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Polyphone Ästhetik: Eine kritische Situierung

2019

Eine polyphone Ästhetik erwächst aus der Dringlichkeit und der Freude, mit verschiedenen Stimmen zu arbeiten und durch heterogene Positionen zu denken, ohne die Differenzen, die der Polyphonie immanent sind, zu neutralisieren. In diesem Sinne möchte das vorliegende Buch den selbstgerechten Autoritätsanspruch der westlichen Ästhetik unterwandern und produktiv verunsichern. Zugleich folgt es dem Begehren nach kollektiven Formen des sinnesbezogenen Denkens und Arbeitens. Seine Beiträge befassen sich mit so unterschiedlichen ästhetischen Dimensionen wie den (post-)kolonialen Implikationen der documenta 14 in Athen, dem Rassismus von Kants Ästhetik, kultureller Aneignung in der Popmusik, Dirty Aesthetics oder dekolonialer Affektivität, wobei auch ko-autor*innenschaftliche und kollektiv gegendisziplinäre Formen des Theoretisierens erprobt werden. Seine besondere Relevanz erweist der Band nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zunehmend gewaltvollen Aneignung ästhetischer Praktiken und Th...

Eine polyphone Ästhetik der Vielheiten und Differenzen. Ein anti-universalistisches Unterfangen der Verkomplizierung und Kompliz*innenschaft. Ein being concerned. Polyphone Ästhetik Eine kritische Situierung transversal.at Polyphone Ästhetik Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger POLYPHONE ÄSTHETIK Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger POLYPHONE ÄSTHETIK Eine kritische Situierung transversal texts transversal.at ISBN der Printausgabe: 978-3-903046-24-5 transversal texts transversal texts ist Textmaschine und abstrakte Maschine zugleich, Territorium und Strom der Veröffentlichung, Produktionsort und Plattform - die Mitte eines Werdens, das niemals zum Verlag werden will. transversal texts unterstützt ausdrücklich Copyleft-Praxen. Alle Inhalte, sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen, unterliegen dem Copyright ihrer AutorInnen und ÜbersetzerInnen, ihre Vervielfältigung und Reproduktion mit allen Mitteln steht aber jeder Art von nicht-kommerzieller und nicht-institutioneller Verwendung und Verbreitung, ob privat oder öffentlich, offen. Dieses Buch ist gedruckt, als EPUB und als PDF erhältlich. Download: transversal.at Umschlaggestaltung und Basisdesign: Pascale Osterwalder transversal texts, 2019 eipcp Wien, Linz, Berlin, London, Málaga, Zürich ZVR: 985567206 A-1060 Wien, Gumpendorferstraße 63b A-4040 Linz, Harruckerstraße 7 contact@eipcp.net eipcp.net ¦ transversal.at Die Buchproduktion wurde vom Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste und vom Institut für Kunst und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien unterstützt. Das eipcp wird von der Kulturabteilung der Stadt Wien gefördert. Z hdk Zürcher Hochschule der Künste Institute for Cultural Studies in the Arts Inhalt Polyphone Ästhetik. Ein Anfang Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger 7 Am Küchentisch. Ein Streitgespräch mit der Ästhetik Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger 15 Politik des Bezeichnens. Formen der Aneignung in der Popmusik Katharina Hausladen 39 Elemente einer postkolonialen Genealogie der westlichen Ästhetik Ruth Sonderegger 53 Vom Sensus Communis zu den Dirty Aesthetics. Für eine entgrenztere Theoriepraxis Ines Kleesattel 71 Die Eule der Minerva de-rationalisieren oder: den postkolonialen Ansatz der documenta 14 situieren Sofia Bempeza 87 Affekt und dekoloniale Aisthesis als anderes Wissen Christoph Brunner 103 Earthly Relational Aesthetics. Eine post-koloniale Differenzierung mit Glissant Christoph Brunner, Ines Kleesattel 125 Es war einmal eine Ästhetik (die hatte sich selbst sehr lieb) Sofia Bempeza, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger 149 Bibliografie 165 Polyphone Ästhetik. Ein Anfang Wie ließe sich eine polyphone Ästhetik erzeugen, begreifen, ausrufen? Eine Ästhetik von Vielheiten und Differenzen, die sich verschiedener Praktiken, Situationen und Rhythmen annimmt. Ein anti-universalistisches Unterfangen der differenzierenden Verkomplizierung und Kompliz*innenschaft. Ein being concerned, das das Wir, als welches wir hier schreiben, auch aufgrund seiner konstitutiven Widersprüchlichkeit unruhig bleiben lässt; das den Austausch mit weniger hegemonialen Perspektiven und Problematisierungen sucht; und das schreibend mit den Verstrickungen in die inner- und außerakademische Welt mit ihren Machtbeziehungen agiert. Wenn wir hier von Ästhetik sprechen, beschäftigen wir uns sowohl mit der gleichnamigen philosophischen Disziplin als auch mit heterogenen ästhetischen Praktiken, mit auf diese Praktiken bezogenen Theoriebildungen sowie mit dem Begriff der Ästhetik und seiner Geschichte. Diesen Begriff beschränken wir dezidiert nicht auf eine als high art verstandene Kunst oder auf das Schöne. Vielmehr verstehen wir ihn als aisthesis, das heißt in Verbindung mit je spezifischen Bedingungen, Möglichkeiten und Effekten von Wahrnehmung und Vernehmbarkeit, Sinnlichem und Sinnhaftem. Es geht uns weniger darum, die bereits vorhandenen Großdefinitionen der philosophischen Ästhetik durch eine weitere, inklusivere zu ergänzen, die eine Anerkennung des jeweils Ausgeschlossenen gerade dadurch negiert, dass allein sie zu dieser Anerkennung legitimiert. Stattdessen bemühen wir uns um ein anderes politisches Sprechen, 7 das sich in seiner Positionierung ebenso angreifbar macht, wie es in seiner ästhetischen Ambivalenz radikal unabgeschlossen bleibt. Eine polyphone Ästhetik erwächst aus der Freiheit, der Dringlichkeit und der Freude, mit verschiedenen Stimmen zu arbeiten und durch andere Positionen zu denken, ohne die Differenzen, die der Polyphonie immanent sind, durch Inklusion zu neutralisieren. Der Dialog, in den wir hier miteinander und mit Ideen und Praktiken aus unterschiedlichen ästhetischen, theoretischen, geopolitischen und historischen Kontexten treten, hat u. a. das Ziel eines differenzsensiblen Geschichtenerzählens im Sinne Donna Haraways, mit der wir die Überzeugung teilen: „[I]t matters which ideas we think other ideas with.“ 1 Im Gegensatz zu den universalistischen Implikationen des kosmopolitischen Anspruchs eines sensus communis oder der wohlmeinenden, aber nicht minder kolonialen Geste eines Reinholens ‚fremder‘ Personen und Positionen üben wir uns im Situieren von Partialität. Unser Anliegen ist, die Verheißung von sozialen, politischen und kulturellen Praktiken im Bereich der Ästhetik offenzulegen, und zwar nicht aus einer distanzierten Perspektive, die über andere Subjekte als Objekte spricht, sondern aus der Involvierung im Sinne eines „speaking nearby“ 2. Dabei fragen wir uns ausgehend von unseren eigenen Situiertheiten, wie wir mit vielfältigen und dabei stets Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 14 f. Als „speaking nearby“ bezeichnet Trinh Thi Minh-hà den postkolonialen Dokumentarfilm-Ansatz, der ihrem Film Reassemblage (1982) zugrunde liegt. Wenn Minh Hà dort erklärt, „I do not intend to speak about. Just speak nearby“, so bezieht sie sich auf eine Situation, in der es schwierig bis unmöglich ist, in direkte Kommunikation mit anderen zu treten. 1 2 8 bestimmten ästhetischen Praktiken und Milieus polyphon in Resonanz treten können. Wie dieses Buch situiert ist Wer ist dieses Wir, von dem wir hier immer wieder dezidiert schreiben? Zunächst einmal meinen wir damit nicht mehr als die fünf Autor*innen dieses Buches. Ein partiales Wir, das aufgrund unserer je eigenen Interessen, sozialen Rollen und Subjektivierungsweisen als Wissenschaftler*innen, Lehrende, Künstler*innen und Theoretiker*innen in sich heterogen ist. Dies umso mehr, als wir uns mit unseren unterschiedlichen und unterschiedlich errungenen Privilegiertheiten verschieden zur gemeinsamen Theorieproduktion verhalten. Auf der anderen Seite bleibt unser Wir als akademisches und europäisch-weißes immer noch ziemlich homogen. Anlass zu diesem Buch gab unsere Teilnahme am X. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGÄ), der im Februar 2018 unter dem Titel Das ist Ästhetik! an der HfG Offenbach stattfand und nach Geschichte und Gegenwart der philosophischen Ästhetik fragte. In unterschiedlichen Konstellationen – teils mit Einzelvorträgen, teils mit dem Panel Vorschläge zur Situierung und Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik 3 – formulierten wir dort in verschiedenen Bezugsrahmen das gemeinsame theoriepolitische Anliegen, den Anspruch der Cultural und Postcolonial Studies, westlich-europäische Selbst- und Fremdbilder und die „über Jahrhunderte entwickelte[n] Vorstellungen Neben Sofia Bempeza, Ines Kleesattel und Ruth Sonderegger war auch Eva Kernbauer Teil dieses Panels. Bei ihr wollen wir uns an dieser Stelle für die gemeinsamen Auseinandersetzungen bedanken. 3 9 von kultureller Überlegenheit und Unterlegenheit“ 4 aufzubrechen, in die philosophisch-ästhetische Disziplin hineinzutragen. So verwarfen wir einerseits einen von kolonialen und anderen Ausschlüssen abstrahierenden Ästhetikbegriff mit der Behauptung „Das ist nicht die ganze Ästhetik!“. Andererseits öffneten wir einen auf Kunst verkürzten Begriff des Ästhetischen mit der Forderung „Das ist auch Ästhetik!“ für alternative Bestimmungen. Unsere Vorschläge finden sich in diesem Buch in Form von fünf Einzelbeiträgen, die mehr oder weniger identisch mit unseren in Offenbach gehaltenen Vorträgen sind; in der Gestalt eines transkribierten Gesprächs, das wir an zwei Tagen im August 2018 in Wien führten, um unsere Vorträge zu reflektieren und zu ergänzen; eines ko-autorschaftlichen Aufsatzes, der den Topos der Relationalen Ästhetik mit Édouard Glissant und Donna Haraway einer postkolonial differenzierenden Revision unterzieht; sowie in Form eines Pharmakons aus der Hexenküche ästhetischer Fabulation, das zum Schluss des Buches den Versuch eines kollektiv gegendisziplinären Theoretisierens unternimmt. Matters of Concern Die Beiträge dieses Buches möchten den selbstgerechten Autoritätsanspruch der westlichen Theoriepraxis unterwandern und produktiv verunsichern. Somit ist dieser Band unser erster Versuch einer Situierung, ein Begehren nach Formen des gemeinsamen und kollektiven Arbeitens, Denkens, aber eben auch Empfindens und Lebens. Dabei befassen wir uns mit so unterschiedlichen ästhetischen Dimensionen wie der Problematisierung 4 Christian Kravagna, „Postcolonial Studies“, 2016, S. 68. 10 des postkolonialen Unterfangens der documenta 14 in Athen, den rassistischen Implikationen von Kants Ästhetik, kulturellen Aneignungspraktiken in der Popmusik, den Reinheitsphantasmen durchkreuzenden Dirty Aesthetics oder mit dekolonialer Affektivität und ihren politischen Effekten. Dies tun wir nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden gewaltvollen Aneignung ästhetischer Praktiken und Theorien durch die (Neue) Rechte unter dem Deckmantel vermeintlich intellektueller Debatten etwa zum theoretisch und kulturell exklusiven Erbe Europas. So hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, während wir diese Einleitung schreiben, nicht nur eine „Generaldirektion für die europäische Verteidigungsindustrie“, sondern auch ein Kommissariat zum „Schutz der europäischen Lebensweise“ ins Leben gerufen, das der griechische Rechtskonservative Margaritis Schinas bekleiden soll. 5 Dieses Buch ist als Manifestation eines im gemeinsamen Austausch gewachsenen Unbehagens am westlichen Kanon ästhetischer Theorie und als vorläufiges Ergebnis des Begehrens nach kollektiveren Formen von Theoriepraxis zu verstehen. Polyphonie impliziert hier den klaren Wunsch nach Öffnung und Erweiterung, nach einem Vernehmen von bisher Unvernehmbarem. Polyphonie heißt für uns deshalb auch, nicht permanent zu reden, sondern vor allem zuzuhören und immer 5 In seiner neuen Funktion wird Schinas (langjähriges Mitglied des internationalen rechten Bündnisses European People’s Party) das Dossier „Schutz der Europäischen Lebensweise“, das Sicherheit und Migration umfasst, verantworten. Vgl. Alexandra Leistner und Alice Tidey, „Was ist die ‚europäische Lebensweise‘? In der neuen Kommission wird die jetzt geschützt“, in: Euronews 11.09.2019. 11 wieder zu schweigen, um neben schrillen auch leisere oder gebrochene Stimmen und Klänge ins Gewicht fallen zu lassen. Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger im September 2019 zwischen Athen, Hamburg, Wien und Zürich 12 Am Küchentisch Ein Streitgespräch mit der Ästhetik Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger Die folgende Diskussion fand an einem Wochenende im Sommer 2018 statt. Ines, Katharina, Sofia, Ruth und Christoph saßen an einem Küchentisch auf einer sonnigen Terrasse in Wien, die unserer Gruppe freundlicherweise von Markus für zwei Tage zur Verfügung gestellt wurde. Ein Plastik-Flamingo im Topf starrte uns an. Auf dem Holztisch stand ein Kaktus, der die Computerstrahlung frisst bzw. absorbiert. Mithilfe von elektronischen Geräten, Getränken und Fruchtgummis sprachen wir über mehrere Stunden. Zwischendurch haben wir uns Videos angeschaut, und das Essen hat nicht gefehlt. Am späteren Abend riefen die Nachbar*innen im Hof nach Ruhe – wir gaben keine! Teile des zweitägigen Gesprächs wurden aufgezeichnet und Monate später transkribiert. Für diese Publikation wurde das Gespräch leicht überarbeitet und stellenweise ergänzt. Die orale Dimension blieb trotzdem erhalten. Die durchaus massiven Auslassungen längerer Gesprächsteile haben wir nicht markiert. Verschiedene Geschwindigkeiten gleichzeitig fahren I: Die Frage „Wer spricht aus welcher Perspektive und mit welcher Legitimation?“ spielt für uns alle eine Rolle; in Ruths und Christophs Vorträgen taucht sie ganz explizit auf. Katharina stellt sie aus einer etwas anderen 15 Richtung. Während Ruth und Christoph sie als institutionskritische und selbstsituierende Notwendigkeit einfordern, formulieren Katharina und Sofia sie als emanzipationspolitische Frage nach Aneignung aus nicht-legitimierter Position heraus im Sinne einer Selbstermächtigung. K: Es stellt sich dies aber auch als ästhetische Frage: In welcher Form findet das statt, wie soll das beispielsweise Musik sein? S: Das würde dafürsprechen, die Disziplinen zu sprengen. I: Dort, wo Praktiken aus einer marginalen Position heraus stattfinden. Während es bei Ruth und Christoph um ein Sprechen aus privilegierter Position heraus innerhalb der Disziplin oder aus der Disziplin heraus geht, das sich für Marginalisiertes interessiert. Was heißt das konkret für uns? Ruth schreibt: „Die philosophische Ästhetik ist weniger geniale Erfindung als vielmehr ReAktion.“ Aber wenn wir uns nun dennoch in der philosophischen Ästhetik verorten und das unsere eigene Legitimation begründet – wie können wir dann agieren? R: Das ist für mich die wichtigste Frage: Wie gehe ich mit einer zutiefst kolonialen Tradition um, in der ich sozialisiert bin und die insofern sehr perfide ist, als der Kunst und dem ästhetischen Handeln in Gestalt des Emanzipationsversprechens so oft die Unschuldshandschuhe angezogen wurden. Mir geht es um die Frage: Wie arbeitet man weiter mit dem ganzen Ballast, der ja auch ein Berg von Gewalt ist, ohne sich selbst zum Opfer zu stilisieren im Sinne von „Was haben 16 wir’s schwer“? Nein! Sondern wie geht man mit dieser extremst kontaminierten Subjektivierung und, darüber hinaus, Disziplinierung um, ohne zu leugnen, dass da manchmal andere Dinge möglich werden. Ich finde es allerdings wichtig, diese Herausforderung nicht als Plattmach-These zu formulieren à la: Auf dem Boden, auf dem wir uns bewegen, kann gar kein Gras mehr wachsen. K: Aber auch nicht allzu euphorisch zu werden angesichts jener „Non-Performativity“, die du in deinem Text dem Kunstfeld mit seinen üblichen Themenkonjunkturen attestierst. R: Sara Ahmed spricht von der Nicht-Performativität der Diversität. Wenn ich sie richtig verstehe, meint sie, dass dort, wo Diversitätsmarker auf Websites etc. großgeschrieben werden, ziemlich sicher nichts in Sachen Diversität getan wird. Diese tollen Gutwörter wie u. a. Diversität haben es nämlich geschafft, den Eindruck zu erzeugen, als wäre man mitten in der Praxis der Veränderung, aber es bleibt eben bei einem bloßen Performen von Wörtern, die nichts Emanzipatorisches nach sich ziehen. Ahmed zufolge tun Sprechakte der Diversitätsbekundung schon was, aber garantiert nicht das, was sie ankündigen. Und so etwas Ähnliches gilt in meinen Augen für viele emanzipatorische Konzepte wie zum Beispiel ästhetische Bildung und sensus communis. Die reden von Gleichbehandlung, Inklusion und Aufstiegschancen, haben aber während des Großteils der europäischen Geschichte das Gegenteil bewirkt; und, so meine ich, sie haben solche Gegenteile nicht nur nebenher bewirkt, sondern das war ein zentrales Anliegen. 17 S: Aber die Frage ist: Wie spricht man aus einer heutigen Perspektive? Angenommen, dass man die Geschichte der philosophischen Ästhetik mitrezipiert und diese auch transparent macht. Das ist die erste Aufgabe. Denn man arbeitet immer noch mit diesen Begriffen und Diskursen, anhand von diesem philosophisch-ästhetischen Diskurs wird es auch unterrichtet. Das ist sehr stark präsent insbesondere im deutschsprachigen akademischen Raum. Erstmal muss man das lernen, wie es war. Mit Kant, Hegel, Schiller und den großen Ästhetikern. Und dann muss man das verlernen, also um dann auch sagen zu können: So war’s aber nicht bzw. so war’s gemeint. Aber aus welcher Perspektive können wir jetzt gleichzeitig Kritik an diesen Texten üben und etwas noch Brauchbares aus ihnen herauspicken; wie etwa den Anspruch auf Gleichheit? I: Ich halte die Frage nach dem Anknüpfen-Können an Brauchbares für zentral. Also auch bei der Non-Performativity. Die ist doch immerhin etwas – im Gegensatz dazu, wenn nicht einmal mehr die vorhanden ist. Mir ist es lieber, es gibt zumindest eine Dekolonisierungsbehauptung, der gegenüber ich dann immerhin sagen kann: „Schau dir mal deine Ausschlüsse an, die du trotzdem weiter produzierst.“ Da gibt es dann immerhin einen Anspruch, und ich kann mit dieser Person oder Institution den Abstand von oder Gegensatz zwischen Anspruch und Realität verhandeln. Das ist doch immer noch besser, als wenn jemand direkt sagt: „Weiße Männer zurück an die Macht!“ S: Ja unbedingt, aber man muss all diese Geschwindigkeiten gleichzeitig fahren. Also erstmal zu versuchen, uns im akademischen Raum zu ‚verständigen‘ und zu 18 verstehen. Dass es nicht nur die eine Erzählung gibt, sondern daneben auch eine andere, sogar viele andere. Diese sollen auch ernst genommen und nicht als zu ‚ideologisch‘, zu politisch, zu feministisch, zu zu zu zu … gelabelt werden. Wenn wir an dem Punkt anlagen, dass es zumindest zwei Erzählungen gibt, dann fehlt da aber noch eine dritte Erzählung. Weil die Kritikerzählungen sind im sogenannten westlichen Diskurs auch sehr gefärbt. Immer dieser Anspruch auf Kritik und Kritikalität. Immer noch. Es gibt dann noch die Imports sozusagen, also Spivak, Mignolo, Homi K. Bhabha u. a., anders gesagt: die zehn Leute, die wir permanent zitieren, während die vielen Autor*innen im nicht alteuropäischen Kontext immer noch woanders sind. Die Frage ist doch auch: Was möchten wir mit der postkolonialen Kritik in den europäischen Institutionen erreichen? Was ist da noch rauszuholen und wo muss dann dekoloniale Praxis außerhalb der Institutionen passieren oder auch in der Institution, aber in einer anderen Form, die nicht nur ein theoretisches Reinholen wäre? Diskursiv sind nämlich die Sachen schon viel weiter als die erlebte Praxis – das alte Problem halt. C: Du hast gerade etwas gesagt, was ich sehr wichtig fand, nämlich „mit allen Geschwindigkeiten parallel agieren“. Also ich glaube auch: Diese verschiedenen Formen der Zeitlichkeit, die in bestimmte Aktualitäten intervenieren, aber auch bestimmte geschichtliche Linien aufgreifen und vervielfältigen und auch mögliche Optionen, gilt es, experimentell nach vorn zu denken; und dann an diesem Scharnier zu arbeiten. Das heißt nicht, dass das eine Narrativ das andere jetzt ablösen muss, sondern dass diese dritte Option der Kritik oder 19 die hundert anderen Optionen diese trotzdem nicht ignorieren, sprich, dass die Kritik immer wieder aus gutem Grund hervorgebracht wurde. Das ist ja, was die Rechten permanent versuchen, zu sagen: „Jetzt dürfen wir auch reden!“, und damit zu unterminieren, dass die Kritik an der Rechten oder auch feministische Kritik klar einen historischen Grund hat. Also nicht nur: „Wer spricht aus welcher Perspektive und mit welchem Hintergrund?“, sondern auch: „Wann und wie wird gesprochen?“ I + S: Und auch: „Mit wem?“. K: Absolut. Es ist wichtig, an diese historischen Linien von zum Beispiel feministischer und antirassistischer Kritik zu erinnern, insbesondere auch an die Errungenschaften, die aus diesen Kritikoffensiven hervorgegangen sind. Wichtig ist das auch deshalb, da linke Bündnisse heute häufig nicht nur von rechtsaußen torpediert werden, sondern sich ja leider oft auch durch die Antifeminismen und Traditionalismen altlinker Dogmatiker*innen herausgefordert sehen, die dann zum Beispiel – wie man bei Andrea Nagle 1 nachlesen kann – die PC Culture dafür verantwortlich machen, dass die Neue Rechte ihren Unmut gegen Sprachregulierungen in umso verletzenderen Redepraktiken via Social Media kommuniziert und dadurch angeblich erst erstarken konnte. Die Frage ist: Wie lassen sich unter diesen Voraussetzungen linke Koalitionen schmieden? I: Wir müssen gleichzeitig unsere eigenen Inklusionspraktiken problematisieren, mit denen wir Postkoloniales 1 Vgl. Angela Nagle, Kill All Normies, 2017. 20 in die westliche Academia reinholen, und uns fragen, was vom westlich-europäischen Kanon wir wie fortschreiben oder nicht. Daran knüpft an, was eine DGÄ-Konferenzbesucherin mir nach meinem Vortrag entgegnete und was du, Christoph, ebenfalls aufbrachtest: Wie steht Arendt in Bezug zu Haraway und produziert das nicht einen Widerspruch? Und wenn ich dann sage: „Das interessiert mich jetzt gar nicht, ich nehme von Arendt nur das, was ich gebrauchen kann“, dann fragen diese Konferenzbesucherin oder Christoph zu Recht: „Wieso nimmst du dann überhaupt Arendt, wieso nimmst du jemand, die auch ein problematisches Gepäck hat, und sagst, das Problematische lass ich einfach liegen?