Academia.eduAcademia.edu

Das Verkörpern von Geschichten

2012

Die hier verfasste Diplomarbeit setzt sich anhand einer spezifischen Aufführung mit dem Theater von Robert Lepage auseinander. Die ausschlaggebendsten Motive, welche den Leser durch die Arbeit begleiten, sind die menschliche Sprache und Stimme. Dabei führen verschiedenste Aspekte der Medialität, also der Hör- und Sichtbarkeit stimmlich-sprachlicher Phänomene, zu einem besseren Verständnis der Vorgehensweise in Robert Lepages Schaffensprozess. In Anbetracht dessen wird in der Arbeit neben der Medialität, die sowohl auf formaler, als auch auf inhaltlicher Ebene erfahrbar wird, auch die Wichtigkeit der Hybridität für die Transparenz zwischen Leben und Bühne verdeutlicht. Das Phänomen der Hybridität zeichnet sich durch seine Offenheit für ständige Transformation, Flexibilität, Durchlässigkeit und Imagination aus. Und diese Prozesse zeigen sich auf Lepages Bühne mit Hilfe von inhaltlichen Aspekten wie Identität, Nationalität, Stimmlichkeit und Körperlichkeit. Abschließend werden die indi...

DIPLOMARBEIT Titel der Diplomarbeit „Das Verkörpern von Geschichten – Die stimmlich-sprachliche Präsenz in den Figurenkonstellationen von Robert Lepages Lipsynch“ Verfasserin Elisabeth Kanettis angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag. phil.) Wien, 2012 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 317 Studienrichtung lt. Studienblatt: Theater- Film- und Medienwissenschaft Betreuerin: ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister Inhaltsverzeichnis: 1. Einleitung............................................................................................................. 5 2. Die Multimedialität in Lipsynch ............................................................................ 7 2.1 3. 4. Das Medium Stimme ..................................................................................... 8 2.1.1 Das Bild im Hörbaren ............................................................................ 10 2.1.2 Der Klang im Sichtbaren ....................................................................... 12 2.1.2.1 Der Ereignischarakter der Stimme ................................................. 13 2.1.2.2 Der multimediale Charakter der Stimme......................................... 14 Homi Bhabhas Konzept der Hybridität............................................................... 16 3.1 Die Hybridität der Stimme ............................................................................ 18 3.2 Die Hybridität auf der Bühne........................................................................ 19 Der Einfluss der Méthode Repère auf Lepages Theater ................................... 20 4.1 Imagination statt Textvorlage....................................................................... 22 4.2 Erinnerung statt Fakten ............................................................................... 24 4.2.1 5. Robert Lepages Theatervokabular ........................................................ 25 Robert Lepages hybrides Theater und seine ästhetischen Verfahren ............... 27 5.1 Die Sprache ................................................................................................. 30 5.1.1 Charakterzüge der Stimme ................................................................... 31 5.1.2 Das Spiel zwischen Körper und Stimme ............................................... 32 2 5.2 Die Transformation in Lepages Theater ...................................................... 33 5.3 Das Kinematografische ............................................................................... 36 5.3.1 Das Erzählen ........................................................................................ 36 5.3.2 Die Bühne ............................................................................................. 38 5.3.3 Das Spiel............................................................................................... 39 5.3.3.1 5.4 Die Figurenfindung ...................................................................................... 42 5.4.1 5.5 Emotion und Energie ...................................................................... 40 Verkörperung und Entkörperlichung ..................................................... 44 5.4.1.1 Der Stimmkörper ............................................................................ 46 5.4.1.2 Der Schauspielerkörper .................................................................. 47 Die Zeit ........................................................................................................ 50 6. Der Rezipient..................................................................................................... 54 7. Lipsynch – Das Stück ........................................................................................ 57 7.1 Die Entstehung ............................................................................................ 58 7.2 Die Stimme als Körper ................................................................................. 61 7.2.1 Wenn der Körper einer fremden Stimme geliehen wird ........................ 62 7.2.2 Wenn die Stimme einem fremden Körper geliehen wird ....................... 63 7.3 Das unsichtbare Band zwischen den Figuren.............................................. 66 7.3.1 Ada ....................................................................................................... 66 7.3.2 Thomas ................................................................................................. 67 7.3.3 Marie ..................................................................................................... 68 7.3.4 Jeremy .................................................................................................. 68 3 7.3.5 Sarah .................................................................................................... 70 7.3.6 Sebastian .............................................................................................. 72 7.3.7 Jackson ................................................................................................. 72 7.3.8 Michelle ................................................................................................. 73 7.3.9 Lupe ...................................................................................................... 74 7.4 8. Die charakteristische Körperlichkeit einzelner Stimmen .............................. 75 Die Schnittstelle zwischen Intention und Vermittlung ........................................ 93 8.1 9. 10. Zeitliche und emotionale Koordination ......................................................... 94 Fazit................................................................................................................... 96 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 99 4 1. Einleitung Lipsynch. Bereits der Titel des neunstündigen Bühnenepos von Robert Lepage enthält eine faszinierende Mischung aus sinnlicher Assoziation und schauspielerischem Handwerk. Auch die Propagierung von Lipsynch als „magisches Theaterepos“1 lässt auf die etwas unkonventionellere Form eines Bühnenstückes schließen. Diese ersten Eindrücke also gaben mir den Anreiz, am 12. Mai 2010 erstmals ein Stück des frankokanadischen Theatermachers zu besuchen, und es fesselte mich mit seiner imposanten Erzählkraft tatsächlich bereits ab der ersten Minute. So entstand das Bedürfnis, es zum Thema meiner Diplomarbeit zu machen. Lipsynch enthält sowohl das englische Wort für Lippe als auch das für Synchronisation und bezeichnet den Prozess des Angleichens von Lippenbewegungen und hörbarem Text oder Gesang. Lepage wählt diesen Titel als Überbegriff für seine Thematisierung der menschlichen Sprache und Stimme in all ihren Facetten und Klangfarben, in ihren Aus- und Verformungen. Entlang dieses Grundmotivs offenbart das virtuose Spiel von Lepages Ensemble Ex Machina sowohl stimmliche Imposanz als auch intimste stimmlich - sprachliche Details, die sich in jedem Individuum verbergen. Doch Lipsynch ist nicht nur eine Darstellung des Phänomens Stimme, sondern gleichzeitig eine Geschichte über neun Figuren auf der Suche nach ihrer stimmlichen Identität und Berufung. Robert Lepage erzählt diese Geschichte anhand eines imposanten und gehaltvollen Bühnenspektakels, welches sich in seiner gesamten dramaturgischen, bildlichen, musikalischen und atmosphärischen Breite zu analysieren gelohnt hätte. Angesichts meines visuell–akustischen Ausgangsmaterials einer Live–Aufzeichnung von Lipsynch habe ich mich dazu entschlossen, den Fokus meiner Diplomarbeit auf den Aspekt der menschlichen Stimme zu legen und Lepages spezifischer Kunstsprache auf den Grund zu gehen. http://www.festwochen.at: Wiener Festwochen, http://www.festwochen.at/index.php?id=eventdetail&detail=494.[Stand:18.05.2012] 1 5 Denn seine Sprache trägt maßgeblich zur Verdichtung menschlichen Lebens auf der Bühne bei, während sie nicht nur der Kommunikation und Identifikation dient, sondern ebenso der künstlerischen Gestaltung des Stücks. Bevor sich nun die Arbeit in einen theoretisch und praktisch orientierten Teil gliedert, soll in der Einleitung der Raum etabliert werden, der die Plattform für Lepages körperlich-sinnliche Theaterform bildet. Der frankokanadische Theater- und Filmemacher, Robert Lepage, ist nicht nur als Regisseur, sondern auch als Autor, Dramaturg und Schauspieler in seinen Werken tätig, die er mit seiner multimedialen Theatergruppe Ex Machina inszeniert. Mit dem Ausdruck „Multimedial“2 ist bereits ein wesentlicher Aspekt von Robert Lepages Ästhetik genannt. Multimedialität auf der Bühne erlaubt und erfordert den Einsatz verschiedenster Medien innerhalb des Rahmenmediums Theater, ohne sie dabei zu theatralisieren. Lepages Theater orientiert sich nicht an einer konventionellen Theatersprache, sondern an einer universell verständlichen Sprache wie man sie auch im Alltag antreffen könnte. Stellt der Regisseur zugunsten seiner Erzählung eine Fernsehoder Radiosendung nach, so wird auch gesprochen wie es das Publikum aus Fernseh- und Radiosendungen kennt. Bei Robert Lepage wird die Vorsilbe „Multi-“ keineswegs nur für den medialen Aspekt verwendet, sondern auch für den kulturellen und narrativen Aspekt. Die Multikulturalität in seinen Stücken zeigt ein Nebeneinander verschiedener Kulturen, so wie die Multinarration ein Nebeneinander von mehreren Handlungssträngen zeigt. Das besondere daran ist, dass nicht nur ein Nebeneinander, sondern auch eine Verflechtung der unterschiedlichen Medien, Kulturen und Geschichten stattfindet, ohne sie ihrer eigentümlichen Charakteristik zu berauben oder sie einander angleichen zu wollen. Lepages Interesse und Offenheit für verschiedene Kulturen und kulturelle Praktiken erschließt sich aus seinem Herkunftsland Québec, dessen Mentalität und Kultur ihn sehr geprägt haben. Die Diglossie von Anglophonen und Frankophonen, sowie die Diversifikation kultureller Identitäten aufgrund der Stellung Québecs als Immigrationsland verschiedenster ethnischer Gruppen, eröffnen einen breiten Spielraum für kulturelle Hybridität. Auch dieses Phänomen spielt in Lepages 2 Julia Pfahl (2005): Québec inszenieren – Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag. S. 12 6 Theater eine große Rolle und soll anhand der Erkenntnisse des Literaturwissenschaftlers Homi Bhabha genauer erläutert werden. Lipsynchs mediale und kulturelle Mehrdimensionalität auf der Bühne kreiert prozesshaft eine eigene, authentische Sprache, die keinen herkömmlichen Theatertext als Vorlage benötigt. Dieser Aspekt führt bereits zum nächsten Charakteristikum von Lepages Theater, nämlich der vom Theatermacher Jacques Lessard begründeten Méthode Repère. Diese beschreibt ein Theater, welches im Zuge eines kollektiven work – in – progress entsteht, ohne sich dabei an einer textlichen Vorlage zu orientieren. Trotz seiner kanadischen Wurzeln ist Lepages Theater im interkulturellen Raum anzuordnen.Die Ästhetik seiner lokal und global stattfindenden Kulturproduktionen zeichnet sich durch die Synergie von formalen und inhaltlichen Schwerpunkten aus, die Lepage aus verschiedensten Kulturen entnommen hat. 2. Die Multimedialität in Lipsynch Im Zuge der Recherche zum Theater von Robert Lepage ist der Begriff Multimedialität keine Seltenheit. Um diesem Phänomen hinter die Worthülse blicken zu können, beschäftigt sich dieses Kapitel mit Robert Lepages spezifischer Intention bei dem Einsatz verschiedenster Medien innerhalb des Rahmenmediums Theater. Lepage pflegt eine Verbindung von Musik, Bild und Text, um auf der Bühne sowie im Zuschauerraum eine Synthese von visuellen und akustischen Darstellungsmitteln zu schaffen. Dies führt dazu, dass nicht die Sprache, sondern der Klang und nicht der Text, sondern die dahinter liegende Intention vorrangig für die Vermittlung einer Geschichte sind. Formuliert man die erweiterte Funktion der Sprache als Frage, würde sie folgendermaßen lauten: „Wie bringe ich das, was in mir vorgeht zum Ausdruck, und wie klingt es, wenn ich das tue?“ Anders ausgedrückt involviert Lepage verschiedenste mediale Phänomene in sein Theater nicht, um die einzelnen Medien auszustellen, sondern um von ihrer spezifischen Erzählweise zu profitieren. Sein Ziel ist es, eine homogene Synthese von visuellem und auditivem Material zu erzeugen. Das bedeutet, dass auf rein akustischer Ebene nicht nur auditiv wahrnehmbare Inhalte transportierbar sind, 7 sondern auch visuelle – und umgekehrt. Das Wort homogen bezieht sich also in diesem Falle auf die gleichzeitige Präsenz und Wahrnehmung von Bild und Klang, die in ihren medialen Differenzen nicht angeglichen werden, sondern mit ihrer charakteristischen Beschaffenheit die Grundlage für die Narration bilden. Es existiert automatisch ein natürliches Zusammenspiel, wobei je nach Dominanz von einem der beiden Informationsträger entweder das Bild den Klang oder der Klang das Bild unterstützt. Sowohl akustische, als auch visuelle Medien besitzen das Potential, die Wahrnehmung von Sinneseindrücken schlagartig zu ändern. Diese veränderte Wahrnehmung ist jedoch nicht nur auf die Vermittlung von Klang und Bild zurückzuführen, sondern auch auf den Raum, in dem die Vermittlung stattfindet. Damit ist weder nur der Raum des Senders noch der Raum des Empfängers gemeint, sondern vor allem der Raum des Aufeinandertreffens der beiden. Anders ausgedrückt entsteht die zu vermittelnde Botschaft von medialen Qualitäten weder in ihrem Ursprung, noch in ihrem Endpunkt, sondern in jenem Raum, der dazwischen liegt. Dieses Zwischen zeichnet sich dadurch aus, dass es stets etwas Unsichtbares oder Unhörbares in sich trägt, was jedoch Einfluss auf das Unbewusste und die Emotion des Publikums hat. 2.1 Das Medium Stimme Besonders in Lepages Arbeit für Lipsynch spielt das akustische Moment in seinen unterschiedlichsten Facetten eine große Rolle. Das Hauptmotiv der menschlichen Stimme wird nicht nur mit Hilfe von verschiedenen Sprechtechniken und- Rhythmen, Stimmanalysen, et cetera näher gebracht, sondern auch mit Hilfe von verschiedensten medialen Genres wie Musik, Radio oder Film. Diese bekannten und assoziativen Genres sind zu einem großen Teil für die emotionale Involviertheit des Zuschauers oder besser, des Zuhörers verantwortlich. Die Stimme stellt - ohne aktiv auf ihre Quelle verweisen zu müssen - ein Dispositiv dar, welches automatisch persönliche Information über den Sender enthält und preisgibt. Sie trägt in Lipsynch maßgeblich zur spezifischen Figurenzeichnung bei, indem sie sowohl auf die Persönlichkeit des Sprechenden und seiner Figur, sowie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Figuren verweist. 8 Folglich findet man in der Stimme ein Medium, welches nicht nur Information und Bedeutung vermittelt, sondern gleichzeitig die unmittelbar wahrnehmbare Präsenz des Senders. Damit ist sowohl seine haptische Präsenz, als auch seine nicht greifbare, emotionale Präsenz gemeint. Die Stimme hat in Verbindung mit der individuellen Sprache des Stimmträgers die Fähigkeit, dessen hinter seiner stimmlichen Äußerung liegende Intention und Emotion zu transportieren. Außerdem integriert das Medium Stimme nicht nur den Sender, sondern auch den Empfänger der Botschaft, wie es das vorhergehende Kapitel der Multimedialität in Lipsynch bereits, anhand des für die Botschaft ausschlaggebenden Interaktionsraums zwischen Sender und Empfänger, erläutert hat. Die Art und Weise, wie das Gesagte oder Gesungene auf der Bühne den Empfänger erreicht, ist nicht rein kognitiv zu verstehen, da sich das Hören meist als ein affektives Erleben vollzieht. Dieses wird durch Faktoren wie der momentanen seelischen oder körperlichen Verfassung, der räumlichen Atmosphäre oder den visuellen oder akustischen Gestaltungsmitteln beeinflusst. Die durch persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, sowie durch momentane äußerliche Umstände empathische Involviertheit des Hörenden, wird durch ein Zitat von Roland Barthes bekräftigt, der behauptet: „Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus.“3 Das Hören gewinnt also bei der Verkörperung der Stimme durch seine enge Verbundenheit mit dem Sinnlichen und Emotionalen einen fast höheren Stellenwert als das Sehen. Denn die Stimme kann als eigenständiger Körper im Raum stehen, gleichzeitig Vermittlerin zwischen Sprache und Körper des Sprechenden sein, und durch ihre Körperlichkeit sogar Beziehungen mit einer Alterität evozieren. Der Empfänger muss nicht einmal direkt angesprochen werden, um sich angesprochen zu fühlen. Denn das Was und das Wie der stimmlichen Äußerung 3 Roland Barthes (1990): Die Musik, die Stimme, die Sprache. In: Roland Barthes (Hrsg.): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 280 9 enthalten unzählige Informationen, die einen unmittelbaren kognitiven und emotionalen Einfluss auf den aktiven Hörer haben. Eine der Fragen, die mich seit meiner persönlichen Erfahrung mit Lipsynch beschäftigt, ist, durch welche technischen und/oder ästhetischen Verfahrensweisen es das Theaterensemble möglich macht, dem Zuhörer Emotion nicht nur zu vermitteln, sondern ihn auch zu involvieren. Dieser Frage soll in den folgenden Kapiteln auf den Grund gegangen werden. 2.1.1 Das Bild im Hörbaren Selbstverständlich lässt die Bildgewalt in Lipsynch verglichen zu Lepages früheren Stücken keineswegs an Effektivität und Raffinesse nach, jedoch trägt diesmal die akustische Komponente einen weitaus größeren Teil zum Endresultat bei. Um den Zugang zu diesem Kapitel zu erleichtern, soll ein wichtiger Aspekt aus dem Buch Connecting Flights von Rémy Charest herausgegriffen werden. Nämlich, dass ein Bildmedium für Lepage nicht zwingend jenes ist, das Bilder zeigt, sondern jenes, das Bilder evoziert. „[...] to me, radio is the real medium of the image because the listeners have to create their own pictures.“4 Am Beispiel des Radios wird also erläutert, dass ein Klang mit seiner akustischen Reichweite nicht nur die Fähigkeit hat, ein visuelles Zitat zu ergänzen oder neu zu definieren, sondern sogar es zu evozieren. Das bedeutet, dass der Klang mit seiner akustischen Resonanz in Form von Melodie, Geräusch oder Rhythmus die Aufmerksamkeit in einer Szene auf die verschiedensten Bezugspunkte lenken kann. Der medienspezifische Klang des Radios evoziert Bilder, die das visuelle Geschehen auf der Bühne verstärken und die Wirkung auf den Zuschauer erhöhen. Dies passiert dadurch, dass das Publikum das Bühnengeschehen mit Auge und Ohr verfolgt, jedoch die akustische Information aus einem anderen Medium bezieht. 4 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 126 10 Doch Lepage zeigt auch kinematografische Momente, also ein medienspezifisches Zusammenspiel von Bild und Ton auf der Theaterbühne, was noch weitere perzeptorische Faktoren in die augenblickliche Rezeptionssituation aufnimmt. Hier sieht und hört das Publikum die Theaterwirklichkeit und die kinematografische Wirklichkeit. Die Bilder werden also nicht mehr durch akustische Mittel evoziert, sondern bestehen bereits auf der Bühne und werden durch das Zutun von nicht – theatralischen Medien sogar noch verstärkt. Man könnte sagen, dass sich die eigentliche Essenz eines Bildes erst durch das richtig portionierte Zusammentreffen von visuellem und akustischem Material im Raum ausbreiten kann. Der Klang ist also ein eigenständiger Protagonist in seinem Metier und gleichzeitig ein Nebendarsteller, der das Potential besitzt, den (Sub-) Text eines Bildes hervorzuheben. Abhängig von der Wahrnehmungsfähigkeit und Phantasie des Zuhörers können also aus akustischen Lauten und Melodien abstrakte oder konkrete Bilder und Assoziationen entstehen. Und genau darin sieht Lepage auch das bildliche Potential der Sprache, das Potential der sprachlichen Visualität. Deshalb ist der Ausdruck Kunstsprache neben dem der Körpersprache in Lepages Arbeit legitim, da Sprache und Stimme hier nie rein der (non) verbalen Kommunikation dienen, sondern auch der Darlegung ihrer ästhetischen Kapazität und Reichweite als Sprachkörper. 11 2.1.2 Der Klang im Sichtbaren Selbstverständlich funktioniert das Phänomen des Bildes im Hörbaren auch auf umgekehrte Weise. Dank der gewonnen Erfahrungen und Eindrücke von Produktionen in unterschiedlichsten Genres hat Robert Lepage das umfangreiche Repertoire der menschlichen Stimme kennengelernt. Dabei erkannte er, dass das Auditive stark um dessen visuelle Dimension, sei es durch konkrete oder imaginierte Bilder, bereichert werden kann. Und ebenso kann das Visuelle um dessen auditive Dimension bereichert werden. Der Stimmklang besitzt neben dem Körper, aus dem die stimmliche Äußerung kommt, eine eigene Körperlichkeit. Durch die Präsenz dieser beiden Körper ergibt sich, dass sie nicht nur auf der akustischen Ebene wahrnehmbar sind, sondern auch aus der Visuellen. Der Stimmkörper ist auch dann präsent, wenn er gerade nicht hörbar, sondern nur durch seinen Resonanzraum des Schauspielerkörpers wahrnehmbar ist. Resonanzräume zeichnen sich durch die zeitliche und räumliche Ausbreitung eines akustischen Phänomens aus. Im Falle von Lipsynch ist die Quelle dieser Phänomene der vorerst nur visuell wahrnehmbare Schauspielerkörper. Von diesem Ausgangspunkt kann sich die Stimme im Raum ausbreiten. Aus diesem Grund ist die Verortung des Gesagten im Raum viel ausschlaggebender als die zeitliche Verortung, die impliziert, wann etwas gesagt wird. Sozusagen entspringt der Klang des Sichtbaren einem räumlichen Phänomen, welches die Bezugnahme zum visuell anwesenden Sprecher ermöglicht. Doch dieses Phänomen der direkten Zuschreibung ist nicht selbstverständlich, denn die Stimme zeichnet sich genauso wie durch ihr Raumbewusstsein durch eine gewisse Ortlosigkeit aus. „Wie allen auditiven Phänomenen ist ihr eigen, dass sie sich von ihrem Herkunftsort entfernt und dislokalisiert.“5 5 Vgl. Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (2009): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S.9 12 Was der Stimme trotz ihres transitorischen Charakters eine Anwesenheit ermöglicht, ist das Visuelle. Und genau dieses Moment versucht Lepage in Lipsynch erfahrbar und verständlich zu machen. Denn die meisten seiner Charaktere sind auf der Suche nach ihrer eigenen oder einer fremden Stimme, die ihrem Körper uneigen ist. Robert Lepage führt sowohl seine Figuren, als auch die Zuschauer durch das Zusammenspiel vom Visuellen und Akustischen zum Finden und Verorten ihrer Stimme. Die Stimme der Charaktere wird dadurch präsent, dass sie den Drang verkörpert, nach außen zu strömen und gehört zu werden. Ist diese Stimme einmal etabliert, so klingt sie mit jeder Figur aus Lipsynch zu jeder Zeit mit, ob die Figur nun gerade ihrer Stimme Herr ist oder nicht. Das visuell erfahrbare Agieren - die Bilder auf der Bühne - wird stets durch den narrativen Stimmprozess der einzelnen Charaktere begleitet. 2.1.2.1 Der Ereignischarakter der Stimme Der Vorgang des klanglichen Phänomens, welches dem Sichtbaren durch räumliche Ausbreitung entspringt, ist ein Ereignis und verweist somit auf den Ereignischarakter der Stimme. 6 Das Ereignis zeigt sich also nicht nur in der lokalen Verortung der Stimme, sondern auch in ihrer anschließenden klanglichen Ausbreitung im Raum. Das Visuelle wird sozusagen vertont. Die zeitliche Begrenztheit eines stimmlichen Lautes, das augenblickliche Verschwinden der Stimme sobald sie den Raum erfüllt hat und der durch die Stimme oftmals unterbewusst transportierte emotionale Subtext sprechen dafür, dass die Stimme ein für Sprecher und Hörer kaum kontrollierbares Eigenleben führt. Doch obwohl die Stimme ein transitorisches Phänomen ist und augenblicklich nach ihrer Äußerung verstummt, kann sie einen Raum erfüllen und den Zuschauern auch akustisch nachhaltig präsent bleiben. Dies ist aufgrund der auditiven Komponente im Sichtbaren möglich. Der Zuschauer erfährt stimmliche Resonanz also sowohl durch eine akustische Äußerung, als auch durch die visuelle Präsenz des Sprechers im Raum. Das bedeutet, dass der Ereignischarakter dafür verantwortlich ist, dass die Kopräsenz von Schauspieler und Publikum in einem Raum aktiv wahrgenommen werden kann. Aus diesen beiden Phänomenen also – aus dem Bild im Hörbaren, 6 Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S 11 13 sowie aus dem Klang im Sichtbaren - ergibt sich die klangliche und visuelle Körperlichkeit eines Individuums. Die neun Geschichten von Lipsynchs Protagonisten werden abwechselnd durch ihre physische Körperlichkeit und die Physis ihrer Stimme dargestellt. Dabei dient die Bühne als eine Art Megafon oder Lupe, die das Bühnengeschehen akustisch und visuell vergrößert, ohne es zu verfälschen. Der Ereignischarakter der Stimme verdeutlicht dem Publikum, dass Lipsynch seine Sprachlichkeit nicht nur benützt, um Inhalte zu vermitteln, sondern vor allem, um mit der Art und Weise der Vermittlung zu spielen. Die einzelnen Geschichten erschließen sich nämlich vorwiegend über die verbalen und nonverbalen Aktionen der Schauspieler und benötigen keine weiteren erklärenden Worte. Die Stimme und die Art und Weise ihrer Artikulierung ist die authentischste Spur des sprechenden Individuums und seiner kulturellen Herkunft. Sie gibt nicht nur einen Inhalt und eine Aussage wieder, sondern auch und vor allem einen ersten und sehr privaten Eindruck der Person, die gerade spricht. Seien es Informationen über ihren emotionalen Zustand, ihre Aufmerksamkeit, ihre soziale Stellung oder ihre Motivation und Intention, gerade jetzt zu sprechen. Als Überleitung zum folgenden Kapitel soll nochmals betont werden, dass die primäre Vermittlerinstanz für die Bühnenereignisse von Lipsynch die menschliche Stimme ist. Und diese kann auch durch die Präsenz von visuellem Material evoziert werden. 