zu nahe tritt oder
ins Wort fällt. Denn obwohl sie so langsam und leise spricht, scheint sie sehr viel
Wert darauf zu legen, was sie sagt und wie sie es sagt, was für ein sehr feinfühliges
Bewusstsein der Figur spricht. Diese Annahme wird in der folgenden Szene in
Michelles Wohnung bestätigt, als Marie ihr Thomas als ihren Arzt und jetzigen
Lebenspartner vorstellt. Diesen empfängt die anfangs so kränklich klingende Michelle
nämlich mit überschwänglicher Freude, die man ihr nur schwer glauben kann. Doch
als Marie die beiden verlässt, setzt sich das Gespräch ebenso beschwingt fort, und
Michelle entlockt Thomas mit ihrer plötzlich offenen Art ein sehr persönliches
Gespräch. Mit dem Verschwinden ihrer Schwester gewinnt ihre Stimme an Klarheit
und Sicherheit, bis sie auf einmal in einem lauten Schwall los redet und sich bei
Thomas über ihr Leben ausschüttet.
90
Die letzte Szene in Michelles Geschichte zeigt sie wieder in ihrem Geschäft; diesmal
jedoch viel aktiver und aufgeschlossener in ihrem Auftreten und in ihrer stimmlichen
Verfassung. Nachdem der Zuschauer Michelle wegen ihrer Halluzinationen eher als
verrückt und labil eingeschätzt hat, lässt dieser Wandel die Figur wie eine Art höhere,
omnipräsente Instanz über allen an der Szene Beteiligten stehen.
Eine weitere Erklärung für den gewonnen Respekt vor der Figur Michelle ist, dass
Lepage in ihrer Geschichte bewusst mit dem Gegensatz Stille und verbalem Dialog
spielt. Durch den gezielten Einsatz nicht intentionaler Stille und intentionalem
Sprechen wird Michelle in den Augen des Publikums umso mehr eine Art von Macht
verliehen.
Lupes Geschichte wird mit lauter lateinamerikanischer Musik angekündigt, was
bereits einen Eindruck ihrer Wurzeln vermittelt. Man sieht Lupe als energetisches
junges spanisches Mädchen in einer Bar als Kellnerin arbeiten.
Nachdem der Zuschauer Lupe bereits zu Beginn des Stücks in Adas Geschichte
erlebt hat, als sie mit ihrem Baby im Arm im Flugzeug starb, wirkt ihr Auftritt am
Anfang ihrer eigenen Geschichte tatsächlich sehr kindlich. Ihre Stimme unterstützt
dieses Bild mit einem sehr frischen, hohen, aufgeweckten Klang und es ist auffallend,
wie Lupe fast jeden ihrer fast schrill klingenden Sätze mit einem unschuldigen „Nò?“
beendet. Die anfängliche Stimmfarbe und Intonation der jungen Lupe, die Neugier
und Lebensfreude versprüht hat, steht nun in deutlichem Gegensatz zu Lupes
Stimme, nachdem sie von ihren deutschen Zuhältern in Gewahrsam genommen wird.
Als das Bühnenbild das Voranschreiten der Handlung impliziert und Lupe bereits
länger im Geschäft ist, ändert sich ihre Stimmfarbe zu einem abgenützten,
ermatteten und vergleichsweise sehr farblosen Klang.
Robert Lepage lässt Lupe im weiteren Verlauf ihrer Geschichte kaum sprechen,
sondern stellt die Figur rein über die Veränderungen in ihrem stimmlichen und
körperlichen Ausdruck dar. Dabei besitzen die Töne, die Lupe von sich gibt, beinahe
die narrative Fülle von Worten. Anders ausgedrückt erschafft die Figur gegen Ende
ihrer Geschichte nur durch Lautbildung und Körperarbeit visuelle Bilder. Anlässlich
der Szene, in der Lupe mit nacktem Oberkörper ihr Schicksal erzählt, soll das Motiv
der Nacktheit erwähnt werden, welches ebenfalls das Potential zur Stimme besitzt.