“ C: Aber es gibt niemand, der kein problematisches Gepäck hat. Die Verwicklungen und gegenseitigen ‚Begrabbelungen‘ dieser Positionen bewirken, wenn man Modernität und Kolonialität zusammendenkt, dass auch Dekolonialität immer schon mit Kolonialität zusammengedacht werden muss. Dieser Glaube an den archimedischen Punkt, von dem aus man Neutralität hätte, ist einfach nicht wahr. I: Stimmt, das sagt Ruth am Ende ihres Vortrags auch. Dieses Alles-richtig-machen-Wollen kann nicht der Weg sein. R: Das ist etwas, das ich bei Spivak immer wieder sehr produktiv finde. Gerade über die europäische Ästhetik, die dann in die Welt hinaus missioniert wurde, wird häufig gesagt, dass sie im 18./19. Jahrhundert ein Problem war, wir sie aber heute inklusiver denken und ‚natürlich‘ keine Frauen* und Queers oder Menschen of 21 Colour mehr ausschließen. Spivak thematisiert das als Reinheitsfantasien; im Sinne von: Wir Westler*innen können alles managen und aus allen ‚Fehlern‘ das Richtige lernen, um dann die Vergangenheit ad acta zu legen. Aus dieser Denke möchte ich herauskommen. Es reicht meines Erachtens auch gerade nicht aus, sich pragmatisch von verschiedenen Positionen das zu nehmen, was man brauchen kann, wenngleich ich das auch nicht total verabschieden möchte. Aber das heißt eben immer auch, von den unangenehmen Seiten, die selbst zu den tollsten Texten und Denkmodellen gehören, total zu schweigen. Das läuft wohl darauf hinaus, Lektüren zu verkomplizieren, ohne sich nur in Metadiskursen zu bewegen, sodass man im besten Fall eine gewisse Leichtigkeit darin kriegt, das Problematische im Rettenswerten mitzusagen, ohne selbst zu verstummen. C: Genau, ich glaube, es ist schon total viel gewonnen, wenn du einen Verweis darauf machst. Zu sagen: Klar geschieht das in einem bestimmten historischen Kontext, den muss und soll man auch weiter problematisieren, ich benutze nun aber hier diesen Begriff oder diesen Sachverhalt, weil er mir hier erlaubt, das so zu problematisieren. Und dann können wir darüber diskutieren, ob diese Problematisierung, die ich hier vorstelle, reicht oder ob sie, weil sie verhaftet ist in einem bestimmten historischen Kontext, noch mal anders gebrochen werden könnte. Um sich so auch immer noch navigierbar zu halten. R: Das gilt natürlich auch für den Ästhetikbegriff selbst. Dessen Herausforderung, ja Anmaßung benennt wohl Christoph am klarsten, wenn er die Verengung 22 der Ästhetik auf Angelegenheiten der Kunst thematisiert und dagegen die aisthesis hält. Ich will die Ästhetik damit nicht gleich verabschieden, schon deshalb nicht, weil das ja schon wieder so eine schnöde Schlussstrichgeschichte wäre. Und bei dir, Katharina, scheint mir dieselbe Problematik in Bezug auf Pop als eine Zwischenform zwischen Kunst und Politik aufzutauchen. Letztlich durchzieht die Frage, ob/wo wir von Kunst, ästhetischen oder aisthetischen Praktiken sprechen, die Überlegungen von uns allen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass wir alle an Politisierungen interessiert sind; dabei ist die Frage der Kolonialität ganz zentral. S: Kulturelle Aneignung auch, als Teil des kolonialen Denkens. K: Das ist eine Seite von cultural appropriation, sozusagen Kolonialität in Reinform: der exotistische Import des als absolut anders Behaupteten. Eine andere Seite wäre – neben der Tatsache, dass den Appropriierenden nicht immer klar ist, dass und was sie sich gerade aneignen – die Besetzung von Handlungsräumen, das Populärwerden minorisierter Lebensformen mit populären Mitteln. Das ist es, was Performer*innen wie Fatima Al Qadiri auf den Punkt bringen, wenn sie über Aneignung ‚sprechen‘, also Kunst machen. C: Ja, Kolonialität eben nicht nur in einem territorialen Anderen, sondern auch immanente Kolonialität. Das ist, was Stuart Hall so gut sagt in „When was ‚the post-colonial‘?“. 2 Das ist ein super Text. Er schreibt hier 2 Stuart Hall, „When was ‚the post-colonial‘?“, 1996. 23 sinngemäß, der Begriff der Postkolonialität weise uns darauf hin, dass Kolonisierung immer als immanenter Bestandteil der imperialen Metropole der Kolonialkulturen gedacht werden muss. Anders gesagt, Kolonialität ist fester Bestandteil des Denkens, der Strukturen und Institutionen der Kolonialkulturen und entsteht nicht erst mit der territorialen Kolonisierung. Über Haraway, Kant und andere Werkzeugkästen R: Es wäre interessant, beides – den Haraway’schen Einspruch gegen eine bestimmte Art der Akademisierung und unseren derzeitigen politischen Alltagskontext eines rechten Antiintellektualismus – als Schlaglichter zu nehmen, von denen her wir nochmals unsere Theorieproduktion beackern könnten. Wie sehr wollen wir ästhetische Theorien verfeinern? C: Für mich war das total klar. Dass unsere Bezugsfelder eigentlich Praxisfelder sind, nicht die Theorien. Klar geht es um eine Verfeinerung bestimmter Begrifflichkeiten, aber immer in Resonanz mit bestimmten Praxisfeldern, sei es Pop, sei es Documenta. Wir haben in unseren Arbeiten immer mit ganz konkreten Fällen und Phänomenen zu tun, mit Dingen, die sich ereignen im Bereich des Sinnlich-Empfindbaren, der Effekte. In der Doku Story Telling for Earthly Survival (von Fabrizio Terranova) beginnt Haraway ihre Erörterung des Feminismus mit ihrer Liebe zu Science-Fiction, feministischer Science-Fiction-Literatur. Da macht sie klar, dass die Genealogien politischen Denkens ohnehin immer schon heterogen und verwoben sind. Ich meine, dass hier deutlich wird, dass politisches Denken viele Orte und Ausdrucksformen hat, die sich nicht in 24 einem abgegrenzten Bereich der Politik abspielen, sondern eben in der Sprache, im Denken, im Empfinden, in der Art und Weise, wie gehandelt, gelebt und erfahren wird. Ich fände es interessant, nicht wieder in der akademischen Manier eine Aneignung des Weirden, des Dirty zu betreiben. Sondern unsere eigenen Praktiken hier aufzubrechen und zu fragen, was für Möglichkeiten es gibt, in Resonanz damit zu treten. I: Für mich ist das der Punkt, weshalb es nicht viel Sinn macht, zwischen ästhetischen Praktiken und der ästhetischen Theorie als Praxis zu unterscheiden, oder höchstens aus analytischen Gründen. Ich glaube bei dir, Sofia, verhält sich das anders, weil du eine künstlerische Praxis jenseits/zusätzlich zu deiner theoretischen Arbeit hast. Aber für uns hier ist doch die Frage „Wie diese ästhetische Theorie betreiben?“ ein Anliegen. Und dabei sind sicher Überlegungen, die unsere Pädagogik oder Lehre betreffen, zentral. Gerade in Bezug auf die Lehre scheinen mir Fragen nach dem Nichtlegitimierten wichtig. Andererseits arbeitet Haraway mit den nichtlegitimierten Wissensformen auch auf formaler Ebene, sie beeinflussen ihre eigene Theoriepraxis. Das macht sie mitunter auch schwer zugänglich. Und dann ist da auf der anderen Seite das Problem konkreter politischer Dringlichkeiten: Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse, die man erst einmal kennen muss. Ich merke, ich habe ein pädagogisches Sendungsbewusstsein, und weiß, das ist problematisch. Aber ich frage mich auch: Was ist die Alternative? K: Eben weil sich mit Haraway aber die Frage nach dem Wie der ästhetischen Theorie als Frage nach den 25 verworfenen und „übersehenen“, wie Michaela Ott es nennt, 3 Teilen eines größeren Theoriezusammenhangs stellt, sozusagen als Legitimierungsversuch des Delegitimierten, kann diese Legitimierung kein Selbstzweck sein, muss die nächste Frage vielmehr lauten: Wie rechtfertigt sich dieser Versuch? So kann es das eine Mal wichtig sein, auf dem Widerspruch zwischen Form und Gegenstand zu bestehen oder auf dem Unterschied zwischen Theorie und Kunst (etwa als Reaktion auf einen inflationär gewordenen, drittmittelkompatiblen Interdisziplinaritätsfetisch), das andere Mal, die prinzipielle Formoffenheit von Kunst sich für die Theorie anzueignen und sich damit auch gegen eine problematische Verkürzung von Theorie auf, sagen wir: Philosophie zu stellen. Deshalb scheint es mir auch viel näher an Haraway dran zu sein, vom Verworfenen, Abjekten als dem jeweils Delegitimierten zu sprechen, als eine „Aneignung“ des Dreckigen zu versuchen, wie Christoph es eben genannt hat. Das, von dem nicht von vornherein feststeht, wie es aussieht oder was es sein könnte, ist doch das Interessante. Nicht das, was für die eine unangepasst ist und für den anderen einfach nur ugly – auch wenn das ein Effekt sein kann. S: Das Problem ist, wie man sendet. Nicht nur was man sendet, sondern wie. Wer bildet wen aus und zu welchem Ziel? Oder warum überhaupt? Im deutschsprachigen (akademischen) Raum ist dieser Bildungsbegriff so beladen. Das muss man endlich thematisieren, dass das der falsche Anfang ist. Wenn man immer mit dieser hohen Pädagogik kommt, setzt man nicht gut an – aus 3 Vgl. Michaela Ott, Welches Außen des Denkens?, 2018. 26 einer (post)migrantischen Perspektive nicht, aus einer nichteuropäischen Perspektive auch nicht. Immer dieses Durch-Bildung-etwas-Erreichen – dieses bürgerliche Ideal möchte ich nicht mehr. Aber wir sind immer noch am Unterrichten. Es gibt viele Wege, gemeinsam zu lernen, die weniger autoritär, vernunftgeschult (siehe Aufteilung Kopf und Hand) und universalistisch im Sinne von welterklärend sind. Wir brauchen auf dem akademischen Terrain andere Lernpraktiken. I: Und angesichts der realen Bedrohung von Rechtsradikalisierung würdest du trotzdem sagen: „Kant wegschmeißen“? S: Eine Ansicht disziplinärer Philosophie wäre, zu sagen, weil die Philosophie-Studiengänge jetzt mit postkolonialen und Gendertheorien ‚vergiftet‘ sind, verbaut man den jungen Frauen* den Weg zur klassischen, das heißt philosophischen Theorie: Platon usw. Es ist wohl wichtig, die akademische Disziplin der Philosophie zu vergiften! Gleichzeitig gibt es auch die feministische These: Der Kanon ermächtigt; die ‚Mädels‘ werden aber jetzt (fast nur) mit neuem Material konfrontiert, das nicht zum Kanon gehört, und sie haben nicht die Möglichkeiten, den Kanon kennenzulernen. K: Ich sehe das Problem auch, gerade an Kunstakademien. Ich finde es ganz wichtig, den Kanon zugänglich zu machen und gleichzeitig die Kanonproblematik zu benennen. Wichtig ist also das Gleichzeitige: Kanon und Antikanon. Platon und Haraway. Wobei: Haraway is today’s Plato. (lacht) Jedenfalls im Kunstfeld. 27 I: Die eine Frage ist, ob wir den Kanon reproduzieren wollen oder nicht und inwiefern die Kanonkritik zu begreifen ist, ohne den Kanon zu kennen. Eine andere Frage ist die der problematischen Moderne bzw. westlichen Aufklärung. Wir sind in der Aufklärungskritik drin, klar … S: Du meinst, weil die neuen Rechten jetzt antimodernistisch argumentieren? I: Ja, weil die sogenannten Werte der Aufklärung nicht mehr ohnehin als gesetzt und gültig gelten. S: Das Problem hatten wir auch schon vorher. Aus meiner Sicht ist das politische Problem jetzt, dass die alten und neuen Rechten so eine Antimoderne starkmachen, um humanistische und demokratische Ideale sowie Menschenrechte oder auch die Transformationen um 1968 zu degradieren. Aber eigentlich ist das ein bisschen ein Pseudodilemma. R: Ich glaube auch, dass es ein Pseudodilemma ist. Es ist nicht so, dass Aufklärung nur für Menschenrechte steht. Aufklärung steht für Kolonialität und für Menschenrechte. Immer für beides. Insofern geht es für mich nicht um Aufklärung ja oder nein, sondern darum, diesen double bind, diesen double move, wie Spivak zu Recht sagt, erneut aufzugreifen. Wir können nicht einfach zurück zur Moderne, gerade jetzt, wo uns zu dämmern beginnt, dass die schönen Dinge wie Menschenrechte immer nur für Nordeuropa gegolten haben, und auch da nur für einige wenige. 28 I: Wahrscheinlich greift dann auch hier die Entwederoder-Frage zu kurz; trotzdem will ich sie stellen: Mit Kant arbeiten, ihn problematisieren und mit anderem konfrontieren oder nicht mehr mit Kant arbeiten, weil wir mit ihm sowieso immer nur an einen problematischen Punkt kommen? S: Och, doch ein bisschen schon. Das Dilemma ist jetzt ein bisschen … naja … Wenn der Kanon mit Kant arbeitet, dann können wir uns zumindest fragen: Was können wir von Kant noch gut gebrauchen? Jedenfalls nicht seinen Habitus! (lacht) Es war ja auch nicht einfach nur Kant, Kant steht in einem historischen Kontext, in dem die ganze Gesellschaft etwa wie Kant getickt hat. R: Ich würde sagen, es haben nicht alle so getickt wie Kant. Nicht mal die Mehrheitsgesellschaft. Die bestand im Zeitalter von Kants Aufklärung nämlich aus (Quasi-)Leibeigenen und einigen proletarischen Menschen. Und dann muss man, um die Gemengelage der Aufklärung zu verstehen, immer den Code Noir dazulesen, das Gesetz, das es in Frankreich schon vor der Französischen Revolution gab und das bis 1857 bestand – eine eigene Gesetzgebung für Kolonisierte. Dieser Code startet mit der Prämisse, dass Sklaverei legitim ist. Das ist bei der Französischen Revolution genau so durchs Tribunal durchgegangen. Der Code Noir ist also auch Aufklärung, und zwar Bildungsaufklärung! In diesem Code ist nämlich auch festgelegt, wie viele Jahre du zum Lernen brauchst, um für die Freiheit gerüstet zu sein, wenn du Sklavin dieser oder jener Herkunft bist. Oft waren so viele Jahre für die Bildung zur Freiheit vorgesehen, dass sie in einem Menschenleben gar nicht erreichbar war. 29 Aber zurück zur Kantfrage. Im Kontext, in dem ich unterrichte und in dem es auch studentische Wünsche nach Überblicksvorlesungen zur ästhetischen Theorie gibt, da sag ich: ja, Kant lesen. I: Und dazu Simon Gikandi lesen. 4 K: Es kann schon eine Emanzipation darstellen, etwas besser verstehen zu lernen von dem, was vom Kanon reproduziert wird. Über Kant Bescheid zu wissen, kann eine Befreiung darstellen. R: Irre finde ich im Moment auch, dass die AfD eine KantStiftung ins Leben rufen wollte – als ihren parteinahen Think-Tank; ihre Rosa-Luxemburg- oder Heinrich-BöllStiftung sollte eine Kant-Stiftung sein. Innerhalb der AfD gab es dann aber Einsprüche, sodass die Sache auf Bundesebene nicht durchging. Aber in Nordrhein-Westfalen hat die AfD jetzt eine Kant-Stiftung. Da ist auf der Homepage unter dem Stichwort Kant zu lesen: „Wer sich zum Wurm macht, soll nicht klagen, wenn er getreten wird. Habe Mut(h), dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Wirklich irre, wie da Aufklärung mit Herrenmoral gemixt wird. Als ich das las, dachte ich, wow, jetzt muss ich vielleicht doch wieder anfangen, das möglicherweise Subversivere bei Kant zu retten. C: Die zwingen dich einfach dazu, die sitzen dir einfach im Nacken. 4 Zum Beispiel Simon Gikandi, „Race and the Idea of the Aesthetic“, 2001. 30 R: Genau. Deshalb verfolge ich das ja auch. Ich möchte auch genauer verstehen, was die AfD-Begehrlichkeiten in Bezug auf Kant sind. Die interessieren sich, nach allem, was ich bisher gelesen habe, überhaupt nicht für Kants Ideen, oder kaum. Vielmehr geht es um das alte Deutschland, als Königsberg noch Teil davon war. Ich erwähne das jetzt vor allem, um zu sagen, es kann nochmals eine ganz andere Notwendigkeit geben, darüber nachzudenken: Warum eigentlich (nicht) Kant? S: Ich würde gerne nochmals zum nichtlegitimierten Wissen zurück, um darüber nachzudenken: Wie reproduziert man das Wissen? Und was gilt als legitimiertes oder nichtlegitimiertes Wissen? Von welchen Seiten (geografischem Raum, sozialem Hintergrund, Genderidentität etc.) kommt Wissen und wie wird es generiert? Dieses nichtlegitimierte Wissen kann mehr Platz beanspruchen, auch als feministisches und/oder migrantisches Wissen. Aber nicht im Sinne von: ah, dieses legitimierte Wissen (oder diese Theorie) ist nur für die Gender-Gruppe und das andere etwa nur für die ernsthafte Philosophie-Gruppe. Plus die alte Frage: Wer schreibt? Ah, nicht nur wer schreibt, sondern auch wie. Wie wird geschrieben? Mit welchen sprachlichen/inhaltlichen Qualitätsansprüchen wird ein theoretischer Text verfasst? Dass man so und nicht anders schreibt, ist sehr habituell. Es wird unterrichtet und es wird gelernt, dass man so schreiben muss. R: Für mich wird das auch zunehmend wichtiger, weil ich merke, wie sehr mir das akademische Schreiben zur zweiten Natur geworden ist. Manchmal finde ich das wahnsinnig einengend und möchte ihm nur 31 entkommen. Aber bei der DGÄ-Tagung beispielsweise war mir völlig klar: Ich schreibe einen ganz klassisch argumentierenden Vortrag und benutze einfach mal die Tools, die ich halt so anwenden kann, weil ich ein Argument machen möchte. Ich passe mich also bewusst der Sprache an, die auf solchen Tagungen gesprochen wird. Und ich hab mich auch total wohlgefühlt mit dem, was ich da präsentiert habe. Wenn ich das jetzt mit euch anschauen würde als Veröffentlichungstext … no way! C: Vielleicht kann man da auch Audre Lordes Statement „The master’s tools will never dismantle the masters’s house“ noch mal ein bisschen weiterdenken. Dass es klar auch Momente gibt, in denen du nur mit den master’s tools überhaupt die master’s narratives erreichen kannst. Und gleichzeitig kannst du dich darauf nicht ausruhen, sondern musst auch mit anderem Werkzeug andere Häuser bauen. I: Aber es setzt voraus, dass ich einen Kasten habe. C: Einen Werkzeugkasten. R: Ja. Und es ist ein Privileg, einen Werkzeugkasten zu haben, ein unglaubliches Privileg. Aber andererseits denke ich, es ist auch eine wahnsinnige Verarmung. Es ist beides. I: Verarmung? Den Kasten zu haben? K: Kommt drauf an, was in dem Kasten ist. 32 R: Der Kasten macht dich unfähig, etwas anderes zu tun. I: Aber in einen Werkzeugkasten kann ich doch auch neue Sachen reinschmeißen. R: Aber er diszipliniert dich auch, da hab ich keine Illusionen. S: Ja, der Kasten hat viele Tools drin, aber dann bist du permanent mit diesem Kasten unterwegs … I: Ich würde sagen, diszipliniert bist du eh. Die Frage ist einfach, sind es Werkzeuge, die ich nehmen und sagen kann: Hier passt das Werkzeug oder an dieser Stelle funktioniert dieses Werkzeug dafür. Oder wende ich halt irgendwas an und manchmal macht es das und manchmal macht es das. Ich kann Werkzeuge ja auch zweckentfremden, verbiegen und umfunktionieren. S: Aber du hast immer den Gedanken: Ich hab genug Werkzeuge und kann wählen. R: Genau! S: Oder du hast eine Palette von Werkzeugen. Nicht die ganze Welt, aber du kannst wählen und aussuchen: Du hast das Vermögen. das zu machen bzw. eine weitere Lösung oder einen anderen Vorschlag zu erarbeiten. I: Aber ich kann schon vielleicht auch etwas wählen und dann merken, das ist hier nicht richtig und ich 33 muss jetzt improvisieren oder ich muss mir noch ein Werkzeug bauen, was hier besser passt. R: Ja, das schon … S: … aber es ist der zweite Schritt. R: Ich verdächtige meinen Werkzeugkasten zutiefst. Ich verdächtige auch meine Tendenz, zu denken, ich hab eh einen guten, der zwar Grenzen hat, aber prinzipiell okay ist. Zum Glück gibt es Erfahrungen, die einen da rausholen. Zum Beispiel den Lesekreis gegen Rechts, den Leute von MAIZ und Das Kollektiv gestartet haben, 5 wo mir beim gemeinsamen Gramsci-Lesen … C: Machen die Rechten ja auch ganz gern momentan bzw. haben sie schon länger getan. Die Sache ist hier: Ein Tool ist niemals neutral, und der Kasten ebenso wenig. Aber es gibt Werkzeuge der Herrschaft und es gibt welche, die sich nicht so leicht fügen wollen. Wenn man davon ausgeht, dass im Denken der Rechten nur vordergründig intellektuelle Interessen bekundet werden, es aber immer um eine Reduktion der Komplexität auf klare Größen, eben wie Nation, Land, Wahrheit, Volk, Blut etc., geht, dann erkennt man auch, dass Gramsci sich nicht so leicht vor den Karren der rechten Ideologie spannen lässt, wie die das gerne hätten. Und hier brauche ich auch meine Tools, um das zu verdeutlichen und zu untermauern. 5 MAIZ: https://www.maiz.at/news/2019/maiz-kultur/wien-wochesymposium; Das Kollektiv: https://www.das-kollektiv.at/home (zuletzt aufgerufen am 24.09.2019). 34 R: Ja, aber MAIZ geht es u. a. wirklich um den Werkzeugkasten des migrantischen Wissens. Ich muss da wahnsinnig aufpassen, das nicht zu romantisieren, aber: Wow, die Leute haben eine Lektüreform des Sicheinzelne-Begriffe-Rausschnappens, wo ich merke, wie durchdiszipliniert ich bin. Ich frage: Wo ist das Hauptargument, was ist der rote Faden? Ich lese mir ein bisschen Kontext zusammen, wann hat er das geschrieben, und so weiter. Und dann bin ich damit konfrontiert, dass die meisten Teilnehmer*innen des Lesekreises gegen Rechts den Gramsci-Text ab Satz eins auf die neue Gesetzeslage für Arbeitslosengeld beziehen. Von vornherein. Ich dachte erst so was wie, das ist doch ein wenig weit hergeholt, aber ich habe dazugelernt … Ich musste schon vorher an diesen Lesekreis denken, weil wir jetzt seit zwei Tagen diskutieren, während wir umgeben sind von Rechten. Und beim Lesekreis ist das ganz klar da, immer da. Ich habe dort andererseits schon auch gemerkt, dass ich was reingeben kann, aber ich habe auch krass gelernt, wie beschränkt ich bin. I: Und du bringst dann eigentlich deine Werkzeuge in diese Runde mit. Und in der Runde sind noch andere Kästen, in denen ihr gemeinsam wühlen könnt. R: Ja, und das ist das Tolle. Und wenn wir jetzt tatsächlich zusammen ein Buch oder einen Essay angehen mit den oder ohne die alten DGÄ-Vorträge, die können ja schon auch mit drin sein, dann können wir jetzt einfach was anderes machen. K: Trotzdem sehe ich das größere Problem in der Tendenz, zu denken, man hat eh einen guten Kasten, als im 35 Kastenhaben selbst. Dieser Gedanke ist ja ein besonderer Kasten: einer, der sich prinzipiell schwertut mit der Tatsache, dass es auch noch andere Werkzeuge gibt, andere Kästen. C: Man könnte ja genau das theoretisch auch in einem Buch machen: Man könnte sagen, hey, das ist eine bestimmte Weise, mit bestimmten Werkzeugen in bestimmten Kontexten zu arbeiten – und das ist eine andere. Ein anderer Kontext und eine andere Option. Und vielleicht auch nochmals zwei, drei Leute dazuholen, die unsere Betriebsblindheit echt mit auf den Plan rufen. Weil da wird es nämlich interessant. … also auch wenn du, Ruth, bei der DGÄ sagst, ich möchte mich nicht angreifbar machen aufgrund der Form und gleichzeitig interessiert mich natürlich die Form brennend. Diese Nicht-Ausschließlichkeit herzustellen. Man macht Setzungen, klar, aber man ist strategisch in den Situationen und man muss das Unternehmen polyphoner angehen. S: Bisschen Stellungskrieg, aber polyphon. Dirty. Wir hatten viele Gründe, da hinzugehen. Ein Grund war, dass wir auch was zu sagen haben. Der Kontext ist da gegeben, es gibt Hierarchien und es gibt Diskurse, die sich vordrängen und von sich behaupten: „Das ist die ästhetische Theorie!