2.1.2.2 Der multimediale Charakter der Stimme Robert Lepage spricht von der existentiellen Bedeutung des Visuellen für das Theater. Dieses könne extern, also über die Grenzen der Theaterbühne hinaus, nur als Folge von internen Bilderwelten jedes Einzelnen entstehen. Derartige Bilderwelten schöpft Lepage aus der Natur des Akustischen, welche vermag, aus dem Gehörten augenblicklich Bilder entstehen zu lassen. Lipsynchs Bilderwelten entstehen in einem poetischen Raum, in dem das Akustische sowohl in Verbindung mit, als auch losgelöst vom Visuellen bestehen kann. Viele Szenen beanspruchen anfänglich nur einen der menschlichen Sinne - entweder nur das Ohr oder nur das Auge. Erst in Folge wird das jeweils andere Sinnesorgan aktiv, 14 indem ein Schauspieler einer akustisch hörbaren Stimme seinen Körper, oder einem visuell sprechenden Körper seine Stimme leiht. Dadurch können visuelle Impressionen entstehen, die die individuelle Stimme und Sprache nicht nur als Ausdruck des Selbst bestehen lassen, sondern auch als ästhetisches Moment vor ihrer Vertonung oder Verkörperung. In jedem der beiden Fälle ist es so, dass der bereits vorhandenen Stimme ein zusätzlicher Körper verliehen wird, sei es ein visueller oder ein akustischer. Aus diesem Grund müssen dem Publikum nicht alle Sprachen, die Robert Lepage in seinen Stücken verwendet, geläufig sein. Die Art und Weise der repetitiven und assoziativen Inszenierung des akustischen Potentials der Sprache ermöglicht dem Zuschauer einen neuen Zugang, der über die linguistische Verständlichkeit hinaus geht. Mit repetitiver und assoziativer Inszenierungsweise ist das oftmalige Aneinanderreihen derselben Bedeutungen anhand von verschiedenen akustischvisuellen Bildern gemeint. Beispielsweise vereint Lepages Stück La Trilogie des Dragons, die Sprachen Französisch, Englisch und Chinesisch zugunsten einer Gegenüberstellung und einer Synthese von West und Ost. Und da Sprache nicht nur ein Medium der Kommunikation, sondern gleichzeitig einer der wichtigsten Indikatoren für kulturelle Identität ist, genügt das Ausformulieren einer Phrase in jeder der Sprachen, um ein präziseres Bild des Gesagten zu vermitteln. Denn neben den personenspezifischen Merkmalen der Stimme sorgt die differenzierte Artikulation der Sprache jeder Kultur für eine unverfälschte und unmissverständliche Wahrnehmung der getätigten Aussage. Der Zuschauer hört nicht nur chinesisch, sondern hat gleichzeitig eine Vorstellung des potentiellen Sprechers und seiner möglichen Intention vor Augen. Wozu Lepage sein Publikum durch diese Multilingualität auffordert, ist, dass es Sprache nicht ausschließlich als akustisches Phänomen wahrnehmen soll, sondern als Theaterzeichen mit einer eigenen visuellen Körperlichkeit. Sozusagen bedeutet das Nicht-Beherrschen von Sprache keineswegs das Nicht-Zustandekommen von Kommunikation. Unabhängig davon, was bei den verbalen und nonverbalen Äußerungen in den zahlreichen Fremdsprachen und Dialekten auch passiert, ist es immer die Präsenz der an- oder abwesenden menschlichen Stimme, die jegliche Kommunikationsschwierigkeiten überwindet. Meist dient sie sogar als Beweis dafür, dass verbale Sprache oftmals unfähig ist, effektive Kommunikation zu etablieren. 15 Aus diesem Grund entscheidet sich Lepage ganz bewusst gegen die englische Übertitelung jedes einzelnen Satzes. Die momentane Spielsituation mit ihrem Ringen um Verständnis und Übereinstimmung erklärt sich von selbst, denn es geht in sehr vielen Szenen nicht um das wortwörtliche Verstehen, sondern um das reine Aufzeigen von kommunikativen Momenten. Die Kommunikation auf der Bühne von Lipsynch findet auf unmittelbarem Wege statt, der eine linguistische Interpretation oder Hinterfragung ausschließt und stattdessen die Pluralität von auditiven und visuellen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen fordert. Voraussetzung für das Verständnis für diese Pluralität ist die Sprachqualität, welche in ihrer Struktur oder Bedeutung nie komplex und überladen ist. Lipsynchs Sprache will nicht irritieren oder verwirren, sondern auf natürlichstem Wege und mit einfachsten Mitteln verstanden werden. 3. Homi Bhabhas Konzept der Hybridität Julia Pfahl erklärt das Prinzip der kulturellen Hybridität zu einem essentiellen Bestandteil interkulturellen Theaters und führt in ihrem Buch7 den Indisch- englischamerikanschen Literaturwissenschaftler Homi Bhabha als dessen Begründer an. Folgendes Kapitel soll nun, in Bezug auf Robert Lepages Theater, erörtern, inwiefern die Paradigmen Identität8, Multikulturalität und Alterität nach dem sozialwissenschaftlichen Konzept der Hybridität entschlüsselt werden können. Doch zuvor erfährt man, im Zuge der Erörterung des Begriffs, dass dieser durch komplexe Bedingungen von Migration und Globalisierung zu einer doppelten Wertung gelangte. 1. Zum einen ist Hybridität aufgrund von sich ständig wandelnden Identitäten und künstlerischen Praktiken als Folge von soziodemographischen Entwicklungen negativ konnotiert. 7 Julia Pfahl (2005): Québec inszenieren – Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag. 8 Vgl. Julia Pfahl. Ebd. S. 22 16 2. Zum anderen entnimmt man dem Begriff eine positive Konnotation, da er menschliche Orientierungspunkte revidiert, Sicherheiten destabilisiert und folglich klar definierte Kategorien konstruktiv auf die Probe stellt. Die Thematisierung dieses ambivalenten Phänomens zeigt sich in Lepages Stücken in der Dekonstruktion kultureller Identitäten und demzufolge in einer Umorientierung von kulturspezifischen Wertvorstellungen und künstlerischen Genres. Die Québecer Metropole Montréal ist für Robert Lepage solch ein privilegierter Ort des Hybriden, wo kulturelle Differenzen in stark ausgeprägter Form Gang und Gebe sind. Die Beschaffenheit dieser breiten und heterogen aufgefächerten Gesellschaft ermöglicht ein neues Verständnis von Kultur, nationaler Zugehörigkeit und Identität und setzt die Kunst als vermittelndes und integratives Moment für die Förderung von gesellschaftlicher Akzeptanz und Vielfalt ein. Um Theater und Multikulturalität in einem Projekt zu vereinen, ist die Wahrnehmung von Grenzen und deren Überschreitung, sowie die Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem erforderlich. Dabei kritisiert Homi Bhabha das Machtgefälle vom Eigenen zum Fremden, welches sich in der Zeit der Kolonisation etabliert hat. Unter Machtgefälle versteht er die Tendenz, das Selbst erst durch das Vergleichen und Höherstellen gegenüber dem Anderen zu identifizieren, was die Begriffe nicht im erstrebenswerten produktiven Verhältnis repräsentiert. Bhabha betont, dass beide Begriffe - das Eigene und das Fremde - durch die Erfahrung verschiedener kultureller Zugehörigkeiten in die unmittelbare Selbsterfahrung gelangen und einander gleichermaßen bedingen sollten. Der Ort des Aufeinandertreffens zwischen Eigenem und Fremdem ist ein semiotischer Raum, ein ambivalenter Ort der zugleich verbindet und trennt. Es ist ein sogenanntes Zwischen, ein hybrider Raum, in dem kulturelle Begegnung stattfindet, und der produktiv für die Analyse und Darstellung von Ambivalenzen genützt werden kann. Dieses Zwischen - Homi Bhabha bezeichnet es auch als Third Space zeichnet sich nun durch eine Dichotomie von Eigenem und Fremdem aus und bildet eine spezifische Existenzform, in der eine transnationale, hybride Kulturüberlagerung stattfindet. Die Begrifflichkeiten transnational und hybrid bezeichnen die wesentliche Grundessenz dieses Raumes, nämlich, dass darin das Selbst gleichzeitig mit dem 17 Anderen erlebt werden kann. Darin gibt es keine vorgängige Identität, sondern eine durch die Unterschiede der Selbst- und Fremdwahrnehmung entstehende Anhäufung von Identitätsunterschieden. Mit dieser Charakterisierung öffnet Bhabha den Kulturbegriff nicht nur, sondern dynamisiert ihn auch, denn er behauptet, dass nur ein derart gedachter Raum der Differenz und des Übergangs zwischen den Identitäten die kulturelle Identität eines Individuums ausmachen kann. 3.1 Die Hybridität der Stimme Lipsynch zeigt, dass Hybridität nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch im Alltag und im thematisierten Phänomen der menschlichen Stimme existiert. So wie Lepage als Voraussetzung für die Identitätsfindung das Verständnis für das Andere nennt, so impliziert auch die Stimme eine Konfrontation des Selbst mit dem Anderen. Das Verständnis für andere Kulturen, welches im Kapitel 3 diskutiert wurde, überträgt sich in diesem Kapitel auf die Sprache, die auch verstanden werden kann, wenn sie vom Gegenüber nicht beherrscht wird. Die Stimme als Voraussetzung für die artikulierte Sprache kann insofern als Hybrid bezeichnet werden, als dass sie ununterbrochen zwei Positionen einnimmt, ohne dabei eine der beiden zu privilegieren: Sei es im Dualismus zwischen Körper und Geist, zwischen Verstand und Emotion oder zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Die Stimme verkörpert sozusagen beide Seiten, und durch diese Zwischenposition entsteht auch ihre eigenwillige Identität. Man könnte auch sagen, dass sich die stimmliche Identität durch ihr stetiges Potential zum Wandel auszeichnet. Die Hybridität der Sprechstimme beschreibt also eine Art Nicht–Zustand mit illusorischem und transitorischem Charakter, da er sich zwischen zwei korrelierenden Polen stets weiterentwickelt und nie an ein Endstadion gelangt. Ein derartiger Ort des Nicht- Zustandes wäre beispielsweise der in Lipsynch thematisierte Sprach- und Kulturkontakt, der durch gegenseitiges Einwirken, Übernehmen und Abgeben geprägt ist. Es soll abermals betont werden, dass Kontakt nicht mehr als eine Konfrontation, eine Auseinandersetzung bedeutet. Selbstverständlich braucht eine derartige Konfrontation eine Art Vermittler, damit es zu einer verbalen oder non- verbalen Verständigung kommen kann. Und dieser Vermittler ist die Stimme, die in Lipsynch in die Rolle eines Mediums tritt. Dabei ist 18 ihre Besonderheit einen offenen Raum jenseits von Kategorisierung zu kreieren, in dem Körper und Sprachen verschiedener Nationalitäten nebeneinander existieren und kommunizieren können. Genauer gesagt erzählt sich das Gesprochene mehr über die Spuren der individuellen Erfahrung jedes Ensemblemitglieds, als durch den Gehalt des Gesprochenen. Die Art und Weise des Gesagten gewinnt gegenüber dem Inhalt des Gesagten an Bedeutung. Lepage begibt sich mit seinem Theater auf die Suche nach kultureller und sprachlicher Identität, doch darüber hinaus und noch viel wichtiger erscheint ihm darzulegen, dass neben einem gefestigten Identitätssinn Neugier, Akzeptanz und Offenheit gegenüber anderen Kulturen unabdingbar sind. Übertragen von Homi Bhabhas Theorie auf die theatralische Praxis von Robert Lepage geht es also nochmals um das tolerierte Aufeinanderklaffen und (Re-)agieren von verschiedenen Sprachen, Kulturen, und künstlerischen, medialen Praktiken. Nun stellt sich die Frage nach der ästhetischen Übersetzung solcher Phänomene, also nach der Transformation von eben beschriebenen realen Gegebenheiten auf die Bühne. 3.2 Die Hybridität auf der Bühne Die von Lepage angewandten Mittel zur Transformation vom Leben auf die Bühne sind die Reflexion und die Repräsentation. Genauer gesagt erzählt sich sein theatralisches Schaffen über individuelle Erfahrung und Reflexion jedes Ensemblemitglieds, welche nach langjähriger Recherche in einer spezifischen Repräsentation von Wirklichkeit münden. Dieses Kapitel soll nun dazu dienen, eine Repräsentation von Homi Bhabhas Phänomen der kulturellen Hybridität auf der Bühne zu simulieren. Nachdem die Beschaffenheit des Aktionsraums von Lepages Theater erörtert wurde, soll ein weiterer Schritt von Realität Richtung Fiktion getätigt werden. Der oft gefallene Begriff der Multikulturalität bezeichnet die Vielfalt und das Nebeneinander heterogener sozialer und kultureller Gruppen in einer Gesellschaft. Gleichzeitig benennt der Begriff auch ein politisches Phänomen im Sinne eines Bemühens für ein gleichberechtigtes, gegenseitig anerkanntes Nebeneinander und einen respektvollen Umgang zwischen den Gruppen. Das Wort Gruppe inkludiert 19 jedoch bereits eine Abgrenzung und Kategorisierung innerhalb einer Kultur, was dem Muster von Homi Bhabha widerspricht. Dieser spricht nämlich von kultureller Hybridität im Sinne von Zirkulation, Interaktion und Fusion verschiedenster Komponenten. Die Ähnlichkeit zwischen Homi Bhabhas Ansatz und Lepages Repräsentation desselben auf der Bühne zeigt sich in der Suche nach einer homogenen Heterogenität. Übertragen auf Lepages Theater bezeichnet dies die Vielfalt und das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Sprachen, Kulturen und Medien. Was hingegen nicht Ziel der Darstellung und Repräsentation einer multikulturellen Gesellschaft ist, sind Autonomie, Kategorisierung und festgelegte Definitionen von Identitäten. Wenn also Multikulturalität im Sinne von Lepage vom Leben auf die Bühne gelangt, dann muss vorerst ein Ort kultureller Diversität und Toleranz geöffnet werden, in dem inhaltliche und ästhetische Faktoren neue Bedeutungsformen und Identifikationsstrategien erfahren dürfen. „The significance of Lepage´s “mise en scène” lies in the way in which he employs cultural stereotypes both as a method of characterization and a way of subverting the audience´s expectations of ethnicity.”9 4. Der Einfluss der Méthode Repère auf Lepages Theater Im Kontext des Theaters von Robert Lepage ist der Theatermacher Jacques Lessard anzuführen, der 1980 in Quèbec das Théâtre Repère gegründet hat, zu dem ein Jahr später auch Robert Lepage dazu gestoßen ist. Der Name dieser Theaterform entstand durch die darin praktizierte Arbeitsmethode, die Méthode Repère.10 Dabei handelt es sich um ein Kreativitätsmodell, welches im Zuge der Entwicklung eines Stücks nicht auf die Basis einer vorgefassten Idee oder eines Textes zurückgreift, sondern anhand eines momentan festgelegten Objekts arbeitet. Dabei wird ein Entwicklungszyklus durchlaufen, der sich in vier Etappen gliedert und deren Namen die jeweiligen Anfangsbuchstaben der Methode bilden. 9 Natalie Rewa (1990): Clichés of Ethnicity subverted : Robert Lepage´s La Trilogiedes Dragons. In: Theatre Research in Canada, vol. 11, no. 2 p.107 10 Natalie Rewa. Ebd. p.47 20 REssource, Partition, Evaluation und REprésentation. Diese vier Phasen lassen sich wie folgt beschreiben: Am Beginn steht die Suche nach einer inspirierenden Quelle, einer Ressource, einem illustrierenden Objekt, welches den Ausgangspunkt für ein Sammeln von Assoziationen bilden soll. Im Falle von Lipsynch wäre dieser Ausgangspunkt zweifelsohne die menschliche Stimme. Die Gedanken, Emotionen und Erinnerungen aller Beteiligten, die mit diesem konkreten Objekt verbunden sind, bilden darauffolgend weiteres Arbeitsmaterial. Ausgehend von der Ressource als Anfangspunkt passieren die folgenden Prozesse auf Basis von Intuition und sind nicht intellektueller Natur. Lepage argumentiert, dass man bei seiner Theaterarbeit mit Gefühlen und Assoziationen konfrontiert ist, die nicht bewertbar sind, sondern als produktive Impulse im Raum stehen. Mit diesem intuitiven, emotionalen Material wird dann in der Phase der Partition gearbeitet und improvisiert, um die Ausmaße und Dimensionen der Ressource zu erfassen und näher zu erforschen. Dies ist zugleich ein inspirierendes wie auch sehr langwieriges Procedere, wie Marie Gignac, eine der Darstellerinnen in der Trilogie des Dragons betont. Es sei anfangs ein ewiges Herumsitzen und Reden, ein Kollektivieren von Erfahrungen und Assoziationen aller Beteiligten, bis schließlich der Koordinator der Gruppe, Robert Lepage, beginnt, eine Symbiose aus alledem zu formen und eine gemeinsame Geschichte zu erzählen. Anschließend werden die Ideen und Erkenntnisse in der Évaluation analysiert und nach Brauchbarkeit für den theatralischen Prozess bewertet. Welche Gedankengänge und Szenen dann schlussendlich in die Probenarbeit aufgenommen werden, hängt von deren momentanen dramaturgischen Potential ab. Denn nur weil sich im Zuge der Brainstorming – Prozesse Gedanken oder Motive wiederholen, heißt dies noch lange nicht, dass sich durch sie ein dramaturgisch schlüssiges Konzept entwickeln lässt. Was eine produktive Idee im Sinne eines dramaturgisch schlüssigen Konzepts auszeichnet, ist, dass diese sowohl die einzelnen Bausteine - wie beispielsweise ein subjektiver Charakterzug oder ein Requisit - als auch die Gesamtszenerie bedient. Geprüft werden diese Qualitäten anhand ihres Potentials in der Improvisations- und Imaginationsarbeit. Unter dem letzten Punkt, der Représentation, ist kein Abschluss zu verstehen, auch wenn es sich dabei um die Aufführung des vollendeten Stücks handelt. Denn das 21 Moment der Repräsentation, der endgültigen Performance der zusammengetragenen Erfahrungen bildet erst den Schreibprozess, den Lepage als Autor im wortwörtlichen Sinne umgeht. In anderen Worten wird im Augenblick des Aufführens und im Austausch mit dem Rezipienten, dem ein monatelanges Improvisieren und Probieren vorausgeht, das Stück erst geschrieben. Das Besondere an dieser Arbeitsweise ist, dass die Handlung an sich erst nach Abschluss aller Proben und Vorstellungen fixiert und definiert wird, denn die Bilder und Töne von Lepages Theater vereinen sich erst im prozesshaften, zyklischen Schaffensprozess zu einem polyphonen Zeichensystem. Lessard konzipierte mit dem Théâtre Repère eine Produktionsform ohne Endgültigkeitscharakter, die sich literarischen oder formalen Vorlagen entzieht und eine eigene szenische Sprache entwickelt. Diese szenische Sprache ist durch akustische und visuelle mehrdimensionalen Darstellungsebenen Bildlichkeit, aus der geprägt verbale und und lebt von non- einer verbale Kommunikationsformen erst evoziert werden. 4.1 Imagination statt Textvorlage In Folge dieser Annäherung an Lepages Theaterschaffen ist möglicherweise noch unklar, wie man sich die Entstehung seiner Stücke nur anhand von assoziativen, menschlichen Erfahrungswerten vorstellen kann. Der Vorteil seiner Arbeitsweise ist, dass ein vorgegebener Theatertext, ein konventionelles Skript nicht erst modifiziert und gestrichen werden muss, sondern mit der finalen Performance erst entsteht. Das Fehlen einer Textvorlage bringt dem Theater wieder den Reichtum des phantasievollen und grenzenlosen Erlebens wieder. Als unabdingbares Instrument für dieses eigentümliche Erzählen und Erleben von Geschichten beschreibt Robert Lepage die Vorstellungskraft. Er sagt, dass er nicht zwingend an den Orten gewesen sein muss, die er in seinen Stücken thematisiert. Im Gegenteil, die Unkenntnis über ein Land oder eine Stadt würde ihm sogar dazu verhelfen, einen für die Atmosphäre des Stücks essentiellen mysteriösen Imaginationsraum zu entwickeln. 22 „There is the physical place and then there´s what the place represents for you.“11 Lepage meint in diesem Zusammenhang, dass es nicht so wichtig sei, geografisch korrekt zu sein, sondern viel mehr, jene Charakteristika eines Ortes, eines Landes, oder eines Geschehens heraus zu filtern, die für das Stück brauchbar sind. Und wenn es nur persönliche, subjektive Assoziationen mit einem kulturell geprägten Gegenstand oder einem Ort sind. Außerdem betont Lepage, dass ihm das bereits Bekannte und in seiner Vorstellung Präsente oftmals geholfen haben, das Unbekannte zu verstehen. In anderen Worten, man muss nicht in China gewesen sein, um dessen Mentalität zu verstehen. Allein die Faszination für das Land, die Lepage in La Trilogie des Dragons auf der Bühne thematisiert, verhalf Lepage zu einem besseren Verständnis und einer ausgeprägten Vorstellungskraft für soziale und kulturelle Vorgänge im asiatischen Raum. Diese gewonnene, wenn auch subjektiv orientierte Kenntnis über ein fremdes Land und der anschließende Vergleich zwischen Ost und West haben Lepage auch ein besseres Verständnis für den Westen verschafft. Imagination soll also nicht nur einseitiger Recherche entspringen, sondern ihrem Betrachter stets einen Spiegel vor Augen halten, der ihm die Kehrseite eines Phänomens eröffnet. Um diesen Sachverhalt zu erläutern erwähnt Lepage, dass oftmals das Unbekannte erforscht werden muss, um schlussendlich etwas bereits Bekanntes neu zu entdecken. Genau aus diesem Grund schließen Lepage und sein Ensemble eine Stückvorlage zu Beginn ihrer Probenarbeit aus. Lepage nennt in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Tourist und Reisendem, sei es eine imaginäre oder eine reale Reise. Ein Tourist, der unendlich viel in kurzer Zeit bereist und konsumiert, könne unmöglich dieselben Eindrücke von der Reise mitbringen wie der Reisende, der sich die Zeit nimmt, die Essenz eines Ortes zu entdecken und am eigenen Leib zu erfahren. Die Reise, von der soeben die Rede war, steht sinnbildlich für das Theater von Robert Lepage, welches es nicht intellektuell anhand des Textverständnisses, sondern sinnlich und imaginativ zu erfahren gilt. 11 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 35 23 4.2 Erinnerung statt Fakten Was bei einem Einblick in die Probenarbeit von Lepage sichtbar wird, ist der große Stellenwert, den die Aufarbeitung von subjektiver und kollektiver Erinnerung hat. Durch seinen Vater, der nebenberuflich als Taxifahrer für Touristen in Québec arbeitete, gewann Lepage einen ganz eigenen Zugang zum Geschichtenerzählen. Nämlich den der Mythologie, die genauso wie die persönliche Wahrheit aus dem mehr oder weniger wahrheitsgetreuen generationenübergreifenden Geschichtenerzählen entsteht. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass man dem Erzählten den nötigen Freiraum gibt, sich zu entfalten. Denn, wie es Lepage aus den Erzählungen seines Vaters miterlebt hat, entsteht der ausschlaggebende Effekt der Narration nicht durch deren Richtigkeit, sondern vielmehr Unvollständigkeit, welche die Fähigkeit hat, die Fantasie anzuregen. durch ihre Man nennt dieses Phänomen auch Personalisierung der Narration, da die subjektive Erinnerung wichtiger ist, als eine objektive Aneinanderreihung von Fakten. Dies ist auch der Grund, weshalb Lepages Werk, egal welche überdimensionalen Ausmaße es annimmt, stets eine persönliche und private Note in sich trägt. Das Freilassen der persönlichen und der kollektiven Erinnerungen innerhalb des Ensembles vermag eine Bilderwelt entstehen zu lassen, anstatt sie anhand einer Vorlage zu konstruieren. Eine weitere Voraussetzung für das Erinnern und die darauffolgende Entwicklung von Lepages Geschichten ist die Konfrontation mit Zeit und Ort. Die Vergangenheit und vor allem das Eingeholtwerden durch dieselbe spielen für jede einzelne Figur eine ausschlaggebende Rolle und werden als manifester Grund für ihr jetziges Sein dargestellt. Das bedeutet, dass die Narration die Figuren nicht lenkt, sondern sich rund um die Vergangenheit und Gegenwart der Figuren schlängelt, während diese Zeit und Ort erfahren, konsumieren und begreifen. Die Geschichten der einzelnen Figuren im Stück befinden sich allesamt in oder zumindest kurz vor einem Wandel, was ihre persönliche und geografische Zugehörigkeit in Frage stellt. Durch das auf der Bühne offengelegte Unbewusste werden die Erinnerungen der Charaktere und somit ein wichtiger Teil ihres Selbst nicht nur ihnen, sondern auch dem Publikum erfahrbar. Als Abschluss der Kapitelreihe über die Arbeit von Ex Machina und ihren Bühnenraum sollen nochmals die Begriffe Leben und Bühne erläutert werden. Die 24 Trennung zwischen den beiden Existenzformen gibt es im Sinne von Lepage nämlich gar nicht, sondern es ist ein konstant zirkulierender Fluss, der Ereignisse und Erfahrungen aus dem Leben auf die Bühne und wieder zurück bringen soll. Somit konnte in diesem Kapitel belegt werden, dass das gesellschaftstheoretische Konzept Homi Bhabhas sehr wohl für Lepages Bühnenarbeit übernommen werden kann, da die körperliche Präsenz auf der Bühne nicht getrennt vom Leben abseits der Bühne betrachtet werden kann. 4.2.1 Robert Lepages Theatervokabular Robert Lepage führt die Varietät der sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten unter anderem auf die sprachlichen und funktionellen Differenzen im Theatervokabular der verschiedenen Sprachen zurück. Es zeigt sich bereits im Gebrauch des verbalen Instrumentariums der Theaterszene, dass nicht nur das Theaterspiel in den unterschiedlichen Kulturkreisen divergiert, sondern auch die Rezeptionsweise. So handelt es sich beim englischsprachigen Publikum (audience) um eine auditive Praxis des Theatererlebnisses, bei der sich das Publikum Geschichten anhört, und beim französischsprachigen (spectateur) um ein primär visuelles Wahrnehmen von erzählten Geschichten. Es ist also ein essentieller Unterschied, ob man vom französischen Anschauen einer Show spricht, oder vom englischen Hören einer Show. Das englischsprachige Publikum kommt, um sich die Essenz des Wortes und der Sprache anzuhören, wobei das Visuelle bei Weitem nicht den Stellenwert hat, den es beispielsweise im Französischen besitzt. Das Wort Schauspieler, Acteur im Französischen oder Player im Englischen enthält ebenfalls wesentliche Eigenheiten in den einzelnen Sprachen: Der Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken, die das Wort Spiel inkludieren, und dem Ausdruck Acteur ist ein sehr markanter. Im Deutschen und Englischen ist jemand, der eine theatralische Performance zeigt, jemand der spielt. Was aber auf der Bühne meistens tatsächlich stattfindet, ist ein Agieren, kein Spielen. Die französische Sprache ist dieser Ansichtsweise um Einiges näher, da ihr Ausdruck Acteur keine Konnotation mit dem Wort Spiel aufweist. Robert Lepage hält es dennoch für notwendig, das Bewusstsein des Spielens durch das Einbeziehen von Wettkampf, Spiel und Sport im Theater zu schärfen. Warum ihm das so wichtig ist, soll im Folgenden klar werden: 25 Sobald der Zuschauer ein Lebewesen aus Fleisch und Blut auf einer Bühne oder einem Sportplatz erlebt, beobachtet, bewundert, ja verehrt er diesen Körper sogar. Die physische Präsenz des Körpers auf der Bühne erweitert und vergrößert die Essenz dessen, was er ausdrücken möchte und katapultiert den Akteur für den Zuschauer in eine Art jenseitige Unsterblichkeit. Die daraus entstehende Distanz zwischen dem Bühnenmenschen und dem Publikum wird erst durch das Spiel minimiert, welches die erhabenen Bühnenmenschen zu menschlichen Verwandlungskünstlern macht. In anderen Worten nimmt das Einbeziehen des Spielcharakters das übersteigerte Distanzgefühl zwischen Schauspieler und Publikum. Es folgt die Analyse des Begriffs des Regisseurs, Director im Englischen, und Metteur en scène im Französischen: Da diese Berufssparte stark mit Autorität verbunden ist, finden sich die Wurzeln dieser Begriffe in autoritären Regimes oder Monarchien, und werden beispielsweise im Deutschen (Regisseur) stark mit Regieren und Führen assoziiert. Im deutschen Theater trägt der Regisseur schließlich auch ein hohes Maß an Verantwortung, da er die Kontrolle über das gesamte Projekt haben muss. Hingegen im Französischen (metteur en scène) ist der Regisseur jemand, der Dinge auf die Bühne bringt, was mehr den Eindruck eines Ausführenden, als den eines Anweisenden erweckt. Für Lepages Theater ist die deutsche Art des Theatermachens undenkbar, da im kanadischen Raum ein viel demokratischerer, gleichberechtigter Umgang zwischen dem Regisseur und den Schauspielern herrscht. In Japan wird wiederum das extreme Gegenteil zum deutschen Raum praktiziert, da die Menschen dort hierarchische Strukturen auch in der Kulturarbeit streng ausleben. Respekt und Ehrfurcht sind also weitaus wichtiger als eventuelle Missstände oder Schwächen. Ein weiterer, grundlegender Unterschied zwischen der japanischen und der deutschen Arbeitsweise, liegt in der Art zu denken. So wie das japanische Idiogramm das Wort Denken mit Hilfe eines Felds über einem Herzen darstellt, praktizieren Japaner das Denken mit dem Herzen; diese emotionale Intelligenz wird bei Deutschen durch ein eher kopflastiges Denken ersetzt. 26 „When I work with actors I tell them they have to play with emotion and intelligence. The combination of the two creates intuition, which is intelligence of the heart.”12 Da der westliche Raum, laut Lepage, die Begriffe Emotionalität und Rationalität trennt, betont er die Wichtigkeit eines Mittelwegs zwischen den beiden Extremen West und Ost. Robert Lepage möchte die sich in Sprache und Denken abzeichnenden kulturellen Verschiedenheiten jenseits des linguistischen Verstehens überwinden, indem er sein auf Akustik und Visualität beruhendes Theater als semiologisches Zeichensystem etabliert. Dabei vergleicht Lepage Methoden, Denkweisen und Visionen, die dann auf einem gemeinsamen Weg zusammen geführt werden sollen. Die Bühnen-, Inszenierungs- oder Schauspielpraxis verrät sehr viel über die einem Land innewohnende Kultur und Wertevorstellung. Folgedessen steht der Theatermacher vor seiner größten, aber auch spannendsten Herausforderung, sich bei seinen internationalen Touren durch die Welt bestmöglich an die jeweilige Lebensrealität eines Landes anzupassen, und etwas davon in das eben genannte semiologische Zeichensystem zu integrieren, um es in seiner internationalen Verständlichkeit zu bereichern. 