Obwohl ein Großteil von Lupes Geschichte in einem Bordell spielt, erlebt der
Zuschauer Nacktheit nicht wie gewohnt in seiner sexuellen oder erotischen
Konnotation. Viel eher will der Regisseur durch sie eine ästhetische Präsenz und
91
Reflexion ausdrücken, die die Essenz des Charakters viel stärker zu erfassen
vermag, als es beispielsweise Worte oder ein Kostüm könnten.
„In my show, erotic tension tends to arise when people are fully clothed. Nudity,
on the other hand, appears without this tension and reveals the fragility or the
essence of a character.” 39
Für Lepage ist Nacktheit ein Zurückkehren zum ursprünglichen menschlichen Körper,
der einmal frei von sozialen Normen und Werten war. Soziale Stellung ist auf einmal
nicht mehr erkennbar und auch nicht mehr wichtig. Was zählt, wenn man einen
nackten Menschen betrachtet, ist rein sein Verhalten und die kleinen, intimen Details,
die seine Persönlichkeit ausmachen und mit Kleidung wahrscheinlich gar nicht
sichtbar wären.
Lupes Sprachlosigkeit in Kombination mit ihrer Nacktheit betonen ihre Verletzlichkeit,
mit der sie auf der Bühne nicht nur ihren Peinigern in Lipsynch, sondern auch dem
Zuschauer ausgesetzt ist. Dabei schwankt der Zuschauer mit seinem Blick auf den
nackten, hilflosen Körper auf der Bühne, ebenso wie der Schauspieler, zwischen
Scham, Scheu, Erotik, aber auch emotionaler Anteilnahme und Bewunderung.
Als Lepage seine Lupe gegen Ende ihrer Geschichte entblößt vor der Leinwand
endlich wieder sprechen lässt, erlebt das Publikum in einer Art Zeitraffer ihre
stimmliche und körperliche Verarmung, was jegliche erotische Fehlinterpretation
ausschließt. Robert Lepage beschreibt es als bewegend, einen Menschen in einer
Offenbarung zu erleben, die viel mehr innerlich als äußerlich ist. Denn was in diesem
Moment der Nacktheit passiert, liegt jenseits des visuell Wahrnehmbaren und spricht
wie der Stimmkörper nicht nur die primären Sinne Ohr und Auge an, sondern vor
allem die seelische Wahrnehmung.
Bisher wurden die Zusammenhänge im narrativen Konstrukt von Lipsynch primär
über die Aspekte Dramaturgie und Sprache erläutert. Nun soll noch eine weitere
ausschlaggebende Ursache für das unsichtbare Band zwischen den Figuren und den
einzelnen narrativen Strängen angeführt werden.
39
Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda
Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S 79 – 80
92
8.
Die Schnittstelle zwischen Intention und Vermittlung
Im Zuge der Arbeit ist klar geworden, dass Lepages Geschichten sich erst aus den
einzelnen Figuren seines Stückes entwickeln. Lepage stilisiert die Charaktere in ihren
Lebenslagen, Träumen und Problemen so realitätsnah, dass ihre Geschichten sich
dem Rezipienten wie selbstverständlich erschließen. Doch wie entsteht das
notwendige Moment, welches ausschlaggebend für das rationale und emotionale
Verständnis der Figuren ist?
Die Thematik der Sprache und die für ihre Ausübung notwendigen Organe und
Körperteile sind dem Menschen eigen und vertraut. Ungewohnt ist jedoch die
psychologische Konfrontation mit dem eigenen Sprechorgan durch eine emotionale
Erzählung. Plötzlich wird dem Zuschauer die Bedeutung und Wichtigkeit von
Begriffen wie Lippen, Stimmfarbe, Sprachidentität, anhand einer plastisch spürbaren
Erzählung ins Bewusstsein gerufen.