“ Ich fand, es ist unsere Pflicht, zu sagen: „Nein, das ist auch ästhetische Theorie!“ Das ist auch ästhetische Theoriepraxis, das kann auch ästhetische Bildung sein. Und nicht nur, was bestimmte high-theory-Fraktionen behaupten. Es gab viele Subszenen im DGÄ-Kontext; es war dort auch nicht homogen. Insofern fand ich es gut, dass wir als Panel und auch ihr (schaut zu K und C) (und andere) als einzelne 36 Teilnehmende gesagt haben: „Ich denke aber so.“ Das heißt nicht, dass man jetzt den konservativen Diskurs im Ganzen torpediert bzw. verändert hat. Wir gehen wieder nach Hause und machen weiter, auch mit unserem Publikationsprojekt, und die DGÄ ist, was sie war. 37 Politik des Bezeichnens Formen der Aneignung in der Popmusik Katharina Hausladen Als 2016 das Album Resolutionary erschien, das sämtliche Songs vereint, die Vivien Goldman, Musikjournalistin und Mitbegründerin der Postpunkband Flying Lizards, zwischen 1979 und 1982 aufgenommen hat, hieß es dazu im press release des Berliner StaubgoldLabels: „There’s a myth about music critics that says we are frustrated, wannabe performers. Evidence to the contrary: Vivien Goldman.“ 1 Dem Mythos des über Popmusik schreibenden Fans, der am liebsten selbst zur Gitarre greifen würde, widerspricht Goldman allerdings nicht nur aufgrund ihrer Praxis als Musikerin. Auch stehen ihre Kritiken nicht für jene freundliche Deskription, die den positivistischen Nerd kennzeichnet. So stellt Goldman im Zuge des Themenschwerpunkts „Who Owns What and Who Can Speak for Whom?“ der englischen Ausgabe der Frieze (10/2017) mit Blick auf kulturelle Aneignungspraktiken in der Popmusik fest: „Without cultural appropriation there would be no pop, which is intrinsically mixed, racially impure, creole. The rhythms of captive Africans, centuries on, provide the framework for pop.“ 2 Goldman, die seit den 1970er-Jahren zahlreiche Artikel über afroamerikanische, insbesondere afrokaribische Popmusik verfasst und wie viele Postpunkmusiker*innen auch Reggae- und 1 http://www.staubgold.com/en/album/154/resolutionary-songs1979-1982/. 2 Vivian Goldman, „Art, Culture & Appropriation“, 2017. 39 Dubversionen ihrer Stücke veröffentlicht hat, macht hier nicht nur deskriptiv auf die für Popmusik konstitutive Praxis der Dekontextualisierung und Wiederaneignung, kurzum: das Sampling aufmerksam. Sie erinnert auch daran, dass solche Wiederaneignungen bisweilen eine Enteignung derer bedeuten, die ohnehin weniger, wie sie schreibt, „money, entitlement, power and access“ 3 besitzen. Die Legitimität der Appropriation kultureller Praktiken und Güter müsse deshalb stets, so Goldman, an den politisch-ästhetischen Motiven bemessen werden, die einer jeweiligen Appropriation inhärent sind. Entsprechend räumt sie ein, dass die Reggae-Anleihen mancher Songs von The Clash wie etwa deren Coverversion des Reggae-Klassikers „Police and Thieves“ (1977, im Original von Junior Murvin: 1976) keine popmusikalische Kolonialisierung, sondern im Gegenteil: die emphatische Umarmung einer freien Gesellschaft darstellten. Schließlich zielten Punk und Postpunk auf die Überwindung von auf patriarchaler und rassifizierender Unterdrückung basierenden Klassengesellschaften, auch wenn antidisziplinarische Slogans und Stilpraktiken weitaus wichtiger waren als das Ausformulieren einer politischen Programmatik. Die ästhetische Bezugnahme auf Reggae und Dub als einer „Rebel Music“ (Bob Marley & The Wailers, 1986), einer Musik des Rastafarianismus war, wie Goldman treffend formuliert, „less ‚Other‘ to The Clash than were The Beatles“. 4 Denn erst die jeweiligen Kampfsituationen, aus denen heraus Punk und Reggae eine andere Gesellschaft entwarfen, 3 4 Ebd. Ebd. 40 machten ein Näheverhältnis zwischen beiden möglich, von dem eine vergleichsweise bürgerliche Band wie die Beatles mit ihrer musikalischen Virtuosität und Disziplinarität ausgeschlossen war. Down the Lido/Tu den Strand Wenn heute hingegen Popstars wie beispielsweise Kygo oder Thomas Jack sich unter der Genrebezeichnung Tropical House des digitalen Zitats von Klängen lateinamerikanischer Instrumente wie Marimba, Panflöte oder Steeldrum bedienen und in raunchy Videoclips von sich am Pool räkelnden Girls den partystrandgewordenen Traum exotisierter Summer Vibes aufleben lassen, dann ist das ästhetisch Reaktive der popmusikalischen Appropriation derart an ein politisch Reaktionäres geknüpft, dass eine Desartikulation weißer patriarchaler Vorherrschaft gerade verunmöglicht wird. Anders gesagt, sind „diejenigen, die vorher [schon] nicht zur Gestaltung der Welt zugelassen waren“, 5 es jetzt erst recht nicht. Der Kulturimperialismus scheint vielmehr dadurch, dass die Politizität des Aneignens ästhetisch verkannt wird, das heißt, das Sampling Selbstzweck ist, auch noch politisch ins Recht gesetzt. Damit verhält Tropical House sich ungefähr so zu Punk und Reggae wie einst der Post-Ambient-Sound von Café del Mar zu Ambient: Konnotationen des ‚Fremden‘, Nichtalltäglichen, die den sozialen Bezug schon allein wegen der auf diese Konnotationen projizierten Errettung aus Arbeit, Sparsamkeit und Disziplin negieren, treten an die Stelle einer Aufklärung über die „historischen Spuren des Partikularen […] als Musik einer nicht zu Öffentlichkeit 5 Diedrich Diederichsen, „Sampling und Montage“, 2006, S. 403. 41 zugelassenen Gruppe“. 6 Aber auch mit Blick auf die Gegenwart findet das Verhältnis von Macht und Gesellschaft sich hier nicht thematisiert. Kontextblindheit ist im Falle von Tropical House nur ein anderer Name für die Freiheit eines Marktes, der das tropikalische ‚Andere‘ als willkommenen Fluchtpunkt in den Routinen der Reproduktion stilisiert und verkauft. Es zeigt sich in dieser Blindheit der Verlust einer Reflexivität, die Adam Harper als „music-as-music-criticism“ 7 bezeichnet, genauer: als „music […] listening critically to itself, adding information to the images it suggests to listeners and developing them“. 8 Je geringer demnach die ästhetische Awareness für die Appropriiertheit von Popmusik ist, desto geringer ist auch die politische Awareness dafür, wer was wann wie zu welchem Zweck appropriiert. Man kann einem Sound also seine Politik ablesen, und das ganz unabhängig davon, ob es sich um welthaltiges – wie bei Punk und Postpunk – oder um artifizielles Soundmaterial – wie in der elektronischen Popmusik – handelt. Mithin besteht die „Politik des Bezeichnens“ 9, wie Stuart Hall betont, genau darin, dass Bedeutung niemals ohne Bezug „auf eine bereits mit Bedeutungen versehene Welt“ 10 produziert werden kann und sich als je spezifischer Kampf um kulturelle Hegemonie artikuliert. Sound der (Selbst-)Kritik: Fatima Al Qadiri Interessanterweise ist eine so verstandene ästhetische Selbstreflexivität derzeit häufig dort zu finden, Diedrich Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, 1999, S. 169. Adam Harper, Infinite Music, 2011, v. a. S. 147 f. 8 Ebd., S. 158. 9 Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, 2004, S. 80. 10 Ebd., S. 90. 6 7 42 wo man Popmusik als Kunst behandelt. Nicht nur, weil die betreffenden Musiker*innen zum Teil auch Bildkünstler*innen sind oder mit diesen (ästhetisch schlüssige) Partner*innenschaften eingehen, sondern auch, weil es konzeptionelle und distributionelle Überschneidungen zwischen Pop und Kunst gibt. Blicken wir zum Beispiel auf eine in diversen Künsten tätige und im wahrsten Sinne des Wortes globalisierte Performerin wie Fatima Al Qadiri, 11 so fällt auf, dass der Sound ästhetisch reflektiert, was er politisch involviert, und insofern selbstkritisch im Sinne Harpers ist. Zwar erklingen auch auf Al Qadiris Album Chinesisch (2014) falsche Panflöten und Steeldrums. Gleichwohl ist die Kombination von „irgendwie asiatisch konnotierten Signalen, von denen nicht klar ist, ob sie irgendeinen Ursprung in irgendeinem realen Asien haben[,] […] mit abstraktem R’n’B und britischer Bassmusik“ 12 kein undialektischer Mix aus nur allerlei beliebigen Klangzeichen ganzer Hemisphären der Popmusik. Stattdessen evozieren diese Zeichen, wie es im Pressetext heißt, „fantasies of east Asia as refracted through pulpy Western pop culture, in particular, Hollywood, literary fiction, music, cartoons and advertising“. 13 So gesehen existieren diese Zeichen bei Al Qadiri überhaupt nur als solche: als Projektionen oder besser: als mittels Projektionen ästhetisch gegen sich selbst urteilende politics of sound. Damit lässt Al 11 Allein die in Reviews und Ankündigungen stets mitgenannten geografischen Stationen im Leben Al Qadiris lassen sich so deuten: Geboren im Senegal, aufgewachsen in Kuwait, Studium in New York City, lebt und arbeitet sie derzeit u. a. in Berlin. 12 Klaus Walter, „Review: Fatima Al Qadiri Asiatisch“, 2014. 13 http://fatimaalqadiri.com/music/fatima-al-qadiri/asiatisch/file/ about-asiatisch/. 43 Qadiri nicht nur „Kategorien des Primären in der Kunst kollabieren“ 14 – das tut auch Tropical House. Vielmehr verliert die Musik auch ihre politische Stellvertreterinnenrolle gegenüber dem angeeigneten Material, indem Formen der Aneignung ästhetisch Thema werden. Das heißt, es kollabiert hier zugleich auch die Vorstellung eines kulturellen Holismus, also die der Geschlossenheit von Kultur. Folglich handelt es sich auch nicht um kulturelle Appropriation im strengen Sinne, sondern um Musik über diese. Denn das Sampling, sprich: die musikalische Aneignung pop(ulär)kultureller Spuren von als ‚chinesisch‘ assoziierten kulturellen Mustern und Codes, suspendiert gerade die Idee einer einheitlichen Kultur des ‚Chinesischen‘, die es anzueignen gelte, und einen mit dieser Idee verknüpften imperialen Blick auf eine als absolut behauptete Alterität solcher Muster und Codes. Auch das Album Shaneera (2017), dessen Titel eine mispronunciation des arabischen Wortes „shanee’a“ – eine Slang-Bezeichnung für Queers – ist und laut Al Qadiri so viel bedeutet wie „evil queen“, vereint westliche DrumMachine- und Khaleeji-Rhythmen. 15 Die Lyrics sind zum Teil arabischen Drag-Comedies und Grindr-Chats entnommen und von Drag-Performer*innen aus Kuwait neu eingesungen. An die Seite der durch den massenkulturellen Fleischwolf gedrehten Projektionen westlicher Gesellschaften auf China gesellt sich mit Shaneera eine „Queer Arabic Dance Music“ 16 , die in ausdrücklicher Offensive zu sexistischen Ausschlüssen queerer Diedrich Diederichsen, „Sampling und Montage“, 2006, S. 393. Fatima Al Qadiri, in: Fatima Al Qadiri und Michelle Lhooq, „Fatima Al Qadiri on the Risks of Making Queer Arabic Dance Music“, 2017. 16 Ebd. 14 15 44 Personen (nicht nur) in den Golfstaaten antritt. Im Vergleich zu Chinesisch wählt Al Qadiri dazu aber den genau entgegengesetzten Weg: nicht den einer Dekonstruktion des Populären, also dessen, was bereits durchgesetzt ist, sondern den einer Popularisierung derer, die dem hegemonialen Wahrheitsregime der Idee einer kohärenten Geschlechtsidentität entgegenstehen und es dadurch verunsichern. Nicht derart, dass die von diesem Regime Unterdrückten dessen Abwertungen und Ausschlüsse in einfacher Negation überschreiten und damit lediglich in der Logik dieser Unterdrückung verbleiben, sondern dass sie diese Unterdrückung als solche explizieren und neu codieren. Genauer: Dass sie die Macht der Verführung als performatives Element nutzen, um Rechte gegenüber dem Publikum geltend zu machen und dadurch womöglich auch „außerhalb des Schutzraums der Ästhetik die Sicherheit […] [zu] [gewinnen], so drohen und versprechen zu können“. 17 Somit erweist der Appropriationsgedanke sich aus der Perspektive der evil queen als performativer Entwurf antiholistischer Subjektivitäten, die, mit Butler gesprochen, „Möglichkeiten eröffnen, die Begriffe der Verletzung gegen ihre verletzenden Zielsetzungen zu resignifizieren“ und damit „den Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit“ zu bestreiten. 18 Die Tatsache, dass dieser Entwurf bei Al Qadiri ebenso schillernd ist, wie der Sound, in dem er sich artikuliert, flach ist, lässt die autonomen, nicht von Notwendigkeit beherrschten Momente darin überwiegen oder zumindest als solche eindeutig erkennbar bleiben: als 17 18 Diedrich Diederichsen, Eigenblutdoping, 2008, S. 145. Judith Butler, Körper von Gewicht, 2014, S. 176 ff. 45 Nichtkäuflichkeit. Zwar ist auch der Widerspruch zwischen Form und Gegenstand, kulturindustriell gesprochen, käuflich. In der hier eigentümlichen Spannung aus Verführung und Zurückhaltung, Aufladung und Abkühlung stellt sich aber eine andere Art der Souveränität, der Autonomie ein: eine Öffnung auf die gelebten Verhältnisse außerhalb der Performance, durch die die Ökonomie des Auftritts allererst sichtbar werden kann. Eine andere Subjektivität Weshalb sind Popmusiker*innen wie Al Qadiri, wenn es um Fragen der Politizität von Kunst geht, im Kontext der bildenden Kunst derzeit (einmal mehr) so populär? 19 Möglicherweise deshalb, weil Popmusik genau im Zwischenbereich von Kunst und Politik angesiedelt ist, wie Diedrich Diederichsen einräumt: „Pop-Musiker sind bis zu einem gewissen Grad mit Rollen identifiziert, die wie Theaterrollen gebaut sind, zum anderen sind sie mit ihrer privaten Person identifiziert. […] Insofern sind Aussagen von Pop-Musikern weder Sprechakte, die unmittelbare Konsequenz in der Wirklichkeit verlangen (‚Auf zur Bastille!‘), noch sind sie ganz von der Konvention des Fiktionalen eingerahmt und damit politisch entschärft wie [die] des Schauspielers, der, wenn er ‚Feuer!‘ ruft, niemanden dazu bringt, das Parkett zu verlassen.“ 20 Die Politizität des Ästhetischen ist in der Popmusik also deutlich verbindlicher an die Reflexivität einer Neben ihren Konzerten u. a. im MoMA PS1, auf der Art Basel und im Wiener mumok wird Al Qadiri im sozialen Milieu der bildenden Kunst vielfach rezipiert. 20 Diedrich Diederichsen, in: Christoph Bartmann, Wenzel Bilger und Diedrich Diederichsen, „Musik und Politik“, 2014. 19 46 Sprecher*innenposition rückgebunden als beispielsweise in der high art. Umgekehrt ist das Als-ob der Kunst so viel zwingender als das der Popmusik, dass selbst dann, wenn Künstler*innen in ihrer Kunst als Person aufscheinen, dies immer Teil der reflexiven Logik von Kunst bleibt. 21 Die Konjunktur von Popmusik im Ausstellungs- und Rezeptionskontext der bildenden Kunst ist daher nicht nur eine des ästhetischen Formats (zum Beispiel des Liveacts) oder der personellen Überschneidungen (seien es Freundschaften, erotische Beziehungen oder „popbildnerische[]“ 22 Transfers), sondern auch eine der politischen Verbürgtheit ihrer Performer*innen für das, was sie ästhetisch tun. Man könnte auch sagen: eine Konjunktur der Authentizität. Und das selbst dann, wenn Authentizität bei Performer*innen wie Al Quadiri ausdrücklich den Gegenstand einer Kritik an okzidentalen und heteronormativen Originalitäts- und Ganzheitlichkeitsnarrativen bildet. Der Brecht’sche Einstellungswechsel auf das politische Außen der ästhetischen Erfahrung als Wesen dieser Erfahrung, der oben als Autonomie beschrieben wurde, ist so gesehen der Wiedergänger einer Autor*innenschaft, die längst für tot geglaubt wurde: „eine Form von Subjektivität, die gleichsam die lange Bahn der Entsubjektivierung durchlaufen hatte, um danach umso ‚subjektivierender‘ in Erscheinung zu treten“, 23 wie Christian Höller es nennt. Beispielhaft hierfür sind Jeff Koons’ „Made in heaven“-Serie, die zahlreiche Bilder und Skulpturen enthält, die ihn mit Ex-Partnerin Cicciolina beim Geschlechtsverkehr zeigen, oder Arbeiten von Tracey Emin (etwa ihre Selbstporträts oder ihre berühmte Installation ihres eigenen, ungemachten Betts). 22 Christian Höller, „Luftgitarren-Playback“, 2009, S. 51. 23 Ebd., S. 52. 21 47 Ohne ermächtigtes Künstler*innensubjekt, mit anderen Worten, keine politische (Selbst-)Ermächtigung. Es ließe diese Konjunktur des Authentischen in der Kunst – für die die Konjunktur popkultureller Formen des Sprechens ein Beispiel ist, die Kompensation politischer Forderungen durch Kunst ein weiteres – sich aber auch in Richtung einer Subjektkritik formulieren, die das Subjekt weder als rein strukturellen Effekt noch als immer schon autonome Instanz seines Handelns begreift. 24 Das subjektmetaphysische Label des Authentischen, sofern damit Widerspruchsfreiheit im Selbstwie im Weltbezug gemeint ist, gilt dann für diejenigen Sprech- und Lebensweisen gerade nicht, die den politischen Bezug auf je andere und anderes als Verantwortung für das einzelne Subjekt verstehen: als Selbstbestimmung im Licht der sozialen Voraussetzungen, die das Subjekt jeweils konstituieren, aber auch im weiteren Kontext einer Herrschaftskritik, die Gesellschaft als „nicht de[n] alleinige[n] Besitz einer bestimmten sozialen Gruppe oder eines einzigen Diskurses“ 25 herausstellt. Mehr als nur ein Rollenspiel Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass der Anspruch auf Authentizität meist auch an Theoretiker*innen herangetragen wird, jedenfalls dann, wenn sie als Wissenschaftler*innen verstanden werden; dass dieser Anspruch sich hier aber völlig anders äußert In der aktuellen Ausgabe von Texte zur Kunst wird eine so verstandene Subjektkritik im Hinblick auf die literarische Form der Autofiktion diskutiert. Vgl. hierzu v. a. Isabelle Graw und Brigitte Weingart, „Entre nous“, 2019. 25 Stuart Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation, 2004, S. 63. 24 48 als in der Popmusik. Während von Popmusiker*innen eine Aufspaltung in Person und Persona erwartet wird, wird Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Sprecher*innenrollen wechseln zu können, in der Regel abgesprochen. Mitunter ersetzt die selbstidentische Zuschreibung zu einer Disziplin sogar die notwendige Argumentationsarbeit: „Ich als Medienwissenschaftler …“ Die Authentizität der in ihrer fiktiven Rolle brillierenden, quasi naturgemäß gespaltenen Pop-Persona weicht hier einem Verständnis von Authentizität als kohärenter Ich-Identität, die zur Teilnahme an einer sozialen Praxis wie der akademischen allererst legitimiert. Im Medium der Selbstdarstellung inszenieren sich zwar beide. Als authentisch gelten Wissenschaftler*innen aber weniger in dem Sinn, dass sie ihre Rolle gut spielen (obwohl sie das gegebenenfalls tun), sondern dass sie ein scheinbar objektives, ihrer Person vorgängiges Vermögen verkörpern, mit dem sie zweifelsfrei identifiziert sind und das ihrem Sprechen Macht verleiht. Das ästhetische Verfahren der Aneignung ist hier also eines der sozialen Identität als Folge wissenschaftlicher Disziplinierung. Nicht selten droht solch disziplinäre (Selbst-)Bestätigung eine Reflexion auf die in einer jeweiligen sozialen Praxis, und das heißt eben auch: in der Theoriepraxis, sich artikulierenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzulösen. Damit weicht auch die für Kritik notwendige Politisierung beim Machen von Theorie einer Ideologie der narzisstischen Selbstbestätigung widerspruchsfreier Subjekte und durch sie hindurch agierender, vorgeblich mit sich selbst identischer Disziplinen. Im Sinne dieser Ideologie erscheint das Naturalisierende disziplinärer Sprech- und Lebensweisen von Wissenschaftler*innen dann nicht 49 als Effekt gesellschaftlichen Handelns, das als solches grundsätzlich veränderbar ist, sondern wird in seiner vermeintlichen (Vor-)Bestimmtheit als das Andere der Theorieproduktion nur umso verlässlicher bestätigt. Nun stellte das Sprengen tradierter Disziplingrenzen in Reaktion auf diese Situation lediglich so lange eine Intervention in herrschende universitäre Denk- und Vermittlungsmuster dar, mehr noch in ein disziplinäres Denken überhaupt, solange Interdisziplinarität nicht zur Währung diversitätsmanagerialer Anforderungsprofile avancierte. Nicht nur wurde auf diese Weise die Formoffenheit, die Theorie dadurch mit Kunst verband, als bildungspolitische Metanorm ästhetisch vereindeutigt, sondern in ihrem Namen zuweilen auch ein ‚Offenheiten‘ verwertender neoliberaler Kapitalismus als hegemoniekritisch gerechtfertigt: Disziplinen aller Art vereinigt euch, damit die Wissensbilanz stimmt! – Nicht die beste Voraussetzung für eine Arbeit an der Herrschaft. Das Wie der Theorieproduktion sollte vielmehr auf eine Weise in die Theorie selbst Eingang finden, dass bereits in der Beschreibung der gelebten Verhältnisse als umkämpft eine gegenhegemoniale Kritik an der Definitionsmacht bestimmter hegemonialer Diskurse über Gesellschaft und Kultur aufscheinen kann. Ganz im Sinne eines solchen (theorie)politischen Engagements entwickelte jene Linie in den britischen Cultural Studies, die auch Hall repräsentiert, eine, in Nora Räthzels Worten, „Perspektive des Eingreifens beim Betreiben von Theorie“. 26 Indem Hall sich Arbeiter*innen-, Jugendund Migrant*innenkulturen in Überschneidung mit bestimmten Herrschaftstechniken widmete, ermöglichte 26 Nora Räthzel, „Vorwort“, 2000, S. 5. 50 ihm dies eine Analyse der praktischen Normativität von Kultur. Die Grenze zwischen kritischer Praxis und kritisiertem Objekt wurde so zum Ausgangspunkt von Theorie, da diese ihrerseits in die Strukturen, die sie untersucht, eingelassen ist. Wenn Pop, wie festgestellt wurde, im Zwischenbereich von Kunst und Politik liegt, qualifiziert ihn das in besonderem Maße zu einer so verstandenen Theorie: Als Arena im Kampf um kulturelle Hegemonie ist er der Ort, an dem eine Öffnung auf alternative Formen der Vergesellschaftung möglich wird, politische Eindeutigkeit sich aber auch ästhetisch mehrdeutig äußern kann. Eine ästhetische Theorie, die sich um Deutungshoheiten nicht prügeln, sondern deren soziale Voraussetzungen explizit machen, ja sie womöglich verändern will, wäre hier gut beraten. 