5. Robert Lepages hybrides Theater und seine ästhetischen Verfahren Robert Lepage wächst bilingual auf und bezeichnet sich selbst als kulturell schizophren, da er sich aufgrund seiner Familienverhältnisse - sein Vater ist frankophon, seine Mutter und zwei seiner Adoptivgeschwister anglophon - sowohl als Amerikaner, als auch als Europäer bezeichnet. Durch diese Gegebenheiten privilegiert, schwärmt er von Erfahrungen mit verschiedenen Kulturen in unterschiedlichen Regionen und Sprachräumen. Diese kulturelle Vielfalt und der ständige Konflikt des Individuums zwischen innerer, 12 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 64 27 nationaler und äußerer, internationaler Perspektive spiegeln sich auch in seiner Arbeit als Theater- und Filmemacher. Robert Lepage absolviert sein Studium am Conservatoire d´Art Dramatique in seiner Heimatstadt Québec City und schließt daran eine Ausbildung beim Schweizer Regisseur Alain Knapp in Paris an. Dieser hat ihn neben seinem Dozenten Jaques Lessard stark geprägt und seine Karriere um den Aspekt der essentiellen Multifunktionalität des Regisseurs als Autor und Schauspieler gleichzeitig bereichert. Anschließend beginnt Lepage seine Arbeit als Improvisationskünstler an der Ligue Nationale d´Improvisation (LNI). Hier begreift er, dass sich seine Tätigkeiten als Autor, Schauspieler und Regisseur, welche er früher nur getrennt praktiziert hat, tatsächlich zu einer fruchtbaren Fusion zusammentragen lassen. Es beginnt eine simultane Arbeit seiner Sinne, Emotionen und Gedanken mit den technischen und dramaturgischen Anforderungen eines Produktionsprozesses, wobei er als ein und derselbe Multiakteur das Detail und das Gesamtprojekt im selben Moment sieht. Diese Tatsache ist wohl ausschlaggebend dafür, dass Lepages Publikum in seinen Stücken stets ein harmonisches Nebeneinander von technischer Raffinesse und sinnlicher Feinarbeit erlebt. Das bereits erwähnte Motiv des Work-in-Progress, welches der Theaterarbeit von Jaques Lessard entstammt, erweist sich als essentielles Konzept zur Verwirklichung seiner Projekte, da Theater in seinen Augen stets ein gemeinschaftlicher Prozess ist, bei dem jeder Beteiligte denselben Stellenwert genießt. „Die Zusammenarbeit mit Robert Lepage ist immer eine kollektive Arbeit. Seine Theateraufführungen entstehen gemeinsam mit den Schauspielern über Recherchen, Improvisationen und Proben. Wir sind alle gleichberechtige Autoren des Stücks. Robert ist überzeugt davon, dass sich das Stück selbst schreibt, wenn man sozusagen layer upon layer vorgeht. Es ist eine konstante work – in – progress – Entwicklung, denn selbst jetzt werden noch laufend Szenen geändert, obwohl wir bereits seit Herbst 2008 spielen.“ 13 13 Eva Morocutti (2010): „Lipsynch“ von Robert Lepage. “alles unter einem dach”. Interview mit Eva Morocutti. In: Wiener Festwochen, GAP, 04C 28 Interessant ist jedoch, dass Lepage sein Theater trotzdem weniger als ein experimentelles, sondern eher als ein untersuchendes und erfahrendes bezeichnet. Das Experiment nimmt zwar einen wichtigen Platz in seiner spezifischen Theaterarbeit ein, doch der Fokus liegt viel mehr auf dem vorläufigen Suchen nach möglichen Formen des Experiments. Diese Tatsache bekräftigt wiederum das Argument, dass das Wie in Lepages Arbeit eine weitaus größere Bedeutung erlangt als das Was, handelt es sich um sprachliche, formale, oder ästhetische Phänomene. Robert Lepages Team, Ex Machina, sucht nach neuen Arten von Kommunikationsund Ausdrucksformen, während es das Publikum aufgrund seiner reinen Anwesenheit in den Prozess mit einbezieht. Dabei spricht das Ensemble zugunsten einer internationalen Verständlichkeit keine bestimmten Zielgruppen an, sondern alle Alters-, Gesellschafts- und Sprachgruppen. Erst diese Absicht macht es möglich, von einer vorgefassten Idee abzusehen und sie stattdessen aus der gemeinsamen Erfahrung zwischen Ensemble und Publikum entspringen zu lassen. Die folgenden Kapitel sollen zeigen, dass Lepages Theater dank der gleichberechtigten Integration des Gedankenguts jedes einzelnen Beteiligten, sowohl von kollektivem als auch von individuellem, persönlichem Erleben profitiert. In Homi Bhabhas Sprache würde dies bedeuten, dass der Austausch von kollektiver und persönlicher Erinnerung auf der Bühne von Lipsynch, dem Austausch zwischen dem Selbst und dem Anderen unterschiedlicher Kulturen entspricht. „Die Zusammenfügung verschiedener Medien und Wahrnehmungsformen erlaubt die beständige Transformation des Geschehens, indem in und mit einem Medium und einer Wahrnehmungsform eine Alterität, eine andere mediale Verfasstheit wie auch ein anderes Wahrnehmen in An- und Abwesenheit gespiegelt wird.“14 Geht man also davon aus, dass die Erforschung von Identität und Fremdheit nie getrennt voneinander stattfinden, so erlangt die Beschäftigung mit dem Fremden auf der Suche nach sich selbst einen viel größeren Stellenwert. 14 Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 54. 29 5.1 Die Sprache In Lipsynch sind sowohl die Stimme als auch die Sprache inhaltliche und formale Hauptmotive. Nun sollen die beiden Phänomene auch getrennt voneinander genauer beleuchtet werden. Sprechen ist die Artikulation von Lauten, wobei die Stimme besonders dann zum Vorschein kommt, wenn das Gesprochene oder gar der Sprechende selbst nicht identifizierbar sind. Das bedeutet nicht, dass eine Stimme keinem Individuum mehr zugeordnet werden kann, sondern dass das Medium Stimme losgelöst von der sprachlichen Charakteristika Artikulation das anzunehmen. Potential Damit besitzt, sind verschiedenste sowohl die akustische unterschiedlichen Stimmqualitäten der Schauspieler gemeint, als auch die veränderbare Stimmqualität durch ein technisches Medium. Robert Lepage beleuchtet in Lipsynch die menschliche Stimme sowohl in ihrer unmittelbaren artikulatorischen Anwesenheit, als auch in ihrer veränderten Präsenz durch die verschiedenen Medien. Unter diesen finden sich Kommunikations- und Unterhaltungsmedien wie Telefon, Radio, Fernsehen und Film. Die Ästhetik solcher sprachspezifischer Verfahren in Lepages Theater entsteht dadurch, dass sie allesamt durch den Wirkungsraum der Theaterbühne gezeigt und wahrgenommen werden. Auf diese Weise etabliert er eine universell verständliche (Kunst-) Sprache, die sich durch folgende Eigenschaft auszeichnet: Lipsynchs Sprache wird enthierarchisiert, was bedeutet, dass ihre primäre Funktion als verbales Kommunikationsmittel hierarchisch hinter ihre Funktion als auditives Moment rutscht. Genauer gesagt ist die Sprache von Lipsynch nicht nur kommunikatives, sondern vor allem auch darstellerisches Element, welches die visuelle Ebene des Bildertheaters akustisch unterstützt. Diese Tatsache legitimiert die Gleichstellung von Stimme und Sprache, da der akustische Aspekt der Sprache, also die stimmliche Lautbildung, noch wichtiger ist als der inhaltliche. Und das Theater ermöglicht es nun, dass sich zwischenmenschliche Kommunikation mehr über den stimmlichen Gestus überträgt als über den verbalen. Lepages universelle Kunstsprache ist also eine ästhetische Form der Kommunikation, die es ermöglicht fünf verschiedene Sprachen und Dialekte für Figuren und Publikum verständlich zu machen. 30 „What I like to do is use the words as music. People´s talk become music and what they do are the real verbs, the real actions, the real phrases. [...] People associate words and senses and objects and imagery.“ 15 Das bedeutet, dass das was gesagt wird, durch das wie verstanden wird. Wie die Stimme sich äußern kann, wird nun im folgenden Unterkapitel erläutert. 5.1.1 Charakterzüge der Stimme Ausgehend von den stimmlichen Phänomenen in Lipsynch haben sich fünf Eigenschaften der Stimme heraus kristallisiert. 1. Die Stimmqualität: Sie bezeichnet die klanglichen Eigenschaften einer Stimme, wie beispielsweise ihre Heiserkeit oder Sanftheit. 2. Die Stimmdynamik: Sie beschreibt die Lautstärke der Stimme. 3. Die Grundfrequenz: Sie bestimmt die tiefe oder hohe Stimmlage. 4. Die Standardabweichung: Sie prüft die Stimme auf ihre monotone oder melodiöse Abweichung von der Grundfrequenz. 5. Die Intonation: Sie umfasst das Spektrum der Tonhöhen.16 Diese stimmlichen Charakteristika besitzen das Potential, in Kombination mit sprachlichen Eigenheiten wie Akzenten, Dialekten oder Sprachfehlern, einzelne Charaktere zu stilisieren. Das bedeutet, dass sich nicht nur ein wiedererkennbarer, figurenspezifischer Stimmklang entwickelt, sondern auch ein automatischer Zusammenhang zwischen visueller Präsenz der individuellen Körperlichkeit einer Figur und der akustischen Präsenz ihres Stimmklangs. Genauer gesagt ist nur mehr einer der beiden Sinne - Ohr oder Auge - nötig, um eine Figur identifizieren zu 15 Nigel Hunt (1989): The Global Voyage of Robert Lepage. In: Richard Schechner (Hrsg.): The Drama Review. New York: University Tisch School of the Arts. S.112 16 Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 111 31 können. Dies trifft zu, obwohl Lepage in Lipsynch die unterschiedlichsten Sprachen, Dialekte und Sprachmuster vermischt, und diese sogar teilweise von ein und demselben Schauspieler sprechen lässt. Dass das Publikum - sogar in den letzten Reihen - dennoch immer weiß welche Figur gerade spricht, hängt mit dem fein ausgearbeiteten Sprachgestus der Schauspieler zusammen. 5.1.2 Das Spiel zwischen Körper und Stimme Lepages Theater kann als Hypermedium bezeichnet werden, da es aufgrund der zwingenden körperlichen Anwesenheit von Schauspieler und Publikum kein Medium im konventionellen Sinne ist. Das Charakteristikum eines Mediums ist, dass es selbst, also seine äußere Erscheinung, hinter seiner Botschaft verschwindet. Doch am Theater wird die Botschaft, das Innere stets durch die Anwesenheit des Äußeren, also durch materielle Zeichenträger präsentiert, die keineswegs hinter der Botschaft verschwinden, sondern einen großen Teil derselben erst ausmachen. Das Hypermedium als Endprodukt, sofern man bei Lepage von einem finalen Produkt sprechen kann, schließt eine Vielzahl von medialen Zeichensystemen ein, die der Zuschauer differenziert voneinander wahrnehmen kann. Das bedeutet, dass der Zuschauer nicht nur die Theatralität des Theaters erfährt, sondern auch das Charakteristikum jedes einzelnen in sich aufgenommenen Mediums. Nun sollen im Hypermedium Theater speziell die Medien Stimme und Schauspielerkörper untersucht werden. Die Medialität dieser beiden (un-)trennbaren Einheiten zeigt sich darin, dass sie sowohl die individuelle Basis eines Resonanzraums bilden, als auch im Falle der Kombination mit technischen Medien in ihrer Ästhetik wandelbar und flexibel sind. Das Hypermedium Theater stellt den Körper und die Stimme in ein ständiges Wechselspiel zwischen Einheit und Gegenübertretung, zwischen Ereignis und Wahrnehmung, während es ihren performativen Charakter repräsentiert und phänomenalisiert, und somit den Sinnen zugänglich macht. Es entsteht ein „Mehrwert an Bedeutung. [...] Wie etwa die Stimme als Medium der Rede nicht nur deren Inhalt, deren Botschaft vermittelt, sondern das Gesagte durch Tonfall, Brüchigkeit der Kommunikation oder Versagen auch 32 kommentiert oder gar unterminiert, ihr also nicht nur als [...] Werkzeug dient, sondern daneben selbst auch Aussagen macht.“17 Im Falle eines Auseinandertretens der Entitäten Stimme und Körper werden ihre grundspezifischen Eigenheiten ausgestellt und erzeugen durch ihre Widersprüchlichkeit Konflikte auf ästhetischer und narrativer Ebene. Wenn sich die Stimme in ihrer eigenen Expressivität vom Körper löst, bedeutet das nicht, dass sie unabhängig von diesem existiert, sondern dass sie das Hypermedium eigenständig und selbstverantwortlich in Anspruch nimmt. Dabei können ihr unkontrollierte und unartikulierte Worte entspringen, die nicht in Einklang mit dem Schauspielerkörper sind, sondern ihn in den Hintergrund stellen. Lepages Hypermedium Theater ermöglicht es sowohl der Stimme als auch dem Körper, die Bühne mit ihrer individuellen Aura zu füllen, was im Falle der Stimme bedeutet, dass sie sich als eigenständiger Stimmkörper ihrem leiblichen Gesicht gegenüberstellen kann. Möglicherweise könnte man sogar sagen, dass sich die Stimme dem Zuschauer erst dann in ihrer vollen Bandbreite offenbart, wenn sie aus ihrem Schauspielerkörper heraustritt und als eigenständiger Stimmkörper existiert. 5.2 Die Transformation in Lepages Theater Im Grunde genommen kann man die theatralischen Vorgänge, die bisher analysiert und beschrieben wurden alle als Transformationen beschreiben; sei es die Transformation vom Probenprozess zur Aufführung, von dramaturgischen und technischen Mitteln auf der Bühne, die Transformation eines Objekts oder Charakters oder die Transformation der Stimme. Auch das Ersetzen des konventionellen Theatermachens mit einem vorgefertigten Text durch eine zyklische und prozesshafte Ensemblearbeit, ist nichts anderes als eine Transformation. Medialhybride Theaterformen bringen automatisch verschiedenste Arten von Veränderung und Wandel mit sich, die in diesem Kapitel anhand von Lipsynch untersucht werden sollen. 17 Julia Pfahl (2010): The medium has a message! – Zur Profilierung eines theaterwissenschaftlichen Begriffs. In: Forum Modernes Theater, vol. 25, no. 2. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 119 – 132 33 Robert Lepage sieht das Aufkommen fremder Medien wie Film, Fernsehen oder Radio am Theater nicht als Einschränkung seiner ästhetischen Kapazitäten, sondern im Gegenteil als eine Möglichkeit der künstlerischen Entfaltung. Die durch kulturelle und mediale Hybridisierung entstehenden Transformationen in Lipsynch implizieren Grenzüberschreitung sowie -erweiterung auf inhaltlicher und formaler Ebene. Das Bühnenbild ist wohl das offensichtlichste Beispiel dafür, da Robert Lepage die traditionelle Theatermaschinerie illusionistischen Darstellungsweise zugunsten einer ununterbrochen phantasievollen umwandelt, und und diese Verwandlungen ebenso theatralisch offenlegt wie die einzelnen Geschichten. Warum Lepage die Transformation für ein so essentielles darstellerisches Mittel innerhalb der Handlung und auch als Rahmen derselben hält, erklärt er am Beispiel der Erwartung des Rezipienten. Dieser kommt schließlich in vollem Bewusstsein darüber ins Theater, dass er Zeuge einer Vielzahl von Verwandlungen vor, hinter und auf der Bühne wird. Ob dies nun eine Metamorphose der Narration oder die bühnentechnische Umwandlung ist. Die Verwandlung nimmt im Zuge der sich auf der Bühne abspielenden Geschichte ihren Lauf, ohne erklärt oder kommentiert werden zu müssen. Die Tatsache, dass diese Prozesse selbstverständlich in die Handlung integriert werden, führt dazu, dass sie nicht hinterfragt oder interpretiert werden müssen und somit der Fokus stets auf dem Geschehen haften kann. Nun muss gesagt werden, dass Veränderung nur aus etwas bereits Vorhandenem entstehen kann. Und da dies bei Lepage bekanntlich kein Skript oder Theatertext ist, sondern eine willkürliche Ansammlung von Erfahrung, Assoziation und Erinnerung, ist es das Chaos, welches die Plattform für Veränderung bietet. Und aus diesem anfänglichen Chaos entsteht durch gedanklichen und verbalen Austausch ein Transformationsprozess, dessen Resultat bei Künstlern herkömmlichen Theaters bereits vor Probenbeginn festgelegt zu sein scheint. Genau das möchte Lepage vermeiden; er integriert den Transformationsprozess in das Bühnengeschehen, anstatt ihn vorwegzunehmen und ihn dem Publikum vorzuenthalten. Durch die Offenheit und Empfänglichkeit für Gedanken und Aktionen seiner Spieler entsteht eine schrittweise Annäherung an alle offenen Fragen und Zweifel, wodurch sich die Szenen und Szenenübergänge erschließen. 34 „[...] I think it helps let the play speak without being too sharply forced in one direction. […] I take notes, I feel things, but mostly I draw on what comes up during the rehearsal.”18 Die Kunst der Schauspieltruppe liegt nicht nur darin, ihre Kreativität in den Raum zu stellen, sondern auch und vor allem darin, eine autonome Performance mit ihrer eigenen Logik und Poesie, ihrem eigenen Rhythmus entstehen zu lassen. Dass aus diesem uneingeschränkten Prozedere auch Fehlschlüsse oder unfertige Gedankengänge resultieren können ist selbstverständlich, denn nähert man sich einer Transformation nach dem Prinzip der Zufälligkeit und Offenheit, ist Chaos vorprogrammiert. Robert Lepage sieht diese Vorstufe jedoch als notwendig, um einem Stück Leben und Authentizität einzuhauchen. So wie es laut ihm hinderlich für eine inspirierende Produktion ist, auf vorgefertigten Ideen festzusitzen, so ist es auch hinderlich, auf eine verlässliche und unumstößliche Struktur und Ordnung zu beharren. Lepage pflegt im Interview mit Rémy Charest in Connecting Flights mehrmals zu sagen, dass das Endergebnis immer ein Spiegel der anfänglichen Einstellung und Herangehensweise sei. Und ist die Herangehensweise durch Ordnung und Starre gezeichnet, so wird dementsprechend auch das Endergebnis aussehen. Eine simple Metapher, die er zur Festigung dieses Arguments erwähnt, ist die der Entstehung des Kosmos aus dem Chaos. Denn selbst im Kosmos, in dem sich selbstverständlich Ordnung und Hierarchie entwickelt haben, besteht das Chaos immer noch in einer organischen und sich stetig verändernden, nicht statischen Beschaffenheit. Chaos ermöglicht nicht nur einen Prozess der Kreation und Erneuerung, nein, es erzwingt ihn sogar im Zuge der Zirkulation des Lebens. Wo kein Chaos besteht, kann auch nicht die natürliche Tendenz entstehen, Ordnung zu schaffen. Derartige Dualismen, wie Chaos und Ordnung, sind ausschlaggebend in Lepages Schaffen. Dabei arbeitet der Regisseur nach dem Motto, dass ein eingetretener Zustand sofort ein Aktivieren seines Gegenzustands zur Folge hat, sozusagen, dass sich Punkt und Kontrapunkt automatisch bedingen. Denn ohne ursprünglichen Standpunkt ist es gar 18 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 167 35 nicht möglich, einen Kontrapunkt zu erkennen, der das Positive eines bereits bestehenden Sachverhalts ans Licht bringen könnte. Transformation braucht also stets einen Impuls. Ist man sich einmal dieses natürlichen Kreislaufs bewusst, so kann man Zustände oder Prozesse durch das Erwägen ihres Gegenteils erzielen, anstatt sie zu forcieren. Dies trifft sowohl im Theater, als auch im wirklichen Leben zu: In einem Theaterstück kann beispielsweise das Sinnbild von Leben und Überleben durch das Bewusstmachen von Tod und Leid erzeugt werden. Im Leben ist das Gefühl von Freiheit oder Glück erst richtig durch das Loslösen vom Gegenteil, nämlich von emotionaler oder physischer Gefangenschaft oder Unglück, wahrnehmbar. Die Beispiele belegen, dass jegliches Forcieren eines Zustandes den Verlust des Gesamtbildes zur Folge hat. Anders ausgedrückt kann ein starrer Fokus auf einen spezifischen Sachverhalt unmöglich zur selben Ausschöpfung seiner Kapazität führen, wie es ein wandelbarer Transformationsprozess kann. 5.3 Das Kinematografische In einem WDR-Interview meint Robert Lepage über die Annäherung von Film und Theater, dass das Publikum einerseits von guten Theaterstücken inspirierte Filme sehen möchte, und andererseits auch Theaterstücke mit filmischen Qualitäten. Also versuche er etwas Drittes, Eigenständiges zu entwickeln, bei dem sich die beiden Medien die Waage halten. Der Vorteil eines solchen multimedialen Stückes ist, dass es stets eine ausgeprägte Dynamik von Akzent und Deakzentuierung in den visuellen und akustischen Darstellungsformen besitzt, die zugunsten der Geschichte in Szene gesetzt wird. 5.3.1 Das Erzählen Bevor das Theater Lepages Filme inspirierte, inspirierte das Medium Film Lepages Theater. Das sieht man nicht nur an der technischen Ausrüstung und szenischen Aufbereitung, sondern auch an der Art und Weise des Geschichtenerzählens. Denn Lepage erzählt seine zwischenmenschlichen Beziehungen vorwiegend entlang einer akustisch–bildlichen Ebene, anstelle einer textlichen. Das funktioniert, indem er seine 36 Figuren nicht nur von der Bühne sprechen lässt, sondern auch von der Leinwand, aus dem Fernsehen oder aus dem Radio. Durch den Filter des jeweiligen Mediums, durch welches die Charaktere gerade agieren und/oder sprechen, erschließen sich ihre Eigenheiten und Probleme viel deutlicher, als würden sie diese nur anhand von Text vermitteln. Anders ausgedrückt ist die Bilderwelt des Films den Figuren von Lipsynch zugänglicher als die textorientierte Welt konventioneller Theaterfiguren. Ein weiterer Grund, warum Lepages Figuren seinem Publikum so zugänglich sind, ist der aus dem Kinematografischen entnommene Erzählstil des Wiederholens von immer wiederkehrenden Motiven und Themen. Auf den oben genannten Filter des jeweiligen Mediums bezogen bedeutet das, dass der Rezipient eine Figur wiederholt auf mehreren Darstellungsebenen erlebt. Robert Lepages Theater kann also deshalb als kinematografisch bezeichnet werden, da er nicht nur filmische Momente aus den Bereichen Produktion, Setting, Schauspiel oder Synchronisationsarbeit auf die Bühne bringt, sondern das Medium selbst – sei es ein Fernseher oder eine Leinwand - haptisch auf die Bühne stellt und seine Figuren damit konfrontiert. Das bedeutet, dass ein auf der Bühne stehender Fernseher, eine Kamera oder eine Leinwand mit ihrem visuellen und akustischen Gehalt nicht nur in das Bühnengeschehen, sondern auch in die Narration, in die Handlung einbezogen werden. Die Grundmechanismen und spezifischen Techniken des Theaters werden dabei nicht verfremdet, sondern durch die ästhetische und narrative Integration des Kinematografischen erweitert. Robert Lepage geht es darum, die unterschiedlichen ästhetischen und narrativen Verfahrensweisen der einzelnen Medien sichtbar zu machen. Ein essentieller Unterschied zwischen Film und Theater ist beispielsweise die Identifikation der Zuschauer mit den Figuren, wie der Regisseur in einem Interview mit Rémy Charest betont. Die Identifikation mit filmischen Figuren ist davon abhängig, wie lange die Figur am Bildschirm zu sehen ist. Im Theater hingegen sind es die Ereignisse und Rituale, durch die sich die Figur dem Zuschauer vermittelt und einprägt. Präziser ausgedrückt tragen im Theater Raum und Zeit viel mehr zum Einfühlungsvermögen des Rezipienten bei, als die Häufigkeit des Erscheinens und das spezifische Tun einer Figur. Dies ist deshalb so, weil das Theater seinem Zuschauer nicht nur den augenblicklich spielenden Protagonisten, sondern gleichzeitig die gesamte Bühne und sein Umfeld offenbart. 37 Die Kamera hingegen zeigt gezielt eine ausgewählte Sequenz und ein vorgefertigtes Umfeld. Durch das Vermischen von filmischen und theatralischen Darstellungsformen entsteht eine epische Bandbreite, wie sie weder das Theater noch der Film als alleinstehende Medien erreichen könnten. Anhand der Gegenüberstellung und Verflechtung von Film und Theater, von Leinwand und Bühne, zeigt sich also ein zweiter essentieller Dualismus, der eine Vielzahl von Darstellungsmöglichkeiten auf der narrativen Ebene ermöglicht. So zum Beispiel das Verhältnis zwischen Ost und West, Mann und Frau, Verwüstung und Wiedergeburt, persönlicher und kollektiver Identität, Realität und Erinnerung, Wissenschaft und Forschung, Wahrheit und Mythos oder aufgenommener und realer Stimme. Doch der Rezipient erlebt diese Gegensatzpaare keineswegs in einem Oppositionsverhältnis, sondern in einer produktiven Koexistenz. 5.3.2 Die Bühne Das Bühnenbild, welches sowohl in Dimension und Ausmaß brilliert als auch in Präzision und minimalistischer Reduktion, verwundert den traditionellen Theaterbesucher möglicherweise als erstes, wenn er eines von Lepages Stücken besucht. Auch diese Charakteristika beruhen auf der Integration der Filmkunst auf die Theaterbühne. Ein Film erzeugt durch subjektive Kameraführung und bedeutungsgeladene Einstellungen, wie beispielsweise das Close-up, ein sehr individuelles, ja fast persönliches Verhältnis zwischen Gefilmtem und Beobachter, der sich nicht bewusst ist, durch welche Faktoren er sich plötzlich mit dem Gesehenen identifiziert. Robert Lepage spitzt dieses Moment noch zu, indem er die filmische Rezeptionssituation auf die Bühne stellt und mit Aktionen aus dem Medium Film, und Reaktionen aus dem Medium Theater spielt, und umgekehrt. Ein Beispiel dafür ist jener bis ins Detail ausgeführte narrative Strang in Lipsynch, in dem eine Filmproduktion auf der Bühne inszeniert wird. Dabei werden filmische Charakteristika nicht nur durch filmische Darstellungskonventionen simuliert, sondern auch und vor allem durch die Produktions- und Zuschauersituation auf der Bühne. Plötzlich ist die Bühne sowohl der Rahmen für Filmproduktion, Dreharbeiten und Filmausschnitte, als auch für die unmittelbare Reaktionen des gesamten Filmteams, welches sich zu 38 einem großen Teil auch hinter der Kamera beschäftigt und die bereits abgedrehten Szenen kritisch beäugt und kommentiert. Robert Lepage kreiert also durch die gleichzeitige Präsenz seiner Medien eine Art doppelte Rezeptionssituation, die das Publikum mit so vielen Eindrücken und multimedial vermittelter Information füttert, dass es in seiner selektiven Wahrnehmung an Kontrolle verliert. Dies bildet den Grundbaustein für Manipulation in Lepages Theater. Der Film und auch das Filmsetting arbeiten mikroskopisch genau, und nicht in einer Ganzheitlichkeit und Gesamtheit wie es das Theater mit seinen Figuren und seiner Bühne tut. Die Kombination von Film- und Theaterästhetik verleiht der Bühne von Lipsynch sowohl imposante Dimension, als auch intime Detailarbeit. 