Ada, Thomas, Jeremy, Marie, Michelle, Sarah, Jackson, Sebastian und Lupe
agieren, erleben und fühlen in der Gegenwart und stellen einen direkten Bezug zur
heutigen Zeit und zum Alltagsleben der meisten Menschen her. Und diese direkte
Verbindung zwischen Bühne und Leben stellt Robert Lepage durch die Sprache und
ihre spezifische Wahrnehmung in Raum und Zeit her.
Lepage nützt seine vielen Figuren nicht nur, um Lyipsynch mit markanten
stimmlichen und körperlichen Archetypen zu bereichern, sondern auch, um jeder
Szene ihren eigentümlichen Rhythmus zu verleihen.
Für das Verständnis zwischen den Figuren untereinander, sowie zwischen Figur und
Publikum, spielt die Koordination von Rhythmus und emotionaler Beschaffenheit eine
große Rolle. Das bereits erwähnte Auftreten einer Figur in der Erzählung einer
anderen ist rhythmisch genau koordiniert und ausschlaggebend für dessen narrative
Gewichtung im Stückverlauf.
93
8.1
Zeitliche und emotionale Koordination
Der Ausdruck „emotionale Beschaffenheit“ lässt sich am besten mit dem
griechischen Wort „Pathos“ erklären, welches in erster Linie einen Zustand des
Leidens beschreibt. Grammatikalisch gesehen impliziert dieses Wort ein passives
Subjekt, dem Leiden widerfährt. Doris Kolesch erklärt diesen Begriff unter anderem
mit Bernhard Waldenfels´ Ausdruck der „Fremderfahrung“ 40 und überträgt ihn alsbald
auf das Funktionsfeld der Stimme. Darin unterscheidet Waldenfels nämlich zwei
Bereiche der akustischen Wahrnehmung: Den des aktiven und intentionalen Hörens
von etwas und den des zunächst passiven, von außen angeregten Hörens auf
etwas.41
Bezogen auf den zweiten Bereich bedeutet Pathos jene Form des Hörens bei der der
Zuhörende auf eine erklingende Stimme emotional, rational oder rein akustisch
aufmerksam wird. Dieser Prozess ist nicht nur auf der Ebene zwischen Schauspieler
und Zuschauer präsent, sondern ebenso auf den unzähligen Ebenen zwischen den
verschiedenen Schauspielern. Und dieser Kontext, in dem eine Äußerung zwischen
zwei
Figuren
auf
der
Bühne
notwendigerweise
stattfindet,
produziert
Aufmerksamkeit. Gerade in Robert Lepages Lipsynch spielt sogar noch eine dritte
Ebene des Hörens mit, nämlich die des Hörens der eigenen Stimme. Besser
ausgedrückt, die Ebene des Hörens der Fremdstimme in der eigenen Stimme. Denn
bekanntlich, und auch in Lipsynch ausreichend dokumentiert, ist die eigene Stimme
für das sprechende Subjekt nicht immer steuerbar. Dazu verweist Kolesch auf
Jacques Derrida, der behauptet, dass eine Stimme weniger auf das geistige (Selbst)Bewusstsein des von der Außenwelt unabhängigen Sprechenden verweist, sondern
vielmehr auf die Abwesenheit der leiblichen Präsenz, zugunsten einer neuen
stimmlichen Existenz, die sich erst in Zusammenhang mit Anderen ergibt.42 Mit
anderen Worten bedeutet dies, dass jeder Zuhörende immer auch eine
Fremderfahrung der eigenen oder anderen Stimme erlebt, und ihr im pathetischen
40
Bernhard Waldenfels (2009): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse,
Phänomenotechnik. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm – Welten.
Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S.9
41
Vgl. Bernhard Waldenfels. In: Doris Kolesch. Ebd. S.15
42
Vgl. Jacques Derrida (1974): Grammatologie. In: Doris Kolesch. Ebd. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag. S. 15
94
Sinne verfallen ist. Durch diesen Vorgang auf der Bühne entstehen unweigerlich
Beziehungen zwischen den Figuren, die von den Schauspielern bewusst stilisiert
werden. Eine Steigerung dieses Phänomens ist die emotionale Aufladung jeder
Sprech- oder Singstimme, die beim Hörenden bewusste oder unbewusste
Reaktionen auslöst. Der enge Zusammenhang zwischen Stimmlichkeit und
Emotionalität liegt zum einen daran, dass eine Stimme stets an ein spezifisch
fühlendes und agierendes Individuum gebunden ist, und somit Emotion vermittelt.