51 Elemente einer postkolonialen Genealogie der westlichen Ästhetik Ruth Sonderegger „Hey, Mister Backlash, Mister Backlash, Just who do you think I am […] You give me second class houses, Second class schools. Do you think that colored folks Are just second class fools? […] Hey, Mister Backlash, Mister Backlash, What do you think I got to lose? I’m gonna leave you, Mister Backlash, with the backlash blues“ (Nina Simone) 1 1. Zoom in. Von der Globalisierung im 18. Jahrhundert zum Fokus auf Kant Die folgenden Überlegungen 2 sind von der Hypothese getragen, dass die allmähliche Herausbildung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert Teil eines groß angelegten Selbstermächtigungsversuchs Der Song „Backlash Blues“ von Nina Simones Album Nina Simone Sings the Blues (1967) basiert auf einem der letzten Gedichte von Langston Hughes, das er kurz vor seinem Tod 1967 schrieb, nämlich „The Backlash Blues“, in: Langston Hughes, The Panther & the Lash. Poems of Our Times, 1992, S. 8. 2 Mittlerweile wurde eine ausgearbeitete Version dieses Vortrags unter dem Titel „Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten Kapitalismus. Ein Fragment zur Entstehung der philosophischen Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt“ (2018) veröffentlicht. 1 53 seitens des wohlhabenderen Bürgertums in Westeuropa ist. Im Zentrum dieses Versuchs stehen die schier unüberschaubaren Debatten über den Geschmack und wer ihn wie lernen kann. Logischerweise sind das auch Debatten darüber, wer für die Geschmackserziehung noch nicht oder überhaupt nie infrage kommt. Indem die philosophische Ästhetik mit dieser Aufteilung entsteht, ist ihre Geschichte eine der Gewalt – der potenzierten Gewalt. Denn die Formierung der westlichen Ästhetik dient auch dem Zweck, die gewaltvollen Entwicklungen des kolonial gestützten Kapitalismus, der sich damals von England aus auszubreiten begonnen hatte, aus der Perspektive seiner Profiteur*innen zu rechtfertigen. Das wiederum impliziert: Die philosophische Ästhetik ist weniger geniale Erfindung als vielmehr Re-Aktion. 3 Vor dem Hintergrund dieser Ausgangshypothese möchte ich im Folgenden zweierlei tun: Einerseits werde ich versuchen, in sehr groben Zügen die Verflechtung der im 18. Jahrhundert neuen philosophischen Disziplin mit den Entwicklungen des kolonial gestützten Kapitalismus zu skizzieren. Dabei werde ich diesen Kapitalismus nicht so sehr und sicher nicht ausschließlich als Wirtschaftsform, sondern als eine Vergesellschaftungs- und Lebensweise im Sinn des dirty capitalism verstehen. Ich übernehme dieses Konzept von der Sozialwissenschaftlerin Sonja Buckel. 4 Sie hat den Begriff 3 Zudem eignete sich, wie Simon Gikandi in Slavery and the Culture of Taste (2012) mit Bezug auf das englische 18. Jahrhundert gezeigt hat, der immer autonomer werdende Bereich der Kunst auch prima, um kolonial erbeutetes Geld durch Investitionen ins entstehende Kunstfeld reinzuwaschen – nicht selten karitativ verbrämt. 4 Sonja Buckel, „Dirty Capitalism“, 2014. 54 entwickelt, um jene im Tandem mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise entstandene Form der Vergesellschaftung zu beschreiben, die auf vielfältigen, gewaltsamen Trennungen entlang hierarchisierender Achsen beruht. Als solche Achsen sind nicht nur Kategorien wie race, class, gender oder ability zu verstehen, sondern etwa auch die Hierarchien zwischen Menschen und Tieren, belebter und unbelebter Natur wie vielleicht überhaupt das Denken in Identitäten. Andererseits möchte ich, was die interne Logik der philosophischen Ästhetik als eines Aufteilungsunternehmens betrifft, Elemente der Kolonialität herausarbeiten, und zwar exemplarisch an Kant. Die Gewalt der Kolonialität ins Zentrum zu stellen, ist mir wichtig, weil sie in Bezug auf die Disziplin der Ästhetik bislang viel weniger Aufmerksamkeit bekommen hat als beispielsweise die Klassenfrage; und zu gender-Implikationen der Ästhetikdiskussion im 18. Jahrhundert haben wir soeben einen Vortrag von Eva Kernbauer gehört. Auf Kant fokussiere ich, weil in der bestehenden Forschung über den Zusammenhang der Geschichte der Ästhetik mit der Kolonialität der deutschsprachige Diskurs bislang allenfalls am Rand behandelt wurde. Und dort wiederum, wo Kants Beitrag zu einem rassialisierenden Denken und Handeln diskutiert wird, 5 spielt seine Vgl. Robert Bernasconi, „Who Invented the Concept of Race? Kant’s Role in the Enlightenment Construction of Race“, 2001; Charles Mills, „Kant’s Untermenschen“, 2005; Charles Mills, „Kant and Race, Redux“, 2014. In der ersten Anmerkung dieses Aufsatzes gibt Mills einen Überblick über die englischsprachige Literatur zu Kant und dessen Beschäftigung mit ‚Rasse‘. Ein „Roundtable on Kant and Race“ mit Bernasconi und Mills, der 2015 an der New Yorker New School stattfand, findet sich online unter: https://www. youtube.com/watch?v=NJJ3cdIafBo. 5 55 Ästhetik kaum eine Rolle, sondern in erster Linie seine Anthropologie. 6 Mir geht es dabei nicht so sehr um Kant als eine besonders wichtige, erratische oder – wie manche meinen – geniale Einzelposition. Vielmehr sehe ich ihn als Teil eines Geflechts von akademischen und nichtakademischen Diskursen und Praktiken, in dem einzelne Positionierungen gleichwohl in der Verantwortung ihrer Verfechter*innen standen. 2. Kants Ästhetik als Scharnier und Zäsur im kolonialen Diskursgeflecht Die terminologischen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Urteilstypen im ersten Paragrafen der Kritik der Urteilskraft (1790) muten zunächst einmal wie terminologische Klärungen an. Doch damit ist die vielleicht entscheidende Zäsur, die Kant in der Entwicklung der Ästhetik – wirkmächtig, aber nicht als Erster, denn zum Beispiel Moses Mendelssohn und Karl Philipp Moritz hatten ähnliche Überlegungen publiziert – setzt, schon eingeführt: die absolute Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen. Denn mit der kategorialen Abgrenzung zwischen Erkenntnis, Moral und Ästhetik samt ihren jeweiligen Urteilsformen hat Kant im § 1 der Kritik der Urteilskraft nicht lediglich zwischen Urteilstypen differenziert. Vielmehr hat er damit die These aufgestellt, dass es Kants früher Text zur Ästhetik, nämlich seine Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), auf den ich gleich zurückkommen werde, wird von jenen, die sich mit Kants ‚Rassen‘Theorie beschäftigen, eher als Beitrag zur Anthropologie gelesen. Vgl. etwa David Bindman, Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century, insb. S. 151–189. 6 56 darüber hinaus keine weiteren Urteilstypen bzw. mit ihnen korrespondierende Wirklichkeitsbereiche gibt und dass die drei Bereiche nichts miteinander zu tun haben, sondern jeweils eigenen Logiken folgen – autonomen Logiken eben, die sich in Kants drei Kritiken spiegeln. Kant spricht zwar nicht von gesellschaftlichen Bereichen. Doch es dürfte offensichtlich sein, dass er mit der kategorialen Trennung zwischen drei Urteilspraktiken jener als Inbegriff der Modernität geltenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären zuarbeitet, deren Gegenteil fortan als Primitivität verhandelt wird. So deskriptiv – bzw. im transzendentalphilosophischen Sinn re-konstruktiv – Kant vorzugehen verspricht, so offensichtlich stellt er mit den beiden Charakteristika, die das ästhetische Urteil zum Ausdruck bringen sollen – Interesselosigkeit und Allgemeinheit –, eine Forderung auf: Er definiert eine neue Norm des Schönen, indem er den Begriff der ästhetischen Erfahrung so (eng) anlegt, dass fast nichts von dem, was bis dahin als schön galt, mehr Platz findet. Nicht nur wird das Schöne ins Subjekt verlagert und von allen bestimmbaren Eigenschaften eines Objekts abgetrennt. Das sinnliche Affiziert-Werden von einem Gegenstand, das den Begriff des Ästhetischen im Sinn der aisthesis bis dahin geradezu definiert hat – so auch noch in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) –, wird in der Kritik der Urteilskraft bedingungslos durchgestrichen. Wie der § 2 deutlich macht, geht es bei Kant in Sachen Schönheit nur darum, was ein Ich aus seiner Vorstellung eines Gegenstands „selbst mach[t]“, 7 und 7 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 2, S. 117. 57 nicht länger um ein passives Affiziert-Werden durch einen Gegenstand. 8 Es liegt auch auf der Hand, dass die Uninteressiertheit des ästhetischen Verhaltens außerordentlich voraussetzungsreich ist und viele de facto ausschließt; der Tatsache zum Trotz, dass Kant – formal gesehen – zunächst einmal alle Wesen, die über Einbildungskraft und Verstand verfügen, als zu ästhetischen Erfahrungen und Urteilen fähig erklärt. Denn ohne ökonomische Absicherung etwa, ohne Befriedigtheit der Grundbedürfnisse und ausreichend Freizeit ist die Haltung der Interesselosigkeit zumindest nur schwer einzunehmen. Im Licht der Tatsache, dass die von Kant postulierte Interesselosigkeit außerordentlich voraussetzungsreich ist, muss man sich schließlich auch fragen, ob dem von Kant konzipierten Ästhetischen nicht doch Zwecke zukommen; und zwar andere als jene, die es in der Systematik der Kant’schen Philosophie ohnehin hat: Das Schöne soll hier auf das Passen der Vernunft zur Empirie und das Erhabene auf die Moralität vernünftiger Wesen hinweisen. Ich meine Zwecke wie etwa die Erholung vom ökonomischen Konkurrenzkampf und die Ablenkung von unangenehmen ethischen und moralischen Fragen, die mit der Intensivierung der Sklaverei 8 Das ist der Punkt, an dem Kant sich von der englischen Tradition trennt, mit der er das Interesse an der Konzeptualisierung des ästhetischen Geschmacks (taste) teilt. Im Unterschied zu Kant behaupten seine englischen Kollegen von Joseph Addison bis David Hume auch einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten. Wenn Kant später in der Kritik der Urteilskraft auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten zurückkommt, unterstreicht er, dass mögliche moralische Effekte des Schönen nicht intrinsisch zu diesem gehören, sondern gewissermaßen parasitär sind. 58 und der kapitalistischen Ausbeutung gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer lauter gestellt wurden; kurz das, was später als Eskapismus und Kompensationsfunktion der Kunst bezeichnet wurde. Ein weiterer – zumindest impliziter – Zweck des Kant’schen Schönen besteht darin, in der Manier des Hautfarben-Rassismus hellhäutige Menschen von angeblich dunkleren zu trennen und die Letzteren unterzuordnen; und zwar mit dem Ziel, auf genau dieser Hierarchie das Konzept des zivilisierten, ja kosmopolitischen, zunächst einmal nur männlichen Subjekts des Westens aufzubauen. Die wohl offensichtlichste Ausschließung aller Schwarzen Menschen aus dem Bereich des Schönen findet sich in einem relativ frühen Text Kants zur Ästhetik, nämlich in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). 9 Dort heißt es unzweideutig: „Die N*s von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fodert [sic!] jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein N* Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter Hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts In der Kant-Forschung wird zwar meist ein großer Unterschied zwischen dem sogenannten kritischen Kant der drei transzendentalphilosophischen Kritiken und dem vorkritischen gemacht. Gerade in Sachen rassialisierender oder sexistischer Ausschlüsse aus dem Reich des reinen ästhetischen Urteils ändert sich Kants Position durch seine gesamte Karriere hindurch aber kaum. Zwar spielt die Frage der ‚Rasse‘, die Kant in seinen Vorlesungen mehrmals ausgiebig behandelt, in der Kritik der Urteilskraft nur an wenigen Stellen eine Rolle. Gleichwohl wird die Fähigkeit zum reinen ästhetischen Urteil, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, weiterhin durch einen Bildungsmechanismus so künstlich wie gewaltvoll verknappt, indem sie nur jenen zugebilligt wird, die Teil der „auf den höchsten Punkt gekommene[n] Zivilisierung“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 41, S. 230) sind. 9 59 verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe […].“ 10 Diese Sätze sind fast wörtlich aus Humes Abhandlung „Of National Characters“ abgeschrieben. Aber das macht sie keineswegs weniger falsch. „Herr Humes“ These von der Unmöglichkeit Schwarzer Dichter und Denkerinnen, auf die sich Kant stützt, geht auf eine Auseinandersetzung über den jamaikanischen Dichter Francis Williams zurück. Es war eine Debatte darüber, ob Francis Williams, der vom Duke of Montagu im Rahmen eines Experiments über die geistigen und ästhetischen Fähigkeiten Schwarzer Menschen zum Studium nach England geschickt worden war, durch die englische Bildung ein echter Dichter geworden war, wie die meisten Zeitgenoss*innen meinten, oder nur Verse in Schullatein reproduzieren konnte. David Hume schlug sich in dieser Debatte auf die Seite von einem der wohl krassesten Leugner von Williams’ ästhetischen Fähigkeiten, nämlich auf die eines Vertreters der Plantagenaristokratie auf Jamaika: David Long. 11 Zur Widerlegung der These von der Unmöglichkeit Schwarzer Künstler*innen könnte man auch auf die Schriftstellerin Phillis Wheatley (1753–1784) verweisen. Die 1753 in Gambia geborene Wheatley 10 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1993, S. 70 f. 11 In einer berühmt gewordenen Fußnote seines Aufsatzes „Of National Characters“ (1742) schreibt Hume: „In Jamaica, indeed, they talk of one Negro as a man of parts and learning; but it is likely he is admired for very slender accomplishments, like a parrot, who speaks a few words plainly.“ In: David Hume, Essays. Moral, Political, and Literary, 2006, S. 213. 60 wurde mit sieben Jahren auf einem Sklavenschiff nach Boston deportiert und dort von einem Kaufmann namens Wheatley ersteigert, der ihr den Namen des Sklavenschiffs gab, auf dem sie verschleppt wurde: Phillis. Obwohl versklavt, ließ er ihr den Unterricht der eigenen Kinder zukommen. Wheatley sprach in kürzester Zeit Latein und Griechisch und begann Gedichte zu schreiben. Gedichte schreiben musste sie auf Geheiß ihrer Besitzer, des Ehepaars Wheatley, sodann auch in exotisierenden öffentlichen Performances. Denn offenbar war der Spektakelwert einer Schwarzen Schriftstellerin, die antike Versmaße beherrschte, riesig. 12 Noch versklavt erschien von ihrer Hand das erste Buch einer afroamerikanischen Schriftstellerin und wurde in den USA sowie in London ein großer Erfolg und wichtiges Beweismaterial für die Kampagne der abolitionistischen Bewegung. Nicht zuletzt ließen die zukünftigen englischen Romantiker*innen sich von ihr vielfältig inspirieren. Kant hat von Wheatley möglicherweise durch seine wichtigsten Freunde in Königsberg, die schottischen Unternehmer Joseph Green und Robert Motherby, gewusst, die zwischen London und Königsberg pendelten, als Wheatley ein Star der Londoner Szene war. Ganz sicher aber musste die afroamerikanische Schriftstellerin Kant in Johann Friedrich Blumenbachs (1752–1840) Schrift Beyträge zur Naturgeschichte begegnet sein. Denn nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant an Blumenbach, wie wichtig diese Schrift für das Verfassen der dritten Kritik gewesen sei. 13 Vgl. Rochelle Raineri Zuck, „Poetic Economics: Phillis Wheatley and the Production of the Black Artist in the Early Atlantic World“, 2010. 13 John C. Shields, Phillis Wheatley and the Romantics, 2010, insb. das 5. Kapitel mit dem Titel „Kant and Wheatley“, S. 85–95. 12 61 Damit kehre ich zur Kritik der Urteilskraft zurück, in der der Ausschluss angeblich nichtweißer Menschen aus dem Universum der Ästhetik zwar deutlich subtiler ausfällt als in Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, aber nicht verschwindet. Im Gegenteil. Trotz der Transzendentalisierung seiner Überlegungen bleibt Kant seinem früheren Text in Sachen Ausschluss befremdlich nahe; und auch Humes Verdikt. Der Tatsache zum Trotz, dass Kant den Hume’schen Empirismus ebenso ablehnte wie auch dessen typisch englische These vom intrinsischen Zusammenhang zwischen dem Ästhetischen und dem Moralischen. Was beide jedoch teilen, ist eine ästhetische Theorie der zivilisatorischen Sensibilisierung, die die Quadratur des Kreises ermöglicht: Die These von der universellen Fähigkeit zum ästhetischen Erfahren und Urteilen – Hume spricht vom universell gegebenen standard of taste, Kant vom ästhetischen Urteilen – wird vereinbar mit der Auffassung, dass es nur wenige Auserwählte sind, die tatsächlich ästhetisch urteilen können. So schreibt Hume in „Of the Standard of Taste“: „[A]nd hence a true judge in the finer arts is observed, even during the most polished ages, to be so rare a character.“ 14 Wie fragil die gleichwohl immer wieder behauptete Universalität des Geschmacks in Kants dritter Kritik ist, zeigt bereits der § 2. Dort behauptet Kant scheinbar ganz nebenbei als Selbstverständlichkeit, dass der „Irokesische Sachem“ sich nur für die Gaumenfreuden – konkret die Garküchen in Paris – interessiere, und legt damit nahe, dass er zum uninteressierten ästhetischen Verhalten bzw. zu Urteilen über das Schöne nicht in der 14 David Hume, „Of the Standard of Taste“, 2006, S. 247. 62 Lage ist. An einer späteren Stelle der Kritik der Urteilskraft werden Irokesen – zusammen mit den Bewohner*innen der Karibischen Inseln – grundsätzlich auf die niedrigste Stufe der sogenannten Zivilisation gestellt. 15 Das geschieht im Rahmen von Kants Suche nach einem Prinzip, das die Allgemeinheit des ästhetischen Urteils trotz der Tatsache, dass es ein subjektives ist, absichern soll. Zunächst scheint diese Allgemeinheit garantiert, sofern in der ästhetischen Erfahrung nichts anderes als das Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand am Werk ist, über die alle denkenden Wesen verfügen. Aber, so fragt Kant: Wie kann das urteilende Subjekt dafür sorgen, dass sich in seine Lust tatsächlich keine materiellen Aspekte und Interessen gemischt haben, sondern nur das eine Rolle spielt, was alle denkenden Wesen teilen – nämlich Einbildungskraft und Verstand? Kant zufolge kann diese Allgemeinheit nur durch den sensus communis sicher verbürgt werden; das heißt mittels der Fähigkeit, das eigene Urteil so mit Bezug auf mögliche versteckte Interessen zu testen, dass ich mich als Urteilende an die Stelle aller anderen vernünftigen Wesen versetze und die schöne Dem „Stellenkommentar“ der Ausgabe der Kritik der Urteilskraft im Deutschen Klassiker Verlag von Manfred Frank und Véronique Zanetti (2009, S. 1331) zufolge bezieht sich Kant hier auf eine Schrift des Jesuitenpaters François Xavier Charlevoix (1682-1761). David Kazanijan schreibt in einer Diskussion der beiden Stellen, an denen in der Kritik der Urteilskraft Irokesen auftauchen: „[T]he Iroquois were represented in Dutch, French, British, and U.S. colonial discourses as a politically savvy and militarily brutal empire. This dual interpretation of the Iroquios as a politically advanced federation but a socially barbaric or underdeveloped people persists with remarkable consistence, continuing to appear in the twentieth century […].“ David Kazanjian, The Colonizing Trick. National Culture and Imperial Citizenship in Early America, 2003, S. 156. 15 63 Vorstellung aus deren Perspektive wahrnehme bzw. beurteile. Erst mit diesem Test des sensus communis, den Kant mit Geschmack und Zivilisiertheit gleichsetzt, ist das kosmopolitische Subjekt der westlichen Moderne vollkommen. Nicht ohne Grund wird Hannah Arendt diese ästhetisch eingeführte Fähigkeit zum Kern ihrer politischen Philosophie machen, ohne jedoch die kantischen Abgründe dieses Gemeinsinns auch nur zu erwähnen. 16 Zwar lässt Kant zunächst noch offen, ob der sensus communis angeboren ist oder gelernt werden muss, wenn er im § 22 der Kritik der Urteilskraft schreibt: „[O]b also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei […]: das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen.“ 17 Doch später, im § 41, spricht er sich klar dafür aus, dass der sensus communis, von dem letztlich die gesamte ästhetische Urteilskraft abhängt, zwar in allen vernunftbegabten Wesen angelegt ist, aber der Bildung bzw. Zivilisierung bedarf. Und in ebendiesem Bildungs- und Zivilisierungskontext tauchen auch die Irokesen wieder auf, und zwar auf der untersten Stufe der Zivilisation. Denn Kant schreibt: „[U]nd so werden freilich anfangs nur Reize, z. B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den Karaiben und Zinnober bei den Irokesen), oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen (als an Kanots, Kleidern, u. s. w.), die gar kein Vergnügen, d. i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen, in der Gesellschaft wichtig […]: bis 16 Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, 1985, insb. S. 92–103. 17 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 22, S. 159 f. 64 endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht […].“ 18 Einer solchen sogenannten Stadientheorie der Zivilisation zufolge können zumindest prinzipiell alle Menschen für den sensus communis sensibilisiert werden, wenngleich sie dafür unterschiedlich viel Zeit benötigen. Doch dies ist lediglich der Auftakt zu Kants abschließender und viel krasser ausschließenden Bemerkung über den sensus communis im § 42. Dort heißt es: „[E]rstlich ist dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist.“ 19 Damit stellt Kant nichts anderes als die Behauptung auf, dass manche Menschen prinzipiell für das Erlernen des sensus communis unempfänglich sind und somit unfähig, ästhetisch zu erfahren und zu urteilen. Diese Fähigkeiten sind also alles andere als selbstverständlich oder gar universell, sondern letztlich eine Auszeichnung, die das Bürgertum samt seinen Intellektuellen im 18. Jahrhundert für sich reklamiert. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den unteren Klassen, die noch sensibilisiert werden müssen, sowie gegenüber dem kolonialen Außen, das nur teilweise für die Pädagogik der Zivilisierung infrage kommt. Genau an dieser Stelle setzt kurz nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft Schillers Manifest zur ästhetischen Erziehung in einer Reihe von Briefen an, 20 Ebd., § 41, S. 230. Ebd., § 42, S. 234. 20 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 1979. 