5.3.3 Das Spiel Auch in den Bereichen der Schauspieltechnik, Körperarbeit und Sprechweise vermischen sich die Herangehensweisen von Film und Theater. Doch allen Grenzüberschreitungen und Genrevermischungen zum Trotz, ist es eine Tatsache, dass der Theaterschauspieler in seiner Leiblichkeit und körperlichen Präsenz immer noch wahrhaftiger wirkt als der Filmschauspieler, dessen Regungen und Emotionen auf dem Weg zum Zuschauer erst ein Medium überwinden müssen. Ein Schauspieler kann an den Bühnenrand treten und in direkten, unmittelbaren Kontakt mit seinem Publikum treten, ohne ein potentiell manipulierendes Medium zwischen sich und seinem Beobachter überwinden zu müssen. Der Film oder das Fernsehen hingegen zeigen nie nur den Schauspieler, sondern gleichzeitig eine Vielzahl von perspektivisch implizierten Details. Hinzu kommt, dass Filmschauspieler selten von Originalton begleitet werden, was die Wahrhaftigkeit der akustischen Komponente massiv einschränkt. Das bedeutet, dass die Beziehung, die der Zuschauer zu filmischem Material aufbaut, nicht auf natürlicher und unbeeinflusster, sondern auf gelenkter Wahrnehmung beruht. Man kann also auch im Schauspiel durchaus zwischen theatralischem und filmischem Realismus unterscheiden, und durch das Vermischen der beiden Realitäten vermitteln Lepages Schauspieler sowohl Intimität und Nähe, als auch Distanz. Die Distanz wird durch die Weite und Tiefe der Theaterbühne suggeriert, während die Nähe wiederum durch die alltägliche Sprache erzeugt wird. Genauer gesagt ist 39 Lipsynchs Sprache in ihrer Syntax und Semantik sehr filmisch; dies bedeutet, dass sie im Gegensatz zur klassischen Theatersprache, die Illusion von Realität zu erzeugen vermag. Abschließend für dieses Unterkapitel gilt es also zu sagen, dass das Schauspiel in Lipsynch - abgesehen davon, dass es auf einer Bühne stattfindet - von kinematografischer Natur ist. Das folgende Kapitel Emotion und Energie wird sich nun tiefer in die Beweggründe des Schauspielers stürzen, dessen Existenz im Vergleich zur Existenz seiner Figur weitaus wichtiger ist. 5.3.3.1 Emotion und Energie Also ähneln nicht nur Ausstattung und Darstellungsweise von Lipsynch einer filmischen Aufbereitung, sondern auch das Schauspiel. alltagstaugliche Sprache des Ensembles Ex Tatsächlich ist es die Machina, die eine weitaus realitätsnähere Darbietung liefert als man es vielleicht vom Theater gewöhnt ist. Das Spiel an sich ist natürlich an den Rahmen einer großen Bühne angepasst, doch die Integration von Nahaufnahmen durch die ständige Anwesenheit von Kameras ermöglicht einen realgetreueren Energie- und Emotionshaushalt der Schauspieler. Robert Lepage betont in so vielen seiner Interviews, dass eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Emotion und energetischen Arbeit des Schauspielers und der des Zuschauers stattfinden muss. Dieses Postulat erscheint völlig logisch, wenn man in Betracht zieht, dass der Schauspieler Emotion zeigen kann und diese zwar vom Zuschauer verstanden, aber nicht gefühlt wird. Der Zuschauer kann aus dem Theater gehen und ganz rational die Intention des Stücks erklären, was jedoch nicht davon zeugt, dass er vom Ensemble emotional erreicht wurde. Folgedessen konnte er sich auch nicht auf die Magie der Erzählung einlassen, die schließlich ein primäres Interesse in der Theaterarbeit von Lepage darstellt. Emotion beim Zuschauer kann und soll sogar dadurch erreicht werden, dass der Schauspieler eine spezifische Situation eben nicht aus seinem emotionalen Repertoire holt, sondern seine Energie auf eine Art und Weise steuert und kanalisiert, dass ein vorstellbares Bild entsteht. Ein Beispiel für das Nichtfunktionieren der emotionalen Herangehensweise an einen Charakter, bietet die 40 Schauspielerin Marie Gignac in der Rolle einer vergewaltigten Frau. Was hingegen Sinn ergeben hat, war ihr Versuch, ein Bild der gewaltsamen Energie bei einem derartigen Unglück zu generieren, indem sie nicht nur Energie freigegeben, sondern auch zurückgehalten hat. Anders ausgedrückt ist eine gewisse Selbstkontrolle, sowie eine damit verbundene Distanz zur dargestellten Emotion seitens des Schauspielers weitaus zielführender als die völlige Hingabe in eine Emotion. Der Vorteil einer rational erarbeiteten bildlichen Vorstellung der darzustellenden Situation ist, dass dem Zuschauer keine vorgefertigte Schablone vorgelegt wird, mit der er möglicherweise überfordert ist, sondern das Bild selbst interpretieren kann. Der Kampf des Akteurs mit dieser rational portionierten Energie ermöglicht es dem Zuschauer oft viel eher, die Situation emotional greifbar fassen zu können. Nun soll diese Differenzierung zwischen Energie und Emotion keinesfalls aussagen, dass sich der Schauspieler zwischen einem der beiden entscheiden muss, sondern dass ein überlegtes Wechselspiel nötig ist, um Szenen einen speziellen Fokus zu verleihen. Dazu ein Zitat von Robert Lepage, dem in seiner Zeit am Konservatorium oft vorgeworfen wurde, er sei viel zu distanziert und kalt in seinem Spiel: „It isn´t a question of emotion for me. Emotion in an actor provides him with tears, not understanding, nor a mastery of this very complex art that consists in moving the audience.”19 Diese Äußerung erscheint auf den ersten Blick souverän und professionell; doch geht Lepage hier nicht zu weit, indem er behauptet, dass ein Schauspieler zwar die Energie finden muss, um den Zuschauer emotional zu berühren, diese Emotion aber selbst nicht fühlen soll? Der energetische Aspekt macht durchaus Sinn und zeugt von einer gut durchdachten Arbeitsweise. Jedoch fehlt etwas, was ich bisher als grundlegend für Lepages Arbeit erachtet habe, nämlich der essentielle (emotionale) Bezug des Schauspielers zu sich selbst und die persönliche Einbringung eigener Erfahrungen und Gefühle. Erst das Zusammenspiel einer Situation mit einer bestimmten Emotionalität macht das 19 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 157 41 Gesamtbild aus, das auf den Zuschauer wirken kann. Dabei kann die gewünschte Emotion auch oftmals durch das Praktizieren ihres Gegenteils erzielt werden. Lepage bestärkt sein Argument, indem er Bertold Brechts Verfremdungseffekt heranzieht und diesen als Arbeitsweise beschreibt, bei der es nicht darum geht, den Charakter, sondern den Schauspieler zu spüren. Betrachtet man das Argument von dieser Seite, so bekommt das Verständnis für den emotional distanzierten Schauspieler einen anderen Stellenwert. Denn wie soll der Rezipient fähig sein, den Schauspieler in seinen Gebärden zu verstehen, wenn dieser nur danach trachtet, sich in die Emotion seines Charakters einzufühlen? Der Schauspieler ist emotional keineswegs distanziert, sondern schlicht und einfach bei sich, anstatt bei seiner zu verkörpernden Figur. Es entwickelt sich sozusagen eine gesunde Distanz zum emotionalen Zustand der Figur, die dem Akteur einen klareren und definierteren Zugang zu derselben erlaubt. Diese Herangehensweise ist deshalb fruchtbar, weil das Publikum vielleicht manipulierbar, jedoch nicht kontrollierbar ist, und eine bewusste Lenkung zur gewünschten emotionalen Reaktion ohnehin aussichtslos wäre. Ziel für eine überzeugende Performance ist es also nicht, so viel Emotion wie möglich zu zeigen, sondern dieselbe wohl überlegt zu stilisieren und zu portionieren. 5.4 Die Figurenfindung Lepages Art Regie zu führen und mit dem Schauspieler zu arbeiten, erklärt sich folgendermaßen: Er verliert kaum Zeit, über die spezifische Psychologie eines Charakters zu sprechen und zu philosophieren, denn gerade das würde dem Schauspieler seine Arbeit eigentlich erschweren. Robert Lepage charakterisiert gute Schauspieler als emotional und intellektuell intelligente Geschichtenerzähler, denen er nur immer wieder kleine Hinweise in Bezug auf die Entwicklung der Handlung gibt. Wie sie diese dann in der Probezeit umsetzen, sei völlig ihnen und ihrer persönlichen Erfahrung und Kapazität überlassen. Das Andere an Lepages Arbeit im Vergleich zu konventionellem Theater ist, dass er seinen Fokus von der Interpretation von Geschichten zum reinen Erzählen von Geschichten verschiebt. Dabei ist deren Bedeutung zunächst unwichtig und erschließt sich ihm und seinem Ensemble oft erst gegen Ende der Recherchearbeit. 42 Man könnte Lepage als einen Autor beschreiben, der statt mit Buchstaben und Wörtern mit seinen Schauspielern und der Bühnentechnik Geschichten schreibt. Dabei geht Lepage von einem inneren Verständnis und Gefühl des Schauspielers für das Stück und den Produktionsprozess aus. „Ich sage: Lasst uns eine Übung machen, wie man einer fremden Stimme den eigenen Körper gibt, bringt etwas mit, das ihr „verkörpern“ wollt. Und John Cobb (einer der Schauspieler, Red.) bringt eine Tonkassette mit einem Interview, das er mit einer Stimmtherapeutin gemacht hat. Wir hören uns das an, weil es um unser Thema geht, die Stimme. Und dann sage ich: So, und jetzt nimm die Stimme dieser Therapeutin und gib ihr deinen Körper. Er tut es, und weil die Frau Alzheimer hat, wird daraus eine ganze Studie über Alzheimer. Das ist die Art wie wir improvisieren. Wir wussten vorher nicht, dass es in dem Stück auch um Alzheimer gehen würde und um das Gehirn. Aber eine Sache führt zur Nächsten und so gab es plötzlich diese Themen.“20 Dieses Kapitel erforscht nun, ausgehend von Lepages Theaterschaffen, die unkonventionelle Herangehensweise an eine Figur und Stückthematik aus der Perspektive des Schauspielers. Dafür soll nicht nur wissenschaftliche Literatur herangezogen werden, sondern auch persönliche Erfahrung aus meinem Schauspielstudium. Da die Proben- und Recherchearbeit des Ensembles Ex Machina für Außenstehende nicht zugänglich ist, kann diese natürlich nicht detailgetreu wiedergegeben werden; jedoch ist folgender Abschnitt, anhand der bisherigen Erkenntnisse über Lepages Schaffen, eine Annäherung an das spezifische Prozedere der Figurenfindung. 20 Renate Klett (2010): Nahaufnahme. Robert Lepage. [http:// www.Falter.at.], Observer, no.18, [05.05.2012] 43 5.4.1 Verkörperung und Entkörperlichung Zu Beginn eines künstlerischen Projekts steht ein Performer, welcher Art auch immer, mit seinem Instrumentarium im Raum. Im Falle des Theaters ist dieses Instrument sein Körper, der jedoch mehrere physische Erscheinungsformen annehmen kann. Wie vorausgehende Kapitel erörtert haben, wird auch die Stimme als eigenständiger Körper betrachtet und gehört somit maßgeblich zum körperlichen Instrumentarium eines Schauspielers dazu. Trotz ihrer Zusammengehörigkeit sind Körper und Stimme dualistische Phänomene, die im lebendigen Moment ihrer Äußerung (un-) kontrollierbare Züge aufweisen. Das wirft die Frage auf, ob man bei einer Analyse der Körperlichkeit der beiden die Sprache als etwas Losgelöstes vom Leib betrachten sollte. Bevor nun die stimmliche und physische Körperarbeit in Lepages Theater genauer analysiert werden, folgt ein kurzer Diskurs zu Erika Fischer–Lichte und ihrem Buch Verkörperung. Der Titel deutet bereits auf die Hauptessenz dieses Kapitels hin, nämlich auf das Kapital des Schauspielers – seinen Körper, der in der Lage sein sollte psychologischrealistische Schauspielkunst zu kreieren. Laut Fischer–Lichte soll der Akteur sein Instrument dafür in einen semiotischen Körper transformieren und zu einem materiellen Zeichen machen. Dem Vorgang der Semiologisierung geht sozusagen eine vollständige Entkörperlichung voraus, bis der Körper als reiner Zeichenträger übrig bleibt. Doch dies würde bedeuten, dass der Körper seiner Stimme, oder die Stimme ihres Körpers beraubt werden würde. Mit diesem Vorgang stößt man bereits auf das Problem der Verkörperung, denn wie soll eine Verkörperung stattfinden, wenn ihre Voraussetzung die Entkörperlichung ist? Wie kann eine Figur entstehen, wenn der sie darzustellende Körper nichts als ein körperloses Zeichen ist? Betrachtet man diesen Aspekt unter dem Gesichtspunkt, dass ein Schauspieler erst in eine Figur schlüpfen kann wenn er seine persönlichen Charakteristika abgelegt hat, so mag das Argument der Entkörperlichung noch sinnvoll erscheinen. Doch die Verkörperung einer Figur schließt nicht nur das 44 Endprodukt der Theater- oder Filmfigur ein, sondern auch den ursprünglichen Körper, dessen Instrumentarium die essentielle Basis für die Figur bildet. Dieser Ansatz entspricht auch Homi Bhabhas Überzeugung des stetigen und notwendigen Zusammenspiels von Eigenem und Fremdem. Eine Figur entspringt einem performativen Akt oder einer Haltung, und die natürliche Basis dafür ist der ursprüngliche Körper des Akteurs. Entkörperlichung in diesem Sinne ist nicht hilfreich, da durch sie die individuelle Physis und spezifische Körperlichkeit des Schauspielers als Arbeitsmaterial verloren geht. Als Arbeitsmaterial wird in diesem Falle ein (Stimm-) Körper bezeichnet, dessen natürliche Präsenz notwendigerweise vor dem Prozess der Verkörperung anwesend und aktiv sein muss. Denn ein Zuhörer hört nicht nur was die Stimme vermittelt, sondern auch Art und Weise wie der Inhalt transportiert wird. Und dieses Wie ergibt sich aus der Kombination der individuellen Schauspielerstimme und der studierten Stimme der darzustellenden Figur. Entkörperlichung kann also kein Fundament für ein semiotisches Zeichensystem sein, da dieses erst aus der Symbiose von darstellendem und dargestelltem Körper entstehen kann. Fischer–Lichte führt den Aspekt des semiologischen Körpers fort, indem sie zwei Arten der Beschaffenheit einer Figur unterscheidet: Erstens die Figur im Text und zweitens die verkörperte Figur. Und auch diese Herangehensweise betont den Dualismus von Sprache und Körper, denn erstere Figur benötigt keinen Körper außer den Textkörper. Letztere jedoch übersteigt in ihrer Leiblichkeit jede instrumentelle und semiotische Funktion. Nun ist es so, dass die Figuren in Lipsynch dem Entstehen und Sein klassischer Theaterfiguren überhaupt nicht entsprechen. Robert Lepages und sein Ensemble Ex Machina arbeiten nicht mit dem Prinzip der Verkörperung, und schon gar nicht mit dem der Entkörperlichung. Was in der Probenarbeit von Lipsynch passiert, ist ein Auskundschaften und schrittweises Suchen und Finden von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen dem Schauspieler und seiner Figur. Es geht genauer gesagt nicht darum, eine fremde Figur zu verkörpern, sondern anhand der Stückthematik aus den eigenen psychischen und physischen Gegebenheiten eine Figur zu konstruieren. 45 5.4.1.1 Der Stimmkörper In diesem Zusammenhang soll die entkörperlichte Stimme erwähnt werden. Robert Lepage setzt in Lipsynch oft das Schweigen als stilistisches oder narratives Moment ein, wobei bereits geklärt wurde, dass das Schweigen definitiv keinen Verlust der Stimme bedeuten muss. Sowohl Schweigen als auch der hörbare Klang der Stimme haben das Potential bewusst oder unterbewusst Atmosphäre und Stimmungen zu erzeugen. Die Wahrnehmbarkeit durch den Zuschauer impliziert die Tatsache, dass beide Phänomene eine Materialität, eine Körperlichkeit besitzen und somit nicht nur akustisch, sondern auch visuell erfahrbar sind. Unter dem Aspekt, dass Stimme sowohl im Sprechen als auch im Schweigen zu verorten ist, kann ausgeschlossen werden, dass mit der entkörperlichten Stimme das Schweigen gemeint ist. Denn nur weil sich der Körper sprachlich nicht mehr auszudrücken vermag, bedeutet dies noch lange nicht, dass er keine Stimme mehr hat. Daher stellt sich die Frage, ob der Ausdruck entkörperlichte Stimme nicht auf den visuellen Aspekt zurückzuführen ist. Das würde bedeuten, dass eine an- oder abwesende Stimme plötzlich nicht mehr mit einem spezifischen Körper assoziiert werden kann. Szenisch gesehen bedeutet das die Abwesenheit einer der beiden Entitäten, entweder der des Körpers oder der der Stimme. Die Abwesenheit oder der Mangel des Stimmkörpers kann also dadurch inszeniert werden, dass ein visuell sichtbarer Körper auf der Bühne steht, der sich akustisch nicht mehr äußern kann. Der Begriff der stimmlichen Präsenz verweist also nicht nur auf die akustisch anwesende Stimme, sondern auch auf die rein visuelle Anwesenheit eines Körpers und dessen Lippenbewegungen. Doris Kolesch erklärt, dass die gehörte Stimme ein Begehren nach Verkörperung auslöst. Die Stimme zeigt sich in ihrer Klanglichkeit, die sich nicht nur lautlich, sondern auch räumlich ausbreitet und spricht somit automatisch die Körper und Sinne der im Raum anwesenden Menschen an. Schließlich kann ein Schauspieler auch trotz größerer Distanz verstanden werden; nicht im hermeneutischen Sinne, sondern vielmehr im Sinne der Berührung. Der Zuhörer nimmt die Stimme entgegen, er nimmt sie als leiblichen Impuls in sich auf und lässt ihre spezifische Körperlichkeit auf sich wirken. Und eine derartige Körperlichkeit besitzt auch eine schweigende Stimme. 46 Da die Stimme als Voraussetzung der Sprache, wie alle Laute, den Gesetzen der Akustik und somit einer auditiven Physiologie unterworfen ist, gehört sie zwar in den Bereich des Hörbaren; doch eine Stimme, ein Stimmklang impliziert automatisch einen visuell imaginierbaren Körper, so wie ein schweigender Körper einen akustisch imaginierbaren Stimmklang impliziert. Beide Phänomene haben den natürlichen Drang, sich auf eine bestimmte Art und Weise mitzuteilen. Warum das so ist, erklärt sich aufgrund des im Kapitel 2.2 angeführten stimmlichen Ereignischarakters. Denn sogar wenn sich eine Stimme äußert, steht sie im Augenblick ihres Erklingens als vergängliches Ereignis im Raum. Um ihre Präsenz dennoch zu wahren, verweist sie auf mindestens zwei Personen - auf den Sprechenden und den oder diejenigen, die sich angesprochen fühlen. Spricht eine Stimme nicht, so teilt sie sich zwar auf einer nicht hörbaren Ebene mit, doch der Akt eine Botschaft zu vermitteln ist derselbe. Dieses Kapitel beweist also, dass es keine entkörperlichte Stimme gibt; denn auch wenn man die Stimme aufgrund ihres Schweigens nicht hört, oder den sprechenden Körper momentan nicht sieht, so hat die Stimme, genauso wie der Leib, stets einen wahrnehmbaren Körper. 5.4.1.2 Der Schauspielerkörper In Lepages Theater gibt es keine konventionelle Form der Rolle, in die der Schauspieler schlüpfen muss. Es gibt auch keinen Text, kein Skriptum, welches sich der Akteur aneignen Rollenerarbeitung nicht kann. Demzufolge Bestandteil der ist der Stückarbeit herkömmliche des Weg der frankokanadischen Theaterensembles. Was Lepages Schauspieler auf der Bühne tun, könnte man mit einer Lebenssimulation vergleichen, an die sich die einzelnen Figuren Schritt für Schritt anschmiegen. Nun steht man also als Schauspieler mit nichts als dem eigenen (Sprach-) Körper und Geist am Beginn einer Fülle von assoziativen Experimentformen. Eine mögliche Annäherung an das narrative Potential des eigenen Körpers ist das spielerische Erfassen. Robert Lepage wäre in diesem Falle der Spielleiter, der nicht von höherer Instanz als seine Schauspieler ist und sogenannte Grundsätze des Spiels, Spielregeln festlegt. 47 Dies könnte im Sinne von Lepage eine weit gefasste Idee sein, an die sich sein Ensemble herantastet. Damit ist der Rahmen gegeben, mit dem sich jedes Individuum vertraut machen muss. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für dieses Vertrautmachen ist die Aufmerksamkeit. Damit sind nicht nur wache Sinne in Bezug auf die Kollegen und mögliche Veränderungen im Raum gemeint, sondern insbesondere die selbstbezogene Aufmerksamkeit. Auftauchende Fragen könnten sein: „Wie verhält sich der Körper im Proberaum, wie in Bezug auf die anderen Körper im Raum, welche Haltung nimmt er automatisch beim Fokussieren auf den gegebenen Impuls ein, wie reagiere ich auf meine eigene Stimme und wie wirkt sie auf die anderen?“ Aus dieser Grundsituation der Selbst- und Fremdwahrnehmung, zwei äußerst wichtige und aussagekräftige Bestandteile in der Arbeit des kanadischen Theatermachers, kann sich nun eine Haltung entwickeln. Eine Haltung zur Thematik, zu den Kollegen und zur möglichen Herangehensweise bei der Figurenzeichnung. Die unterschiedlichen personenspezifischen Reaktionen auf die bisher minimalen Einschränkungen sind notwendig für das Fortschreiten der Recherche. Die nächste Stufe, die auf die Aufmerksamkeit aufbaut, ist schon etwas präziser. Dabei handelt es sich um das bewusste Wahrnehmen. Mittlerweile sind die Schauspieler mit sich selbst, den anderen, dem Raum und der groben Thematik (im Falle von Lipsynch wäre dies die menschliche Stimme) vertraut. Nun erfährt man aus Lepages Arbeit, dass der Großteil der Recherche rund um eine Ressource auf verbalem und nonverbalem Austausch basiert. „Wenn wir nichts zu sagen haben, bleibt die Form einfach nur die Form und das Medium nur das Medium. Aber wenn wir etwas zu sagen haben, wird das Medium zur Message.“21 Ziel ist es also, dass die Schauspieler ein Gespür für ihre Wahrnehmung entwickeln und anhand dieser ihre eigenen Assoziationen und Erinnerungen zur Ressource aussprechen. Renate Klett (2010): Nahaufnahme. Robert Lepage. [http:// www.Falter.at.] Observer, no.18, [05.05.2012] 48 21 Es entsteht ein Austausch zwischen unterschiedlichsten Nationen und individuellen Erfahrungswelten, was in Bezug auf die eigene Stimme bedeutet, dass sie in einem sozialen Feld lebendig wird. Die eigene und die fremde Stimme überlagern sich und zeichnen sich in der jeweils anderen ab, sodass eine Art hybride Stimme entsteht, eine Mehrstimmigkeit, welche jede individuelle Stimme homogen in sich aufnimmt. Nun wird die etablierte Leiblichkeit von Körper und Stimme mit Emotionen konfrontiert. Welche positiven oder negativen Erfahrungen haben den Schauspieler in Bezug auf die Stimme geprägt? Gab es spezifische Vorfälle in der Familie oder im Bekanntenkreis oder gibt es gar publik gewordene reale Begebenheiten, die mit dem Kontext des Stimmverlusts, -gewinns oder -experiments eng verwoben sind? Selbstverständlich tragen zu dieser Arbeitsphase nicht nur Fakten und handfeste Erinnerungen bei, sondern auch die Phantasie jedes Einzelnen. Nachdem also unterschiedlichste Erfahrungen zusammengetragen wurden, können bereits mehrere kleine Handlungsketten entstehen. Diese bilden die stoffliche Voraussetzung für einen der faszinierendsten Aspekte von Lepage Stücken, nämlich die psychologisch und narrativ effiziente Handlungsketten – Verstrickung. Zu diesem Zeitpunkt beginnen sich auch schon Figuren herauszukristallisieren, die es nun zu prägen gilt. Lepages Idee hinter seiner persönlichkeits- statt textorientierten Arbeitsweise ist, dass dadurch auf natürliche Weise ganz individuelle Wesenszüge jedes Einzelnen in die jeweiligen Figuren einfließen können. Die Essenz jeder der neun Figuren soll aus einer spezifischen Note der dahinterstehenden Person entstehen. Das ist der Punkt, an dem die szenische Arbeit beginnen kann. Wichtig dabei anzumerken ist, dass es sich auch dabei keinesfalls um eine herkömmliche Szenenerarbeitung handelt, da weder Dramentext, noch vorgeschriebene Szenenabfolgen existieren. In dem Moment, in dem der sinnlich erfahrende Schauspieler mit einem inszenatorischen Konzept die Bühne betritt, entsteht ein neuer Raum in einem spezifischen Kontext. Das heißt genauer gesagt, dass es sich in der Theatersituation nicht um einen neuen Menschen handelt, sondern schlichtweg um eine neue Situation, die dem Schauspieler immer noch genügend Freiraum für bestimmte Bewegungsmuster und Verhaltensweisen gibt. Dieser offene Raum und der zugängliche Geist des Schauspielers sind für Lepage die Voraussetzungen für eine Szene. 49 In der Probenarbeit zu Lipsynch war schon zu Beginn der Arbeit nicht nur der Körper, sondern ganz besonders die menschliche Stimme als fixer Bestandteil des Körpers ein tragendes Hauptaugenmerk. Und da die Stimme, genauso wie die physische Beschaffenheit des Körpers, durch das bisher gelebte Leben gezeichnet ist, konnten durch die zusammengetragene Erfahrung umso reichere Bilder entstehen. Aufbauend auf diese Basis der Selbsterarbeitung kann nun ein reproduzierbarer Text entstehen, der den Körper zu unterstützen beginnt. Zwar kann man bei Lepage nicht von einem Endergebis sprechen, doch falls es in der Probenarbeit ein Ziel zu benennen gibt, so ist es das der ganzheitlichen, gleichzeitig körperlich, sprachlich und geistigen Aktion und Reaktion auf die spezifischen Gegebenheiten des Theaterstoffes und des Raumes, in dem er sich zuträgt. 5.5 Die Zeit Ein weiteres ausschlaggebendes ästhetisches Verfahren in Robert Lepages Theaterarbeit ist die Zeit. Sie spielt eine wichtige Rolle für das Agieren und Reagieren der Schauspieler. Der philosophische Begriff Chronos versinnbildlicht in der griechischen Mythologie den Ablauf der Zeit und steht ebenso für das Verständnis der zeitlich ausgedehnten Lebenszeit.22 Kairos hingegen bezeichnet den günstigen Zeitpunkt für eine Aktion oder Entscheidung, deren ungenütztes Verstreichen die nachfolgenden Handlungen negativ beeinträchtigen kann. Wir sehen also, dass es sich um zwei verschiedene zeitliche Dimensionen handelt deren Inkrafttreten nun auch auf der Bühne genauer untersucht werden soll. Zeit und homogene Einteilung derselben sind unumstritten essentielle dramaturgische und narrative Mittel auf der Bühne. Wie wichtig es ist, den entscheidenden Augenblick zum richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen und zu ergreifen, ist in der Aufmerksamkeit der Zuschauer ablesbar. Denn der Moment, in dem sich der dynamische Kairos gegenüber dem tragenden und andächtigen Chronos in den Vordergrund drängt, ist ausschlaggebend für die Wachsamkeit des Beobachters. Für den Schauspieler bedeutet dies, die Chance eines verbalen oder physischen Ausdrucks im richtigen Augenblick zu ergreifen. Die spezifische Zeitlichkeit der Stimme, deren Merkmal ihr Ereignischarakter ist, beruht im Augenblick, also im 22 Vgl. http://de.wikipedia.org: Wikipedia, http://de.wikipedia.org /wiki/Chronos [13.03.2012] 50 Kairos. Das Einzige was es dabei noch zu klären gilt, ist, woran sich dieser richtige Augenblick erkennbar macht – am impulsiven Gefühl des Schauspielers oder am inszenatorischen Handwerk des Regisseurs? Um dieser Frage und somit der Gewichtung von Spontaneität und Reproduzierbarkeit auf den Grund zu gehen, sollen die beiden aus dem Griechischen stammenden Begriffe Chronos und Kairos am Beispiel von Lepages Lipsynch analysiert werden. „Die stimmliche Artikulation ist punktiert und fragmentiert, sie vollzieht sich im Ablauf der Zeit, doch führt sie eher vereinzelte, diskrete Zeitpunkte, Miniaturereignisse und lose Neuanfänge vor denn eine kontinuierliche Geschichte.“23 Wie bereits erläutert ist Kairos ein zeitlich limitiertes Moment innerhalb der größeren Zeitspanne Chronos. Übernimmt man nun die beiden Einheiten in die Welt von Lipsynch, sollen diese nicht nur in Hinblick auf Zeitpunkt und Zeitspanne beleuchtet werden, sondern ebenso in Hinblick auf die Verortung von Zeit. Genauer gesagt erfüllen Chronos und Kairos nicht nur die zeitliche Dimension auf der Bühne, sondern auch die räumliche, wenn beispielsweise von innerer und äußerer Zeit gesprochen wird. Die innere Zeit (Kairos) steht für die persönliche Wahrnehmung der Handlungen auf der Bühne und die äußere Zeit (Chronos) für die äußere Wirkung dieser Handlungen. Sobald ein Schauspieler die Bühne betritt, ist er mit diesen beiden Dimensionen konfrontiert und muss stets die innere und die äußere Wirklichkeit im Auge behalten. Anders ausgedrückt muss er ein Bewusstsein dafür entwickeln, was er tut und wie dies wahrgenommen wird. Dieses Phänomen kann am besten anhand des Tempos von Lipsynch erklärt werden. Sprachrhythmus ist genauso wie der Sprachklang weitaus schwieriger beherrschund kontrollierbar als beispielsweise ein Stücktext. Und dennoch ist allen neun Geschichten und der Körperlichkeit jeder der neun Schauspieler das verlangsamte Tempo auf der Bühne gemeinsam. Dabei handelt es sich um eine Art Verführungsstrategem, welches der Regisseur bereits zu Beginn der Vorstellung extrem betont, als Ada mit ihrer Arie die Bühne betritt. 23 Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 54 51 Verglichen zu alltäglichen Handlungen vergehen die Bühnenhandlungen von Lipsynch alle um einen merklichen Hauch langsamer, so als würde sie der Zuschauer in Zeitlupe erleben. Erzielt wird dieses Stilmittel durch die gesteigerte Aufmerksamkeit, mit der jeder einzelne Schauspieler spricht und seine Handlungen ausübt; und wenn er nur einen Telefonhörer aus der Gabel hebt, tut er es mit dezentem Nachdruck. Der Effekt, der durch dieses Bewusstsein für Chronos und Kairos erzielt wird ist im wahrsten Sinne des Wortes verführerisch, da er den neugierigen und sinnsuchenden Zuschauer in seinen Bann zieht. Anders gesagt wirkt sich die gesteigerte Aufmerksamkeit des Schauspielers auf den beobachtenden Zuschauer aus, der mit jeder weiteren Bewegung glaubt und hofft, dass jeden Moment etwas passieren könnte. Der Zuschauer verfolgt den Schauspieler in seinen Tätigkeiten mit penibler Genauigkeit, eben weil es ihm durch die verlangsamte und präzise Haltung der Akteure auf der Bühne erlaubt wird. Und dann, gerade in dem Moment als der Zuschauer Gefahr läuft die Aufmerksamkeit für einen in die Länge gezogenen Handlungsstrang zu verlieren, legt Lepage den Kippschalter um und lässt tatsächlich etwas passieren. Das bedeutet, dass er in diesem Moment Kairos vor Chronos den Vortritt gibt; sei es auch nur ein minimaler verbaler oder körperlicher Akzent, der die aufgebaute Spannung für einen Moment auflockert. Robert Lepages Lipsynch lebt sozusagen von diesem Wechselspiel zwischen Chronos und Kairos, indem beide Einheiten in ihrer vollen zeitlichen und räumlichen Dimension ausgereizt werden. Der tranceartige Zustand des Zuschauers kann nur durch die konsequente und unbeirrbare Präsenz des Chronos entstehen, die wiederum die Basis für die Präsenz des Kairos auslöst. Denn ein schlagartiger Augenblick wirkt nur dann effizient, wenn er aus einer vorhergehenden konträren Langsamkeit hervorspringt. Nun stellt sich die Frage der Inszenierung solcher Timings auf der Bühne. Werden sie durch wiederholte Durchgänge erzielt bis sich ein präzise durchdachtes Zeitbild erschließt, oder durch das spontane, intuitive Zeitgefühl des Schauspielers? Eine weitere Frage ist, ob denn nicht auch die Spontanität auf der Bühne inszeniert ist? Und damit ist der Punkt erreicht, an dem sich die Meinungen über Lepages Theater spalten, denn all diese scheinbar so homogen und natürlich erscheinenden Abläufe auf der Bühne sind inszeniert und bis ins kleinste Detail durchdacht und durchprobt. Es wird bewusst mit Chronos und Kairos gespielt, indem selbst das Zeitgefühl der Akteure in der Probenarbeit bis an seine wahrnehmbaren Grenzen getrieben wird. 52 Die Proben dienen also als Forschungsetablissement, in welchem mit derartigen räumlichen und zeitlichen Abläufen experimentiert wird bis der richtige Moment des Wechselspiels zwischen Chronos und Kairos gefunden ist. Und dieses Moment gilt es nun für die Schauspieler und Bühnenbildner so oft und genau wie nur möglich zu reproduzieren, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich um einen natürlich entstandenen Augenblick. Was Kritiker an Lepages Theater bemängeln, ist diese scheinbare Täuschung des Publikums, die jedoch keine Täuschung im eigentlichen Sinn ist. Robert Lepage etabliert mit seinen Schauspielern zwar eine Atmosphäre, die einen manipulativen Effekt auf den Zuschauer prädestiniert, doch die Intention dabei ist eine andere. Die Darstellung zeitlicher Langsamkeit besitzt das Potential, eine positive und vertraute Atmosphäre und Veränderungen zu somit eine solide Plattform für narrativ-performative etablieren. Da die drastischen Veränderungen oder Schicksalsschläge auf der Bühne von Lipsynch meist einen tragischen und melodramatischen Charakter haben, ist es notwendig, dass sich der Zuschauer zuvor auf bejahendem emotionalen Terrain befindet. Tut er das nicht, so läuft ein derartig langes und dramatisches Epos wie Lipsynch, Gefahr, eine zu dominante Melancholie auf den Rezipienten auszuüben, welche durch die vereinzelt und gezielt gesetzten komödiantischen Szenen nicht mehr aufgelockert werden könnte. Dieses Kapitel rechtfertigt also die Schlussfolgerung, dass Timing am Theater und vor allem bei Stücken mit Überlänge ein äußerst sensibles Thema ist. Dabei ist nicht nur das Timing in den einzelnen Szenen, sondern ebenso das Timing zwischen den Szenen entscheidend – gerade bei einem Bühnenbild wie dem von Lipsynch, das ein offengelegtes, wandelbares Modul ist und von einem Flugzeugkorpus zum Zug, zum Wohnzimmer oder zum Café ummoduliert wird. Der kanadische Theatermarathon-Künstler deklariert das aus der Antike stammende Bestreben der Einheit von Raum, Zeit und Handlung auf der Theaterbühne als ein künstlerisches Missverständnis. Zumindest interessiert sich Robert Lepage nicht dafür. Allerdings betreibt er die Überwindung dieses Missverständnisses mit allerhand technischem Aufwand, der die Umbauten oftmals länger dauern lässt als die anschließende Szene. Doch gerade die offengelegte Inszenierung von Szenenwechseln theatralischen machen Ereignissen Zeitund Raumsorgen und Ortsprünge dafür, dass zu der eigenständigen Rezipient seine Aufmerksamkeit und somit den roten Faden nicht verliert. 