Zum anderen liegt der Zusammenhang daran, dass Stimmklänge Emotionen
auslösen können, was jedoch von der Verfassung des Hörenden ebenso abhängt,
wie von der des Sprechenden oder Singenden. Folglich muss in letzterem Falle die
vermittelte Emotion keinesfalls identisch mit der Wahrgenommenen sein, da im
Gegensatz zur pathetischen Dimension nun Hörer und Sprecher aktiv beteiligt sind.
An diesem Punkt kommt der Aspekt der Zeit und des Rhythmus ins Spiel. Denn das
Überschwappen von Emotionen auf und von der Bühne funktioniert nur, wenn der
Zeitpunkt der Erfahrung auf der Bühne mit dem der Erfahrung am eigenen Leib
übereinstimmt. Denn ausschlaggebend dafür, ob auf der Bühne erzeugte Gefühle
beim
Zuschauer
entweder
Anziehung
oder
Ablehnung
auslösen,
ist
der
augenblickliche Zustand des Zuschauers im Moment der emotionalen Beteiligung.
Gerade im Falle von Lipsynch ist dieses Phänomen vor allem bei den weiblichen
Figuren, die zusätzlich zu ihrer Sprech- auch noch eine Singfunktion haben, sehr gut
zu beobachten. Beispielsweise als Ada zu Beginn des neunstündigen Epos ihre
schwerfällige Arie singt, oder als Marie ihr Klagelied im Jazz Genre performt.
Beide gesanglichen Akte auf der Bühne liefern Potential für auseinanderklaffende
emotionale Beteiligung des Publikums,
abhängig von der augenblicklichen
Stimmfarbe und –höhe des Schauspielers, der Reaktion der Spielpartner und der
augenblicklichen emotionalen Verfassung des Zuhörers. Denn keine der beiden
Performances ist im klassischen Sinne genießbar, erstere nicht aufgrund ihrer
depressiven Schwere und letztere aufgrund der akustischen Verlautbarung von
Schmerz. Maries Leiden, welches mit Hilfe der krächzenden Verausgabung ihrer
Stimme implizit auf ihre Krankheit verweist, ist im empathischen und sogar
physischen Sinne für die Ohren des Zuhörers schmerzhaft. Marie evoziert also
physische Ablehnung durch die tatsächlich mit Schmerz assoziierten lauten oder
hohen Töne einerseits, und empathisches Mitgefühl durch die Materialität und
Körperlichkeit ihrer Schreie andererseits.
95
Maries Klagen, in einem musikalischen Stück verpackt, ist ein Ausdruck
augenblicklicher Leiderfahrung, die den Zuschauer in den meisten Fällen aufgrund
ihrer stimmlichen Verlautbarung berührt.
Um die verstärkenden Faktoren der emotionalen Komponente abermals zu betonen:
Dies sind erstens Maries Stimmklang, der sich kaum mehr in Worten sondern primär
durch Stöhnen, Schreien und Seufzen vermittelt; und zweitens die emotionale
Teilnahme ihres Spielpartners Thomas, der als Chirurg und Liebhaber an ihrem Leid
teil hat und dem Zuschauer somit gewissermaßen seine Reaktion vorlebt. Die Zeit
und der Rhythmus spielen bei diesen Vorgängen insofern eine essentielle Rolle, als
dass die vorhergehenden und nachfolgenden Szenen eine narrative und emotionale
Vorbereitung und Plausibilität bieten müssen.