18 19 65 das meist als eines der Emanzipation von der entfremdenden Arbeitsteilung hin zur politischen Freiheit mit den Mitteln der Kunst gelesen wurde. Erlösung bringt bei Schiller bekanntermaßen ein ästhetischer Spieltrieb. Denn während die Menschen das wahre Spiel noch lernen müssen, ist es im Bereich der schönen Künste in den Augen Schillers schon realisiert. Eben deshalb kann das Schöne zum entscheidenden Vorbild des neuen und freien Menschen werden. Allerdings ist diese Freiheit Schiller zufolge ein Ideal, das Menschen in absehbarer Zeit nicht erreichen, sondern nur anstreben können. Es geht im Lauf der Briefe zur ästhetischen Erziehung auch immer deutlicher nur mehr um den Bildungsprozess weniger Auserwählter und nicht länger um die politische Freiheit für alle. Potenziert durch die massive Rezeption Schillers im Schulbereich beginnt damit die breitenwirksame Einübung des bürgerlichen Subjekts in einen Habitus des unterwürfigen Strebens und Perfektionierens, dessen ästhetisches Ziel nie erreicht wird – bis hin zum gegenwärtigen Imperativ, lebenslang zu lernen. 21 Das Emanzipations- bzw. Aufstiegsversprechen der ästhetischen Erziehung sorgt zugleich dafür, dass die Ausschlüsse, die dieser Subjektivierungsweise innewohnen, als Ausnahmen von der Regel im Hintergrund bleiben oder völlig unsichtbar gemacht werden. 3. Ausblick in die Gegenwart Mein Fazit aus dem zugegebenermaßen viel zu lückenhaften Blick in die Geschichte lautet: Philosophische Ästhetik, wie sie von Kant äußerst wirkmächtig formuliert wurde, ist in ihrem Fundament – dem sensus communis – 21 Vgl. Ian Hunter, „Aesthetics and Cultural Studies“, 1992. 66 auf Superioritätsdenken, Ausschluss und Trennung angelegt: zwischen Subjekten, die Geschmack und damit das Vermögen des sensus communis bereits besitzen – aber auf stets noch perfektionierbare Art; solchen, die den Geschmack prinzipiell lernen können; und solchen, für die auch Letzteres nicht infrage kommt. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den niederen Klassen und Geschlechtern, die noch geschult werden müssen, wie gegenüber dem kolonialen Außen, das zumindest in Teilen im Zustand der Nichtzivilisiertheit verbleiben soll. Damit steigt die Gefahr, dass aus dem sensus communis, dem Vermögen, sich in die Position aller anderen zivilisierten Wesen versetzen zu können, die Zementierung eines Zirkels von Eingeweihten wird. Da, wo der Übergang zwischen weniger und mehr Zivilisation konzeptualisiert wird, wie etwa bei Schiller, gibt es eine Tendenz, die Übenden im Zustand des Übens zu halten, sodass das ästhetische Zivilisierungsunternehmen zum nicht nur ausschließenden, sondern auch die Eingeschlossenen disziplinierenden Selbstzweck wird. Meine Diagnose der abgründigen Grundlegung der westlichen Ästhetik zielt also nicht nur auf die Beispiele Kants. Sie betrifft auch den systematischen Kern der Kritik der Urteilskraft. Dieser Abgrund kann nicht dadurch überwunden werden, dass die ästhetische Gemeinschaft (der Theoretiker*innen) sich einfach vornimmt, in Zukunft tatsächlich die Perspektiven aller möglichen Marginalisierten zuzulassen, weil sie in den universalistischeren Bemerkungen Kants mitgemeint seien; einmal ganz abgesehen davon, dass Westeuropäer*innen das bis heute nicht wirklich gelungen ist. Denn wie wir anschließend im Vortrag von Sofia Bempeza hören werden, 67 schwankt die westliche Kunstgemeinschaft immer noch zwischen Exotisierung und Bevormundung und verkauft dies auch noch als ein „Lernen von den anderen“. Die Herausforderung besteht meines Erachtens vielmehr darin, sich gegen alle derartigen Schlussstriche ebenso zu wehren wie gegen den ewigen Aufschub von Alternativen durch ästhetische Erziehungsprogramme für die angeblich Zurückgebliebenen, die dann Schulungen für die Zurückgebliebenen aufgedrückt bekommen; „second class schools“ für „second class fools“, wie Nina Simone – Langston Hughes zitierend und mit ihm und der Civil Rights Bewegung gegen Rassismus protestierend – 1967 singt. Denn genau dann, wenn der Anspruch erhoben wird, (universalistisch-perfektionistisch) alles richtig zu machen – sich in die angeblich Andere nicht nur versetzt, sondern sie tatsächlich selbst sprechen gelassen zu haben –, ist die Gefahr des Ausschlusses am größten; eben weil – wie man unter anderem von Jacques Rancière lernen kann – jene, die Teil dieser vermeintlich perfekten ästhetischen Gemeinschaft sind, meist gar nicht wissen, wie und was sie alles ausschließen und durch wen hindurch sie Schlussstriche ziehen. Das führt allenfalls zur, wie man mit Sara Ahmed sagen könnte, non-performativity 22 von Inklusion und Diversität im Kunstfeld: zu Gutwörtern ohne emanzipatorische, dafür aber mit genial versteckten ausschließenden Folgen. Über Alternativen zu diesem immer noch weit verbreiteten Verständnis von philosophischer Ästhetik, ästhetischer Bildung und Emanzipation wird nun Ines Kleesattel sprechen. Sara Ahmed, „Declarations of Whiteness: The Non-Performativity of Anti-Racism“, 2004. 22 68 Vom sensus communis zu den Dirty Aesthetics Für eine entgrenztere Theoriepraxis Ines Kleesattel Der Ausgangspunkt dieses Beitrags, der für eine Verunreinigung des sogenannten sensus communis und dessen Überführung in die Dirty Aesthetics plädieren wird, ist ein doppelter: Einerseits geht es mir um eine Verteidigung des epistemischen und ethischen Potenzials, das solche Gegenwartskunst, die sich unter anderem als „entgrenzt“, „recherchebasiert“ und „wissensproduzierend“ beschreiben lässt, zuweilen besitzt. Verbunden damit möchte ich andererseits eine Kritik am Reinheitsideal einer ursprünglich Kant’schen und bis heute wirkmächtigen Ästhetik der subjektiven Erfahrung formulieren. Denn in einer bestimmten Spielart der Kunstphilosophie erwachsen aus dieser Ästhetik apodiktische Definitionen von ‚guter Kunst‘ und einer ihr entsprechenden Rezeptionsweise, die ich für vollkommen untauglich halte, um dasjenige zu fassen, was Einzelfälle von zeitgenössischer Kunst im besten, glückenden Fall heute ermöglichen können: nämlich adäquates und relevantes Erkennen von komplexen globalen Verflechtungen. Im Einspruch gegen eine ästhetische Theorie, die an der Abspaltung von Ästhetik, Erkenntnis und Ethik bzw. Politik festhält, werde ich im Folgenden von Kant über Arendt zu Haraway den Weg in Richtung einer entgrenzten ästhetischen Theoriepraxis skizzieren, die Gegenwartskunst nicht auf eine eng gefasste Erfahrungsästhetik verpflichten muss und die keine Angst vor 71 Bastardisierungen hat. Mut zur Entgrenzung bedeutet dabei nicht zwangsläufig, alles ad acta zu legen, was Kunstautonomie einmal versprach. Im Gegenteil: Was Adorno den Verzweckung, Positivismus und Identifizierung widerstehenden „Erkenntnischarakter der Kunstwerke“ nannte, 1 könnte in den Dirty Aesthetics eine Reaktualisierung erfahren. Dementsprechend ist es mir hier nicht um eine generelle Nobilitierung der künstlerischen Wissensproduktion im Kollektivsingular zu tun. Angesichts der enormen Diversität von Formaten und Praktiken, die „Kunst“ und/oder „Wissen“ genannt werden, halte ich allgemeingültige Aussagen über das Verhältnis von beidem für weder sinnvoll noch möglich. Und selbstverständlich ist mir bewusst, dass an Bezeichnungen wie „Artistic Research“, „forschender“, „recherchierender“ oder „wissensproduzierender“ Kunst usw. erhebliche disziplinäre und ökonomische Interessen haften. Aber gerade angesichts von kognitivem Kapitalismus und Bologna-Bildungspolizei wäre es fatal, die Möglichkeit zu verschenken, in der Begegnung mit Kunst unter Umständen doch etwas darüber zu erfahren, „was nötig ist, damit […] die Beteiligung an der Wissensproduktion nicht unmittelbar einem verwertungslogischen Denken der Selbstoptimierung anheimfällt“. 2 Translokal agierende Künstler*innen wie Maria Thereza Alves, Amar Kanwar, Antje Majewski, knowbotiq oder Judith Raum involvieren in ihre Recherchearbeiten breit gefächerte Methoden, diverse Medien und heterogene (menschliche wie nichtmenschliche) Beteiligte. An geografisch 1 2 Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), 2009, S. 327. Elke Bippus, „Teilhabe am Wissen“, 2016. 72 konkreten Orten und in spezifischen Situationen suchen sie Begegnungen, spüren ihnen nach, hören zu, zeichnen auf. So bergen sie latente Wissen unterschiedlichster Provenienz, die sie in Installationen und Videoessays zu Konstellationen aus multiplen Körpern, Perspektiven und Stimmen fügen. Auf diese Weise werden multidimensionale Verflechtungen der (post)kolonialen Geschichte und globalisierten Gegenwart polyphon verhandelt, ohne dass sich explizite und „implizite“ Wissen dabei voneinander ablösen ließen. Vielmehr erlauben die aus Feld-, Archiv- und Materialitätsforschungen stammenden Wissen erst innerhalb der konstellativen Wechselbeziehungen von Materiellem und Diskursivem, Assoziativem, Imaginativem und Sensuellem ein Erkennen von „unterworfenen Wissen“ im Sinne Foucaults; also ein Vernehmen sowohl von „historische[n] Inhalte[n] […], die verschüttet, in funktionalen Zusammenhängen oder in formalen Systematisierungen verschleiert wurden“, als auch von „eine[r] ganze[n] Reihe von Wissensformen, die sich als nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgearbeitetes Wissen, […] als Wissen unterhalb des Niveaus der Erkenntnis oder der erforderlichen Wissenschaftlichkeit disqualifiziert fanden“. 3 ‚Gute Kunst‘, Subjekt und sensus communis Ungeachtet solcher künstlerischer Arbeiten, unterworfener Wissensformen und der sie begleitenden kunstkritischen Diskurse konstatieren Christoph Menke und Alexander García Düttmann: „Kunst produziert keine Wissensformen“ und „Die Kraft der Kunst besteht nicht Michel Foucault, „Vorlesung vom 7. Januar 1976“, 2003, S. 217 u. 218. 3 73 darin, Erkenntnis, Politik oder Kritik zu sein“. 4 Was ‚gute‘ Kunst auszeichnet (bzw. überhaupt Kunst, die ihren Namen verdient), ist ihnen zufolge eine erkenntnisferne, subjektiv zu erfahrende „Unbestimmtheit“, „Kraft“, Teilnahme am „schöpferischen Akt“ und „gefühlte Intensität“. „Man verweilt, empfindet Lust, ohne etwas zu erkennen oder zu wissen“, 5 lautet Düttmanns Beschreibung dessen, wie sich ‚gute Kunst‘ unter Beweis stellt. Solche Begegnungen mit intensiver, kraftvoller Kunst sind also vor allem durch Begriffsferne und Urteilslosigkeit geprägt; bzw. basiert dasjenige ästhetische Urteil, das selbst auszusprechen die Philosophen nicht schüchtern sind, auf der Erfahrung einer (wie Menke es nennt) „Aporie des Urteilens“, in der „das urteilende Subjekt sich selbst unerträglich“ wird. 6 Oder noch einmal anders gesagt: Das ästhetische Urteil „läuft auf Hochtouren leer“. 7 Deutlich wird hier eine Theorietradition fortgeschrieben, die erstens auf der disziplinären Abspaltung der Ästhetik von Erkenntnis und von Ethik bzw. Politik basiert und zweitens ästhetische Autonomie als die außergewöhnliche Erfahrungsform eines primär selbstreflexiven Subjekts bestimmt. Mit nicht unerheblicher Diskursmacht verlängert derartige Kunstphilosophie Kants Ästhetik der subjektiven Autonomieerfahrung in den Bereich heutiger Kunstrezeption. Das Subjekt dieser Ästhetik ist bekanntlich kein empirisches Individuum, sondern das transzendentale Subjekt, das heißt „der Mensch“ im Generellen unter 4 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 82; Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 11. 5 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 52. 6 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, 2013, S. 78. 7 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 43. 74 Absehung von aller soziohistorischer Partikularität. Und genau hierin liegt das Problem. Ruth Sonderegger hat in ihrem Beitrag 8 bereits deutlich gemacht, wie wenig neutral die Kant’sche Ästhetik ist; dass etwa seine Gegenüberstellung eines „reinen Geschmacks“ des interesselosen Wohlgefallens einerseits und eines von weltlichen Interessen verunreinigten „barbarischen Geschmacks“ andererseits auf spezifische Weise soziohistorisch verortet ist: im Zusammentreffen von europäischer Aufklärung und Kolonialismus, das die Gewaltherrschaft weißer Europäer*innen philosophisch legitimationsbedürftig machte. Zudem bedarf es noch nicht einmal einer globalhistorischen Kontextualisierung, um wahrzunehmen, dass interesseloses Wohlgefallen nur unter sehr privilegierten Bedingungen möglich wird und seine Verknüpfung mit sogenannter ‚Hochkultur‘ der sozialen Distinktion dient – Pierre Bourdieu stellte dies vor mehr als drei Jahrzehnten unter Beweis; und verwandte Exklusionsmechanismen werden auch in der Gegenwart von Soziolog*innen noch empirisch belegt. 9 Für Kant und seine Nachfolger*innen stellt sich – unter Absehung von historischen und soziologischen Spezifiken – immerhin das Problem, dass der transzendentalphilosophisch begründete, allgemeine Geltungsanspruch des „reinen Geschmacks“ im Widerspruch zur empirisch beobachtbaren Divergenz von Geschmäckern steht. Kant sichert die Kompatibilität von Subjektivität und Allgemeingültigkeit des reinen Geschmacks bekanntlich über den sensus communis (oder Gemeinsinn). Siehe Ruth Sondereggers Beitrag in diesem Band. Vgl. dazu Heike Munder und Ulf Wuggenig, Das Kunstfeld, 2012, sowie Philippe Saner, Sophie Vögele und Pauline Vessely, Art.School. Differences, 2016. 8 9 75 Dieser garantiert, dass mein Geschmacksurteil – zum Beispiel „Das ist gute Kunst“ – zu Recht auf die Zustimmung anderer abhebt und nicht bloß partikulare Privatmeinung sein will. „Dieses geschieht nur dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert […].“ 10 Der sensus communis als Bildungs(bürger*innen)norm Auf die von Kant im § 21 der Kritik der Urteilskraft gestellte Frage, ob „man mit Grund einen Gemeinsinn voraussetzen könne“, antwortet Jens Kuhlenkampf erfrischend direkt mit: „Nein! Man kann keinen Gemeinsinn (als Übereinstimmung aller) voraussetzen, denn es gibt keinen, ebensowenig übrigens, wie es gemeinen Verstand oder gemeine Menschenvernunft als geteilten Schatz von Meinungen und Einstellungen einfach so gibt, da sie sich vielmehr nur als ein bestimmter Beurteilungsstandpunkt erwiesen haben, den man einnehmen kann oder auch nicht.“ 11 Kant allerdings kann trotz kontrafaktischer Voraussetzungen dennoch einen sensus communis annehmen, weil er diesen als „eine bloße idealische Norm“ vorstellt – Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 40. Jens Kuhlenkampf, „Vom Geschmacke als einer Art sensus communis“, 1995, S. 45. 10 11 76 die nicht besagt, dass jede und jeder „mit unserem Urteil übereinstimmen werde, sondern damit zustimmen solle“. 12 Deshalb, so Kuhlenkampf, sei der sensus communis Name eines Ideals, „das erst noch zu realisieren ist“. „Die ‚Einhelligkeit der Sinnesart‘ in ästhetischen Kontexten ist nichts, was schon zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehört, sondern etwas, das in einem kulturellen Bildungsprozeß der Menschen allererst hervorzubringen ist […].“ 13 Kuhlenkampfs Interpretation des sensus communis rückt damit in die Nähe von Shaftesburys common sense, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts zum missionarischen Imperativ einer ästhetischen Bildung wurde, die Waisenkinder aus Londoner Elendsvierteln mittels Kunst zu bürgerlich wertvollen Gesellschaftsmitgliedern machen sollte. Carmen Mörsch hat grundlegend aufgearbeitet, wie die karitativ auftretende Kunstvermittlung im damaligen England dezidiert als paternalistische Inklusionsmaßnahme befördert wurde, unter anderem um drohenden Armenaufständen vorzubeugen. 14 Auch in der Gegenwart laufen Kunstvermittlung wie Vermittlungskunst mit der Adressierung von sogenannten ‚Randgruppen‘ Gefahr, im Gewand inkludierender Emanzipation als bildungsbürgerliches Missionsprojekt zu fungieren. Kritische Kunstvermittler*innen wie Mörsch oder Nora Sternfeld argumentieren angesichts dessen jedoch, die Antwort auf drohenden Paternalismus könne nicht sein, sämtliche Einladungspolitiken aus der kulturellen Bildung zu verbannen. Stattdessen müsse es viel Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 22. Jens Kuhlenkampf, „Vom Geschmacke als einer Art sensus communis“, 1995, S. 46. 14 Carmen Mörsch, Die Bildung der Anderen mit Kunst, 2017. 12 13 77 eher um eine differenzsensible Arbeit mit und in Ambivalenzen gehen und um Perspektivwechsel, die zu streitenden Auseinandersetzungen über ästhetische Definitionsmacht führen. Eine ästhetische Theorie, die diesen verstrickungsbereiten Faden aus der kulturellen Bildung aufzunehmen bereit wäre, hätte die idealistische Norm des sensus communis so zu reformulieren, dass der sensus communis nicht länger für Einsinnigkeit, sondern vielmehr für Polyphonie und Dissens stünde. sensus communis revised Mit Kants Transzendentalphilosophie ist das freilich nicht zu machen; mit Hannah Arendts eigenwilliger, quer zur Scheidung von Ästhetik, Politik und Erkenntnis liegender Kant-Interpretation allerdings schon. Denn Arendt hält Kants sensus communis für „das politischste unter den geistigen Vermögen“, da er die Fähigkeit sei, „die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern aus der Perspektive aller anderen, die ebenfalls präsent sind, zu sehen“, und somit die „Grundfähigkeit, die den Menschen erst ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt zu orientieren“. 15 Intersubjektivität wird bei Arendt folglich nicht wie bei Kant durch intrasubjektive Abstraktion hergestellt. Vielmehr verweist die Intersubjektivität des sensus communis ihr zufolge sowohl auf die Relationalität zwischenmenschlicher Bezugnahmen als auch auf das weltlich-objektive „Zwischen“, das alle weltlichen Wesen gleichermaßen miteinander verbindet wie trennt. „Das Urteil entspringt hier [in der Ästhetik wie in der Politik, I. K.] der Subjektivität eines 15 Hannah Arendt, „Kultur und Politik“, 2012, S. 299. 78 Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standpunkt hat, eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns gemeinsam ist. Im Geschmack entscheidet sich, wie die Welt qua Welt, unabhängig von ihrer Nützlichkeit und unseren Daseinsinteressen in ihr, aussehen und ertönen, wie sie sich ansehen und anhören soll. Der Geschmack beurteilt die Welt in ihrer Weltlichkeit […].“ 16 Damit ist der sensus communis nicht nur eine politische Fähigkeit, sondern auch von besonderem epistemischen Wert. Arendt nennt ihn die intersubjektive Fähigkeit, „Besonderheiten zu beurteilen, ohne sie unter jene allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können“; 17 für sie ist entscheidend, dass der sensus communis über individualistische Subjektivität hinausführt, ohne auf universalistische Wahrheit abzuheben. Im Gegensatz zu weltabgewandter Metaphysik wie auch zu despotischem Rationalismus erlauben Politik und Kultur ein Miteinander-Begutachten der gemeinsam-geteilten Welt sowie Entscheidungen über deren weitere ästhetische und politische Verfasstheit. Arendt spricht in diesem Zusammenhang von Meinungsbildung – womit sie eine Neubewertung des philosophiegeschichtlich diskreditierten Begriffs der Meinung vornimmt: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so Ebd., S. 300. Hannah Arendt, „Über den Zusammenhang von Denken und Moral“, 2012, S. 155. 16 17 79 mit repräsentiere. […] Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht, und desto qualifizierter wird schließlich […] meine Meinung sein.“ 18 Arendts Argumentation scheint mir ein produktiver Durchgangspunkt zu sein, um zu einer ästhetischen Theorie zu gelangen, die der epistemisch-ethischen Relevanz von entgrenzter Gegenwartskunst gerechter werden könnte, als dies eine universalistisch-subjektive Erfahrungstheorie vermag. Von Arendt aus weiterdenkend lässt sich der sensus communis nämlich so vorstellen, dass er auf der empirischen Pluralität ästhetischer Alltagspraktiken basiert, ohne dabei einem unkritischen Positivismus anheimzufallen. Im Sinne der (Birminghamer) Cultural Studies könnte dieser sensus communis auf der Heterogenität divergierender Perspektiven, Rezeptionen und Erfahrungen gründen; er könnte ein Weltwahrnehmen ermöglichen, das sich jenseits der Dualismen von richtigem versus falschem Bewusstsein oder Ästhetischem versus Begriffslogischem am graduelleren, differenzierteren Kriterium einer nichtreduktionistischen Komplexität orientiert. Auch bei Arendt garantiert Perspektivenpluralität, dass eine Meinung als qualifiziert gelten kann. Dennoch ist sie keine Cultural-Studies-Vertreterin avant la lettre. Die Intersubjektivität ihres sensus communis ist zwar nicht mehr kantisch formal-abstrakt, bleibt aber nichtsdestotrotz repräsentativ. Arendt schlägt vor, sich die 18 Hannah Arendt, „Wahrheit und Politik“, S. 342. 80 Perspektiven anderer Abwesender vorzustellen. So spricht sie einmal sogar vom Versuch, sich an die Stelle eines armen, hoffnungslosen Slum-Bewohners zu denken. 19 Sich Andere als Gegenüber auszumalen, um den eigenen Standpunkt zu präzisieren, ist ein fragwürdiges Verfahren und höchst anfällig für stereotypisierende Projektionen bzw. (um es mit Gayatri Spivak zu sagen) für epistemische Gewalt. Statt den sensus communis zum Othering zu degradieren, käme es vielmehr darauf an, ihn zur idealischen Norm einer heterogen perspektivierten, dissensuell-sinnlichen Intersubjektivität zu machen; zum Pendant dessen, was Édouard Glissant unter einem Gemeinplatz versteht: „Gemeinplätze sind für mich nicht vorgefasste Meinungen, sondern […] Orte, an denen eine Idee über die Welt einer anderen begegnet.“ 20 Begegnung und Relationalität sind dabei nicht gleichzusetzen mit der naiven Behauptung von Herrschaftsfreiheit oder dem homogenisierenden Ideal harmonistischer Inklusion. Glissants postkolonial informierte Poetik der Relation basiert auf gänzlich anderen Voraussetzungen und Bezugnahmen als Nicolas Bourriauds differenzblinde Relationale Ästhetik (wie Christoph Brunner und ich in unserem Beitrag in diesem Buch aufzeigen). Der sensus communis, der mir vorschwebt, ist uneins und unrein, weltlich verwickelt, lustvoll und streitend. Er könnte die ästhetisch-politische Urteilskraft dessen sein, was Donna Haraways kritischer Epistemologie zufolge dirty knowledges bzw. situierte Wissen ermöglicht. 19 20 Hannah Arendt, Über das Böse, 2013, S. 142. Édouard Glissant, Kultur und Identität, 2005, S. 23. 