53 6. Der Rezipient Da ein akustisches Ereignis als räumliches Phänomen verstanden wird, welches auf bestimmte Richtungen und Orte verweist muss der sich ebenfalls im Raum befindliche Rezipient als Zuhörer des Sprechenden mit einbezogen werden. Die sensible Wahrnehmung von sprachlichen und gesanglichen Performances kann auf die leibliche Befindlichkeit des Rezipienten übergreifen, wobei der Wirkungsgrad von tragischen Lauten und Bildern durch die höhere empathische Involviertheit größer ist als der von komischen. Das verbindende Glied zwischen vermittelten, fremden Schmerzen und dem eigenen emotionalen Zustand ist die sogenannte „Sonosphäre“ 24. Sie verweist auf den Wahrnehmungsraum, der zwischen Sprecher und Hörer entsteht und bildet einen essentiellen Teil der atmosphärischen Wahrnehmung im Raum. In dieser werden nämlich alle Sinne zugleich angesprochen, wobei der Begriff der Sonosphäre primär um die Rezeption akustischer Ereignisse kreist. Dasselbe Spannungsfeld, welches in vorigen Kapiteln primär zwischen den Sprechern erläutert wurde, entsteht in diesem Fall im Bereich der leiblichen Anwesenheit des Hörers. Der Zwischenraum zwischen dem Sender akustischer Signale und dem Empfänger wird dadurch überwunden, dass beide im selben Raum agieren und wahrnehmen. Der Stimmklang des Sprechers löst beim Rezipienten unweigerlich Emotionen, Erinnerungen und Assoziationen aus, was zu individuellen Reaktionen von Zustimmung und Einlassung bis hin zur Ablehnung führen kann. Durch diese emotionale Beteiligung wird der Rezipient mit seiner Anwesenheit und seiner momentanen Stimmung zu einem wichtigen Teil des sonosphärischen Ereignisses. Also kann man sowohl von einem Stimmraum als auch von einem Stimmungsraum sprechen; denn sowohl der Ton als auch die Atmosphäre sind Phänomene, die sich im Raum ausbreiten und ihn ausfüllen. Es kann also angenommen werden, dass man einen Raum in dreifacher Hinsicht mit der eigenen leiblichen Anwesenheit füllen 24 Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (2009): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld. Transcript Verlag. S. 87 54 kann. Nämlich als handelnder, wahrnehmender und atmosphärisch spürender Mensch.25 „Der Körper kann zum Resonanzkörper für die gehörten Laute werden, mit ihnen mitschwingen; bestimmte Geräusche vermögen sogar lokalisierbare körperliche Schmerzen auszulösen. Gegen Laute vermag sich der Zuschauer/Zuhörer nur zu schützen, wenn er sich die Ohren zuhält. Er ist ihnen – wie den Gerüchen – in der Regel wehrlos ausgesetzt.“26 Da im Verlauf dieser Arbeit bereits mehrmals das Wort Manipulation gefallen ist und klar gemacht wurde, dass dies ein notwendiger und charakteristischer Effekt in Lepages Theaterschaffen ist, soll Manipulation nun auch in Bezug auf den Rezipienten untersucht werden. Robert Lepage spielt, durch den Einsatz der Medien Film, Radio und Fernsehen im Rahmenmedium Theater, mit der visuellen und akustischen Wahrnehmung des Zuschauers. Dabei gewinnt nicht nur das auf die Bühne blicken, sondern auch das von der Bühne herunter blicken stark an Bedeutung und betont eine ausgeprägte Form von Voyeurismus. Beobachtet man die Rezeption eines Lepage Stückes genauer, so ist ein dreigeteilter Reaktionsverlauf zu erkennen. Auf den ersten Blick, oder besser auf das erste Erleben, folgt meist ein Zustand von positiver Fassungslosigkeit und Bewunderung der teilweise mystischen Vorgänge auf der Bühne. Hat der Zuschauer dann mehrere Stücke, oder ein Stück mehrmals absorbiert, so folgt nicht selten der Fall, dass er diese begeisterte Hingabe zu hinterfragen beginnt. Der Rezipient beginnt sich zu fragen, ob das Wahrgenommene und die dadurch ausgelösten geistigen und emotionalen Höhenflüge nicht bloß Folge von gekonnter technischer Manipulation waren. Es ist eine logische Folge, dass anfängliche Begeisterung und Faszination über eine derart neuartige Belebung der Theatermaschinerie zumindest kurzzeitig zu einer kritischen Hinterfragung abschwächen. Doch dieser Grad der Abschwächung führt Lepages Publikum vom reinen Lobgesang schlichtweg zu einer kritisch durchdachten Analyse und somit zur 25 Vgl. Sybille Krämer (2004): Performativität und Medialität. In: Doris Kolesch. Ebd. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 134 26 Erika Fischer – Lichte (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 207 55 dritten Phase in der Lepage´schen Rezeptionschronologie. Manch einer beginnt nun vielleicht zu verstehen, weshalb der Theatermacher emotionale Reaktionen von unglaublicher Intensität hervorrufen kann und dass die Art wie er das tut, keinesfalls eine manipulative ist, wenn auch manipulative Elemente herangezogen werden. Denn was man anfangs dem Effekt von opulenten Bildern und detailreich ausgefeilten Szenen zuschreibt, ist im Grunde nur die oberflächliche Silhouette von etwas viel Tiefergehendem; nämlich von der jahrelangen und ursprünglichen Herangehensweise Lepages an einen Theaterstoff. Die enorme Fülle der durch Bild und Ton gestützten Erzählstränge ist der Grund für die erste Reaktion auf Lepages Stücke, da der Rezipient auf den ersten Blick nicht erkennen kann, wie fein und detailreich verwoben die Handlung auf tieferer Ebene eigentlich ist. Erst nach einiger Zeit beginnt der Rezipient ein Gespür und ein grundlegendes Verständnis für die unterhalb der Ebene von visuellen und akustischen Feinheiten liegende Kraft zu entwickeln. In der Arbeit des frankokanadischen Theatermachers ist nicht zu unterschätzen, dass, trotz der möglichen sensorischen Überforderung seines Publikums, niemals eine Form von Unverständnis herrscht. Diese Fähigkeit der unkomplizierten Darstellung von komplexen Handlungssträngen ist definitiv eine der vielen Charakteristika von Robert Lepages Theaterstücken. Die Verständlichkeit seiner Stücke schreibt Lepage nicht technischen und manipulativen Mitteln zu, sondern einem „oralen Gedächtnisspeicher“27 von Schauspieler und Rezipient, der Ereignisse rein aus der Erinnerung rekonstruieren kann, ohne dabei von momentan hör- oder sichtbaren Fakten abhängig zu sein. Dieser Speicher sei allen Menschen von Natur aus gegeben und wird beim Erleben von Lepages Stücken sensibilisiert. Selbstverständlich verstärken der Regisseur und sein Ensemble diesen Effekt durch medien- und bühnentechnische Raffinessen, doch das Künstlerische oder Poetische einer Szene entspringt der Mischung von detailgetreuen und verschwommenen Erinnerungen jedes am Theaterabend involvierten Individuums. Das Schauspiel erweckt vor dem Hintergrund des Bühnenbildes Prozesse des Wachrufens, Rekonstruierens, Umformens und Gestaltens wieder zum Leben und ermöglicht die Umwandlung von Erzähltem in eine phantasievolle und bilderreiche Mythologie. Diese Vorgänge erfolgen nicht anhand 27 Vgl. Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 20 56 von chronologischer Dokumentation, sondern anhand von phantasievoller geistiger und physischer Auseinandersetzung mit den einzelnen Geschichten. Diesem Zugang zu theatralischer Arbeit, welcher primär über das Erwecken und Entdecken des Unbewussten funktioniert, steht jedoch noch ein Aspekt im Weg um die Thematik für Spieler und Zuschauer greifbar und zugänglich zu gestalten. Nämlich die Erkenntnis, dass Intention und Resultat nie nahtlos ineinander überlaufen. Der Zuschauer muss akzeptieren, dass Bedeutung immer erst in Folge des Gesehenen auf natürliche Weise zu ihm gelangen kann. Dieses Argument rechtfertigt, dass das Geschehen auf der Bühne dem Zuschauer von Lipsynch zunächst wichtiger ist als dessen Interpretation. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Rezipient und Regisseur oder Ensemble betont Lepage die Wichtigkeit des gegenseitigen Lernens und des damit einhergehenden Dialogs während einer Vorstellung. Dieser Dialog entsteht in diesem spezifischen Falle eben dadurch, dass Lepage mehr Fragen aufwirft als Antworten bietet; auf diese Weise weckt er die Motivation des Zuschauers, Dinge durch präzises Verfolgen des Bühnengeschehens in Erfahrung zu bringen. Schon nur das Anbieten einer möglichen Antwort würde laut Lepage den Verlauf der Handlung zu sehr einschränken. Der daraus entstandene Drang Robert Lepages, multidisziplinäres und universell verständliches Theater zu machen, führte schließlich auch zur Loslösung vom „Théâtre Repère“ und seiner immer fester gelegten Methodik. Mit dieser Annäherung zum 2010 im Rahmen der Wieder Festwochen präsentierten Lipsynch von Robert Lepage, soll nun der Übergang zur Analysearbeit des Stücks gegeben sein. 7. Lipsynch – Das Stück Robert Lepages Theaterepos Lipsynch, das 2008 in London Premiere gefeiert hat, ist Welttheater, Unterhaltungstheater, Theatersoap und Familiendrama in einem und durchquert dabei mit fünf Sprachen sieben Länder und zehn Städte. Entlang des Phänomens der menschlichen Stimme spielt Lepage mit Mehrsprachigkeit, Sprach- oder Stimmverlust und dem anschließenden Ringen um die Wiedergewinnung der eigenen Sprachfähigkeit. Dabei ist es primär die Stimme, 57 die die Charaktere in Lipsynch ausmacht. Doch die Stimme dient im Stück nicht nur dem Etablieren von Charakteren, sondern auch und vor allem von sich selbst. Um also die verschiedenen physischen Besonderheiten der Stimme in sein Stück einzugliedern, entwirft Lepage mit seinem Ensemble neun Geschichten, in denen ein Film gedreht und synchronisiert, ein Lied ohne Worte aufgenommen, Lippenlesen, Sprachanalyse und Sprachtherapie praktiziert werden. Man könnte sogar sagen, dass nicht die Stimme der Figurendarstellung und Narration dient, sondern umgekehrt. Lipsynch durchquert all die geografischen Stationen und zwischenmenschlichen Beziehungen, um die menschliche Stimme in all ihren Facetten zu präsentieren. 7.1 Die Entstehung „Mein Urlaub ist meist eine Kulturreise, die dann zur Arbeitsreise wird… Die allererste Zeichnung, die ich für Lipsynch machte, war ein Flugzeug. (Zeichnet.) Ich saß in einem Flugzeug nach Südamerika, und ganz hinten saß eine Frau mit einem Baby, das während des gesamten Fluges schrie. Ich saß so etwa in der Mitte, hier, konnte in die Business Class sehen, weil der Vorhang offen war, und ich beobachtete eine Geschäftsfrau, die sich andauernd umdrehte, weil sie durch das Geschrei irritiert war. Das war ein gutes Bild für Lipsynch: die Frau hinten mit dem Baby, aus Südamerika, arm, die Frau vorne mit viel Geld, irritiert. Und ich dachte, wenn das jetzt Rebecca wäre, eine Opernsängerin, die ihre Partitur studiert, die ausgebildete, kultivierte, raffinierte, gepflegte Stimme, und hinten hast du die menschliche Stimme in ihrer häßlichsten, unharmonischsten Form, gemacht, um dich zum Wahnsinn zu treiben. Und die Sitze dazwischen, das könnte die Entwicklung sein, jeder Sitz ein Schritt auf dem Weg unserer Geschichte …“ 28 Der Entstehungsprozess von Lipsynch zog sich über eine Zeitspanne von mehreren Jahren; von den ersten Gesprächen im Jahr 2005 über die fünfstündige erste Fassung im Februar 2007, bis zur überarbeiteten acht stündigen Version im Jahr 2008. Doch das Projekt bietet die richtige Struktur, um es immer wieder neuen 28 Rémy Charest. Ebd. S.120 58 kleinen Veränderungen und Erweiterungen zu unterziehen. Das Ensemble hat stets die Freiheit das Stück um neue Bilder zu bereichern, sofern sie für den Verlauf der Geschichte inspirierend und folgender Voraussetzung gerecht bleiben: „Im Vordergrund steht die menschliche Stimme. Archetypisch sprechen Psychoanalytiker von „Muttersprache“ und der „Stimme des Vaters“, oder auch „Gottvaters“. Sie beschreibt den Einfluss dieser Stimme des Vaters, oder jenes Menschen mit dem die Mutter während der Schwangerschaft eine enge seelische Beziehung hat, auf den Embryo und den Versuch des Neugeborenen, diese Stimme in der Welt zu identifizieren. In diesem Sinne spielt die Suche nach Vätern und Müttern eine wesentliche Rolle in Lipsynch.“29 Robert Lepages Herangehensweise an das Phänomen der stimmlichen Ausdruckskraft entstammt nicht nur der kreativ assoziativen Recherchearbeit seines Ensembles, sondern auch der Forschung der psychoanalytischen Gruppe GIFRIC. Diese analysiert Parallelen zwischen der Vater – Mutter – Kind Rollenverteilung und deren sprachlicher Kommunikation. Demnach besagen Studien dieser Gruppe, dass der Mensch seine Stimme durch den Vater erhält, da er im Mutterbauch diese als erste wahrnimmt. Diesen Aspekt erzählt Lepage mit Maries Geschichte, die nach der Stimme ihres Vaters sucht und sie schließlich in sich selbst findet. Die Mutter hingegen steht für das ganzheitliche Konstrukt der Sprache. Diese Tatsache inszeniert Robert Lepage anhand der Frauenfiguren, die in vielen seiner Stücke dominieren. So auch in Lipsynch, dessen Handlung vom Schicksal zweier charakterstarker Frauen - Ada und Lupe - umrahmt wird. Beide Frauen sind liebende Mütter und unterscheiden sich jedoch stark in ihrer Herkunft und Persönlichkeit. Während die stimmlich und körperlich zerbrechlich wirkende Lupe aufgrund ihrer zermürbenden Vergangenheit kurz nach der Geburt ihres Sohnes stirbt, nimmt sich Ada diesem schützend an. Ada kann dank ihres stark ausgeprägten Beschützerinstinkts und Vertrauensbewusstseins - akustisch dargestellt durch ihre klare Sprech- und kräftige Gesangstimme - als eine Art Urmutter der Geschichte angesehen werden. 29 Rémy Charest. Ebd. S. 120 59 Als anschließenden, ausschlaggebenden Schritt auf dem Weg zur Individualitätsbildung in der stimmlichen Entwicklung, sieht die Gruppe GIFRIC das Wort, welches sich aus der Kombination von Stimme und Sprache formen kann. Dieser Punkt legitimiert, dass Lepages Theaterkunst ohne das Heranziehen eines Skripts oder einer strukturierten Form fruchten kann, seine Figuren durch die Phänomene Stimme, Sprache und Wort geprägt, geformt, verändert und charakterisiert werden. Eine textliche Vorgabe würde sie hingegen in ihrer Freiheit der lautlichen und körperlichen Entfaltung einschränken. Die akustischen Darstellungsmittel in Lipsynch sind sowohl inhaltlicher, ästhetischer als auch formaler Natur. Robert Lepage berücksichtigt in seinen Erzählungen keine der drei aristotelischen Einheiten; weder Ort, Zeit, noch Handlung. Sein Bühnenbild mutiert in extremen Sprüngen von einem Raum zum anderen und die Zeitspanne, in der erzählt wird, ist weder chronologisch noch regelmäßig. Dementsprechend zeichnet sich Lipsynch nicht durch eine Haupthandlung aus, sondern durch das assoziative und sprunghafte Suchen und Finden von Bildern der einzelnen Handlungsstränge, die dann zusammengeführt werden. Es werden in raschem Tempo immer wieder neue Figuren etabliert, denen der Zuschauer anfangs (fälschlicherweise) nicht so viel Bedeutung zuschreibt. Denn plötzlich erlangt eine Figur nach der anderen unabdingbaren Wert für die fortlaufende Geschichte und ihre Zusammenhänge. Dass Lepage Umwege in seiner Erzählung macht, ist reine Illusion, denn er und sein Ensemble Ex Machina erzählen die Geschichte genauso, wie sie sich aus der Probenarbeit ergeben hat. Anders ausgedrückt ergeben die einzelnen Geschichtsstränge den Leitfaden der Handlung und werden nicht zuletzt durch das Bühnenbild zusammengehalten. Es entsteht eine real fiktive Welt für das Publikum, welches dem Bühnengeschehen von Lipsynch rational und emotional folgen kann. Robert Lepage inszeniert die Wirklichkeit von ihrer außergewöhnlichsten und zugleich banalsten Seite und erweckt den Eindruck, dass fast jedes sich auf der Bühne ereignende Schicksal auch in unserem Alltag eintreten könnte. 60 7.2 Die Stimme als Körper Wie vorausgehende Kapitel bereits erläutert haben, steht die menschliche Stimme als Spur des Körpers eigenständig im Raum. Doch genauso wenig wie man behaupten kann, dass Physis und Psyche voneinander getrennt funktionieren, kann gesagt werden, dass Körper und Stimme zwei voneinander unabhängige Entitäten sind. Der Weg der Stimme aus dem Körper muss ebenso aus einer umgekehrten Perspektive beleuchtet werden: Die Stimme trägt die Leiblichkeit des Sprechenden bereits in sich, was ihn daher auch rein akustisch und ohne visuelle Unterstützung erkennbar und verständlich macht. Wenn jemand spricht, werden nicht nur Inhalt und Bedeutung transportiert, sondern auch dessen ganzheitliche, körperlich-seelische Verfassung. Beispielsweise kann es der Hörende einer Figur anmerken, wenn sie im Innersten unausgefüllt und traurig ist, obwohl sie nach außen hin eine enorme Stärke, Ruhe und Sicherheit ausstrahlt. Diese Behauptung soll durch folgendes Argument legitimiert werden: Da Lipsynch in Wien in der großen Halle E des Museumsquartiers zur Aufführung gelangte, erlebten die Zuschauer in den letzten Reihen visuelle Anhaltspunkte, wie mimische oder gestische Ausdrucksweisen, nicht derart leibhaftig wie die weiter vorne platzierten Zuschauer. Das bedeutet, dass sie emotionale Vorgänge in ihrer Präzision teilweise nur über die auditive Ebene wahrnehmen konnten. Dies ist dem körperlichen Potential der Stimme zu verdanken. Die Vermittlung von Emotion über die stimmliche Ebene funktioniert deshalb, weil die Stimme aus dem Inneren des Körpers kommt - produziert durch Organe wie Kehlkopf, Brustraum, Lunge, Zunge und Lippen. Da aus diesem Inneren auch die Emotionen stammen, werden sie unweigerlich mit dem Stimmklang mittransportiert. Man kann also sagen, dass die menschliche Stimme sowohl ein Teil der körperlichen Verfassung ist, als auch ein eigenständiges Produkt desselben. Als in sich geschlossener heterogener Körper zeigt sich die Stimme in ihrer Dynamik des Erklingens und Verschwindens, während sie der physischen und seelischen Existenz ihres Schauspielerkörpers entsprechen oder widersprechen kann. Doch der Aspekt der Ungleichheit zwischen akustischer und visueller Existenz eines Körpers findet auf der Bühne von Lipsynch keinen Raum, denn Lepage arbeitet in diesem Stück stark mit der gegenseitigen Unterstützung von Sicht- und Hörbarem. Mit 61 anderen Worten arbeiten Stimme und Körper meist zugunsten desselben Sachverhalts. Es wird versucht, visuelle Charakteristika der Figuren rein durch akustische Mittel sichtbar zu machen und umgekehrt. Verkörperung der Stimme bedeutet also einerseits das eigenständige Existieren des Stimmkörpers im Raum und andererseits das stimmliche Nachaußenkehren seelischer Zustände eines Individuums. In Bezug auf Letzteres darf nicht auf die Eigenwahrnehmung der eigenen Stimme vergessen werden. Denn die Komplexität der Bedeutungsübertragung vom Sprecher zum Hörer liegt nicht zuletzt darin, dass bereits das Phänomen der eigenen Hörbarkeit äußerst komplex ist. Es ist bekannt, dass man selbst die eigene Stimme meist als fremd wahrnimmt, sobald man sie entweder durch ein anderes Medium hört oder die akustische Aufmerksamkeit plötzlich nach innen kippt. Dieser Aspekt betont wiederum die Wichtigkeit der differenzierten Wahrnehmung der Körperlichkeit des Sprechenden und des Hörenden. 7.2.1 Wenn der Körper einer fremden Stimme geliehen wird „Lipsynch bedeutet im Englischen nicht „Lippensynchronisation“, sondern das Gegenteil: Personifizieren einer vorhandenen akustischen Aufnahme. Das heißt, wir verwenden bei Lipsynch drei akustische Originalinterviews und lassen diese Menschen dann auf der Bühne real werden.“30 Genauer gesagt steht der Titel des Stücks nicht nur für das nachträgliche Vertonen von Bildern oder für das Übersetzen von Empfindungen in Wort und Ausdruck, sondern genauso für den umgekehrten Vorgang. Beispielsweise kommt der Dialog in einigen Szenen vom Band und die Schauspieler bewegen nur die Lippen dazu, leihen also einer fremden Stimme ihren Körper. Lepage will nicht nur die Fähigkeit der Stimme zeigen, Sprecher und Hörer zu stigmatisieren und ihn sozialen Schichten oder emotionalen Zuständen zuzuordnen, sondern auch das Versagen von Stimme und Sprache, sowie die Schwierigkeit 30 Eva Morocutti (2010): „Lipsynch“ von Robert Lepage. “alles unter einem dach”. Interview mit Eva Morocutti. In: Wiener Festwochen, GAP, 04C 62 Sprache und Lippenbewegungen zu koordinieren. Doch ist das scheinbare Hauptaugenmerk auf Stimme und Sprache nicht zu wörtlich zu nehmen, was im Folgenden erläutert werden soll: Jede der neun Figuren hat eine private oder berufliche Verbindung zur Sprache, sei es im künstlerischen, medizinischen oder alltäglichen Sinne, in der Beschäftigung mit sich selbst oder mit anderen. Ihre Auseinandersetzung mit dem akustischen Phänomen erfolgt über die Kraft und/oder Machtlosigkeit von Sprache und Stimme, über die Musik als universell verständliche Sprache und über Mechanismen, die gesprochene sowie stumme Sprache reproduzieren können. Einige Beispiele dafür sind Video-, Sound- und Live Performances, das Synchronisieren eines Films in eine Fremdsprache, Sprech- und Körpertheater, Lippenlesen, Sprachtherapien, Geräusche, Gesang in den unterschiedlichsten Genres, Telefonate, Voice-over Erzählungen sowie Dialoge und Monologe. In jedem Fall dienen die Körper der Schauspieler, also die Körper der Figuren der stimmlichen Ausdrucksfähigkeit und werden auch primär über dieselbe definiert. Man sieht also, dass die Kapazität des akustischen Hauptmotivs ohne den Einsatz und die Ausdruckskraft des ganzheitlichen Körpers nie voll ausgeschöpft werden kann. Lipsynch zeigt, dass die Darstellung der menschlichen Stimm- und Sprachlichkeit viel mehr an medialem und physischem Repertoire benötigt als den konventionellen verbalen Ausdruck. Der Ausdruck to lipsynch bekräftigt, dass Lipsynchs Sprache viel mehr eine Körpersprache ist, als ein Sprachkörper. 7.2.2 Wenn die Stimme einem fremden Körper geliehen wird Genauso wichtig ist die differenzierte Wahrnehmung der Körperlichkeit des Schauspielers und der Körperlichkeit seiner Figur. Denn sobald es um die körperliche und stimmliche Beweglichkeit, Wandelbarkeit und Wiedererkennbarkeit einer Figur geht, stellt sich die Frage nach der Gewichtung von Schauspieler und seiner Figur. Beim Einstudieren der spezifischen stimmlichen Eigenheiten einer Figur ist es stets eine Gratwanderung zwischen der eigenen und der fremden Stimme. Fest steht allerdings, dass die Stimme des Schauspielers, bevor er sich überhaupt eine fremde 63 Stimme aneignen kann, genauso gefestigt und trainiert sein muss wie sein übriger Körper. Die beiden Entitäten müssen sozusagen eine profunde Basis bieten. „Der Körper ist [...] eine Spannung [tension]. Und die griechische Wurzel des Wortes ist tonus, der Ton. Ein Körper ist ein Ton.“31 Jean-Luc Nancy beschreibt die beste Spannung, die eine körperliche Bewegung haben kann, als statisch, da dieser Zustand jene genuine Dynamik und Wandelbarkeit aufweist um einen durchlaufenden Fluss zu kreieren. 32 Dieser Zustand impliziert unweigerlich ein Bei-sich-sein, das nicht nur für körperliche, sondern genauso auch für sprachliche Aktionen unumgänglich ist. Wenn nun Schauspieler ihre Stimmen anderen Charakteren leihen als sich selbst, einverleiben sie sich sowohl deren individuelle Körperlichkeit, als auch deren Stimme. Nachdem sich also der Schauspieler eine stimmliche Stabilität angeeignet hat, geht es darum, die nötige Flexibilität und Durchlässigkeit für einen stimmlichen Wandel zu zeigen. Bei der akustischen Verkörperung handelt es sich um eine Verkörperung der Stimme im doppelten Sinne – nämlich zum Einen um die Verkörperung der eigenen Persönlichkeit in der Stimme, und zum Anderen um die stimmliche Verkörperung der darzustellenden Persönlichkeit. Lipsynch verleiht diesem Prozess eine eigene Note, denn die Schauspieler schlüpfen nicht im klassischen Sinne in eine Rolle, sondern erarbeiten eine Figur, ausgehend von ihren eigenen persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen. Demzufolge ist eine natürliche Authentizität der Stimme als Voraussetzung für eine Charakterbildung von vorn herein gegeben. Was im weiteren Verlauf passiert, ist jedoch sehr wohl eine schrittweise Anpassung der eigenen Persönlichkeit an die zu spielende, da der Schauspieler schließlich nicht dasselbe Schicksal erlebt hat wie die zu verkörpernde Figur. Doris Kolesch spricht in diesem Fall von einem „Charakter in der Erscheinung, [einer] artikulierten Anwesenheit von jemandem“.33 Stimmlich gesehen bedeutet dies eine intensive Arbeit an der Intonation des Schauspielers, welche die Figur neben 31 Jean-Luc Nancy (2003): Corpus. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S. 124 32 Vgl. Doris Kolesch. Ebd. S. 81 33 Doris Kolesch (2009): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S. 28 64 ihren visuellen Charakteristika für den Zuschauer noch viel klarer und spürbarer macht. Der Schauspieler kann durch sprechtechnische Mittel nicht nur seiner Figur deutlich hörbare emotionale Zustände einverleiben, sondern auch dem Zuschauer automatisch die entsprechende Reaktion entlocken. Robert Lepage gelingt es in seinem Epos über die menschliche Stimme, dass der Zuhörer für alle neun Charaktere Empathie und Verständnis entwickeln kann, was unter anderem auch daran liegt, dass die Figuren stimmlich bis ins letzte Detail ausgearbeitet sind. Genauer gesagt zeigen die Charaktere von Lipsynch eine unmissverständliche Klarheit in all ihren emotionalen Regungen, die sich akustisch und visuell entsprechen. Anhand der Inszenierung des Hörbaren in Lepages Lipsynch zeigt sich also, dass der Stimmkörper als eine Art Synthese zwischen visueller und akustischer Körperlichkeit zu verstehen ist. Zumal mit Körperlichkeit am Theater und in der bildenden Kunst primär ein visuelles Phänomen assoziiert wird, gilt es hier zu betonen, dass die akustische Artikulation für die Verkörperung einer Figur ebenso maßgeblich ist, wie die visuelle. 