Abschließend gilt es zu sagen, dass das Klagen in der dramatischen Geschichte
jeder Figur in Lipsynch eine tragende Rolle spielt, zumal die Wahrnehmung nicht auf
das Visuelle reduziert wird, sondern durch die auditive und automatisch sensuelle
Teilnahme von Schauspieler und Zuschauer ein ganzkörperliches Spüren evoziert.
Das stimmliche Phänomen wird also nicht auf die Wortsprache reduziert, sondern
zeichnet sich ebenso im Stimmklang und der physischen Beschaffenheit der Figur
ab. Dabei wächst es akustisch über sich hinaus und appelliert durch seine
fortwährende Präsenz im Raum direkt an die Emotion von Schauspielern und
Zuhörern. Die gewollte und erzielte Reaktion des Zuhörers ist dabei keinesfalls
Mitleid, denn das würde den pathetischen Effekt der Klage mindern.
Was Robert Lepage und sein Ensemble erreichen wollen, ist das augenblickliche
Vertrauen und die respektvolle Anerkennung und Wertschätzung des Leids durch
den leiblich anwesenden und mitfühlenden Zuschauer.
9.
Fazit
Einer der Gründe, warum Robert Lepage und sein Stück Lipsynch zum Thema
meiner
Diplomarbeit
wurden,
ist
seine
so
ungewöhnlich
klare
und
unmissverständliche Art, am Theater mit Bildern statt mit Text zu erzählen. Umso
interessanter wurde der Aspekt für mich, als ich die Thematik von Lipsynch genauer
ergründete, welche zweifelsohne um das akustische Phänomen der Stimme kreist.
96
Dem Zuschauer wird also das Instrument des laut gewordenen Textes nicht primär
durch die Sprache, sondern durch assoziative Bilder über dieselbe vermittelt. Und
dieser Vorgang passiert für den Zuschauer beinahe unmerklich in einem Gespann
von
Geschichten
unterschiedlichster
Nationen
mit
unterschiedlichsten
Vergangenheiten, welches im Zuge des Stücks in eine narrative und ästhetische
Symbiose mündet. Diese Diplomarbeit kreist also in fast jedem Kapitel auch um die
Frage, wie Geschichten erzählt werden können und wie der Weg der Vermittlung für
den Rezipienten erfolgt.
Kritiker bemängeln, dass die Form von Lepages Stücken bis zum letzten Detail
durchkonstruiert sei und den Bildern kaum Freiheiten gewähre. Diese Direktheit und
Offenlegung gestalterischer Mittel führe zur geistigen Unterforderung der Zuschauer,
deren Blick durch die klare Abfolge der Bilder fremdgesteuert und an autonomer
Kreativität und Interpretationsfreiheit verlieren würde.
„Robert Lepage führt nichts als Technik selber vor, alles steht im Dienste einer
Geschichte, von Figuren, von Menschen, denen er so nahe, so liebevoll, so
neugierig auf die Pelle rückt, wie selten ein Regisseur neben ihm. [...] Eine
Handlung ist da kaum zu erzählen, man muss die Fäden und die Knüpfstellen,
die
Zufalls-
und
Schicksalsabenteuer
diverser
umherschießender
Weberschiffchen verfolgen.“43
Doch die Recherche und Erkenntnisse in dieser Arbeit belegen, dass Lepage stets
im Sinne des uneingeschränkten und authentischen Geschichtenerzählens arbeitet,
was jedoch nicht möglich wäre, wenn er diesen Prozess im Dienste einer
vorgegebenen Form geschehen lassen würde. Genauer gesagt könnte dann rein gar
nichts geschehen. Lepage betont sehr oft, dass seine Bilder nur ohne die
Einschränkung durch textliche und formale Strukturen entstehen können. Zwar
entwickelt sich im Zuge der Probenarbeit eine deutlich lesbare und universell
verständliche Form, in die Lepage seine Bilder bettet, doch existiert diese stets zu
Gunsten der Geschichte und deren Fortschreitens. Anders ausgedrückt ist es nicht
die Geschichte, die sich nach der Form richtet, sondern umgekehrt.