81 Dreckig werden Haraways Epistemologie der situierten Wissen stützt sich auf empirische Partialitäten, irreduzible Differenzen und multiple Verstrickungen. Welterkenntnis ist ihr zufolge als ein geosoziohistorisch situiertes, relationsbewusstes Wahrnehmen von Komplexität zu verstehen, das dem Umstand Rechnung trägt, dass jedes erkennende Subjekt „in all seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, […] immer konstruiert und unvollständig zusammengeflickt, und deshalb fähig [ist] zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen Sichtweise ohne den Anspruch, jemand anderes zu sein“. 21 Intersubjektive Relationalität meint hier also nicht ein Ideal von harmonisch-homogener Gemeinschaft, sondern die Anerkennung materialistisch existenzieller Verflochtenheiten. Und aufgrund dieses weltlichen Verstricktseins machen Perspektivität und Partikularität situierte Wissen nicht zum Spielball beliebiger Interpretation. Dirty knowledges basieren auf dem materialistischen Objektivitätsanliegen einer unreinen epistemischen Praxis, die „eine adäquatere, reichere und bessere Darstellung einer Welt, in der ein gutes Leben möglich sein soll, anbietet, und [die] ein kritisch-reflexives Verhältnis zu unseren eigenen wie auch zu fremden Herrschaftspraktiken und dem für jede Position konstitutiven, unterschiedlichen Maß an Privilegiertheit und Unterdrückung ermöglicht. In traditionellen philosophischen Kategorien formuliert, heißt das, daß es möglicherweise stärker um Ethik und Politik geht als um Epistemologie.“ 22 21 22 Donna Haraway, „Situiertes Wissen“, 1995, S. 86. Ebd., S. 78. 82 Explizit spricht Haraway zwar nur vom Epistemischen und Ethischen, doch dirty knowledges gründen dabei fundamental im Ästhetischen. Denn: „Kämpfe darüber, was als rationale Darstellung der Welt gelten darf, sind Kämpfe über das Wie des Sehens.“ 23 Haraway macht deutlich, dass diese Kämpfe mit Sicht aus weltlichen Körpern geführt werden müssen, die sich durch ihre je spezifisch situierten Partialitäten dem „God-Trick“, das heißt der Behauptung einer universellen Überblicksperspektive, widersetzen. Was einige Fälle künstlerischer Wissensproduktion aktuell zu bieten haben, sind „adäquatere, reichere und bessere Darstellungen von Welt“. Sie implizieren damit eine ethisch-politische Epistemologie, die „die vom westlichen Forschungsethos postulierten Paradigmen der Systematik, Replizierbarkeit und Wertfreiheit“ herausfordert und dem neoliberalen Wissenskapitalismus durch inkommensurable Partialitäten und Verstrickungen widersteht. 24 Eine ästhetische Theoriepraxis, die sich auf diese Herausforderungen einlassen will, kann nicht urteilslose Kontemplation bleiben. Und sie wird sich kaum um apodiktische wie müßige Kunst-odernicht-Kunst-Definitionen kümmern. Ihr Anliegen wird vielmehr ein polyphoner Austausch mit multiplen Bezugnahmen auf die gemeinsam geteilte Welt sein – und auf die differenzierende Entfaltung von deren mannigfaltigen und verflochtenen Singularitäten, die Wissenskunst im glückenden Fall hervorzubringen vermag. Eine ästhetische Theoriepraxis, die in diesem Sinne Dirty Ebd., S. 88. Anette Baldauf und Ana Hoffner, „Kunst-basierte Forschung und methodischer Störsinn“, S. 335. 23 24 83 Aesthetics genannt werden könnte, hat sich über disziplinäre Grenzen hinwegzusetzen und in Widersprüche zu verstricken; sie hat Definitionsmacht und Privilegien zu teilen. Sie hat nicht nur zu sehen, spüren und meinen, sie hat sich auch beständig auszutauschen, zu entgrenzen, streiten und involvieren. Kurz gesagt: Solche ästhetische Theorie ist weder rein noch allein praktizierbar. 84 Die Eule der Minerva de-rationalisieren oder: den postkolonialen Ansatz der documenta 14 situieren Sofia Bempeza In der Kurzbeschreibung des Panels Vorschläge zur Situierung und Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik schlagen wir 1 vor, die westliche ästhetische Theorie zu situieren und den von ihr beanspruchten Universalismus zu kritisieren. Insofern möchten wir die Bedingungen der Theoriebildungen des Ästhetischen in der realen und historischen Welt ansprechen und ihren Konkretisierungen jenseits von universalistischen Rundum-Erklärungen erst einmal Raum geben. Mein Anliegen ist es, die philosophische Ästhetik als Theorie der freien Künste bzw. Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und der sinnlichen Darstellung (Baumgarten) mit der Konstruktion von kulturellen Identitäten zu verbinden. Insofern argumentiere ich zwar durchaus in der Linie eines bestimmten traditionsreichen Ästhetikbegriffs, aber in Abgrenzung zum sogenannten ‚Westen‘ als hegemonialem Erfahrungshorizont, der die geografische und kulturelle Wahrnehmung des globalen Südens, des Balkans und des Orients dominiert. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass erstens die Erfahrungshorizonte der meisten Ästhetiker*innen nach wie vor an eine klassen- und disziplinspezifische Weltanschauung gekoppelt sind und zweitens all diese Begriffe („Westen“, „Orient“, „Süden“) auf Konstruktionen 1 Sofia Bempeza, Eva Kernbauer, Ines Kleesattel und Ruth Sonderegger. 87 und Konzepten der (Selbst-)Identifikation und einer problematischen Setzung des ‚Anderen‘ beruhen. In diesem Paper konzentriere ich mich auf die Idee kultureller Überlegenheit der logozentrischen abendländischen Philosophie und ihre Auswirkungen im Kunstfeld und frage nach den politisch-ästhetischen Konnotationen und den Zwängen, die kuratorische Konzepte wie das der documenta 14 in sich tragen. Genauer gesagt, möchte ich einerseits den postkolonialen Ansatz der documenta 14 im griechischen Kontext situieren und seine Wechselbeziehung mit dem griechischen KryptoKolonialismus (crypto-colonialism) oder Ersatz-Kolonialismus (surrogate colonialism 2) beleuchten. Andererseits möchte ich das Verhältnis von Exotismus zu Selbst-Exotisierung thematisieren, die die Präsenz der documenta 14 in Athen hervorgerufen hat. Hierfür problematisiere ich den historischen Blick der modernen europäischen (insbesondere der britischen, französischen und deutschen) Kulturwissenschaft auf Griechenland. Kurzum, es geht mir um die wirkmächtigsten Versuche von Historiker*innen und Archäolog*innen, Politiker*innen und Literat*innen des sogenannten ‚Westens‘, ihre Überlegenheit mithilfe der römischen und der griechischen Antike in Abgrenzung zum Orient zu demonstrieren. Als Gegenstück zum Westen wurde der Orient seit der Antike etwa mithilfe der griechischen Tragödie (beispielsweise mit Aischylos’ Die Perser und Euripides’ Die Bakchen) als Motiv des gefährlichen und mysteriösen Zur Etablierung und Verwendung des Begriffs im akademischen Diskurs (u. a. bei Michael Herzfeld, Katherine E. Fleming, Stathis Gourgouris und Vangelis Calotychos) siehe Yannis Hamilakis, „Some Debts Can Never Be Repaid“, 2017. 2 88 ‚Fremden‘ verwendet. 3 Edward Said erinnert uns an die Darstellung des Orients als ‚heimliche Gefahr‘ in Die Bakchen: „Vernunft fällt den östlichen Exzessen zum Opfer, die in einem auf mysteriöse Weise reizvollen Gegensatz zu den als normal erscheinenden Werten stehen. Die Kluft zwischen Ost und West äußert sich in der Strenge, mit der Pentheus anfangs die hysterischen Bacchantinnen zurückweist. Als er später selbst zu einem Bacchanten wird, muss er nicht deshalb sterben, weil er Dionysos nachgegeben hat – sondern weil er ihn von Anfang an unterschätzt hat.“ 4 In den beiden oben genannten Tragödien wird Said zufolge eine klare Grenzlinie zwischen dem Orient und dem Westen gezogen: Während der Orient nach westlichem Verständnis „besiegt und kleinlaut“ und zugleich begehrt ist, stilisiert der Westen sich als „mächtig und wortgewaltig“. 5 Said macht darauf aufmerksam, dass Euripides die ‚fremden‘ asiatischen ‚Mächte‘ und die orientalischen ‚Mysterien‘ als Herausforderung für den rationalen westlichen Geist erklärt. Die europäischen Intellektuellen wurden dadurch stets zu neuen Beweisen ihres eigenen wortgewaltigen Ehrgeizes animiert. An anderer Stelle bemerkt Said: „Europa sah im Orient fast von Anfang an mehr, als es empirisch über ihn wusste.“ 6 Das heißt, Europa projizierte allerlei Symbolik willkürlich auf den Orient, um eine vermeintlich aufklärerische Idee des Westens von allem abzugrenzen, 3 4 5 6 Vgl. Edward W. Said, Orientalismus, 2009, S. 72 f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 71. Ebd. 89 was diesem unbekannt war und insofern als ‚bedrohlich‘ angesehen wurde. Ich möchte im Folgenden Saids prägnante These im Hinblick auf das Anliegen der documenta 14 in Athen taktisch paraphrasieren und zeigen, dass die nordwestliche Kulturinstitution in Athen von Anfang an nur das sah, was sie bereits im Vorfeld durch die wirkmächtigsten Darstellungen von Griechenland über Athen zu glauben wusste. 7 Mich interessiert dabei vor allem die heutige Wahrnehmung von Griechenland als antikem Vermächtnis und somit als Projektionsfläche des westlichen demokratischen Ideals ebenso wie als Beispiel der Verschuldung und der neoliberalen Unterdrückung. 8 Durch dieses Prisma möchte ich das Anliegen der documenta 14 „Von Athen lernen“ näher beleuchten. Von Athen lernen? Adam Szymczyk, der sich 2015 neben Kassel für Athen als zweitem Ausstellungsort entschied, führt im Vorwort des documenta-14-Readers aus: „[I]t makes sense to initiate the fourteenth iteration of documenta by moving it from its location on the margins of the European economic Ich befasse mich nicht explizit mit künstlerischen Arbeiten und es ist keinesfalls so, dass einzelne künstlerische Projekte im Rahmen der documenta 14 tout court der kuratorischen Leitidee unterworfen sind oder dass ich die gesamte Arbeit der documenta-Akteur*innen vor Ort pauschal negiere. Vgl. Sofia Bempeza, „Rezept, Rezeption, Rezeptionist“, 2017. 8 Diese Unterdrückung zeigte sich etwa im Jahr 2015, als die sogenannten Troika-Institutionen (EZB, EU und IWF) den Antrag der griechischen Regierung auf einen Schuldenschnitt abgelehnt haben, woraufhin Griechenland sich erneut durch den Kauf von Anleihen weiter verschuldet hat. 7 90 power to the city that was once one of the central meeting points of the Mediterranean world, and, with it, the proverbial cradle of that same European civilization that has reached its present state of exhaustion.“ 9 An anderer Stelle schreibt Szymczyk: „The move of documenta to Athens, in order to unlearn what we know, and not give its people lessons, is meant to open up a space of possibility. The old world is based on concepts of belonging, identity, and rootedness. Our world, ever new, will be one of radical subjectivities. The search for lost origins, the disentangling of confused selves, coming to terms with uprooted identities and statelessness, keep us busy […].“ 10 Szymczyks Einführungstext lässt den Eindruck einer Glorifizierung von Athen als einem Ort der Transformation, als Nexus der kulturellen Vielfalt und der demokratischen Freiheit bzw. als Herausforderung für das gesamte europäische Projekt und die Genese radikaler Subjektivität(en) entstehen. Folgende Fragen möchte ich zur Diskussion stellen, wenn wir mit gutem Willen davon ausgehen, dass die documenta 14 keinen Exotismus betreibt, sondern nach bestem Wissen und Gewissen der Idee von decoloniality einen zentralen Platz einräumt: 11 Adam Szymczyk, „Iterability and Otherness-Learning and Working from Athens“, 2017, S. 29. 10 Ebd., S. 32. 11 Ein Blick auf viele Beiträge im documenta-14-Reader entlarvt decoloniality als Kernbegriff für die theoretische Rahmung der Ausstellung (siehe: Indian Act, General Act of the Berlin Conference, Marshall Plan, McKee Treaty, Sámi Act, Zapatista Women’s Revolutionary Law, Treaty of Waitangi). 9 91 • Inwiefern wurde die europäische Triplett-Erzählung von Griechenland als dem Ort der klassischen Antike, als kulturellem Amalgam zwischen Westen, Balkan und Orient und als Subjekt der Krise ausgearbeitet? • Könnte es sein, dass im Rahmen der documenta 14 postkoloniale Theorien, die im institutionellen Kunstdiskurs berechtigterweise an Boden gewinnen, kaum kontextualisiert, das heißt ohne eine tiefgehende Betrachtung der spezifischen Situation in Athen angewandt wurden? • Ist es möglich, dass die emanzipativen Praktiken von indigenous peoples (zum Beispiel polynesischen, maorischen, aboriginalen) willkürlich im griechischen Kontext mit Kolonialismus assoziiert wurden? Um diese Fragen zu erörtern, muss ich bestimmte historische Aspekte und Darstellungen von Kolonialismus, Nationalismus und Orientalismus erläutern, die uns bei der Verortung des kulturellen Diskurses der documenta 14 helfen können. Kolonialismus und Nationalismus in Griechenland In der Antike war Griechenland keine Kolonie, im Gegenteil: Die „Ionische Kolonisation“, also die Besiedlung der kleinasiatischen Ägäisküste mit griechischen ‚Pflanzstädten‘ im 10. Jahrhundert vor Christus, sowie die „Große Kolonisation“ zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert vor Christus in Richtung Kaukasus, Ägypten und Spanien weisen auf eine antike Kolonisationsbewegung hin, die von griechischer Seite aus vollzogen wurde. In der Zeit der osmanischen Herrschaft nach der Auflösung des Byzantinischen Reichs (1453) und während des Griechischen Unabhängigkeitskriegs nach der Gründung 92 der Ersten Hellenischen Republik (1822) kann man verschiedene koloniale Zustände beobachten: Mit König Otto von Bayern (damals noch Prinz) wurde ab 1833 wie zuvor im Osmanischen Reich eine Monarchie installiert, während die sogenannten Großmächte Großbritannien, Frankreich und Russland einen wesentlichen Einfluss auf den neu gegründeten Staat hatten. Griechenland war trotzdem keine Kolonie im klassischen Sinne. Die Gründung jedoch des modernen griechischen Staates weist auf einen Kolonialisierungsprozess hin, der, wie Yannis Hamilakis betont, nicht nur aus dem Einfluss der Ideen der Aufklärung auf Griechenland resultiert, sondern auch auf jene ausländischen und einheimischen Akteur*innen zurückzuführen ist, die sich dafür eingesetzt haben, eine neue soziale Ordnung zu etablieren. 12 Dieser Prozess ist unmittelbar mit der Konstruktion der Antike als dem Zentrum der griechischen Nation und der Entwicklung des griechischen Nationalismus über mehrere Jahrhunderte verbunden. Kurz gefasst: Das Konzept des westlichen Hellenismus, also die europäische Version der klassischen Antike als Fundament der westlichen Zivilisation (oder Kultur, je nach Sprachraum), hat die Antike in den Mittelpunkt des griechischen ‚Imaginären‘ gestellt. 13 Griechische Intellektuelle haben sich dieses Konzept angeeignet und es adaptiert, um ein nationalistisches Narrativ zu schaffen: die Idee der langen Kontinuität des Hellenismus und die Verschränkung mit der griechisch-orthodoxen Kirche. Vgl. Yannis Hamilakis, The Nation and its Ruins. Antiquity, Archeology and National Imagination in Greece [2012], 2007, S. 45. 13 Zur longue durée der abendländischen Rezeption Griechenlands seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert siehe auch Stathis Gourgouris, Dream Nation – Enlightenment, Colonization and the Institution of Modern Greece, 1996. 12 93 Wenn wir also den Kolonialismus im griechischen Kontext betrachten wollen, müssen wir zwei Momente in Betracht ziehen: Erstens die Tatsache, dass solche nationalistischen Ideen sich aus einer lokalen Wiederaneignung der westlichen kolonialen Idee bzw. der kolonialen Herrschaft ergeben. Zweitens, dass die Nationalisierung der Gesellschaft eine Form immanenter Kolonialisierung ist, die im Wahrheitsregime der westlichen Aufklärung entwickelt wurde. In diesem Sinne wurde auch eine essenzialistische Definition von Identität sowohl von den Akteur*innen des westlichen Zentrums wie von den lokalen Machthabern und den westlich geschulten Intellektuellen des kolonisierten Landes begünstigt. Selbst-Exotisierung und Orientalismus Die gegenwärtige Selbstwahrnehmung vieler Griech*innen ist mit der Re-Konstruktion der westlichen (insbesondere der englischen, französischen und deutschen) Kulturgeschichte und den romantischen Projektionen auf die antike Vergangenheit Griechenlands verbunden. Wenn in den letzten Jahren Athen vermehrt als ‚alternativer‘ und exotischer Ort innerhalb Europas wahrgenommen wird, dann deshalb, weil Exotismus, oder genauer gesagt: Orientalismus, von beiden Seiten, das heißt innerhalb und außerhalb Griechenlands, betrieben wird. Die kritische Frage nach der Exotisierung durch einen Blick von ‚außen‘ (intellektueller Philhellenismus) kann meines Erachtens nicht ohne die Dimension der Selbst-Exotisierung der Griech*innen als Europas Außenseiter*innen beantwortet werden. Das Narrativ des ‚Exzeptionalismus‘ Griechenlands scheint mir wie folgt zu funktionieren. 94 Lange Zeit wurde Griechenland hauptsächlich mit seiner antiken Vergangenheit assoziiert und die Inseln und Dörfer Griechenlands etwa als Aussteigerparadies der 68er am Mittelmeer rezipiert. Gegenwärtig wird Griechenland (bzw. reduktionistisch: Athen) erneut als exotischer, und zwar rebellischer Ort verstanden, zumindest in der Narration der documenta 14. Athen wurde zugleich als Inbegriff der europäischen Demokratie und eines national codierten Widerstands gegen die neoliberale Politik der Eurozone betrachtet. Kein Wunder, dass der Parthenon im Rahmen der documenta 14 als Symbol für das demokratische ‚Imaginäre‘ Europas auftrat, allen voran in der Arbeit von Martha Minujin. Nun ist es auf der Ebene der Werkrezeption eine Sache, ein Parthenon von zensierten Büchern im argentinischen postdiktatorischen Kontext zu errichten, und eine andere Sache, den Parthenon als Symbol im gegenwärtigen griechischen Kontext anzupreisen. Im ersten Fall steht der Bücher-Parthenon möglicherweise symbolisch für den demokratischen Geist. Im zweiten Fall kann die symbolische Präsenz des antiken Monuments im neugriechischen Kontext nicht losgelöst von nationalistischen und westlich-hegemonialen Geschichtsnarrativen gelesen werden. Das historische Monument hat zwar keine ideologische Färbung an sich, aber seine häufige Anwendung in der modernen nationalistischen Erzählung Griechenlands lässt sich nicht ignorieren. Zwei Beispiele: • Als der junge König Otto von Bayern am 23. August 1834 die Akropolis in Athen besuchte, um an der Eröffnung der Restaurationsarbeiten teilzunehmen, erwartete ihn eine von Leo von Klenze gut orchestrierte Zeremonie. Von Klenze lobte das Projekt und gab mit seiner Rede den politischen Ton der Restaurierungen 95 auf dem Tempelberg an: Er begrüßte die ‚Säuberung‘ des Tempels von barbarischen Elementen, nämlich die Entfernung der osmanischen Teilbauten, die nicht aus der Antike stammten. • Während der Zeit der Diktatur der Obristen (1967– 1974) wurden politische Gefangene auf der Insel Makronisos dazu gezwungen, Modelle des Parthenons nachzubauen. Die Idee der griechischen Junta war einfach: Der internationale Kommunismus und andere linke Theorien des ‚Westens‘ seien nicht kompatibel mit dem hellenischen Geist. Deshalb mussten die kommunistischen Gefangenen klassische Antiquitäten nachbauen, um sich als wahre Nachkommen der klassischen Antike zu erweisen. 14 Selbstverständlich ist die gegenwärtige gesellschaftliche Konstellation in Griechenland viel komplexer: Eine starke gesellschaftliche Polarisierung zwischen politischen Feldern ist seit Jahren im Gange. Aktuell (Februar 2018) kann man diese Polarisierung anhand der Debatten bzw. des Streits um den Namen Mazedonien gut beobachten. 15 Die Mehrheit der griechischen Gesellschaft (ob Rechte, Linke oder Sozialdemokrat*innen) identifiziert sich nach wie vor patriotisch mit Griechenland. Immerhin oszilliert das griechische Selbstverständnis Vgl. Yannis Hamilakis, The Nation and its Ruins. Antiquity, Archeology and National Imagination in Greece [2012], 2007. 15 Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, die griechisch-orthodoxe Kirche und der reaktionäre Teil der griechischen Gesellschaft beharren auf einer einzigen, und zwar griechischen Identität von Mazedonien. Die Syriza-Anel-Regierung und die Parteien Pasok und Nea Dimokratia sprachen von einem „komplexen Namen mit geografischer Bestimmung“. Ein großer Teil der Linken und Teile der Zivilgesellschaft befürworten das Recht auf selbstbestimmte Namensgebung der noch relativ jungen Republik Mazedonien. 14 96 permanent zwischen drei ungeheuren Konstrukten: dem ‚Westen‘, dem ‚Osten‘ und dem ‚Balkan‘. Diese Selbstdarstellung entspricht sogar der Wahrnehmung der früheren westeuropäischen und russischen Philhellenen. Wie Tanja Zimmermann in ihrer Studie über den Balkan konstatiert, haben sowohl westeuropäische als auch russische Philhellenen wie Jakob Philipp Fallmerayer, Viktor Tepljakov oder Aleksandr Puškin in ihren Auseinandersetzungen mit dem antiken Erbe Griechenlands nach 1830 die ersten Anzeichen eines Orientalismus gezeigt. 16 Said schlägt vor, den Orientalismus als hegemonialen Diskurs aufzufassen, um nachvollziehen zu können, „mit welcher enorm systematischen Disziplin es der europäischen Kultur in nachaufklärerischer Zeit gelang, den Orient gesellschaftlich, politisch, ideologisch, wissenschaftlich und künstlerisch zu vereinnahmen – ja, sogar erst zu schaffen“. 17 Die documenta 14 in Athen Das kulturhistorische Narrativ der documenta 14 stärkt neben dem Orientalismus drei weitere Aspekte, die ich als problematisch erachte. Erstens: Die Etablierung eines neuen intellektuellen Philhellenismus, der sich – ähnlich wie Fallmerayer Griechenland als „ungemeißeltes, totes Marmorgebröckel“ 18 ansieht – aus den vom Koloss des neoliberalen europäischen Reichs (anstelle des türkischen Reichs) herabgeschlagenen Trümmern herausgebildet hat. Zweitens: Die (Selbst-)Wahrnehmung der Vgl. Tanja Zimmermann, Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, 2014, S. 21. 17 Edward W. Said, Orientalismus, 2009, S. 12. 18 Jakob Philipp Fallmerayer, Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Zweiter Teil, 1836. 