65 7.3 Das unsichtbare Band zwischen den Figuren Die Leiblichkeit der Stimme ist nicht nur auf akustischer Ebene hörbar, sondern auch auf materieller Ebene spürbar. Ein essentielles Kriterium, welches sich aus diesen Eigenschaften der Stimme erschließt, ist ihr Potential zur sozialen Bindungskraft. Diesem Aspekt soll sich nun das folgende Kapitel, mit Hilfe des narrativ schlüssig ausgearbeiteten Figurennetzes von Lipsynch, widmen. Die Stimme schafft und kreiert Begegnungen und ist somit maßgeblich für das Etablieren zwischenmenschlicher Beziehungen in Lipsynch. Robert Lepages Ensemble baut die neun Geschichten in Lipsynch nicht nur nach den jeweiligen Figuren, die den Geschichten ihre Titel verleihen, sondern verknüpft dieselben auch, indem jede Geschichte neben ihrem Protagonisten bereits eine oder zwei weitere Figuren etabliert und diese in einem detailliert gezeichneten und für spätere Handlungsstränge notwendigen Verhältnis inszeniert. Dieses Verhältnis wird nicht primär durch den Gehalt des Gesagten, durch Worte evoziert, sondern durch den individuellen Klang der Stimme, der an die Intention des Gesagten gebunden ist. Durch die räumliche Ausbreitung der Stimme kann sie automatisch Anklang bei jenen Figuren finden, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Abhängig von dem Stimmklang und der Intonation des Sprechers richtet sich dessen Stimme unweigerlich an einen oder mehrere Ansprechpartner. Der Moment des Ansprechens einer Person, ob auf der Bühne oder im realen Leben, ist ein Phänomen spezifischer sozialer Interaktion, und diese soll nun anhand eines Überblicks auf das Figurennetz von Lipsynch untersucht werden. 7.3.1 Ada Robert Lepage eröffnet das Epos mit dem Schicksal der berühmten Opernsängerin Ada Weber, indem er sie vor dem noch ungeöffneten roten Vorhang stehend eine Opernarie aus Gorèckis34 dritter Sinfonie zu Gehör bringen lässt. 34 Henryk Mikołaj Gorècki. Polnischer Komponist und Professor. 1933 – 2010. 66 Als dann die erste Szene zu sehen ist, befindet sich Ada als Passagierin auf einem Flugzeug und erlebt dort, wie eine Mutter, Lupe, mit ihrem Baby in der Hand kurz vor der Landung stirbt. Die zunächst unsichtbare Verbindung dieser beiden Frauen etabliert dennoch sofort ein starkes matriarchales Bild, welches durch die ständige verbale und melodische Präsenz von Adas Stimme betonend verstärkt wird. Schließlich wird die Verbindung zwischen Ada und Lupe durch das Baby verständlich gemacht, denn es wird nach diesem tragischen Vorfall Ada statt Lupe zur Mutter haben. Am Ende dieser ersten Geschichte kreuzen sich vor dem Hintergrund des Flugzeugkorpus die Wege der beiden Frauen ein zweites Mal. Doch diesmal ist das von Ada adoptierte Baby Jeremy erwachsen und blickt aus einem der Flugzeugfenster in der Bühnenmitte, während Ada seinen Blick im Diesseits und Lupe im Jenseits durchqueren. Adas Erzählung schließt noch eine weitere wichtige Person ein, Thomas, der neben seiner medizinischen Ausbildung zum Chirurgen sein Geld als Telefonist bei Lufthansa verdient. In einer Szene, die an den beiden Enden einer Telefonleitung spielt, etabliert Lepage die nächste Figurenkonstellation. Ada, die nach dem Flug versucht Informationen über das Waisenkind zu bekommen spricht zu guter Letzt mit Thomas, der sich als großer Fan der Opernsängerin bekennt und sie kennenlernen möchte. In einer Zugfahrtsszene im späteren Verlauf der Geschichte wird ein zufälliges Treffen von Ada und Thomas in Anwesenheit des mittlerweile pubertierenden und revoltierenden Jeremy inszeniert, was die zukünftige Beziehung dieser drei Figuren ankündigt. 7.3.2 Thomas Die zweite Geschichte offenbart die Figur Thomas, den der Zuschauer nun in seiner wahren Berufung als Gehirn-Chirurg erlebt. Dies zeigt Lepage einerseits mit Thomas persönlichen Kampf zwischen Wissenschaft und der menschlichen Psyche und andererseits mit Hilfe eines weiteren Charakters, der an dieser Stelle in das Stück tritt. Die Sängerin Marie, eine Patientin von Thomas, muss erfahren, dass sie nach einer Operation aufgrund eines Hirntumors ihre Sprechfähigkeit verlieren könnte. Als Anknüpfung an diese im Stück vorherrschende Thematik der Sprach(un)Fähigkeit baut Lepage am anderen Ende der Bühne ein Interview mit einer mittlerweile selbst behinderten Sprachtherapeutin ein, welches als Nahaufnahme auf eine Leinwand 67 projiziert wird. Diese scheinbar beiläufige, jedoch markante und einprägende Figur wird im Laufe des Stücks noch mehrmals erscheinen. Nach einigen philosophisch–wissenschaftlich fundierten Krisen des Arztes und einer gesanglichen Performance von Marie, zeigt die letzte Szene nicht nur den operativen Eingriff, sondern auch den im Zuge der Operation zunehmenden Sprachverlust der Jazz-Sängerin. 7.3.3 Marie Mit dieser Figur fährt Lepage in seiner nächsten Erzählung auch gleich fort, indem er sie wortlos mit einbandagiertem Kopf an einen Tisch setzt, an dem sie ihre eigene Stimme, für das Publikum akustisch und visuell erfahrbar, auf vier nacheinander aufgenommen Ebenen wortwörtlich zur Schau stellt. Nachdem einige Umbauten Maries gesundheitliche Besserung und ihre Tätigkeit als Synchronsprecherin skizzieren, lädt sie eine taube Lippenleserin ein, um sich aus alten, stummen Familienvideos die Aussagen ihres Vaters übersetzen zu lassen. Der Charakter der Lippenleserin spielt für die Figurenkonstellation im Allgemeinen zwar keine Rolle, jedoch etabliert er einen wichtigen Aspekt verbaler Kommunikation mit einer taubstummen Figur. Maries Geschichte birgt im Grunde genommen die größte Anhäufung verschiedenster sprachlicher und stimmlicher Phänomene. In einer weiteren Szene erlebt man die nach ihrer Operation so aktive Marie in ihrer Funktion als Kirchenchorleiterin, als sie unerwarteten Besuch von ihrer etwas zerstreuten Schwester Michelle bekommt. 7.3.4 Jeremy Als nächste Figur betritt nicht wie erwartet Michelle die Bühne, sondern der mittlerweile erwachsene Jeremy, der in Spanien auf der Suche nach den Wurzeln seiner leiblichen Mutter ist. Nachdem er eine Vision seiner singenden Mutter mit ihm als Baby im Arm erlebt, erfolgt ein starker akustischer und visueller Schnitt in ein Restaurant in Los Angeles, in dem Jeremy als Regisseur eine Filmcrew zur Vorbesprechung für seinen neuen 68 Film versammelt. In dieser Sequenz sind alle neun Schauspieler mit ihren Figuren vertreten, um das Flair eines multikulturellen Sprachgewirrs zu etablieren. Im Zuge mehrerer physischen und sprachlichen Kollisionen erfährt man, dass der Film die Geschichte von Jeremies leiblicher Mutter erzählen soll. Als ein Szenenwechsel die Schauspieler in ein chaotisches Filmset versetzt, passieren die ersten Überschneidungen der einzelnen Figuren, die jedoch narrativ detailliert durchdacht sind. Beispielsweise mimt die Darstellerin, die zu Beginn Jeremies leibliche Mutter gespielt hat nun die Schauspielerin Maria Gonzales, die tatsächlich seine Mutter im Film verkörpern soll. In diese Schauspielerin wird sich Jeremy verlieben und ein Kind von ihr bekommen. Außerdem erlebt der Zuschauer während der ersten zu drehenden Filmszene die Vorgeschichte zu einer bereits gesehenen Szene in der Geschichte von Marie; denn die gedrehte Szene ist dieselbe, die Marie in ihrer Geschichte synchronisiert hat, um der spanischenglischen Schauspielerin Maria Gonzales ihre französische Stimme zu leihen. Bei einer Pressekonferenz für den Film spielt Lepage mit weiteren Parallelen zu den bereits gesehenen Geschichten. Seine Schauspieler treffen also in unterschiedlichsten Konstellationen immer wieder aufeinander. Beispielsweise interviewt Ada in der Pressekonferenz den Schauspieler Herrn Swoboda, der von jenem Schauspieler gemimt wird, der in der zweiten Szene ihr Lebensabschnittspartner Thomas ist. Eine etwas weniger offensichtliche Parallele zwischen den Geschichten „Thomas“ und „Jeremy“ bieten in dieser Sequenz der Regisseur Jeremy und der männliche Hauptdarsteller in seinem Film, Herr Swoboda. Zwischen den beiden Männern spielt sich nämlich ein ähnlicher Machtkampf (hier um Maria, die Hauptdarstellerin in Jeremies Film) ab, wie man ihn zuvor zwischen Jeremy und seinem unerwünschten Stiefvater Thomas erlebt hat. Dies führt zur Annahme, dass Jeremy in fast allen Abschnitten des Stückes um eine Frauenfigur kämpfen muss, allen voran natürlich um seine Mutter. Doch er bangt nicht nur um sie, sondern auch um seine Adoptivmutter Ada und schlussendlich auch um seine Geliebte Maria Gonzales. Selbstverständlich kommen auch Figuren vor, die keine tragenden Parts spielen und dennoch eine wichtige Funktion für das Stück oder für national und sprachlich geprägte Stereotype erfüllen, wie beispielsweise Maria Gonzales´ eifersüchtiger italienischer Ehemann oder die schroffe britische Regieassistenz. 69 Nach einer rasanten Abfolge mehrerer geglückter und missglückter, komischer und dramatischer Drehtage meldet sich Jeremy nach langer Zeit wieder bei seiner Adoptivmutter Ada und erzählt ihr von seinem neuen Film über seine leibliche Mutter. Das Telefonat endet jedoch tragisch, als er, im Glauben seine leibliche Mutter sei eine Sängerin gewesen, von Ada erfährt, dass seine Mutter in Wirklichkeit als Prostituierte arbeiten musste. 7.3.5 Sarah Die nächste Geschichte führt den Zuschauer in scheinbar noch völlig unbekanntes Terrain. Zunächst bewegt sich die Putzfrau Sarah in einer stummen Szene in der Küche ihrer Arbeitgeberin dezent zu einem Lied, das aus dem Radio zu hören ist. Doch als die Hausinhaberin im Rollstuhl in die Küche gefahren kommt erkennt sie der Zuschauer als dieselbe behinderte Frau, die in Thomas´ Geschichte das Interview über Sprachtherapie gegeben hat. Ohne Worte wird das sehr kühle und unpersönliche Verhältnis zwischen den beiden etabliert, bis Sarah die Wohnung verlässt. Einige Minuten später läutet die Hausglocke; und durch die sich plötzlich zum Positiven veränderte Körperhaltung der alten Dame im Rollstuhl, wird wortlos ein weiteres zwischenmenschliches Verhältnis etabliert. Der neue Besuch ist Ada, deren warmes und inniges Verhältnis zur alten Dame Anfangs nicht verständlich wird. Während Adas Anwesenheit auf der Bühne wird die Küche lautlos in ein Nachrichtenstudio umgebaut, was impliziert, dass Ada die Sendung im Radio verfolgt bis dann auch sie die Wohnung der Alten verlässt. Die Nachrichtensendung, die für den Zuschauer live ausgestrahlt wird, handelt von der sozialen und moralischen Benachteiligung weiblicher Prostituierter gegenüber männlichen Eskorten in der Sexindustrie. Selbstverständlich nützt Lepage diese Szene, um Sarahs Figur zu spezifizieren und man erfährt, dass sie in einem Kinderheim vergewaltigt wurde und seitdem mit Prostitution ihr Geld verdient. Nach Beendigung der Radiosendung wechselt der Sender während einer kurzen Werbedurchsage rasant zum nächsten Beitrag, geführt durch einen Herrn namens Toni Brix. Sarah, die das Studio noch nicht verlassen hat erkennt diesen als ihren Bruder und beobachtet ihn später von draußen durch ein Fenster. Als er sie sieht und von seiner Arbeit abgelenkt wird, entfernt man sie von der Radiostation. 70 Während Sarahs nächster Schicht in der Wohnung der alten Dame muss sie erschrocken feststellen, dass diese in ihrem Rollstuhl verstorben ist. Dies führt wiederum dazu, dass sich die Wege von Ada und Sarah kreuzen, als sie das weitere Handhaben der Wohnung und Habseligkeiten der alten Dame besprechen. Dank dieses Gesprächs erfährt der Zuschauer, dass die alte Dame Adas Sprachtherapeutin war, als diese in ihren jungen Jahren einen Sprachfehler hatte. Diese Tatsache macht Sarah hellhörig; sie fragt Ada, ob man denn auch seine Stimme und Sprache in einer Therapie verändern könne. Sie offenbart, diesen Verdacht bei ihrem Bruder zu haben, der in der Radiosendung so anders klang und hinterlässt ihm daraufhin eine Nachricht. Der nächste Bühnenumbau führt den Zuschauer wieder in das Radiostudio, wo Toni mit seiner tatsächlich neu angelernten und professionell geschulten Stimme ein Hörspiel aufnimmt. Plötzlich erscheint Sarah im Studio und unterbricht Toni diesmal hartnäckiger bei seiner Arbeit. Er trägt seinem Mitarbeiter auf, das Mikrophon abzudrehen, und der Zuschauer erlebt das Gespräch zwischen Toni und Sarah tonlos durch das Glas des Aufnahmeraums. Allein durch die dringliche, fordernde Körpersprache von Sarah und die abwehrende, aggressive Erwiderung Tonis kann der Zuschauer erahnen, warum Sarah weinend aus dem Raum läuft. Als Toni den Besuch schnellst möglich abtun und sich wieder in seine Arbeit stürzen will, versagt seine Stimme. Ein neuer Raum etabliert ein Verhör, nachdem Sarah ihn des sexuellen Missbrauchs und Inzests angeklagt hat. Erst an diesem Punkt der Geschichte erfährt man, was in seiner und Sarahs Kindheit wirklich geschehen ist: Sarah wurde von ihrem Stiefvater vergewaltigt und flüchtete daraufhin zu ihrem Bruder, den sie verstört zum Geschlechtsverkehr überredete. Als der Stiefvater davon erfuhr, missbrauchte er Toni ebenfalls mehrere Male, woraufhin dieser eines Tages nach London flüchtete, seine Identität änderte und fünf Jahre lang einen Sprachtherapeuten aufsuchte, der auch seine Sprache und Stimme verändern sollte. Während er völlig aufgebracht von den Geschehnissen berichtet, fällt er immer weiter in seine alte, ursprüngliche Stimme zurück. 71 7.3.6 Sebastian Die darauffolgende kurze Sequenz fügt sich am wenigsten in den Geschichtsverlauf ein und spielt dennoch eine wichtige Rolle. Sebastian, der in einem Synchronisationsstudio arbeitet, wird plötzlich durch das Läuten seines Handys unterbrochen und erhält die Nachricht, dass sein Vater gestorben ist. Im Leichenschauhaus identifiziert er ihn und sucht anschließend seine Wohnung auf, wo er von seinem kleinen, behinderten Bruder Simon überrascht wird, der sich in einem Schrank versteckt hat. Aus seinem Leben gerissen versucht Sebastian nun eher unwillig in Spanien seine Familienverhältnisse zu klären. Es folgt eine komische und bizarre Szene nach der anderen, in der mit der Leiche und deren Vergangenheit hantiert wird bis endlich die Trauerfeier stattfinden kann. 7.3.7 Jackson Die Szene beginnt, als der schottische Detektiv Jackson in sein modernes Auto einsteigt und alsbald mit der französisch-sprachigen Stimme seines Navigationssystems zu kämpfen hat. Bei einem Telefonat auf dem Weg zu seiner Arbeit in New Scotland Yard erfährt man, dass ihn seine Frau verlassen will, weswegen er vergeblich seine übrigen Tanzstunden annullieren lassen möchte. In seinem Büro angekommen bestätigt er einberufenen Zeugen eines tragischen Unfalls, dass ihr Kollege Toni Brix bei einem möglichen Selbstmord auf einem Bahngleis ums Leben gekommen ist. Damit ist Jacksons Bezug zum bisherigen Verlauf des Stücks hergestellt. Als ihm seine griechische Sekretärin Kiriaki mitteilt, dass ein gewisser Sebastian beruflich eng mit Toni gearbeitet haben soll, nimmt auch dieser Charakter im Figurengewirr seinen Platz ein. Jackson steigt also wieder in sein Auto und fährt in das Tonstudio von Sebastian, der gerade von dem Begräbnis seines Vaters aus Spanien zurückgekehrt ist. Im Gespräch erfährt Jackson, dass Toni nicht nur die Stimme von BBC, sondern 72 ironischerweise auch die Stimme der British Railways war, vor die er sich gestürzt haben soll. Verwirrt über den Umstand, dass Toni gleichzeitig eine Zugankündigung vorgenommen und sich im selben Moment vor das Gleis geworfen haben soll, bittet Jackson Sebastian um Aufklärung. Nachdem Jackson einiges über den Beruf der akustischen Berichterstattung erfahren hat, geht er ab. Gleich darauf vernimmt man aus der verdunkelten Bühne Sarahs Nachricht auf Tonis Anrufbeantworter mit der Bitte, er solle sich melden. Als das Licht die Bühne erhellt, befinden wir uns wieder in Jacksons Büro, wo er gemeinsam mit Ada versucht, Sarahs Stimme zu identifizieren und zu charakterisieren. Ada ist also scheinbar nicht nur künstlerisch sondern auch psychologisch auf dem Gebiet der Sprache und Stimme bewandert. Bisher sind also Jeremy und Ada als Einzige beinahe konstant in ihrer ursprünglichen Figur geblieben und haben nur kurzfristig zusätzliche Charaktere gemimt. Mittlerweile befindet sich Jackson zwecks forensischer Untersuchungen in Toni Brix´ Wohnung. Da ruft Sebastian in der Wohnung an, wissend, dass er Jackson dort erreicht und teilt diesem mit, dass er nun wisse, wer die Frau im Tonstudio war. Er beschreibt sie als Ex-Prostituierte, die zuvor in einem BBC Interview zu Gast war und sendet jene Aufzeichnung zu Ada, die diese analysiert und mit Sarahs Nachricht auf Tonis Anrufbeantworter vergleicht. Der Zuschauer sieht dabei Sarahs Stimme auf zwei nebeneinander aufgestellten Leinwänden visuell aufgezeichnet. Sarah wird als Tonis Schwester verifiziert, woraufhin Jackson nach Manchester fährt, wo auch das Unglück passiert ist. Dort angekommen steigt aus einer Gruppe von Prostituierten Sarah in sein Auto und schildert nach und nach, dass sie es war, die Toni unabsichtlich zu weit von sich und somit vom Bahnsteig gestoßen hatte. 7.3.8 Michelle Nun fährt Lepage mit Maries geistig kranker Schwester Michelle fort. Marie holt sie nach einem Gespräch mit dem Arzt von der Klinik ab. Die nächsten zwei Szenen zeigt Lepage aus zwei verschiedenen Perspektiven: Einmal aus dem Inneren eines Ladens, und einmal von draußen. Michelle besitzt einen Bücherladen und kann dort, abgesehen von ihren Kunden, noch andere Menschen wahrnehmen, die scheinbar nur sie sehen kann. Ein Priester 73 und ein Mädchen verweilen eine Zeit lang in einer charakteristischen und repetitiven Aktivität vor der Schaufensterscheibe und verschwinden dann wieder. Michelle ist zwar neugierig, doch sobald ihr diese Geister zu nahe kommen, flüchtet sie vor ihnen. Das nächste Bild ist Michelles Wohnung, ein dreieckiger Raum, in dem sie ihre Schwester Marie mit ihrem neuen Geliebten Thomas besuchen kommt. 7.3.9 Lupe Die Geschichte über Jeremies leibliche Mutter Lupe beginnt mit einer Szene in einem Lokal, in dem Ada auf ihren Stiefsohn Jeremy wartet, der ihr sein Neugeborenes vorstellen will. Sie zeigt ihm ein Bild seiner Mutter, woraufhin ein plötzlicher Szenenwechsel in ein lateinamerikanisches Lokal folgt, in dem Lupe zu ihren Lebzeiten als junges Mädchen gearbeitet hat. Das Bühnenbild wird in blass oranges Licht getaucht und man hört kubanische Musik, während die damals erst fünfzehnjährige Lupe von den Inhabern des Lokals unwissentlich an deutsche Zuhälter vermittelt wird. Beim darauffolgenden Kulissenwechsel werden die Klänge der Musik atonaler und münden in einem in blaues Licht getauchten Arztzimmer, wo Lupe untersucht wird. Während Lupe noch gut zugeredet wird, schlittert sie bereits in das Prostituierten Milieu Hamburgs, wo sie gleich in der ersten Szene vergewaltigt und entjungfert wird. Alsbald wird sie von ihren Zuhältern an ein Freudenhaus verkauft, bis sie eines Tages durch Zufall bei einer Frau landet, die ihr helfen will. Dieselbe Frau sucht auch Ada Jahre später auf, als sie mehr über Lupes Existenz erfahren will. Nach einigen tragischen, selbsterklärenden Szenen über Lupes Missbrauch und Hilflosigkeit und dem anschließenden tödlichen Autounfall ihrer Zuhälter, kehrt Stille ein und Ada, die mittlerweile sehr viel über Lupes tragisches Leben weiß, singt eine Arie für sie. Das Bühnenbild zeigt nun Lupe in der Mitte der Bühne vor einer weißen Leinwand, zusammengekauert auf einem Sessel - Ada an ihrer rechten und Jeremy an ihrer linken Seite. Dann wird die Leinwand nach oben gezogen und Lupe verlässt mit der Frau, die sich ihrer angenommen hat, von hinten den Raum. Langsam geht sie auf Ada zu und versinkt in ihren Armen, während Jeremy und ihre Retterin im Hintergrund stehen und die berührende Szene beobachten. Schließlich überreicht 74 Ada Lupes Körper ihrem Adoptivsohn Jeremy, der somit endlich seine Mutter gefunden hat. Dieses Kapitel hat sich nun den narrativen und dramaturgischen Aspekten in den Figurenkonstellationen von Lipsynch gewidmet, welche im folgenden Kapitel anhand der stimmlich–sprachlichen Aspekte noch spezifischer beleuchtet werden sollen. 7.4 Die charakteristische Körperlichkeit einzelner Stimmen Nachdem nun die Beziehungen zwischen den Figuren und die groben narrativen Zusammenhänge untersucht wurden, sollen also im Folgenden die einzelnen Figuren in Bezug auf ihre Stimmlichkeit und Sprachlichkeit untersucht werden. Bei der Analyse der Figurenkonstellationen in Lepages Lipsynch taucht unweigerlich die Frage auf, was denn zuerst Bestandteil der prozesshaften Probenarbeit war. Die Geschichte oder die Figuren? Selbstverständlich kann man das Eine nicht vom Anderen trennen, doch bei genauem Hinsehen scheint es, als würden zugunsten der Geschichte immer mehr Charaktere dazu stoßen. Und weil bei Robert Lepage alle Figuren dieselbe Wichtigkeit haben, es also keine Einteilung in Haupt- und Nebendarsteller gibt, werden die für den Geschichtsverlauf kurzfristig neu dazu gekommenen Figuren ebenso stilisiert wie die Figuren, die das Grundmodell der Geschichte tragen. Jede einzelne Figur auf der Bühne des frankokanadischen Theatermachers gewinnt an Wichtigkeit und Bedeutungskraft. Aufgrund dessen ist es notwendig, die stimmlich–sprachliche Charakteristik jedes einzelnen Schauspielers und der Figur, die er gerade mimt, genauer zu untersuchen. Rebecca Blankenship spielt in erster Linie Ada, die das Stück mit einer Opernarie eröffnet. Diese Eröffnung dient nicht nur als dramatischer Auftakt des Stückes, sondern gleichzeitig als Etablierung der Figur. Adas Stimme ist kräftig und voll und breitet sich mit einem sehr tiefen Klang in ihrem Resonanzkörper aus, bevor sie den Raum erfüllt. Lepage setzt es als interessantes Stilmittel ein, dass er Ada zuerst singen und erst danach sprechen lässt, was den melodischen Klang und die warme Stimmfarbe ihres Sprechorgans als wichtigeres Element vor die sprachliche Artikulation stellt. Dadurch, dass der Zuschauer Ada zuerst singen und erst in der darauf folgenden zweiten 75 Szene sprechen hört, nimmt er deren Stimme von einem ganz anderen Ausgangspunkt wahr. Denn er hört primär den bereits etablierten melodischen Aspekt der Stimme, bevor er den artikulatorischen wahrnimmt. Die Stimme steht mit ihrer charakteristischen Dominanz sowohl als eigenständiges Element, als auch als Spiegelung ihrer Besitzerin auf der Bühne. Genauer gesagt stimmt die Charakterisierung von Adas Stimmklang exakt mit der physischen und psychischen Beschreibung ihrer Figur überein. Ada ist eine sehr große und eher korpulente Frau, die gleichzeitig eine immense Ruhe und Friedfertigkeit ausstrahlt. Von Anfang an wird sie als eine Art Urmutter und verbindende Instanz für Lipsynch etabliert, was die folgenden Geschichten bestätigen. So wie Adas laute und gleichzeitig sanfte Stimme ihre Zuhörer fast schützend in ihre Aura aufnimmt, so handelt auch die Figur im Laufe der Erzählungen. Sie adoptiert Jeremy aus Mitgefühl, recherchiert über das Leben seiner verstorbenen Mutter Lupe, die sie am Ende des Stücks ebenfalls in ihre Arme schließt, und nimmt in gewisser Weise auch den verzweifelten Thomas bei sich auf. Dieser Aspekt der alles umschließenden und zusammenhaltenden Instanz spiegelt sich auch formal in den Hauptauftritten Adas, die Lepage als markantes Zeichen an den Anfang und an das Ende des Stücks setzt. Zwischen diesen beiden Auftritten erlebt man Ada als fürsorgliche und ambitionierte Adoptivmutter, die Jeremy in seiner Musikalität und künstlerischen Entfaltung schulen möchte und als liebevolle Partnerin von Thomas, der ihrer Persönlichkeit noch vor ihrer Stimme verfallen ist. Rebecca Blankenship mimt im Zuge des Stückes auch noch weitere Figuren, wie beispielsweise als Stimmendiagnostikerin in Sarahs Geschichte, als Schülerin ihrer mittlerweile dementen Sprachtherapeutin, als Journalistin in der Pressekonferenz von Jeremies Film oder als Regieassistenz desselben. Davon können jene Figuren, die sich durch die enge Verbindung zu Stimme und Sprache auszeichnen, mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls als Ada wahrgenommen werden. Fest steht, dass der Zuschauer bei Blankenships Anwesenheit auf der Bühne noch vor der darzustellenden Figur ihre Stimme erkennt und sich somit automatisch die Frage stellt, ob es sich gerade um Ada oder jemand anderen handelt. Doch Lepage hat dieses Stilmittel in seinem Epos Lipsynch nicht ohne Grund eingesetzt; schließlich dreht es sich stets um die Identifizierung der eigenen und fremden Stimme. Aus diesem Grund gibt er in dieser Inszenierung auch keine Antwort auf mögliche Unsicherheiten des Publikums in Bezug auf die verschiedenen Charaktere, 76 die die einzelnen Schauspieler darstellen. Diese sollen sich nämlich rein aus den Figurenkonstellationen erschließen, worum sich auch dieses Kapitel dreht. Die nächste Figur in der Chronologie des Stückes ist Thomas, gespielt vom einzigen deutsch-sprachigen Schauspieler des Ensembles, Hans Piesbergen. Er hat seinen ersten Auftritt in Adas Geschichte, in der er gleich mehrere Charaktere von unterschiedlichen Telefonisten der Lufthansa Fluggesellschaft mimt. Nachdem er sich als übertrieben freundlicher und aufmerksamer Franzose und als schwerfälliger und etwas langsamer Deutscher durch die charakteristischen Dialekte und Körperhaltungen der verschiedenen Nationen gespielt hat, hört man ihn schließlich als den lockeren und freundlichen, akzentfrei englisch-sprechenden Österreicher Thomas Bruckner. Lepage stilisiert hier in den ersten paar Minuten von Piesbergens Auftritt eine Anhäufung von sprachlich und gestisch völlig unterschiedlichen Individuen, bevor er den sympathischen Thomas etabliert. Seine Stimme hat einen sehr hellen und positiven Klang, der, sobald er seine Gesprächspartnerin als die Ada Weber erkennt, sogar noch zuvorkommender wirkt. Bei diesem Telefonat treffen die beiden Stimmen von Ada und Thomas zum ersten Mal aufeinander und harmonieren sofort. Nicht umsonst betont Thomas, dass ihm Adas Stimme seit dem Konzert noch immer im Kopf herum schwebt. Das besondere an Thomas´ Stimme ist, dass sie im Gegensatz zu Adas Stimme stark variiert, je nachdem mit wem Thomas gerade spricht. Genauer gesagt hat Thomas Stimme in Lipsynch eine starke Tendenz, sich ihren Gesprächspartnern anzupassen. Beispielsweise ist sie in Adas Anwesenheit immer sehr gedämpft und warm, was die Rollenverteilung im Verhältnis zwischen den beiden authentisch widerspiegelt. Denn von Anfang an ist Thomas eine Art Verehrer und Bewunderer Adas, und das führt dazu, dass sie das Sagen hat, was sich auch in der Entwicklung ihrer Beziehung kaum ändert. Dabei ist interessant zu beobachten, dass sich diese Rollenverteilung völlig natürlich und ohne Widerstand einpendelt; dies ist zu einem Großteil den stimmlichen Merkmalen der Beiden zuzurechnen. Denn Ada drängt sich ihre Funktion als dominantere Figur keineswegs auf, sondern bringt diese Bodenständigkeit und Selbstsicherheit einfach durch die Präsenz ihrer Stimme mit. Und Thomas „unterwirft“ sich ihr ebenfalls völlig freiwillig, indem er seinen Ton von dem Augenblick an zurücknimmt, als er Ada als die Künstlerin Ada Weber erkannt hat, zurücknimmt, und in die Rolle des Fragenden schlüpft. Ada hingegen hat mit 77 ihrer klaren und standhaften Stimme stets die Antworten dazu parat. Aufgrund dieses friedlichen und natürlichen zwischenmenschlichen Übereinkommens wirkt die Beziehung zwischen Ada und Thomas sehr harmonisch, bis auf jene Momente, in denen der Adoptivsohn Jeremy ihnen unwillig Gesellschaft leistet. Für das schroffe und fast aggressive Verhältnis zwischen Thomas und Jeremy steht Thomas Tonfall, der sich wesentlich verhärtet sobald er mit Jeremy spricht. Hinzu kommt, dass Thomas immer wieder zwischen den Sprachen Deutsch und Englisch wechselt. Schon allein die Gegenüberstellung dieser beiden Sprachen spricht Bände, da das Deutsche im Vergleich zum Englischen viel härtere und ungebundene Laute impliziert. Ada pflegt mit Jeremy Englisch zu sprechen, und so auch Thomas, der jedoch radikal zu seiner Muttersprache Deutsch wechselt als er merkt, dass er bei Jeremy auf Granit stößt. Beispielsweise erfährt der Zuschauer in einer Szene am Wohnzimmertisch plötzlich einen ungewohnt lauten Thomas, als dieser Jeremy in deutscher Sprache zurechtweisen will. All diese Stimm- und Sprechcharakteristika der Figur Thomas zeigt Lepage noch während Adas Geschichte. Was er anschließend in Thomas eigentlicher Erzählung zeigt, ist dessen Wesen und Sprache in seinem Beruf als Gehirnchirurg. Dabei eröffnet sich noch ein weiterer stimmlicher Aspekt des Protagonisten, nämlich der professionell wissenschaftliche und manchmal etwas gestresste Stimmklang. Thomas spricht mit großem Ernst und Respekt über seine Arbeit; gleichzeitig merkt man, dass es ihm schwer fällt, seine Patienten über ihr oft tragisches Schicksal zu informieren. Dies zeigt Lepage in der Szene mit der Sängerin Marie, die von Thomas erfahren muss, dass sie nach einer notwendigen Operation ihre Sprache verlieren wird. Zunächst erklärt ihr Thomas auf Englisch und relativ trocken den medizinischen Sachverhalt, bis seine Stimme auf Maries emotionale Reaktion hin immer leiser und gebrochener wird. Als sie sein Büro verlässt und Thomas allein zurückbleibt wechselt er wieder zu seiner Muttersprache, die als trauriges Flüstern kaum mehr verständlich ist. Als er dann auch noch einen wichtigen Freund und Mentor in seinem Leben verliert, und sich vor Ada immer mehr verschließt wird hörbar, wie die Figur Thomas immer mehr verstummt. Die Wärme und Herzlichkeit in seiner Stimme verschwinden und werden durch einen sehr gedämpften und bedrückten Stimmklang ersetzt. Durch diese akustisch abfallende Kurve, die Thomas Stimme im Zuge seines Kapitels durchläuft, wird deutlich 78 gemacht, wie er gegen Ende seiner Geschichte immer mehr der psychischen Belastung seiner Arbeit, sowie dem Unausgefülltsein in seinem Privatleben verfällt. Wie es bei den ersten beiden Geschichten bereits der Fall war, überschneidet sich auch Maries Geschichte mit der von Thomas. Dort erlebt sie der Zuschauer als noch aktive Jazz-Sängerin, die ihren letzten Auftritt hat. Marie leidet an einem Hirntumor und verliert nach einer Operation ihre Fähigkeit zu sprechen. Verzweifelt darüber, dass sie ihrem Beruf und ihrer Leidenschaft – dem Singen – nicht mehr wie gewohnt nachgehen kann, zeichnet Marie ihre Stimme auf, was für den Zuschauer durch die bildliche Projektion eines Spektogramms auf einer Leinwand visuell verdeutlicht wird. In dieser Szene betont Robert Lepage das Potential der Körperlichkeit einer Sprache ohne Worte anhand der Präsenz des Akustischen und des Visuellen. Ohne die hörbare Stimme der Protagonistin würde das Bild keinen narrativen Sinn ergeben, und umgekehrt würde die akustische Aufzeichnung ohne das sichtbare Spektogramm ebenfalls keinen Sinn ergeben. Das Spektogramm zeichnet die Frequenz und die Zeitspanne von Maries stimmlichen Äußerungen auf. Dabei ist eine akustisch höhere Energie visuell durch eine stärkere Schwärzung auf der Frequenzachse erkennbar. Die sichtbaren schwarzen Linien unterstützen die hörbare Intonation der Stimme, und umgekehrt. Der Zuschauer erlebt also eine narrativ–ästhetische Korrespondenz zwischen Bild und Klang. In der akustischen Intonation ist die Anstrengung und Leidenschaft der Patientin wahrnehmbar, womit sie nicht nur die Aufmerksamkeit des Ohrs erreicht, sondern auch die der Seele. Interessant dabei ist, dass Lipsynch in diesem Abschnitt der Geschichte keine klassisch schöne Stimme im eigentlichen Sinne präsentiert, sondern eine raue und mitgenommene Singstimme einer Jazzsängerin. Diese Eigenschaften, die eine Stimme als rau oder mitgenommen bezeichnen, fallen in den Bereich der Stimmqualität personenspezifischen und Abweichung haben von - neben derselben der - Tonhöhe das und der Privileg, die ausschlaggebendste Charakteristik eines stimmlichen Individuums offenzulegen. In Maries Fall vernimmt der Zuschauer eine Mischung aus sehr hohen Klängen und dumpfen Geräuschen, die sich aus abgehackten, gekeuchten oder gepressten Tönen ergeben. 