43
Gerhard Stadelmaier (2010): Frankfurter Allgemeine Zeitung
97
Um mich diesbezüglich nochmals auf das Zitat mit der Fußnummer zweiundvierzig
zu beziehen: Selbstverständlich steht Robert Lepages Theater im Dienste seiner
Figuren und der sich daraus entwickelnden Geschichte. Und es ist ebenso eine
Tatsache, dass er dafür eine Vielzahl technischer Mittel auf der Bühne zum Einsatz
bringt; doch was ist daran zu bemängeln?
Möglicherweise liefert eine genauere Analyse des Namens von Lepages Ensemble
Ex Machina eine rechtfertigende Erklärung für die Herangehensweise an
Theaterprojekte. Der Ausdruck Ex Machina enthält drei wichtige Aspekte:
Zum einen ist wichtig zu bemerken, dass darin das Wort Theater nicht enthalten ist.
Das hat auch seinen Grund, da Lepages Theater kein konventionelles ist, wie es in
der Arbeit bereits mehrfach zur Sprache gekommen ist. Zum anderen ist im Namen
der Gruppe der Begriff Maschinerie enthalten, der für Lepages darstellende Kunst
viel eher zutrifft, als der Begriff Theater. Denn Maschinerie beschreibt im Sinne von
Lepage keineswegs nur die äußere Beschaffenheit eines Mechanismus, sondern
ebenso das Innere desselben. Das bedeutet, dass jedes an der Produktion beteiligte
Objekt und Subjekt eine tragende Rolle für das Funktionieren des Stückes spielen.
Das stellt auch den Schauspieler in ein neues Licht, da er mit seinem körperlichen
Instrumentarium nicht nur künstlerische, sondern sehr wohl auch funktionelle
Aspekte bedient. Und drittens ist es dem Ensemble durch das Streichen des Wortes
Deus aus dem Ausdruck Ex Machina gelungen, eine „mythische Dimension und
ein[en] Sinn für spirituelles Bestreben“44 zu erhalten. Denn in Lepages Theater gibt
es keine festgelegte höhere Instanz, die das Treiben auf der Bühne leitet und
bestimmt. Diese Rolle übernimmt weder der Regisseur noch die Konvention des
Theatergenres. Folglich entstehen Lepages Stücke im Zeichen eines kreativen,
inspirativen und intuitiven Produktionsprozesses.
Alle drei Aspekte bekräftigen die Erkenntnisse dieser Arbeit; nämlich, dass die
endgültige Performance ein Resultat von ununterbrochenem experimentellen
Entstehenlassen ist, welches sich aus der Diversität des Gedanken- und Gefühlsguts
jedes Beteiligten ergibt.
44
Vgl. Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by
Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 27
98
10.
Literaturverzeichnis
Bernier, Éric. Lepage, Robert.Fricker, Karen (2002): The seven streams of the
river Ota. London: Methuen Drama.
Charest, Rémy (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from
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November 1998 in Berlin] Berlin: Theater der Zeit
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99
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CD´s:
Kolesch, Doris. (Hrsg.): (2004): Kunst – Stimmen. Berlin: Theater der Zeit:
Recherchen; 21.
Kolesch, Doris. (Hrsg.): (2009): Stimm – Welten: philosophische,
medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript –
Verlag.
100
Zusammenfassung:
Die hier verfasste Diplomarbeit
„Das Verkörpern von Geschichten – Die stimmlich-sprachliche Präsenz in den
Figurenkonstellationen von Robert Lepages Lipsynch“
setzt sich anhand einer spezifischen Aufführung mit dem Theater von Robert Lepage
auseinander.
Die ausschlaggebendsten Motive, welche den Leser durch die Arbeit begleiten, sind
die menschliche Sprache und Stimme. Dabei führen verschiedenste Aspekte der
Medialität, also der Hör- und Sichtbarkeit stimmlich-sprachlicher Phänomene, zu
einem
besseren
Verständnis
der
Vorgehensweise
in
Robert
Lepages
Schaffensprozess.