16 97 Griech*innen als Opfer der neoliberalen Geschichte Europas wird als Alleinstellungsmerkmal exemplifiziert. Drittens: Im Rahmen der plausiblen Kritik an der neoliberalen Austeritätspolitik in Europa, die die documenta 14 als deutsche Kulturinstitution äußerte, wurde die Komplexität der griechischen Antiausteritätsbewegungen außer Acht gelassen. Vielleicht fokussierte die documenta 14 sich selektiv auf die linken politischen Praktiken der Occupy-Bewegungen ab 2011, 19 während die nationalpatriotischen Teile, die ähnlich gegen die Troika auf öffentlichen Plätzen mobilisierten, kaum thematisiert wurden. Stattdessen hob zum Beispiel das öffentliche Programm „34 Exercises of Freedom“ Freiheitskonzepte von indigenen Bevölkerungen und antifaschistischen Kämpfen in Griechenland hervor. Von griechischen liberalen und konservativen Medien wurde dieses Programm als eine Art Wiedergänger der Linken (Ideologie) wahrgenommen und führte meiner Meinung nach zur Verwechselung zumindest zweier Perspektiven: Einerseits steht die Notwendigkeit im Raum, dekolonisierendes und migrantisches Wissen sowie queer-feministische und LGBTQI+-Identitäten in den Vordergrund zu rücken und emanzipatorische politische Projekte zu verteidigen. Andererseits ist die Anwendung solcher Praxen und Positionen unter dem Deckmantel einer allgemein formulierten antikapitalistischen Idee indigener Freiheit wenig 19 Siehe hierzu beispielsweise die Splittung des Syntagma-Platzes während der Occupy-Bewegung 2011 in einen ‚oberen‘ und einen ‚unteren‘ Teil, genauer: einen Teil mit nationalpatriotischen und einen mit linken Akteur*innen. Zum nationalpatriotischen Aspekt in den Bewegungen gegen die Austeritätspolitik in Griechenland siehe Sofia Bempeza, „Evacuating the Political. New Greek Patriotism in the Context of People’s Movements“, 2014. 98 überzeugend. 20 Diese Idee zieht nämlich eine willkürliche Parallele zwischen den emanzipatorischen Kämpfen indigener Bevölkerungen außerhalb Europas, dem antidiktatorischen Kampf im Griechenland der 1970erJahre sowie den Bewegungen gegen Austeritätspolitik in Europa und gegen Identitätspolitiken im Allgemeinen. Zum Schluss möchte ich mit jenem überstrapazierten Vogel der Philosophie sprechen, der Eule: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt […], dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, 21 schrieb Hegel am Ende seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie. Die Eule der Minerva ist als bildliche Umschreibung der Philosophie oder der Weisheit zu verstehen. Im Kontext der documenta 14, die eine Eule als Logo verwendete, möchte ich vorschlagen, die Fortsetzung des westlichen intellektuellen Philhellenismus unter die Lupe zu nehmen. Eine konkrete Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen soziopolitischen Verhältnissen in Griechenland sollte nicht erneut durch das Prisma der Antike entstehen. Die Debatte über Postkolonialismus im Fall Griechenlands hätte eine andere Relevanz, sollte die Last der Antike bzw. des westlichen Universalismus eine differenzierte Rezeption in der Gegenwart haben. Es ist an der Zeit, ein zeitgenössisches Bild von diesem Land zu 20 „34 Exercises of Freedom“, 14.–24. September 2016, Parko Eleftherias, Athens Municipality Arts Center. https://www.documenta14.de/en/news/1929/34-exercises-of-freedom-extended-pro gram-september-14-24-2016. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820. 99 kreieren, das nicht aus einer medialen, voyeuristischen Krisenbeobachtung resultiert. Wir müssen über die selektive Rezeption Griechenlands als antikem Vermächtnis ebenso wie als Schuldenkolonie sprechen und die historische Komplexität, den blinden Fleck des exotisierenden Blicks sowie die genannten gegenwärtigen Symptome des (westlichen) Hellenismus in den Blick nehmen. Es ist, mit anderen Worten, an der Zeit, die antiken Steine andersartig zu appropriieren und die Monolithen der antiquierten Rezeption Athens zu klauen, wie dies eine Gruppe von LGBTQI+ Refugees in Athen mit dem „Schwurstein“ des Künstlers Roger Bernat getan hat. 22 Die LGBTQI+ Refugees entführten das Stein-Kunstwerk, das auf einer Veranstaltung der Athener Polytechnischen Universität ausgestellt war, und machten den Raub in einem Video auf Facebook öffentlich. Vgl. Markus Kowalski, „LGBTI-Flüchtlinge entführen Documenta-Kunstwerk“, 2017. Für das Video der Aktion von LGBTQI+ Refugees in Griechenland siehe: https://www.facebook. com/lgbtqirefugeesingreece/. 22 100 Affekt und dekoloniale Aisthesis als anderes Wissen Christoph Brunner Kritische Selbstverortung Einleitend möchte ich kurz den Kontext dieses Vortrags erläutern. Die Idee, Affekt bzw. Affekttheorien mit dekolonialen theoretischen Positionen zusammenzubringen, ist Teil eines dreijährigen Projekts, das im Rahmen des DFG-Forschungsnetzwerks „Anderes Wissen in künstlerischer Forschung und ästhetischer Theorie“ realisiert wird. Das Anliegen dieses Netzwerks ist die Verschiebung eines bis anhin in Verbindung mit der künstlerischen Forschung gebrachten Diskurses zur epistemischen Dimension künstlerisch-forschender Praxis hin zu einer Befragung ästhetischer Theorie auf die ihr immanenten ästhetischen Aspekte. Sprich, eine aus den Geistes- und Kulturwissenschaften kommende Annäherung an Theorie als eine (ästhetische) Praxis. Die epistemische Frage nach einem „anderen Wissen“ versteht sich vor diesem Hintergrund, wobei ich unter Hinzunahme dekolonialer theoretischer Positionen den Ansatz eines kritischen Wissens verfolge, ähnlich wie es Donna Haraway aus feministischer Perspektive tut, wenn sie davon spricht, dass es im Kampf gegen Unterdrückung eher um Ethik und Politiken als um Epistemologie gehen müsste. 1 Ich möchte mich der kritischen Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik, wie sie von Sofia Bempeza, Eva Kernbauer, Ines 1 Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, 1995. 103 Kleesattel und Ruth Sonderegger im Rahmen des DGÄKongresses 2018 in Anschlag gebracht wurde, anschließen und zugleich unterstreichen, dass sich eine Kritik der westlichen philosophischen Ästhetik sowohl aus der ihr eigenen Genese als auch aus nichtwestlichen Perspektiven vornehmen lässt. Dem Versuch einer Hinwendung zu Ethik und Politiken eines Ansatzes des kritischen Wissens möchte ich durch den Begriff des Affekts und seine oft marginalisierte Begründungsfigur, Baruch Spinoza, und mit dem, was Walter Mignolo gemeinsam mit weiteren dekolonialen Denker*innen „dekoloniale AestheSis“ nennt, nachgehen. Zugleich eröffnen sich für mich einige Problematiken in Relation zu dekolonialen Theorien, oder eher Gesten und Optionen, wie Mignolo sie bevorzugt nennt. Zum einen frage ich mich, ob es sich nicht bei der Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Positionen um ein verstecktes Begehren nach dem Anderen, Differenten und Neuen handelt, das sich nur vermeintlich aus den Fängen der Moderne befreit hat, während es ihr eigentlich noch nähergekommen ist. Anders gesagt: Sind diese Positionen lediglich von einer vordergründigen ‚Hippness‘ oder ‚Criticality‘ motiviert oder geht es darum, die fundamentale Kritik post- und dekolonialer Theorien auf die westlichen Denktraditionen anzuwenden und somit das eigene, habituierte Denken zu dekolonisieren? 2 Zum anderen stellt sich die Frage der Aneignung solcher In gewisser – und vielleicht schon differenzierterer – Weise wird dies in Diskursen der Queer, Feminist und Critical Race Studies getan, und zugleich beobachte ich, dass es ein langer Weg ist zwischen Anerkennung und Befürwortung solcher Positionen in den universitären Curricula und einer integralen Aktivierung dieser Kritiken, die über „dann machen wir halt noch ein Modul zu Gender und Feminismus“ hinausgeht. 2 104 differenter theoretischer Positionen durch einen hegemonialeren Diskurs und der Legitimation oder Delegitimation einer solchen Aneignung. Es scheint mir absolut notwendig, dass es mehr und vertiefte Auseinandersetzungen gibt, jedoch nicht, um diese dann einfach zu applizieren, ohne die Situiertheit dieser Kritik miteinzubeziehen. Viel eher verstehe ich dekoloniale theoretische Strömungen als Fürsprecherinnen für konkrete Problematiken der Repräsentation und der Aufteilung des Sinnlichen und Diskursiven samt der Körper und Gesten, die sich in permanenten globalen und zunehmend logistisch kalkulierten Bewegungen befinden. Anderes Wissen In seinem Artikel „Worlds and Knowledges Otherwise“ beschreibt Arturo Escobar die Entwicklung dessen, was er „border epistemologies“ oder „border thinking“ nennt. 3 Er proklamiert, eine solche Epistemologie „should be seen as another way of thinking that runs counter to the great modernist narratives (Christianity, liberalism, and Marxism), it locates its own inquiry in the very borders of systems of thought and reaches towards the possibility of non-eurocentric modes of thinking.“ 4 Für Escobar steht die Gegenwart an einem Scheideweg, an dem sich entweder eine Modernität mit ihrem Drang nach Entwicklung und Modernisierung mit all ihren Gewissheiten festschreibt oder eine zutiefst ausgehandelte Realität sich weiter entfaltet, die viele heterogene Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007, S. 179. 4 Ebd., S. 180. 3 105 kulturelle Formationen einbindet. Er bezeichnet Modernität als „an order in the basis of the construct of reason, the individual, expert knowledge, and administrative mechanisms linked to the state. Order and reason are seen as the foundation of equality and freedom, and enabled by the language of rights.“ 5 Philosophisch versteht Escobar Modernität als die Fokussierung auf den Menschen als ‚Herren‘ des Wissens bzw. der Erkenntnis und an ein Ordnungsprinzip gebunden, das sich an einer Logik der Entwicklung (Bildung) orientiert. Modernität verknüpft sich mit einem Eurozentrismus, der in diesem Fall nicht bloß das antike Erbe fortschreibt, sondern der durch Kolonisierung, Industrialisierung und Aufklärung zu einer Radikalisierung und Universalisierung der Modernität führt und eine „Subalternisierung“ des Wissens nichteuropäischer kultureller Formationen mit sich bringt. 6 Für Escobar ist Eurozentrismus diejenige Wissensform der Modernität/Kolonialität, die sich eben nicht in einer homogenen und linear fortschreitenden Geschichte in Europa finden lässt, sondern sich (in den Worten Paul Virilios) eher als „global de-localization“ manifestiert. 7 Dieser Punkt scheint mir überaus wichtig, ist man doch häufig geneigt, post- oder dekoloniale Positionen Ebd., S. 182. Enrique Dussel benennt die Kolonisierung als erste Modernität und Industrialisierung und Aufklärung als zweite Modernität. Siehe Enrique Dussel, „Europe, Modernity, and Eurocentrism“, 2000. Hier schließt sich eine klar über Marx hinausgehende Genese kapitalistischer Operationen an, wie sie u. a. Jason Moore in seinen Arbeiten zu The Capitalocene (2017) darlegt und wie sie von Aníbal Quijano bereits 2000 in Bezug auf Lateinamerika ausgeführt wurde. 7 Paul Virilio, Politics of the Very Worst, 1999. 5 6 106 als radikal anderen Entwurf zur eurozentrischen Modernität zu verstehen, und läuft Gefahr, das Andere und das Begehren danach zu romantisieren. Aus der Verknüpfung von Modernität und Kolonialität gehen nicht nur territoriale, materielle und epistemische Gewalt, sondern auch Widerständigkeiten gegen diese hervor. In den differenziellen Beziehungen dieser Verknüpfung begründet sich Escobars Forderung „to take seriously the epistemic force of local histories and to think theory through from the political praxis of subaltern groups“. 8 Die Subalternisierung von Geschichte und lokalen Praktiken führt erst zu einer „colonial difference“, die Escobar als privilegierten epistemologischen und politischen Raum des Widerstands bezeichnet. Die koloniale Differenz, die sich durch die Unterdrückungsmechanismen dominanter (oft von Rassismen und Sexismen geprägter) Herrschaftskonstellationen mitentwickelt, lässt sich meines Erachtens auch in europäischen philosophischen Konstellationen wiederfinden. Ich schlage daher vor, ein dekoloniales Denken auf der Ebene der Subalternisierung von Wissen und die hieraus erwachsenden Potenziale einer kolonialen Differenz als Vehikel eines anderen Wissens fruchtbar zu machen. Dabei scheint es mir unabdingbar, die Kritiken dekolonialer Positionen, wie Escobar und Mignolo sie unter den Begriffen des „border thinking“ oder der „border epistemologies“ hervorbringen, ernst zu nehmen. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass eurozentrierte Kritiken des Eurozentrismus weiter in eurozentrischen Kategorien und nicht aus der Perspektive einer kolonialen Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007, S. 185. 8 107 Differenz denken – sprich, von den Orten und Kämpfen derer, die aufgrund der eurozentrischen Rationalität ausgeschlossen sind; ein Punkt, der spätestens seit Audre Lordes Feststellung „the master’s tools will never dismantle the master’s house“ in die postkoloniale Theoriebildung eingeflossen ist. 9 Es geht also nicht darum, ein Außen der Modernität als vermeintlich anderes Wissen zu konstatieren, sondern um Arten und Weisen, Modernität von ihrer Unterseite her zu denken und zu befragen. Mit dem Begriff des „border thinking“ verfolgt Mignolo eine ähnliche – wenngleich genealogisch anders operierende – Linie, wie Donna Haraway es in Anlehnung an eine feministische Wissenschaft tut, wenn er schreibt, „border thinking“ „is the space for an epistemology that comes from the border and aims toward political and ethical transformation“. 10 Mich interessiert genau diese Forderung nach einem Praxisverständnis, das ästhetische und epistemologische Praktiken auf Basis ihres politischen und ethischen Transformationspotenzials in den Blick nimmt. Aus diesem Grund bedeutet ein anderes Wissen für mich zuallererst eine Veränderung des Wissensbegriffs: Es geht um Wissenspraktiken, die sich sowohl durch ihre Situiertheit kontextualisieren als auch (im Kontrast zu einer kritischen Differenzierung des westlich-hegemonialen Wissensbegriffs) durch andere Praktiken und deren ethische, politische und ästhetische Dimensionen immer wieder neu befragen. Anders gesagt, der Fokus liegt 9 Audre Lorde, „The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House“, 1984. 10 Walter Mignolo, „Local Histories and Global Designs“, 2001, S. 11. 108 nicht mehr auf einem „Denken über“, das ein objektives Außen annimmt, oder auf einem rein subjektiven Perspektivismus, sondern, in den Worten Donna Haraways und Isabelle Stengers’, auf einem „thinking-with“ und „thinking in the presence of“ – wobei ein solches Denken immer auch ein Handeln ist und sich nicht von einer konkreten Situation ablösen lässt. 11 Dekoloniale Aisthesis Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und Künstler*innen aus geopolitisch nichtwestlich situierten Regionen und aufbauend auf den von Escobar als Initiationspunkt hervorgehobenen CEISAL Congress „Cruzando Frontera“ im Jahr 2002, hat Walter Mignolo im Rahmen einer Summerschool 2012 und anschließend in einer gleichnamigen Ausgabe von Social Text Periscope im Jahr 2013 den Begriff der „decolonial AestheSis“ vorgeschlagen. Die Hinwendung zur Ästhetik und zur Aisthesis ist eine Erweiterung der bis dahin geführten Debatte entlang einer „epistemic disobedience“ und des Begriffs der Modernität/Kolonialität. 12 Diese beiden Begriffe erlauben es, sogenannte dekoloniale Optionen zu eröffnen, und agieren entlang von Praktiken des de-linkings von der Kolonialität. Mignolo schreibt hierzu: „[D]e-linking implies epistemic disobedience rather than the constant search for ‚newness‘ […]. Epistemic disobedience takes us to a different place, to a different ‚beginning‘ (not in Greece, but in the responses to the ‚conquest and 11 Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 34; Isabelle Stengers: „The Cosmopolitical Proposal“, 2005, S. 996. 12 Walter Mignolo, „Epistemic Disobedience and the Decolonial Option“, 2011, S. 45. 109 colonization‘ of America and the massive trade of enslaved Africans), to spatial sites of struggles and building rather than to a new temporality within the same space (from Greece, to Rome, to Paris, to London, to Washington DC).“ 13 Mignolos Fokus auf den Raum scheint mir hier zu eng geführt, nimmt er doch die anderen Temporalitäten nicht auf, die sich in den gegenwärtigen Migrations-, technologischen und zunehmend logistischen Strömungen global intensivieren. Zugleich ist diese räumliche Differenz Triebfeder für seine Definition von Dekolonialität in Abgrenzung zu Postkolonialität, die sich dann wiederum an die Zeit koppelt: „The ‚post‘ and the ‚de‘ belong to different genealogies of meanings, processes, and contexts, having in common an element of content: colonialism […]. The ‚post‘ remains within the modern colonization of time and space […]. The idea of European Renaissance was built upon a double colonization – that of space and that of time. The colonization of time consisted in inventing ‚Antiquity‘ and the ‚Middle Ages‘ and placing the ‚European Renaissance‘ in the present of a linear history […]. By confusing the European narrative of global history with the history of Europe, the self-fashioning narrative of Western Civilization left at the margin of its history the regions and people that Europe colonized.“ 14 Es sind diese marginalisierten Räume, von denen aus „andere“ Modi des Denkens, Handelns und Empfindens Ebd. Walter Mignolo, „Looking for the Meaning of Decolonial Gesture“, 2014, o. S. 13 14 110 erwachsen. Diese Modi sind zwar an Modernität/Kolonialität gebunden, aber sie haben diese schon zu Beginn der Kolonisierung attackiert (zum Beispiel die Taki-Onqoy-Bewegung im kolonialen Peru 15). Hierdurch erfolgt eine zunehmende Verschiebung dieser Verhältnisse zu einer Transmodernität (ein Begriff Enrique Dussels). 16 Transmodernität eröffnet Möglichkeiten eines nichteurozentrischen kritischen Dialogs mit Alterität, die in sich konstitutiv für die Modernität ist – eben durch Kolonisierung, Ausbeutung und das proklamierte Andere des Europäischen. 17 Gedenkt Mignolo in seinen früheren Arbeiten die Möglichkeit einer Transmodernität durch die Dekolonisierung von Macht im Sinne eines „epistemischen Ungehorsams“ zu erreichen, so wendet er sich später zunehmend dem Feld des Ästhetischen als erweiterter Ebene dekolonialer Kämpfe zu. Dies ist zu erkennen, wenn er schreibt: „The decolonial turn is the opening and freedom from the thinking and the forms of living (economies-other, political theories-other), „The Taki Onqoy Movement, an indigenous collaboration that united Andean nations against the Spanish in the 1560s, is another example of Native American resistance. Calling for a pan-Andean alliance of the local gods against colonization, it promoted noncooperation with the Europeans, rejection of the Christian religion and the names, food and clothing received from the Spanish and refusal to pay tributes or fulfill labor drafts. The movement, which at its largest stretched from Lima to Cuzco and La Paz, helped indigenous people identify themselves as Indians, as opposed to white Christian Europeans. Under the cover of Christianization, the Takiongos found ways to continue to worship their gods and maintain some traditional practices.“ (http://christianhegemony.org/the-taki-onqoy-movement; zuletzt aufgerufen am 07.10.2019) 16 Enrique Dussel, The Understanding of Modernity, 1996. 17 Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007, S. 187. 15 111 the cleansing of the coloniality of being and of knowledge; the de-linking from the spell of the rhetoric of modernity, from its imperial imaginary articulated in the rhetoric of democracy.“ 18 Was hier als „forms of living“ auftaucht, lässt sich an die ethisch-ästhetischen Verdichtungen alltäglicher populärkultureller Praktiken jenseits diskursiver Formationen anbinden und somit als Sinnesmodalitäten oder Aisthesis begreifen. Zugleich scheint die Figur der Freiheit, so man sie auf den westlichen philosophischen Diskurs bezieht, eine problematische zu sein. Jedoch zeigt sich hierin die komplexe Verknüpfung von Modernität und Kolonialität im akademischen Sprechen oder Schreiben; einem Schreiben, das Mignolo nicht wirklich hinterfragt. Im Rahmen der eher klassischen theoretischen Bearbeitungen Mignolos würde ich seine Hinwendung zu Lebensweisen in dekolonialen Praktiken als Kritik eines Kant’schen Universalismus des sensus communis verstehen. Demgegenüber verstehe ich die Fokussierung von Lebensweisen als eine Kritik der Teilhabe. Diesen Begriff der Teilhabe lehne ich hier an Jacques Rancières „partage du sensible“ an, das sowohl Teilhabe als auch Aufteilung bedeutet und als konstitutive Ebenen sinnlicher Wahrnehmung firmiert. 19 Mit de-linking mit und durch Lebensweisen und ihre Praktiken ließe sich die Problematik der Teilhabe, der Ein- und Ausschlüsse derer, die nicht gehört werden, weiter auf ästhetische Dimensionen beziehen. Für Rolando Vázquez und Mignolo ist der sensus communis Teil der aestheTics als Aspekt einer kolonialen 18 Walter Mignolo, „Epistemic Disobedience and the Decolonial Option“, 2011, S. 48 (meine Hervorhebung). 19 Jacques Rancière, Le partage du sensible, 2000. 112 Machtmatrix seit dem 16. Jahrhundert, der sie eine decolonial aestheSis gegenüberstellen: „Decolonial aestheSis starts from the consciousness that the modern/colonial project has implied not only control of the economy, the political, and knowledge, but also control over the senses and perception. Modern aestheTics have played a key role in configuring a canon, a normativity that enabled the disdain and the rejection of other forms of aesthetic practices, or, more precisely, other forms of aestheSis, of sensing and perceiving. Decolonial aestheSis is an option that delivers a radical critique to modern, postmodern, and altermodern aestheTics and, simultaneously, contributes to making visible decolonial subjectivities at the confluence of popular practices of re-existence, artistic installations, theatrical and musical performances, literature and poetry, sculpture and other visual arts.“ 20 Die Autoren führen im Weiteren zwei Linien der decolonial aestheSis aus: Zum einen verstehen sie darunter eine Valorisierung alltäglicher Erfahrung, die sich nicht der Hegemonie moderner Ästhetik unterwirft. Eröffnende und befreiende Lebensweisen werden zum Antrieb einer „Re-Existenz“ (Adolfo Albán Achinte) durch alltägliche ästhetische Praktiken, die sich den hegemonialen aestheTics entgegenstellen bzw. entziehen. Zum anderen fassen die Autoren decolonial aestheSis als aktive Intervention in das System der Gegenwartskunst. In diesem Punkt scheinen mir die Ausführungen Mignolos und Vázquez’ nicht weitreichend genug zu sein, wenn man die langetablierten, in der Philosophie 20 Rolando Vázquez und Walter Mignolo, „Decolonial AestheSis“, 2013. 