79 Diese spezielle Artikulation der Stimme wird zusätzlich durch die hörbare Präsenz der Atmung stark unterstützt, und lässt damit tiefer in das Innere der Figur „blicken“ als es die perfekte Stimme einer Virtuosin zulassen würde. Interessant ist auch, dass Maries brüchige und teilweise krächzende Stimme keineswegs an melodischer Qualität einbüßt, wie man es vielleicht von einer Opernstimme erwarten würde. Das Beispiel macht also klar, welch große Rolle das Gehörte für das Spürbarwerden der Körperlichkeit einer Figur spielt. Die emotionale Anteilnahme steigt zwar, je näher man am Geschehen sitzt und die mimischen und gestischen Gebärden der Figur auch visuell miterlebt, doch das Sprechen und Singen der Figuren ist derart plastisch erfahrbar und fern von jeglicher Monotonie, dass die Intensität der Stimmen sogar die letzten Reihen emotional involviert. Dabei wirkt Maries Stimme angeschlagen und heiser, was jedoch genauso gut ihre persönliche Interpretation des Songs sein könnte. Wahrscheinlich treffen beide Vermutungen zu, da Marie von Natur aus und/oder durch ihren Beruf bedingt eine sehr raue und heisere Stimme hat. Jedenfalls drückt dieser Song ihren inneren Gefühlszustand aus, indem sie ihre Stimme verausgabt und immer wieder in ein inszeniertes Schluchzen, Schreien und Weinen ausbricht. Marie wechselt dabei in verschiedene Tonlagen, wobei die hohen Töne für den Zuschauer schon fast unangenehm sind und ein Einfühlen in die entmutigende Situation der Patientin vereinfachen. Doch gerade diese geballte Kraft in, und der gewollte Druck auf ihrer Stimme spiegelt Maries Charakter. Sie ist mit ihrem persönlichen Schicksal wohl die Figur, die die größte innere Überwindung durchleben muss, um sich weiterhin durch das Leben zu kämpfen. Während Thomas´ Stimme in der letzten Szene bei Maries Operation noch sehr präsent wahrgenommen wird, erlischt Maries Stimme langsam. Das bedeutet, dass Maries Kapitel erst nach der Operation und somit bei der Thematisierung ihres Sprachverlustes einsetzt. Die Protagonistin nimmt also ihre wortlose Stimme auf mehreren Ebenen auf, die dem Zuschauer jeweils unterschiedliche Gemütszustände und Befindlichkeiten vermitteln. Hört man sich die Sequenz an, ohne dabei das Bild von Marie und der visuellen Aufzeichnung ihrer Töne vor sich zu haben, so spiegelt die erste Tonspur Schwerfälligkeit und Ermüdung der Stimme. Dieser Effekt wird dadurch erzielt, dass Marie die Atmung stark in ihre Interpretation integriert. Sie beginnt mit einem hohen Ton, wandert etappenweise nach unten, und versucht sich dann immer wieder die 80 Tonleiter hinaufzurappeln. Marie kombiniert für sich stehende Töne mit Tongruppen derselben Tonart, wobei sie die einzelnen von den aneinandergereihten Klängen stets durch ein bewusstes Einatmen trennt. Dieses Einatmen kann als ein fast lebensnotwendiges Luftschnappen verstanden werden, welches je nach Anzahl der aufeinanderfolgenden Töne in seiner Intention und Dringlichkeit variiert. Die zweite Tonspur wird direkt von der ersten bereits aufgenommenen begleitet, was sie etwas schwerer differenzierbar macht. Fest steht, dass diese nun in einer höheren Stimmlage ist und bereits kleine Melodien formt, während die Erste sich primär auf die einzelnen Töne und das Geräusch des Atems festlegt. Doch auch diese Aufnahme setzt mit nur drei aufeinanderfolgenden Tönen ein, die zu immer größeren Tonreihen geformt werden bis auch diese in einem langen Finalton enden. Auch visuell ist die massivere Anhäufung und raschere Aneinanderreihung der Töne sichtbar, da die einzelnen Sensoren kaum mehr getrennt voneinander wahrnehmbar sind. Betrachtet man nun die visuelle Aufzeichnung ohne akustische Unterstützung, so erkennt man eine Art Tonsensor, der anfangs klar voneinander getrennte Töne zeigt, die zur Mitte hin immer dichter werden. Im Mittelteil flacht die Quantität der Töne wieder etwas ab, bevor sie im letzten Drittel wieder steigt und in einem langen, finalen Ton endet. Auffallend bei der Kombination der beiden Tonspuren ist, dass das Luftschnappen der ersten Aufnahme durch das Hinzufügen der zweiten fast noch extremer zu hören ist. Außerdem fällt auf, dass die zweite Variante der Stimmwiedergabe fast konträr zur ersten steht. Genauer gesagt verdeutlicht letztere ein Nachvornedrängen und Flüchten aus der Situation, während erstere einen bremsenden Charakter hat. Die beiden Tonspuren stehen also in einem Dialog miteinander, der den inneren Kampf der Protagonistin zwischen Selbstaufgabe und Wiederbelebung stilisiert. Damit macht dieser Aspekt die Bedeutung und Wichtigkeit der Aufnahme deutlich, da Marie erst durch sie langsam wieder zum Sinn ihres Lebens und ihrer gesanglichen Karriere findet. Nun folgt die dritte Tonspur, die abermals mit den bereits aufgenommenen kombiniert wird. Diese schließt sich in Tonhöhe, Melodiebildung und Tempo der Zweiten an und bestärkt diese somit. Die Geschwindigkeit nimmt sogar zu, was visuell daran erkennbar ist, dass die vielen Töne innerhalb der Balken auf dem Tonsensor kaum mehr differenzierbar sind. 81 Auf inhaltlicher Ebene lässt sich diese Tatsache auf eine zunehmende Hektik zurückführen, der Marie aufgrund ihrer wachsenden Motivation Stimme verleiht. Es wirkt sogar so, als würde sie auf die vierte und letzte Aufnahme hindrängen, die nun tatsächlich einen finalen Charakter hat. Die vierte Tonspur ist nämlich bei weitem in der höchsten Tonlage und erinnert mit ihrer ausgeprägten melodischen Linie schon fast an eine Opernarie. Visuell zeichnet sie sich dadurch aus, dass sich der Abstand zwischen den Tonbalken nach anfänglichen Lücken immer mehr verringert und im Gegensatz zu den ersten drei breit ausgehaltenen Finali als ausdünnender Faden ausläuft. Anhand dieser Szene wird das Phänomen der stimmlichen Verkörperung erklärt, da der Zuschauer nicht nur Maries Stimme erkennt, sondern sie gleichzeitig mit ihrer Person verbindet. Doch auch der gegenteilige Aspekt wird in Maries Geschichte thematisiert, nämlich der der Entkörperlichung der Stimme. Der Begriff wird in diesem Fall auf zweierlei Weise inszeniert; einmal als Stimme, der kein physischer Körper mehr zugeordnet werden kann, und ein anderes Mal als Körper, dem keine spezifische Stimme mehr eigen ist. Doch mit letzerem ist nicht gemeint, dass der Körper schweigt, sondern nur, dass das Gesagte nicht mehr hörbar ist. Es folgt nun eine Analyse beider Phänomene: Nach Maries Genesung lernt der Zuschauer im Synchronisationsstudio eine weitere von Maries vielen Stimmen kennen, die sie im Zuge ihrer beruflichen Laufbahn einstudiert hat, um sie anderssprachigen Schauspielern zu leihen. Anhand von dieser Szene zeigt Lepage eine andere Art von Sprachlosigkeit. Die Körper der Figuren auf der Leinwand, denen Marie ihre Stimme leiht, machen sich bis zu diesem Punkt nur durch ihre visuelle Präsenz verständlich. Durch die Präsenz der Körper und die gleichzeitige Absenz der Sprache entsteht eine enorme Dringlichkeit und Expressivität in den Bewegungen der Figuren. Doch der Zuschauer weiß, dass die verstummten Körper auf der Leinwand schlussendlich mit einem synchronisierten fremden Sprachkörper bereichert werden. Es geht also in diesem Falle nicht um jene Sprachlosigkeit, die Marie nach ihrer Operation erleben musste, sondern vor allem um das bewusste Ausblenden der eigenen Stimme zugunsten einer anderen. In die andere Richtung gedacht bedeutet dies das Verschenken der eigenen Stimme an einen fremden Körper. Erst als sich Marie in ihrer Wohnung befindet und dort eine taube Lippenleserin einlädt, um stumme Familienvideos analysieren zu lassen, erlebt der Zuschauer 82 erstmals ihre persönliche Stimme. Diese ist tatsächlich um einiges melodischer und klarer als man es nach ihrer gesanglichen Verausgabung angenommen hätte. Nur wenn sie aus Elan, Trauer oder Wut lauter wird, erlangt ihre Stimme kurzfristig wieder ihren gedrückten, rauen Klang. Unter dem sprachlichen Aspekt ist die Szene sehr amüsant, weil Marie sich sinnloserweise die Seele aus dem Leib schreit und die Lippenleserin nicht drauf reagiert, da sie die Sprache schließlich nur auf visueller Ebene wahrnehmen kann; im Gegensatz zu Marie, die ihren Vater auf den stummen Bildern hoffnungslos zu verstehen versucht. Voller Elan zeigt sie der Frau den Stummfilm, doch die Lippenleserin kann entweder die Lippen von Maries Vater nicht sehen, oder sie sprechen nur Belangloses. Lepage inszenierte hier also einen Körper, dessen Stimme nicht mehr hörbar ist. Enttäuscht engagiert Marie einen männlichen Synchronsprecher, der ihrem Vater eine authentische Stimme und bedeutende Worte einhauchen soll. Doch auch dieser Versuch missglückt, da Marie eine derart präzise (Wunsch) Vorstellung ihres Vaters hat, dass ihr keine der Stimmen charakteristisch genug ist. Wieder ein Zeichen dafür, dass nicht nur die Stimme auf das Äußere eines Menschen schließen lässt, sondern auch das Auftreten, die Körperhaltung und Präsenz auf den Stimmklang. Kurz bevor Marie die Hoffnung aufgibt, die Stimme ihres Vaters wieder zu hören, wird ihr empfohlen, es doch selbst einmal zu versuchen. Zunächst ungläubig stellt sich Marie also vor das Mikrophon - und plötzlich dringt die Stimme ihres Vaters aus ihr. Der letzte Satz, gesprochen von ihrer Schwester, erklärt, dass sie als Tochter die Stimme ihres Vaters die ganze Zeit in sich getragen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Man kann also sagen, dass das Phänomen der entkörperlichten Stimme in diesem Beispiel insofern auftaucht, als dass Maries Stimme plötzlich nicht mehr mit ihrem eigenen Körper assoziiert wird, sondern mit dem ihres Vaters. Der ausschlaggebende Grund dafür, dass Maries Sequenz nicht übertitelt wird, ist, dass Lepage in diesem Abschnitt das Nichtverstehen des menschlichen Sprechens thematisiert. Sei es aufgrund der eigenen Unfähigkeit zu sprechen, des Unverständnisses einer fremden Sprache, des Fehlens von Klang oder aufgrund der unzugänglichen Fremdartigkeit in der eigenen Stimme. Infolge dessen zeigt Lepage jedoch, dass eine Fremdsprache oder eine verstummte Sprache auch ohne grammatikalisches oder verbales Verständnis erschlossen werden kann. 83 Jeremy bildet die nächste essentielle Figur in der Handlung von Lipsynch. Jeremies englischer Akzent, als er versucht, sich mit einem Spanier über die Wurzeln seiner Mutter zu verständigen, fällt dem Publikum als erstes auf. Nachdem er verschiedenen Berufungen nachgegangen ist, versucht er sich nun als Regisseur und möchte die Geschichte seiner leiblichen Mutter verfilmen. Es folgt eine Restaurantszene, die das Treffen der Filmcrew zeigt. Lepage lässt auch dieses Ereignis ohne Übertitelung passieren, da für den Zuschauer unübersehbar und unüberhörbar alle im Stück vertretenen Nationen mit verschiedenen Akzenten aufeinander prallen. Es geht Lepage in dieser Szene vielmehr darum, ein multikulturelles Sprachgewirr zu inszenieren, als Inhalt zu vermitteln. Genauer gesagt ist das multikulturelle Sprachgewirr der Inhalt. Der Regisseur Jeremy wechselt wie gewohnt zwischen akzentfreiem Deutsch und Englisch und lenkt die Aufmerksamkeit der Anwesenden primär durch seine prägnante und starke, aber doch beruhigende Stimmfarbe auf sich. Dabei ist jedoch anzumerken, dass sich der Tonfall seiner deutschen Stimme von dem seiner englischen unterscheidet. Jeremies Deutsch ist weitaus härter als sein Englisch, was vermutlich mit der Bedeutung der deutschen Sprache in seiner Kindheit zusammenhängt. Auch Spanisch beherrscht Jeremy im weiteren Verlauf seiner Geschichte immer besser, auch wenn dies wahrscheinlich auf seine attraktive spanische Hauptdarstellerin im Film zurückzuführen ist. Da das Bühnengeschehen nun von einem Filmset zum nächsten wechselt, ist Chaos vorprogrammiert, weshalb man Jeremies Stimme kaum mehr zu hören bekommt. Die einzigen Momente, in denen sie aus dem restlichen Stimmen- und Geräuschgewirr hervordringt, sind seine kurz angebundenen und präzisen Anordnungen, den Ablauf der Dreharbeiten betreffend. Doch Lepage zeigt Jeremy in seiner Geschichte auch in einer anderen stimmlichen Verfassung, was auf die Beziehung zu den beiden Müttern in seinem Leben zurückzuführen ist. Seine Stimmfarbe ändert sich nämlich immer dann, wenn er mit einer weiblichen Person spricht, die ihm nahe steht, wie beispielsweise die spanische Protagonistin Maria, die ihm sichtlich gefällt. In einem gemeinsamen Gespräch wandelt sich seine Stimme von der gewohnten Bestimmtheit und Klarheit zum leisen, verschwommenen Hauch eines Flüsterns. Plötzlich verkörpert Jeremies Stimme keinen selbstsicheren, autonomen und erfolgreichen Mann mehr, sondern einen unsicheren, besorgten und fürsorglichen Jungen. Warum Jeremy in dieser Sequenz mit Maria tatsächlich jungenhaft wirkt, kann dadurch erklärt werden, dass er sich 84 gegenüber dem weiblichen Geschlecht, durch den Verlust seiner leiblichen Mutter, stets schwach und voller Hoffnung fühlt. Zwar hat er Ada, die ihn in jungen Jahren adoptierte und ihm eine liebevolle Mutter war; doch seine Stimm- und Sprachentwicklung zeigt, dass Adas europäische und erfolgsorientierte Erziehung nicht seinem lateinamerikanischen Gemüt entsprach. Obwohl sich Jeremy von der Opernsängerin Ada als stimmliches Vorbild später abgewandt hat, prägte und formte sie seine Stimme. Und eben diese gewonnene Sicherheit in seiner Stimmfarbe verliert Jeremy, als er nun mit einem fremden weiblichen Wesen in Kontakt kommt. Den Tränen nahe erzählt er Maria von seiner leiblichen Mutter, denn schließlich soll sie diese auch in seinem Film verkörpern. Als Jeremy am Ende seiner Geschichte seine Adoptivmutter Ada nach langer Zeit wieder anruft, begibt er sich in denselben unsicheren und schuldbewussten Tonfall, der sich von seinem sonst so bestimmten und professionellen Tonfall stark unterscheidet. Als Jeremy Maria ein Jahr nach Beendigung des Films aufsucht, scheint es, als würde er selbst eine Erklärung für seine Gemütswechsel und somit auch seine stimmliche Veränderung liefern. Er gibt nämlich zu, dass ihn das Gefühl von etwas oder jemandem beraubt zu werden, automatisch verändere. Und die Stimme seiner leiblichen Mutter, die er nur als Kleinkind wahrnehmen und seitdem nie mehr hören konnte, ist die verantwortliche Instanz für diese Veränderung seiner Stimme und seines Auftretens. Sarah etabliert sich zu Beginn der ersten Szene in ihrer Geschichte, die ganz im Stummen stattfinden wird, rein über ihre Körperlichkeit. Doris Kolesch bezeichnet Schweigen nicht als Gegenteil von Stimme, sondern als Gegenteil des Redens35, was für die Inszenierung von Lepages Lipsynch ein äußerst wichtiger Hinweis ist. Denn die erste Szene in Sarahs Geschichte erzählt sich quasi nur über dieses Ausdruckmittel des Schweigens. Sie steht zu Radiomusik wippend in einer Küche und betreut eine alte, im Rollstuhl sitzende Frau. Sarahs Körperhaltung skizziert eine etwas unsichere und in Gedanken versunkene Frau, die durch ihr unbeholfenes und etwas zappeliges Wippen mit einer Zigarette in der Hand ein wenig unglücklich wirkt. Das Bild, welches der Zuschauer von dieser Figur bekommt, entsteht eben über diese spezifische Stimmlichkeit, in der nicht gesprochen wird. 35 Vgl. Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 238 85 Das Schweigen muss nicht zwingend mit einer bestimmten Bühnenfigur assoziiert werden, sondern kann genauso gut als eigenständiges Gestaltungsmittel die Bühne füllen und für eine ganze Gruppe von Menschen stehen. In dieser Szene aus Sarahs Geschichte steht das Schweigen für zwei Personen im Raum; zum einen für Sarah selbst, die die lautliche Leerstelle durch ihre Körpersprache ausfüllt, und zum anderen für ihre geh- und sprechbehinderte Patientin, die nicht nur nicht sprechen kann, sondern sich auch weigert mit Sarah in körpersprachlichen Kontakt zu treten. „Kollektives Schweigen erzeugt eine Atmosphäre, für die das Zugleich einer Absenz von Stimmen und der Präsenz von <Etwas> konstitutiv ist.“36 Dieses <Etwas> ist in diesem spezifischen Fall ein sich ausbreitendes negatives Gefühl von Schwere und bedrückender Stimmung, da sich die beiden Figuren auf der Bühne nicht nur nichts zu sagen haben, sondern jede einzelne für sich durch ihre Körperlichkeit ihr persönliches Leid vermittelt. Interessant dabei ist, dass die Unausweichlichkeit und Intensität dieses Schweigens dabei nicht geringer sind als die des gehörten Stimmklangs; dies bestärkt das Argument, dass Schweigen keineswegs die Abwesenheit der Stimme bedeutet. Umso abrupter passiert der Wechsel in die nächste Szene, welche die Protagonistin dieser Geschichte in einem Setting zeigt, in dem nun die akustische Komponente wesentlich wichtiger ist als die visuelle. Das Setting ist nämlich ein Radiostudio, in dem Sarah in ihrer Identität als Prostituierte als Gast geladen ist. Als sie der Zuschauer nun zum ersten Mal sprechen hört, klingt ihre Stimme sicherer und bestimmter als er es in der Küchenszene angenommen hätte. Dies liegt wohl daran, dass sie über ein ihr vertrautes Metier spricht. Doch Sarahs Stimmfarbe wirkt durch das nasale Formen der langgezogenen Laute ihres britischen Akzents teilweise gedrückt und verstellt. Wenn sie also über positive Aspekte in ihrem Beruf spricht, fällt es schwer ihr zu glauben. Außerdem ist es in dem Interview auffallend, dass Sarahs Worte oft in einem rauen und heiseren Endton absterben. Sie wirkt weder glücklich noch stolz in ihrer Tätigkeit als Prostituierte, vermittelt jedoch den Eindruck, als hätte sie sich mit dem Gedanken abgefunden, es aus finanziellen Gründen tun zu müssen. 36 Doris Kolesch, Sybille Krämer (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 257 86 Zusammenfassend spiegelt sich Sarahs Unentschlossenheit zwischen Initiative und Aufopferung im Leben sowohl in ihrer Stimm- und Sprechcharakteristik, als auch in ihrer Körperhaltung und ihren hektischen und unbeholfenen Bewegungen. Doch ihre Intonation ändert sich, als sie mit Ada über die verstorbene Dame spricht, die sie betreut hat. Plötzlich stellt sie unheimlich viele Fragen und ihre Stimme bekommt einen sehr hohen, ja fast penetranten Klang. Dies erklärt sich von selbst, wenn man bedenkt, dass sie mit dem Tod ihrer Klientin ein neues finanzielles Standbein finden muss. Doch ihr Stimmklang ist keineswegs traurig, sondern im Gegenteil noch bestimmter, als wolle sie sich in ihrer jetzigen Situation verstärkt behaupten. Umso entschlossener wird Sarahs Ton, als sie im Nachrichtenstudio ihren Bruder erkennt und ihm eine Nachricht hinterlässt. Dieser Bruder, der seinen Namen auf Toni Brix geändert hat, spielt in der Stimmanalyse von Sarah eine wichtige Rolle. Denn im Laufe der Geschichte erfährt man, dass Toni nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Stimme ändern ließ, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seine neue Identität definiert sich also primär über eine professionell geschulte Radiostimme, über die er bis zu Sarahs Auftritt auch die volle Kontrolle hat. Denn Sarah erkennt ihn trotz seiner veränderten Stimme und bringt ihn mit ihrer Anwesenheit wortwörtlich aus der Fassung. Während Sarah fest entschlossen ist, Toni zur Rede zu stellen, bemerkt man in seiner Stimme eine zunehmende Unsicherheit. Er stottert und räuspert sich und versucht verkrampft seine angelernte Stimme wiederzufinden. Die stimmlichen Veränderungen von Sarah und Toni sprechen auf der narrativen Ebene für die Labilität der Figuren, die beide auf ihre Art und Weise der Vergangenheit entfliehen wollten. Doch anders als Toni ist Sarah nun fest entschlossen, ihre Vergangenheit einzuholen. Als Sarah ihn diesbezüglich im Studio aufsucht, ist das Gespräch zwischen Sarah und Toni in einer Tonkabine ohne Mikrophonanschluss zwar nur visuell wahrnehmbar, doch Sarahs unterwürfige Körperhaltung zeigt, dass sie von Toni in ihrem Vorhaben zurückgeworfen wird. Der Zuschauer erlebt in dieser Szene einen stummen Kampf zweier Stimmen, die eine, die die Vergangenheit rächen und die andere, die sie leugnen will. In der letzten Szene versagen jedoch beide Stimmen – Sarah verdeutlicht ein letztes Mal in lauten und abgehackten Sätzen die Wut über ihren Bruder, bis ihre Stimme in leiser Verzweiflung verstummt und Toni wird in seiner Verzweiflung so laut, dass seine utopische Stimme versagt. 87 Obwohl Toni kein eigenes Kapitel gewidmet ist, soll hier auf einen besonderen akustischen Aspekt seiner persönlichen Geschichte eingegangen werden. Nämlich auf die durch die Stimme geprägte Kunstform des Hörspiels. Dabei begegnen Sprache und Stimme dem Zuhörer entweder als autonome Rede oder als Figurenrede. Im Falle von Toni ist es schwierig zwischen den beiden Varianten eine Grenze zu ziehen, denn die Figur, die der Zuhörer wahrnimmt ist nicht Toni selbst, sondern eine manipulierte Version seiner selbst. Insofern könnte man behaupten, dass seine Stimme in gewisser Weise getrennt von seinem Körper wahrnehmbar ist. Denn was Toni möchte, und was ihm auch gelingt ist, dass der Zuschauer aufgrund der gehörten Stimme ein anderes Bild seines Körpers oder gar seiner Persönlichkeit gewinnt. Sobald er alleine auf der Bühne ist, erlebt der Zuhörer Toni meistens in einem Tonstudio, was eine Einweg-Kommunikation, eine eindimensionale Erzeugung und Ausstrahlung akustischer Phänomene bedeutet. Dabei spielt die im Kapitel des Rezipienten diskutierte Sonosphäre eine wichtige Rolle; mit dem einzigen Unterschied, dass die Stimme des Sprechers aus einem elektronischen Medium zum Zuhörer gelangt. Robert Lepage inszeniert diesen Umstand mit der Verwendung eines Mikrofons hinter einer Glaswand und schafft somit wiederum eine völlig neue Atmosphäre. Trotz dieser Tatsache bleibt das Wort „der unmittelbarste, primärste Ausdruck in der Bewusstseinssphäre. [Das Wort bildet] die Brücke zwischen dem rein geistigen und dem Materiellen, zwischen dem Erkenntnissubjekt Ich und der dieses umgebenden Welt.“37 Übersetzt in Tonis Geschichte bedeutet dies eine klare Entscheidung, das eigene Wort als Vermittler zwischen Ich und der Welt zu verfälschen, um damit ein akustisch manipuliertes Bild des eigenen Selbst zu vermitteln. Genauer gesagt versteckt sich Toni hinter seiner jahrelang einstudierten Radiostimme, die keine Ähnlichkeit mehr mit seinem individuellen Stimmklang hat. Das ursprüngliche seelische Wesen38 erschließt sich in Tonis Fall hauptsächlich aufgrund seiner zusätzlichen visuellen Anwesenheit auf der Bühne. Denn würde der Zuhörer nur seine verstellte Stimme hören, könnte sich ihm Tonis komplexe 37 Richard Kolb (2009): Das Horoskop des Hörspiels. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld. Transcript Verlag. S. 94 38 Vgl. Richard Kolb. Ebd. In: Doris Kolesch. Ebd. S. 117 88 Persönlichkeit nicht authentisch erschließen. Dies ist jedoch nur die Perspektive des Zuschauers von Lipsynch. Denn was das Stück eigentlich erzählt, ist, dass Toni als Radiosprecher von seinen Hörern tatsächlich nicht gesehen wird. Seine Stimme ist also in der Geschichte eine entkörperte Stimme im doppelten Sinne. Zum einen ist sie körperlos aufgrund des fehlenden visuellen Bezugspunktes innerhalb des Mediums Radio, und zum anderen entspricht sie nicht Tonis ursprünglicher Stimme. Durch diese doppelte Abstraktion also wird die Stimme zu einem eigenständigen Medium ohne Körper. Robert Lepage schafft es mit dem einfachen medialen Mittel des Hörspiels, Toni eine neue Identität zu geben. Und neben dieser neuen Identität etabliert er zugleich das Potential der Sprache als Material im Sinne ihrer Reproduzierbarkeit durch Schnitt und Montage. Denn der Zuhörer erlebt Tonis Stimme nicht nur live durch das Tonstudio, sondern auch in abgespielter Form aus den Lautsprechern am Bahnsteig. In dieser Form ist seine Stimme der abstrahierten Form des entfigurierten Charakters sogar noch näher, da es sich bei den Durchsagen nur um standardisierte, aneinandergereihte Satzfetzen handelt. Durch den Protagonisten Toni zeigt der Regisseur also, wie schnell man Stimmen als Stereotypen wahrnehmen und identifizieren kann, sobald sie isoliert von ihrem Körper in einem bestimmten wiedererkennbaren Rhythmus auftreten. Jacksons Stimme erlebt der Zuschauer zum ersten Mal, als er Anrufe von seinem Autotelefon erledigt. Sofort etabliert er sich als frustrierte und recht einsame Figur, die im Leben nichts als ihren Beruf als Detektiv hat. Dort lebt Jackson wieder ein wenig auf, als er seinen Klienten die neuesten Nachrichten vermittelt. Seine Stimme gewinnt plötzlich einen positiven und neugierig ambitionierten Unterton, was Jacksons eigentlich sehr heiteres und schelmisches Gemüt hervorblitzen lässt. Kennzeichnend und ebenfalls unterstützend für die charakteristischen Merkmale der Detektivfigur ist Jacksons schottischer Akzent, der die Figur trotz ihrer Kompetenz stets etwas ins Lächerliche zieht. Die Art wie Jackson seine Sätze überbetont und in die Länge zieht ist äußerst komisch, da die starke Betonung seiner Worte einer Kompensation seiner Unsicherheiten gleicht. Diese Unsicherheiten sind jedoch rein persönlicher, nicht beruflicher Natur und können ebenfalls aus Jacksons Intonation entnommen werden, die stets einen fragenden Charakter hat und fast nie am Satzende nach unten geht. Jacksons melancholischer Stimmklang mit seinen in die Länge gezogenen Lauten und nicht enden wollenden Sätzen nimmt vorweg, dass er 89 keine Erfüllung mehr in seinem Privatleben findet und sich gerne mit jemandem austauschen würde. Michelle wurde bereits in Maries Geschichte als ihre Schwester etabliert und ist psychisch krank. In ihrer Körpersprache äußert sich dies an ihrer leicht gebückten Haltung und ihrem äußerst vorsichtigen Gang. Im Grunde genommen kann man ihrer Stimme dieselben Merkmale zuschreiben, denn Michelle spricht sehr leise, langsam, zart und unscheinbar. In ihrer freundlichen und stets etwas kränklich wirkenden Stimme zeichnet sich sozusagen ihr gesamtes Wesen ab. Ganz im Gegensatz zu Marie, die Robert Lepage bewusst als ihre Schwester wählt um den so verschiedenen Charakteren ein direktes Pendant gegenüber zu stellen. Im Dialog zwischen Marie und Michelle wird der Gemütsunterschied sehr deutlich, als Marie mit ihrer überaktiven Art ihre Schwester drängt die Klinik zu verlassen, während Michelle in aller Ruhe ihre Sachen packt. Als der Zuschauer Michelle in ihrem Buchladen zuerst ohne und beim zweiten Durchlauf mit Ton erlebt, entspricht auch hier ihre Stimme genau ihrer Körperhaltung, die in der tonlosen Szene so deutlich erkennbar war. Ein weiteres ausschlaggebendes Moment in Michelles Geschichte ist, dass die tonlose Sequenz auf der Bühne das ebenfalls stumme Publikum plötzlich auf seine eigene Passivität aufmerksam macht. Michelle spricht das Publikum sozusagen still schweigend durch das unangenehme Gefühl des Ertapptwerdens an, woraufhin sich der Zuschauer als Teil der Szene fühlt und diese auf einmal performativ miterlebt. Michelle begegnet ihren Klienten stets mit einer gewissen räumlichen aber auch sprachlichen Distanz. Sie möchte sicher gehen, dass ihr niemand zu nahe tritt oder ins Wort fällt. Denn obwohl sie so langsam und leise spricht, scheint sie sehr viel Wert darauf zu legen, was sie sagt und wie sie es sagt, was für ein sehr feinfühliges Bewusstsein der Figur spricht. Diese Annahme wird in der folgenden Szene in Michelles Wohnung bestätigt, als Marie ihr Thomas als ihren Arzt und jetzigen Lebenspartner vorstellt. Diesen empfängt die anfangs so kränklich klingende Michelle nämlich mit überschwänglicher Freude, die man ihr nur schwer glauben kann. Doch als Marie die beiden verlässt, setzt sich das Gespräch ebenso beschwingt fort, und Michelle entlockt Thomas mit ihrer plötzlich offenen Art ein sehr persönliches Gespräch. Mit dem Verschwinden ihrer Schwester gewinnt ihre Stimme an Klarheit und Sicherheit, bis sie auf einmal in einem lauten Schwall los redet und sich bei Thomas über ihr Leben ausschüttet. 90 Die letzte Szene in Michelles Geschichte zeigt sie wieder in ihrem Geschäft; diesmal jedoch viel aktiver und aufgeschlossener in ihrem Auftreten und in ihrer stimmlichen Verfassung. Nachdem der Zuschauer Michelle wegen ihrer Halluzinationen eher als verrückt und labil eingeschätzt hat, lässt dieser Wandel die Figur wie eine Art höhere, omnipräsente Instanz über allen an der Szene Beteiligten stehen. Eine weitere Erklärung für den gewonnen Respekt vor der Figur Michelle ist, dass Lepage in ihrer Geschichte bewusst mit dem Gegensatz Stille und verbalem Dialog spielt. Durch den gezielten Einsatz nicht intentionaler Stille und intentionalem Sprechen wird Michelle in den Augen des Publikums umso mehr eine Art von Macht verliehen. Lupes Geschichte wird mit lauter lateinamerikanischer Musik angekündigt, was bereits einen Eindruck ihrer Wurzeln vermittelt. Man sieht Lupe als energetisches junges spanisches Mädchen in einer Bar als Kellnerin arbeiten. Nachdem der Zuschauer Lupe bereits zu Beginn des Stücks in Adas Geschichte erlebt hat, als sie mit ihrem Baby im Arm im Flugzeug starb, wirkt ihr Auftritt am Anfang ihrer eigenen Geschichte tatsächlich sehr kindlich. Ihre Stimme unterstützt dieses Bild mit einem sehr frischen, hohen, aufgeweckten Klang und es ist auffallend, wie Lupe fast jeden ihrer fast schrill klingenden Sätze mit einem unschuldigen „Nò?“ beendet. Die anfängliche Stimmfarbe und Intonation der jungen Lupe, die Neugier und Lebensfreude versprüht hat, steht nun in deutlichem Gegensatz zu Lupes Stimme, nachdem sie von ihren deutschen Zuhältern in Gewahrsam genommen wird. Als das Bühnenbild das Voranschreiten der Handlung impliziert und Lupe bereits länger im Geschäft ist, ändert sich ihre Stimmfarbe zu einem abgenützten, ermatteten und vergleichsweise sehr farblosen Klang. Robert Lepage lässt Lupe im weiteren Verlauf ihrer Geschichte kaum sprechen, sondern stellt die Figur rein über die Veränderungen in ihrem stimmlichen und körperlichen Ausdruck dar. Dabei besitzen die Töne, die Lupe von sich gibt, beinahe die narrative Fülle von Worten. Anders ausgedrückt erschafft die Figur gegen Ende ihrer Geschichte nur durch Lautbildung und Körperarbeit visuelle Bilder. Anlässlich der Szene, in der Lupe mit nacktem Oberkörper ihr Schicksal erzählt, soll das Motiv der Nacktheit erwähnt werden, welches ebenfalls das Potential zur Stimme besitzt. Obwohl ein Großteil von Lupes Geschichte in einem Bordell spielt, erlebt der Zuschauer Nacktheit nicht wie gewohnt in seiner sexuellen oder erotischen Konnotation. Viel eher will der Regisseur durch sie eine ästhetische Präsenz und 91 Reflexion ausdrücken, die die Essenz des Charakters viel stärker zu erfassen vermag, als es beispielsweise Worte oder ein Kostüm könnten. „In my show, erotic tension tends to arise when people are fully clothed. Nudity, on the other hand, appears without this tension and reveals the fragility or the essence of a character.” 39 Für Lepage ist Nacktheit ein Zurückkehren zum ursprünglichen menschlichen Körper, der einmal frei von sozialen Normen und Werten war. Soziale Stellung ist auf einmal nicht mehr erkennbar und auch nicht mehr wichtig. Was zählt, wenn man einen nackten Menschen betrachtet, ist rein sein Verhalten und die kleinen, intimen Details, die seine Persönlichkeit ausmachen und mit Kleidung wahrscheinlich gar nicht sichtbar wären. Lupes Sprachlosigkeit in Kombination mit ihrer Nacktheit betonen ihre Verletzlichkeit, mit der sie auf der Bühne nicht nur ihren Peinigern in Lipsynch, sondern auch dem Zuschauer ausgesetzt ist. Dabei schwankt der Zuschauer mit seinem Blick auf den nackten, hilflosen Körper auf der Bühne, ebenso wie der Schauspieler, zwischen Scham, Scheu, Erotik, aber auch emotionaler Anteilnahme und Bewunderung. Als Lepage seine Lupe gegen Ende ihrer Geschichte entblößt vor der Leinwand endlich wieder sprechen lässt, erlebt das Publikum in einer Art Zeitraffer ihre stimmliche und körperliche Verarmung, was jegliche erotische Fehlinterpretation ausschließt. Robert Lepage beschreibt es als bewegend, einen Menschen in einer Offenbarung zu erleben, die viel mehr innerlich als äußerlich ist. Denn was in diesem Moment der Nacktheit passiert, liegt jenseits des visuell Wahrnehmbaren und spricht wie der Stimmkörper nicht nur die primären Sinne Ohr und Auge an, sondern vor allem die seelische Wahrnehmung. Bisher wurden die Zusammenhänge im narrativen Konstrukt von Lipsynch primär über die Aspekte Dramaturgie und Sprache erläutert. Nun soll noch eine weitere ausschlaggebende Ursache für das unsichtbare Band zwischen den Figuren und den einzelnen narrativen Strängen angeführt werden. 39 Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S 79 – 80 92 8. Die Schnittstelle zwischen Intention und Vermittlung Im Zuge der Arbeit ist klar geworden, dass Lepages Geschichten sich erst aus den einzelnen Figuren seines Stückes entwickeln. Lepage stilisiert die Charaktere in ihren Lebenslagen, Träumen und Problemen so realitätsnah, dass ihre Geschichten sich dem Rezipienten wie selbstverständlich erschließen. Doch wie entsteht das notwendige Moment, welches ausschlaggebend für das rationale und emotionale Verständnis der Figuren ist? Die Thematik der Sprache und die für ihre Ausübung notwendigen Organe und Körperteile sind dem Menschen eigen und vertraut. Ungewohnt ist jedoch die psychologische Konfrontation mit dem eigenen Sprechorgan durch eine emotionale Erzählung. Plötzlich wird dem Zuschauer die Bedeutung und Wichtigkeit von Begriffen wie Lippen, Stimmfarbe, Sprachidentität, anhand einer plastisch spürbaren Erzählung ins Bewusstsein gerufen. Ada, Thomas, Jeremy, Marie, Michelle, Sarah, Jackson, Sebastian und Lupe agieren, erleben und fühlen in der Gegenwart und stellen einen direkten Bezug zur heutigen Zeit und zum Alltagsleben der meisten Menschen her. Und diese direkte Verbindung zwischen Bühne und Leben stellt Robert Lepage durch die Sprache und ihre spezifische Wahrnehmung in Raum und Zeit her. Lepage nützt seine vielen Figuren nicht nur, um Lyipsynch mit markanten stimmlichen und körperlichen Archetypen zu bereichern, sondern auch, um jeder Szene ihren eigentümlichen Rhythmus zu verleihen. Für das Verständnis zwischen den Figuren untereinander, sowie zwischen Figur und Publikum, spielt die Koordination von Rhythmus und emotionaler Beschaffenheit eine große Rolle. Das bereits erwähnte Auftreten einer Figur in der Erzählung einer anderen ist rhythmisch genau koordiniert und ausschlaggebend für dessen narrative Gewichtung im Stückverlauf. 93 8.1 Zeitliche und emotionale Koordination Der Ausdruck „emotionale Beschaffenheit“ lässt sich am besten mit dem griechischen Wort „Pathos“ erklären, welches in erster Linie einen Zustand des Leidens beschreibt. Grammatikalisch gesehen impliziert dieses Wort ein passives Subjekt, dem Leiden widerfährt. Doris Kolesch erklärt diesen Begriff unter anderem mit Bernhard Waldenfels´ Ausdruck der „Fremderfahrung“ 40 und überträgt ihn alsbald auf das Funktionsfeld der Stimme. Darin unterscheidet Waldenfels nämlich zwei Bereiche der akustischen Wahrnehmung: Den des aktiven und intentionalen Hörens von etwas und den des zunächst passiven, von außen angeregten Hörens auf etwas.41 Bezogen auf den zweiten Bereich bedeutet Pathos jene Form des Hörens bei der der Zuhörende auf eine erklingende Stimme emotional, rational oder rein akustisch aufmerksam wird. Dieser Prozess ist nicht nur auf der Ebene zwischen Schauspieler und Zuschauer präsent, sondern ebenso auf den unzähligen Ebenen zwischen den verschiedenen Schauspielern. Und dieser Kontext, in dem eine Äußerung zwischen zwei Figuren auf der Bühne notwendigerweise stattfindet, produziert Aufmerksamkeit. Gerade in Robert Lepages Lipsynch spielt sogar noch eine dritte Ebene des Hörens mit, nämlich die des Hörens der eigenen Stimme. Besser ausgedrückt, die Ebene des Hörens der Fremdstimme in der eigenen Stimme. Denn bekanntlich, und auch in Lipsynch ausreichend dokumentiert, ist die eigene Stimme für das sprechende Subjekt nicht immer steuerbar. Dazu verweist Kolesch auf Jacques Derrida, der behauptet, dass eine Stimme weniger auf das geistige (Selbst)Bewusstsein des von der Außenwelt unabhängigen Sprechenden verweist, sondern vielmehr auf die Abwesenheit der leiblichen Präsenz, zugunsten einer neuen stimmlichen Existenz, die sich erst in Zusammenhang mit Anderen ergibt.42 Mit anderen Worten bedeutet dies, dass jeder Zuhörende immer auch eine Fremderfahrung der eigenen oder anderen Stimme erlebt, und ihr im pathetischen 40 Bernhard Waldenfels (2009): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. In: Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag. S.9 41 Vgl. Bernhard Waldenfels. In: Doris Kolesch. Ebd. S.15 42 Vgl. Jacques Derrida (1974): Grammatologie. In: Doris Kolesch. Ebd. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 15 94 Sinne verfallen ist. Durch diesen Vorgang auf der Bühne entstehen unweigerlich Beziehungen zwischen den Figuren, die von den Schauspielern bewusst stilisiert werden. Eine Steigerung dieses Phänomens ist die emotionale Aufladung jeder Sprech- oder Singstimme, die beim Hörenden bewusste oder unbewusste Reaktionen auslöst. Der enge Zusammenhang zwischen Stimmlichkeit und Emotionalität liegt zum einen daran, dass eine Stimme stets an ein spezifisch fühlendes und agierendes Individuum gebunden ist, und somit Emotion vermittelt. Zum anderen liegt der Zusammenhang daran, dass Stimmklänge Emotionen auslösen können, was jedoch von der Verfassung des Hörenden ebenso abhängt, wie von der des Sprechenden oder Singenden. Folglich muss in letzterem Falle die vermittelte Emotion keinesfalls identisch mit der Wahrgenommenen sein, da im Gegensatz zur pathetischen Dimension nun Hörer und Sprecher aktiv beteiligt sind. An diesem Punkt kommt der Aspekt der Zeit und des Rhythmus ins Spiel. Denn das Überschwappen von Emotionen auf und von der Bühne funktioniert nur, wenn der Zeitpunkt der Erfahrung auf der Bühne mit dem der Erfahrung am eigenen Leib übereinstimmt. Denn ausschlaggebend dafür, ob auf der Bühne erzeugte Gefühle beim Zuschauer entweder Anziehung oder Ablehnung auslösen, ist der augenblickliche Zustand des Zuschauers im Moment der emotionalen Beteiligung. Gerade im Falle von Lipsynch ist dieses Phänomen vor allem bei den weiblichen Figuren, die zusätzlich zu ihrer Sprech- auch noch eine Singfunktion haben, sehr gut zu beobachten. Beispielsweise als Ada zu Beginn des neunstündigen Epos ihre schwerfällige Arie singt, oder als Marie ihr Klagelied im Jazz Genre performt. Beide gesanglichen Akte auf der Bühne liefern Potential für auseinanderklaffende emotionale Beteiligung des Publikums, abhängig von der augenblicklichen Stimmfarbe und –höhe des Schauspielers, der Reaktion der Spielpartner und der augenblicklichen emotionalen Verfassung des Zuhörers. Denn keine der beiden Performances ist im klassischen Sinne genießbar, erstere nicht aufgrund ihrer depressiven Schwere und letztere aufgrund der akustischen Verlautbarung von Schmerz. Maries Leiden, welches mit Hilfe der krächzenden Verausgabung ihrer Stimme implizit auf ihre Krankheit verweist, ist im empathischen und sogar physischen Sinne für die Ohren des Zuhörers schmerzhaft. Marie evoziert also physische Ablehnung durch die tatsächlich mit Schmerz assoziierten lauten oder hohen Töne einerseits, und empathisches Mitgefühl durch die Materialität und Körperlichkeit ihrer Schreie andererseits. 95 Maries Klagen, in einem musikalischen Stück verpackt, ist ein Ausdruck augenblicklicher Leiderfahrung, die den Zuschauer in den meisten Fällen aufgrund ihrer stimmlichen Verlautbarung berührt. Um die verstärkenden Faktoren der emotionalen Komponente abermals zu betonen: Dies sind erstens Maries Stimmklang, der sich kaum mehr in Worten sondern primär durch Stöhnen, Schreien und Seufzen vermittelt; und zweitens die emotionale Teilnahme ihres Spielpartners Thomas, der als Chirurg und Liebhaber an ihrem Leid teil hat und dem Zuschauer somit gewissermaßen seine Reaktion vorlebt. Die Zeit und der Rhythmus spielen bei diesen Vorgängen insofern eine essentielle Rolle, als dass die vorhergehenden und nachfolgenden Szenen eine narrative und emotionale Vorbereitung und Plausibilität bieten müssen. Abschließend gilt es zu sagen, dass das Klagen in der dramatischen Geschichte jeder Figur in Lipsynch eine tragende Rolle spielt, zumal die Wahrnehmung nicht auf das Visuelle reduziert wird, sondern durch die auditive und automatisch sensuelle Teilnahme von Schauspieler und Zuschauer ein ganzkörperliches Spüren evoziert. Das stimmliche Phänomen wird also nicht auf die Wortsprache reduziert, sondern zeichnet sich ebenso im Stimmklang und der physischen Beschaffenheit der Figur ab. Dabei wächst es akustisch über sich hinaus und appelliert durch seine fortwährende Präsenz im Raum direkt an die Emotion von Schauspielern und Zuhörern. Die gewollte und erzielte Reaktion des Zuhörers ist dabei keinesfalls Mitleid, denn das würde den pathetischen Effekt der Klage mindern. Was Robert Lepage und sein Ensemble erreichen wollen, ist das augenblickliche Vertrauen und die respektvolle Anerkennung und Wertschätzung des Leids durch den leiblich anwesenden und mitfühlenden Zuschauer. 9. Fazit Einer der Gründe, warum Robert Lepage und sein Stück Lipsynch zum Thema meiner Diplomarbeit wurden, ist seine so ungewöhnlich klare und unmissverständliche Art, am Theater mit Bildern statt mit Text zu erzählen. Umso interessanter wurde der Aspekt für mich, als ich die Thematik von Lipsynch genauer ergründete, welche zweifelsohne um das akustische Phänomen der Stimme kreist. 96 Dem Zuschauer wird also das Instrument des laut gewordenen Textes nicht primär durch die Sprache, sondern durch assoziative Bilder über dieselbe vermittelt. Und dieser Vorgang passiert für den Zuschauer beinahe unmerklich in einem Gespann von Geschichten unterschiedlichster Nationen mit unterschiedlichsten Vergangenheiten, welches im Zuge des Stücks in eine narrative und ästhetische Symbiose mündet. Diese Diplomarbeit kreist also in fast jedem Kapitel auch um die Frage, wie Geschichten erzählt werden können und wie der Weg der Vermittlung für den Rezipienten erfolgt. Kritiker bemängeln, dass die Form von Lepages Stücken bis zum letzten Detail durchkonstruiert sei und den Bildern kaum Freiheiten gewähre. Diese Direktheit und Offenlegung gestalterischer Mittel führe zur geistigen Unterforderung der Zuschauer, deren Blick durch die klare Abfolge der Bilder fremdgesteuert und an autonomer Kreativität und Interpretationsfreiheit verlieren würde. „Robert Lepage führt nichts als Technik selber vor, alles steht im Dienste einer Geschichte, von Figuren, von Menschen, denen er so nahe, so liebevoll, so neugierig auf die Pelle rückt, wie selten ein Regisseur neben ihm. [...] Eine Handlung ist da kaum zu erzählen, man muss die Fäden und die Knüpfstellen, die Zufalls- und Schicksalsabenteuer diverser umherschießender Weberschiffchen verfolgen.“43 Doch die Recherche und Erkenntnisse in dieser Arbeit belegen, dass Lepage stets im Sinne des uneingeschränkten und authentischen Geschichtenerzählens arbeitet, was jedoch nicht möglich wäre, wenn er diesen Prozess im Dienste einer vorgegebenen Form geschehen lassen würde. Genauer gesagt könnte dann rein gar nichts geschehen. Lepage betont sehr oft, dass seine Bilder nur ohne die Einschränkung durch textliche und formale Strukturen entstehen können. Zwar entwickelt sich im Zuge der Probenarbeit eine deutlich lesbare und universell verständliche Form, in die Lepage seine Bilder bettet, doch existiert diese stets zu Gunsten der Geschichte und deren Fortschreitens. Anders ausgedrückt ist es nicht die Geschichte, die sich nach der Form richtet, sondern umgekehrt. 43 Gerhard Stadelmaier (2010): Frankfurter Allgemeine Zeitung 97 Um mich diesbezüglich nochmals auf das Zitat mit der Fußnummer zweiundvierzig zu beziehen: Selbstverständlich steht Robert Lepages Theater im Dienste seiner Figuren und der sich daraus entwickelnden Geschichte. Und es ist ebenso eine Tatsache, dass er dafür eine Vielzahl technischer Mittel auf der Bühne zum Einsatz bringt; doch was ist daran zu bemängeln? Möglicherweise liefert eine genauere Analyse des Namens von Lepages Ensemble Ex Machina eine rechtfertigende Erklärung für die Herangehensweise an Theaterprojekte. Der Ausdruck Ex Machina enthält drei wichtige Aspekte: Zum einen ist wichtig zu bemerken, dass darin das Wort Theater nicht enthalten ist. Das hat auch seinen Grund, da Lepages Theater kein konventionelles ist, wie es in der Arbeit bereits mehrfach zur Sprache gekommen ist. Zum anderen ist im Namen der Gruppe der Begriff Maschinerie enthalten, der für Lepages darstellende Kunst viel eher zutrifft, als der Begriff Theater. Denn Maschinerie beschreibt im Sinne von Lepage keineswegs nur die äußere Beschaffenheit eines Mechanismus, sondern ebenso das Innere desselben. Das bedeutet, dass jedes an der Produktion beteiligte Objekt und Subjekt eine tragende Rolle für das Funktionieren des Stückes spielen. Das stellt auch den Schauspieler in ein neues Licht, da er mit seinem körperlichen Instrumentarium nicht nur künstlerische, sondern sehr wohl auch funktionelle Aspekte bedient. Und drittens ist es dem Ensemble durch das Streichen des Wortes Deus aus dem Ausdruck Ex Machina gelungen, eine „mythische Dimension und ein[en] Sinn für spirituelles Bestreben“44 zu erhalten. Denn in Lepages Theater gibt es keine festgelegte höhere Instanz, die das Treiben auf der Bühne leitet und bestimmt. Diese Rolle übernimmt weder der Regisseur noch die Konvention des Theatergenres. Folglich entstehen Lepages Stücke im Zeichen eines kreativen, inspirativen und intuitiven Produktionsprozesses. Alle drei Aspekte bekräftigen die Erkenntnisse dieser Arbeit; nämlich, dass die endgültige Performance ein Resultat von ununterbrochenem experimentellen Entstehenlassen ist, welches sich aus der Diversität des Gedanken- und Gefühlsguts jedes Beteiligten ergibt. 44 Vgl. Rémy Charest (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag. S. 27 98 10. Literaturverzeichnis  Bernier, Éric. Lepage, Robert.Fricker, Karen (2002): The seven streams of the river Ota. London: Methuen Drama.  Charest, Rémy (1995): Connecting Flights - Robert Lepage. Translated from the French by Wanda Romer Taylor. London: Methuen Verlag  Dundjerovic, Aleksandar (2003): The cinema of ROBERT LEPAGE – the poetics of memory. Directors´ Cuts. London & New York: Wallfower Press  Eckstein, Kerstin (2004): Spiel mit Körper, Sprache, Medien – Eine Einführung in die Theaterarbeit. Weinheim: Dt. Theaterverlag  Fischer-Lichte, Erika (1999) Transformationen - Theater der neunziger Jahre ; [4. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, vom 29. Oktober bis 1. November 1998 in Berlin] Berlin: Theater der Zeit  Fischer-Lichte, Erika (2000): Körper-Inszenierungen - Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen: Attempto Verlag.  Fischer-Lichte, Erika (2001): Verkörperung. Tübingen: Francke Verlag.  Fischer-Lichte, Erika (2003): Performativität und Ereignis. Tübingen: Francke Verlag.  Fischer-Lichte, Erika (2009): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.  Hunt, Nigel (1989): The Global Voyage of Robert Lepage. In: The Drama Review.  Kolesch, Doris. Krämer, Sybille (2006): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.  Kolesch, Doris. Pinto, Vito. Schrödl, Jenny (2009): Stimm – Welten. Philosophische, medientheroetische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld. Transcript Verlag.  Lepage, Robert. Klett, Renate (2010): Robert Lepage – Nahaufnahme Gespräche mit Renate Klett. Berlin: Alexander Verlag. 99  Natmessnig, Lisa (2009): Theater der Metamorphosen - Untersuchungen zu einer Ästhetik des Intermedialen am Beispiel Robert Lepage. Univ., Dipl.-Arb. Betreuer: Hulfeld, Stefan. Hochschulschrift Wien.  Opel, Anna (2002): Sprachkörper - zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik. Bielefeld: Aisthesis Verlag.  Pfahl, Julia (2005): Québec inszenieren – Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag.  Pfahl, Julia (2010): The medium has a message! – Zur Profilierung eines theaterwissenschaftlichen Begriffs. In: Forum Modernes Theater, vol. 25, no. 2. Tübingen: Gunter Narr Verlag.  Rewa, Natalie (1990): Clichés of Ethnicity subverted : Robert Lepage´s La Trilogiedes Dragons. In: Theatre Research in Canada, vol. 11, no. 2.  Walkenhorst, Birgit (2005): Intermedialität und Wahrnehmung Untersuchungen zur Regiearbeit von John Jesurun und Robert Lepage. Marburg: Tectum Verlag. CD´s:  Kolesch, Doris. (Hrsg.): (2004): Kunst – Stimmen. Berlin: Theater der Zeit: Recherchen; 21.  Kolesch, Doris. (Hrsg.): (2009): Stimm – Welten: philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: Transcript – Verlag. 100 Zusammenfassung: Die hier verfasste Diplomarbeit „Das Verkörpern von Geschichten – Die stimmlich-sprachliche Präsenz in den Figurenkonstellationen von Robert Lepages Lipsynch“ setzt sich anhand einer spezifischen Aufführung mit dem Theater von Robert Lepage auseinander. Die ausschlaggebendsten Motive, welche den Leser durch die Arbeit begleiten, sind die menschliche Sprache und Stimme. Dabei führen verschiedenste Aspekte der Medialität, also der Hör- und Sichtbarkeit stimmlich-sprachlicher Phänomene, zu einem besseren Verständnis der Vorgehensweise in Robert Lepages Schaffensprozess. In Anbetracht dessen wird in der Arbeit neben der Medialität, die sowohl auf formaler, als auch auf inhaltlicher Ebene erfahrbar wird, auch die Wichtigkeit der Hybridität für die Transparenz zwischen Leben und Bühne verdeutlicht. Das Phänomen der Hybridität zeichnet sich durch seine Offenheit für ständige Transformation, Flexibilität, Durchlässigkeit und Imagination aus. Und diese Prozesse zeigen sich auf Lepages Bühne mit Hilfe von inhaltlichen Aspekten wie Identität, Nationalität, Stimmlichkeit und Körperlichkeit. Abschließend werden die individuellen Eigenheiten und Besonderheiten von Stimme und Sprache nochmals spezifisch, anhand einer dramaturgisch logischen Auflistung aller im Stück Lipsynch vorkommenden Figuren, analysiert und in Relation gesetzt. Im Allgemeinen entspringt die Arbeit überwiegend der Analyse von szenischer Ausarbeitung und Umsetzung auf der Bühne, wobei dafür sowohl die LiveAufführung, als auch die Aufzeichnung derselben als Material zur Verfügung standen. Die zusätzlich herangezogene Literatur wurde anhand ihres Potentials zur Klärung und Konkretisierung von charakteristischen Begrifflichkeiten und Methoden ausgewählt, und ist dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. 101 Lebenslauf Persönliche Daten: Name: Geburtsdatum: Geburtsort: Staatsbürgerschaft: Religion: Familienstand: Mail: Elisabeth Kanettis 28.10.1988 New York Italien römisch-katholisch ledig elisabeth.kanettis@gmx.at Ausbildung: Schulbildung: 1994 – 1998 Volksschule Pettnau 1998 – 2007 Akademisches Gymnasium Innsbruck (Juni 2007 Matura) 2007 – 2008 Studium der Philosophie Universität Innsbruck seit 2008 Diplomstudium der Theater-Film-, und Medienwissenschaft an der Universität Wien seit 2009 Zweitstudium der Anglistik an der Universität Wien seit 2011 Schauspielausbildung an der Schauspielschule Krauss Studienschwerpunkte: Schauspiel Theater- und Filmwissenschaft Darstellende Künste Kunsterziehung Auszeichnungen: 2005 2. Platz beim Prima la musica Wettbewerb (Klavier) 2010 Leistungsstipendium der Universität Wien Nationale und Internationale Platzierungen in den Lateinamerikanischen Tänzen (Tanzsport) Bisherige Praktika: Praktikum Neue Sentimental Film AG Regieassistenz Rabenhof Theater Wien Hostess Pia.Pink Werbung & Kommunikation GmbH 102 Dramaturgie und Schauspiel Praktikum bei den Wiener Festwochen 2011 TV- und Theaterproduktionen: „Die kleine Lady“ – Gernot Roll (Fernsehen) „Ein Herz für Österreich“ – NeueSentimentalFilm (Werbung) „Baron Münchhausen“ – Roman Freigassner (Kindertheater) Zusatzqualifikationen: 2012 Leitung des Workshops „Body Awareness on Stage“ – Workshop zu Körperbewusstsein und Bühnenpräsenz 2007 - 2011 Tanzausbildung in den lateinamerikanischen Tänzen 2002 Teilnahme am Workshop der Österreichischen Filmakademie 1998 – 2005 Teilnahme an der schuleigenen Bühnenspielgruppe Klavierstudium ab dem 8. Lebensjahr 2009 Zertifikat für Hostess und Cateringgehilfin GVO Erste Hilfe Kurs Führerschein B EDV – Kenntnisse in Office (Word, Excel, Powerpoint etc.) Fremdsprachen: sehr gute Englisch- und Französisch Kenntnisse, Griechisch 103