In Anbetracht dessen wird in der Arbeit neben der Medialität, die sowohl auf formaler,
als auch auf inhaltlicher Ebene erfahrbar wird, auch die Wichtigkeit der Hybridität für
die Transparenz zwischen Leben und Bühne verdeutlicht. Das Phänomen der
Hybridität zeichnet sich durch seine Offenheit für ständige Transformation,
Flexibilität, Durchlässigkeit und Imagination aus. Und diese Prozesse zeigen sich auf
Lepages Bühne mit Hilfe von inhaltlichen Aspekten wie Identität, Nationalität,
Stimmlichkeit und Körperlichkeit.
Abschließend werden die individuellen Eigenheiten und Besonderheiten von Stimme
und Sprache nochmals spezifisch, anhand einer dramaturgisch logischen Auflistung
aller im Stück Lipsynch vorkommenden Figuren, analysiert und in Relation gesetzt.
Im Allgemeinen entspringt die Arbeit überwiegend der Analyse von szenischer
Ausarbeitung und Umsetzung auf der Bühne, wobei dafür sowohl die LiveAufführung, als auch die Aufzeichnung derselben als Material zur Verfügung
standen.
Die zusätzlich herangezogene Literatur wurde anhand ihres Potentials zur Klärung
und
Konkretisierung
von
charakteristischen
Begrifflichkeiten
und
Methoden
ausgewählt, und ist dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.
101
Lebenslauf
Persönliche Daten:
Name:
Geburtsdatum:
Geburtsort:
Staatsbürgerschaft:
Religion:
Familienstand:
Mail:
Elisabeth Kanettis
28.10.1988
New York
Italien
römisch-katholisch
ledig
elisabeth.kanettis@gmx.at
Ausbildung:
Schulbildung:
1994 – 1998 Volksschule Pettnau
1998 – 2007 Akademisches Gymnasium Innsbruck (Juni 2007
Matura)
2007 – 2008 Studium der Philosophie Universität Innsbruck
seit 2008 Diplomstudium der Theater-Film-, und
Medienwissenschaft an der Universität Wien
seit 2009 Zweitstudium der Anglistik an der Universität Wien
seit 2011 Schauspielausbildung an der Schauspielschule Krauss
Studienschwerpunkte:
Schauspiel
Theater- und Filmwissenschaft
Darstellende Künste
Kunsterziehung
Auszeichnungen: 2005 2. Platz beim Prima la musica Wettbewerb (Klavier)
2010 Leistungsstipendium der Universität Wien
Nationale und Internationale Platzierungen in den
Lateinamerikanischen Tänzen (Tanzsport)
Bisherige Praktika:
Praktikum Neue Sentimental Film AG
Regieassistenz Rabenhof Theater Wien
Hostess Pia.Pink Werbung & Kommunikation GmbH
102
Dramaturgie und Schauspiel Praktikum bei den Wiener
Festwochen 2011
TV- und Theaterproduktionen: „Die kleine Lady“ – Gernot Roll (Fernsehen)
„Ein Herz für Österreich“ – NeueSentimentalFilm
(Werbung)
„Baron Münchhausen“ – Roman Freigassner
(Kindertheater)
Zusatzqualifikationen:
2012 Leitung des Workshops „Body Awareness on Stage“
– Workshop zu Körperbewusstsein und Bühnenpräsenz
2007 - 2011 Tanzausbildung in den lateinamerikanischen
Tänzen
2002 Teilnahme am Workshop der Österreichischen
Filmakademie
1998 – 2005 Teilnahme an der schuleigenen
Bühnenspielgruppe
Klavierstudium ab dem 8. Lebensjahr
2009 Zertifikat für Hostess und Cateringgehilfin GVO
Erste Hilfe Kurs
Führerschein B
EDV – Kenntnisse in Office (Word, Excel, Powerpoint etc.)
Fremdsprachen:
sehr gute Englisch- und Französisch Kenntnisse, Griechisch
103