113 und verwandten Feldern geführten Differenzierungen von Ästhetik und Aisthesis bedenkt. Das Attribut „decolonial“ bedeutet aber in diesem Fall nicht eine Gegenüberstellung zweier Universalismen, sondern eine Option. Die decolonial aestheSis „is an option because it does not seek to regulate a canon, but rather to allow for the recognition of the plurality of ways to relate to the world of the sensible that have been silenced.“ 21 Für die Autoren ist moderne Ästhetik ein Mechanismus zur Produktion und Regulation von Sinnlichkeiten, sprich, zur Einführung von Normen und Werten. Demgegenüber verstehen sie die decolonial aestheSis als Denken und Handeln, als Empfinden und Existieren, wobei eine Trennung von Theorie und Praxis keinen Platz mehr findet. Die Verbindung zur vorherigen Entwicklung eines kritischen Wissens, dem ich hier nachgehe, wird deutlich, wenn sie schreiben: „Decolonizing the senses means, in the last analysis, decolonizing modern, postmodern, and altermodern knowledge regulating aestheSis, in order to decolonize the subjectivities controlled under the modern imperial aestheTics and their aftermath.“ 22 An dieser Stelle halte ich es für angebracht, den Kontext zu wechseln und zugleich eine immanente Kritik der Positionen Mignolos zu eröffnen. Zum einen scheint die Re-Lokalisierung einer dekolonialen Option, einer epistemic disobedience und eines de-linkings, äußerst plausibel, insbesondere wenn sie im Wechselverhältnis mit Modernität/Kolonialität stehen. Die spezifische 21 22 Ebd. Ebd. 114 Fokussierung auf die begrifflichen Re-Positionierungen wirkt jedoch stark einem Duktus des hegemonialen Sprechens und Schreibens, wenn nicht gar einem maskulinen Gestus verhaftet, der die Proklamation einer Auflösung der Trennung von Theorie und Praxis nicht wirklich ernst nimmt. So ließe sich die Arbeit Mignolos und Vázquez’ als decolonial aestheTics beschreiben, als dekoloniale Befragung ästhetischer Begriffe in Resonanz mit dekolonialen Optionen. Demgegenüber möchte ich die Frage aufwerfen, ob es nicht nur ein Schreiben über ästhetische Praktiken in der Theorie gibt (und sei es auch ein dekoloniales), sondern wie ein Schreiben in der Präsenz dieser Praktiken und selbst als Praxis ins Verhältnis gesetzt werden kann. 23 Dies ist genau die Kritik von Silvia Rivera Cusicanqui, selbst indigene Amayra und Europäerin, die sich vehement gegen eine interne Kolonisierung indigener Kämpfe durch nordamerikanische universitäre Verwertungen zugunsten neuer Theorieströmungen und ihrer Protagonisten stemmt (sie nennt explizit Mignolo, Quijano und Dussel). 24 Auch wenn ich Cusicanquis Kritik teile und die dekolonialen Praktiken sowie die indigenen Formen der Modernisierung für zentrale Formen der Kritik halte, scheint mir eine Problematisierung der Verbindungen von internationalem Theoriemarkt und einer divergierenden Sensibilität, wie sie in der Perspektive der aestheTics und der aestheSis aufscheint, hilfreich. Ich frage daher: Wie lässt sich die dekoloniale Kritik der ästhetischen Theorie bzw. der philosophischen Ästhetik 23 Siehe Isabelle Stengers, „Introductory Notes on an Ecology of Practices“, 2005, S. 186. 24 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012. 115 ernst nehmen und zugleich ästhetische Theorie selbst als dekoloniale Praxis, als dekoloniale Aisthesis in Anschlag bringen? Affekt als divergierender Begriff In diesem Sinne möchte ich die Positionen Isabelle Stengers’ wie auch Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris ins Spiel bringen. Letztere konstatieren in ihrem Spätwerk Was ist Philosophie?, dass die Differenzen zwischen Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft aus deren unterschiedlichen Praxisformen entstehen. Zugleich differenzieren sich diese Praktiken fortlaufend und können so neu in Relation zu sich selbst und zu anderen Praktiken treten. 25 Stengers nennt dies ein „Begreifen“ von Praktiken und ihren Erfindungen, zum Beispiel einem neuen Begriff, indem sie divergieren und nicht konvergieren oder sich synthetisieren. 26 Divergieren heißt immer, neue Optionen zu eröffnen, neue raum-zeitliche Blöcke einzuziehen, sprich, Temporalitäten und Räume miteinander in Resonanz zu bringen, ohne sie gegeneinander auszutauschen oder einfach zu vermengen. Das meines Erachtens anstehende Projekt bezieht sich auf ästhetische Praktiken, die sich in ihrer Situiertheit sowohl mit den eigenen Praxisgenealogien als auch mit andersartigen kritischen Praktiken hin zu neuen Problematisierungsweisen verknüpfen, deren immanenter Dissens jedoch bestehen bleibt. Daher halte ich es für problematisch, von dekolonialer Kunst zu sprechen und diese nun hier zu exemplifizieren. Ich verstehe Mignolo Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 2000. Isabelle Stengers, „Experimenting with What is Philosophy?“, 2010, S. 48. 25 26 116 und Vázquez so, dass eine decolonial aestheSis als Option immer aus raum-zeitlichen Konstellationen hervorgeht, aber ein de-linking eben eher ein Aktivieren neuer Potenzialitäten und nicht eine neue Positionalität bedeutet. Mir geht es hier nicht darum, zu behaupten, dass sich jegliche Form von Praxis losgelöst von ihren historischen, geopolitischen und ökonomischen sowie sozialen und materiellen Kontexten frei flottierend bewegen könnte. Die Effekte der Modernität/Kolonialität sind überall in Körper, Ausdrucksweisen, Landschaften und Empfindungen eingelassen. Vielmehr geht es mir mit dem Begriff des Affekts um eine Bedingungsebene von Erfahrung, die ihrerseits nicht vor der subjektiven oder körperlichen Erfahrung liegt, diese aber direkt mit hervorbringt – sprich, es handelt sich um das Verhältnis von Affekt zu einer dekolonialen Aisthesis. Hierin besteht für mich die Verknüpfung – wenn auch konzeptuell dem Westen entlehnt – eines anderen Wissens mit der aisthetischen Ebene von Erfahrung. Es handelt sich um den Prozess einer sich stets aufs neue situierenden und durch polyphone Relationen aus einer geteilten (partagé) Erfahrungsebene hervorgehenden Produktion von Wissen und Empfindungen. Sowohl Spinoza als auch Deleuze beschreiben Affekt als das Vermögen von Körpern, sich zu affizieren und dabei zugleich affiziert zu werden. Körper meint hier nicht allein menschliche Körper, die sich immer wieder neu und als raum-zeitliche Verdichtungen gegenseitig konstituieren. Zugleich sind es diese Körper als Attribute und Modifikationen der einen Substanz (im Sinne Spinozas Monismus), die Affekten einen Ausdruck verleihen, sprich, Effekte erzeugen und Affekte zu Empfindungen werden lassen. Jedoch ist der Körper 117 an sich nicht dem Geist überlegen oder umgekehrt. Viel eher verhält es sich Deleuze zufolge so, dass der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und dass das Denken umgekehrt das Bewusstsein übersteigt, das man von ihm hat. 27 Für Deleuze bestehen Körper selbst „immer aus unendlich vielen Teilchen: die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und Langsamkeit zwischen den Teilchen, die einen Körper in seiner Individualität definieren“. 28 Er betont, dass Affekt nicht eine intersubjektive Dimension der Wahrnehmung eines schon konstituierten Körpers oder Subjekts ist, sondern ein konstitutiver und polyphoner Prozess der Rhythmisierung, der sich als Quasi-Form Ausdruck verleiht. Er schreibt: „Es geht darum, das Leben, jede Individualität des Lebens, nicht als eine Form oder Formentwicklung zu begreifen, sondern als komplexes Verhältnis zwischen Differenzialgeschwindigkeiten, zwischen Verlangsamung und Beschleunigung von Teilchen. Eine Zusammensetzung von Schnelligkeit und Langsamkeit auf einem Immanenzplan.“ 29 Die Radikalität Spinozas, die ihm Anschuldigungen von Immoralität und Atheismus eingebracht hat, wirkt auch heute noch nach, wenn es darum geht, Dinge, Menschen oder Wesen nicht anhand ihrer ideellen Formen oder vorgegebenen Funktionen zu definieren, sondern anhand ihres relationalen Vermögens, zu affizieren und affiziert zu werden. Spinoza vollzieht meiner Ansicht 27 28 29 Gilles Deleuze, Spinoza: Praktische Philosophie, 1988, S. 28. Ebd., S. 160. Ebd. 118 nach einen fundamentalen Einschnitt in das Verhältnis von Geist und Körper, indem er mit dem Affekt auf der Immanenz beider insistiert und die Welt entlang affektiver Vermögen anstatt entlang von Formen, Dingen und Subjekten, also modernen ästhetischen Kategorien, denkt. In der Logik des Affekts verkompliziert sich die Trennung von aestheTics und aestheSis. Während man die Ästhetik als Teil der Modernität/Kolonialität im Sinne postkolonialer Kritik verstehen kann, ist die aestheSis als Gegenmodell problematisch, wenn hierdurch implizit wieder eine Trennung von Körper und Geist eingeführt wird. Außerdem scheint mir hier eine Manifestation von zwei Zeitlichkeiten problematisch, nämlich einer linear-ordnenden und unterwerfenden chronologischen Zeit der Modernität und der Ästhetik einerseits und einer reinen Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung in der aestheSis (oder Aisthesis) andererseits. Nun ist es kein Kunststück, zu konstatieren, dass Unmittelbarkeit und Prozessualität ineinanderwirken, um Zeitlichkeit empfindbar werden zu lassen und zugleich ein Vorhergehendes und ein Zukünftiges zu bedingen. Jedoch ist im Affekt, in seiner Kraft der Rhythmisierung, eine Immanenzebene geschaffen, die aufgrund der unterschiedlichen affektiven Vermögen von Körpern immer wieder neu Vergangenes und Zukünftiges hervorbringt – dies ist, was Deleuze Ethologie nennt: die Definition von tierischen, menschlichen aber auch physischen Körpern anhand der Affekte, zu denen sie fähig sind. 30 Das Vermögen und das Zusammenspiel von Schnelligkeiten und Langsamkeiten, von affektiven Vermögen ist Ethik als 30 Ebd., S. 162. 119 Ethologie. Ethik bedeutet dann im praktischen Sinne, immer wieder neu und experimentell die Körper mit ihren Vermögen und Affekten in Resonanz zu bringen, sprich, raum-zeitliche Konstellationen herzustellen und zu fragen, inwiefern sich neue Möglichkeiten, neue Potenzialitäten der Verbindung und Affirmation eröffnen. Entgegen einer von Normen behafteten Moral muss eine Ethik „präsentisch“ agieren, um einen Begriff Isabell Loreys zu borgen – sprich, es geht darum, in der Präsenz der vorhandenen Praktiken, Körper und Kräfteverhältnisse neue konstituierende Prozesse in Gang zu bringen. 31 Wenn Cusicanqui auf den dekolonialen Praktiken von zum Beispiel Indigenen insistiert, dann aufgrund des Vermögens dieser Praktiken, zu affizieren und affiziert zu werden, auf eine Art und Weise, die kolonial-moderne Machtkonstellationen herausfordert – auf der Ebene der Ordnungen und Logiken, die bestimmte Affizierungen zu unterbinden versuchen. Zugleich proklamiert Cusicanqui, dass es hierzu einer Dekolonisierung von Gesten, Akten und Sinnesweisen bedarf und es nicht allein um diskursive Verschiebungen gehen kann, die ihrerseits bestehende Wissensordnungen nicht hinterfragen. 32 An dieser Stelle möchte ich mit Spinoza etwas hinzufügen, denn die Praxis, die Geste und der Akt sind sowohl von eher körperlichen als auch von eher geistigen Aspekten geprägt, begrifflich ebenso wie materiell ohne jegliche Trennung, sondern viel eher eine Kollektivität von temporellen und räumlichen Kräften 31 Isabell Lorey, „Non-representationist, Presentist Democracy“, 2011. 32 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012, S. 105. 120 hervorbringend, die nur gemeinsam als konstituierende Macht zum Ausdruck kommen. Das Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, das allen Körpern gemein ist (also auch allen nichtmenschlichen Körpern), definiert eine pragmatische und affirmative Ethik und somit eine affektive Politik. Eine solche Politik wird zu einer affirmativen Ethik, die in den Worten Rosi Braidottis „on a time-continuum that indexes the present on the possibility of constructing sustainable futures“ basiert. Weiter führt sie aus: „[H]ow to select, assess and format these forces so as to make them into sustainable relations, becomes the crucial issue and the main task of critical thought. This vision makes an ethics for affirmation also into an ethology of forces.“ 33 Eine solche Ethologie der Kräfte stellt sich nicht als Negativität einer Gegenwart entgegen, sondern sucht nach neuen Divergenzen durch eine affirmative Praxis. Ähnlich lässt sich Cusicanqui verstehen, wenn sie schreibt: „The indigenous world does not conceive of history as linear; the past-future is contained in the present. The regression or progression, the repetition or overcoming of the past is to play in each conjuncture and is dependent more on our acts than our words.“ 34 In dieser Verknüpfung von Zeitlichkeiten und divergierenden Optionen liegt die Arbeit einer affektiven Politik als dekolonialer Aisthesis. Es geht hierbei nicht nur (aber auch) um das gegenwärtige Generieren neuer Rosi Braidotti, „New Activism: A Plea for Affirmative Ethics“, 2011, S. 267. 34 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012, S. 96. 33 121 Zukünfte, indem man andere Vergangenheiten aktiviert. Diese Prozesse zeitlicher Ineinanderfaltung sind die Basis der Emergenz von Körpern, und deren raum-zeitliche Manifestation zieht konkrete Effekte der Differenz nach sich. Affektive Politik bedeutet aber auch das Affirmieren von Kontrasten und vermeintlich heterogenen und teilweise gegensätzlichen Elementen, die in ihrem gemeinsamen Erscheinen eine differenzielle Polyphonie hervorbringen können, ohne homogenisieren zu müssen. Diese Kontraste in ihrer Differenz und Resonanz zu belassen heißt auch, Zeitlichkeiten und Orte miteinander zu verbinden, neue Allianzen zu schließen und die Potenzialitäten und Vermögen in ihrer Komplexität als unabgeschlossene Offenheit zu affirmieren. Eine dekoloniale Aisthesis konstituiert sich als eine Bewegung an den Rändern des Denkens und Empfindens. Ebenso agiert sie von den Rändern der Orte und Praktiken aus, die in den hegemonialen Narrativen westlicher ästhetischer Philosophien meist nur als Objekte auftauchen und nicht als divergierende Praktiken inmitten der Gewalt von Kolonialität/Modernität. Ein „thinking-with“ und „in the presence of“ als eine Ethik der Affirmation meint aber auch ein anderes Sprechen und Schweigen, Hinhören und vorsichtiges Fragen und Lernen, die sich in Praktiken dekolonialer Aisthesis Raum und Zeit verschaffen. 122 Earthly Relational Aesthetics Eine post-koloniale Differenzierung mit Glissant Christoph Brunner, Ines Kleesattel Mit diesem Beitrag schlagen wir eine post-kolonial differenzierte Neufassung der Relationalen Ästhetik vor. Ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit Nicolas Bourriauds Konzeption derselben plädieren wir dafür, diese zu rekonzeptualisieren und stärker an einen differenzbedachten und ökologischen Materialismus zu binden. Durch das Denken von Félix Guattari, Donna Haraway und vor allem Édouard Glissant angeregt, sprechen wir uns für eine historisch wie materiell verstrickte relationale Ästhetik aus; für eine Earthly Relational Aesthetics, die sowohl kritisch situiert als auch spekulativ poetisch hervorbringt. Für einen politischen Anspruch gegenwärtiger Ästhetik scheint es uns notwendig, den beschränkten und oft noch immer idealistischen Horizont ihrer westlich hegemonialen Setzungen zu erweitern: hinsichtlich diverserer (nicht nur künstlerischer) ästhetischer Praktiken, eines institutionskritischen Blicks auf ‚die Kunst‘ und einer nicht länger dermaßen anthropozentrischen Konzeption sinnlicher Erfahrung. Wenn wir von einer Earthly Relational Aesthetics sprechen, verweisen wir damit auf die Relationstheorien von Glissant und Haraway. Für beide Autor*innen ist Relationalität keine bloße Verbindung von Subjekten, Entitäten oder Objekten, sondern eine grundlegende Ebene prozessualen Werdens. Die materiell-sinnlichen Ausdrucksweisen dieses kollektiven Werdens fordern die traditionelle westlich-europäische Ästhetik heraus, 125 die sinnliche Erfahrungen an ein empfindendes Subjekt bindet. Glissant folgend beziehen wir uns auf eine esthétique de la terre 1 und gehen mit Haraway von einer lokal verorteten und zugleich translokal multirelationalen „Erdgebundenheit“ 2 der Ästhetik aus. Als existenziell-materielle sowie dynamisch-historische impliziert diese Erdgebundenheit dabei die globalisierten Bewegungen kolonialer Aneignung und kapitalistischer Wertextraktion. Erde wird hierbei klar von Territorium – und somit auch von einem heimatlichursprünglichen Erde-Begriff im Sinne Heideggers – unterschieden. Für Glissant ist „Territorium“ immer die „Basis für Eroberung“, wohingegen „Erde“ gemäß seinem post-kolonial materialistischen Verständnis auf die Ästhetik eines „variablen Kontinuums und eines invarianten Diskontinuums“ verweist. 3 Die Relationale Ästhetik als Earthly Relational Aesthetics zu rekonzeptualisieren heißt für uns also, von einer post-kolonialen ästhetischen Praxis zu lernen, die bereit ist, den „Schrei der Welt“ zu vernehmen, in dessen von Brüchen, Rissen und ohrenbetäubender Stille durchsetzter „Vermischung von Stimmen, wo es nicht mehr darum geht, der ersten Klage stattzugeben oder sich haltlosen Hoffnungen zu überlassen“. 4 Von einer Glissant’schen „erdlichen Ästhetik“ zu lernen, die eine mehr-alsmenschliche, kollektive „Kunst des Schwangergehens, Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 165. Vgl. dazu Donna Haraway, Unruhig bleiben, 2018, S. 61 f., bzw. Staying with the Trouble, 2016, S. 41 f. 3 Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 166; Übersetzung Glissants aus dem Französischen hier und im Folgenden von den Autor*innen. 4 Édouard Glissant, Traktat über die Welt, 1999, S. 11 u. 22. 1 2 126 Imaginierens und Agierens“ 5 ist und damit eine poetische Produktivität (bzw. eine poétique de la relation) beinhaltet, die nicht mehr dermaßen vom individualistischen Subjekt der westlichen Aufklärung ausgeht, das sich über seine als passiv vorgestellte Umwelt erhebt. Bourriauds Relationale Ästhetik und Guattaris ästhetische Ökosophie Nicolas Bourriauds Konzeption der Relationalen Ästhetik wurde insbesondere seit der englischen Übersetzung von Esthétique relationnelle ebenso breit rezipiert wie kritisiert. Obwohl gute Gründe für Skepsis gegenüber Bourriauds allzu optimistischen Annahmen über die Kunstwelt bestehen – wenn er Kunst beispielsweise als ein „engelsgleiches Programm“ bezeichnet, das „Risse im sozialen Gefüge kitten“ und antikapitalistische Formen des Gemeinschaftlichen realisieren würde 6 –, halten wir eine auf materialistische Relationalität konzentrierte ästhetische Theorie für durchaus wichtig. Ästhetische Praktiken als materielle Relationalität zu verstehen heißt, sie als Prozesse sinnlicher Hervorbringung mit und durch diverse körperliche, soziale und stoffliche Kräfte zu fassen. Bourriaud zitiert in diesem Zusammenhang, aber ohne Glissant schreibt auf französisch: „esthétique est un art de concevoir, d’imaginer, d’agir“ (Poétique de la Relation, 1990, S. 169), was Betsy Wing wörtlich ins Englische übersetzt mit: „aesthetics is an art of conceiving, imagining, and acting“ (Poetics of Relation, 1997, S. 155). Das französische „concevoir“ wie auch das englische „conceiving“ meinen sowohl „empfangen“ als auch „entwerfen“, „konzipieren“ oder „begreifen“. Mangels eines deutschen Wortes, das diese Gleichzeitigkeit von Empfängnis und Produktivität zum Ausdruck bringen könnte, scheint uns „Schwangergehen“ eine sinnvolle Übersetzung. 6 Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, 2002, S. 36; Übersetzung von den Autor*innen. 5 127 weitere Ausführungen, Louis Althussers „Materialismus der Begegnung“. Diesem zufolge gibt es innerhalb der „weltlichen Kontingenz“ keine dem Sinnhaften vorgängigen Entitäten, auch menschliche Gemeinschaft setzt sich wesentlich „trans-individuell“ relational zusammen. 7 Zwar erklärt Bourriaud in diesem Zusammenhang, dass die Relationalität materialistischer Begegnungen stets historisch ist, doch sein Fokussieren auf das Zusammenkommen von Menschen im exklusiven Rahmen von Ausstellungssituationen führt zu einer Vernachlässigung von spezifischen Machtbeziehungen und Stratifizierungen (zum Beispiel Institutionen), die soziale und materielle Begegnungen konditionieren. 8 Entgegen Bourriauds Relationaler Ästhetik geht es uns um einen „Materialismus der Begegnung“, der nicht nur anthropozentrismuskritisch ist und mehrals-menschliche Begegnungen forciert, sondern auch die geopolitische und soziohistorische Dimension aller Erfahrungen berücksichtigt. In Rückbesinnung auf eine kapitalismuskritische Ökologie, wie sie sich in Guattaris „Neuem Ästhetischen Paradigma“ findet, Ebd., S. 18–24. Diese Machtblindheit verstärkt sich gegenüber seinen Ausführungen in Esthétique relationnelle in ihrer Problematik zusätzlich, wenn Bourriaud neuerdings eine mehr-als-menschliche Co-Aktivität adressiert, indem er der Istanbul Biennale 2019 als internationaler Kunst-Mega-Show zuschreibt, sie befördere „dialogue and mutual commentaries within a hybrid, creolizing, globalizing world that includes nonhumans“. Irritierenderweise hält ihn seine vermeintlich ökologische Hinwendung zum „phenomenon of the Anthropocene“ nicht davon ab, technik- und digitalisierungspessimistisch nach einer globalen „return of humanity, to all the areas we have vacated“ zu rufen (Nicolas Bourriaud, „Coactivity. Between the Human and Nonhuman“, 2019). 7 8 128 möchten wir deshalb eine differenziellere Konzeption der Relationalen Ästhetik vorschlagen. Was Guattari „Neues Ästhetisches Paradigma“ nennt, besteht in einer direkten Verschränkung von künstlerischer Praxis, Subjektivierungsweisen, kollektiver Produktivität und environmentaler Ökologie: „Unser Überleben auf diesem Planeten ist nicht nur durch die Umweltschäden bedroht, sondern auch durch die Degeneration des Gewebes der sozialen Solidaritäten und der Modi des psychischen Lebens, die es buchstäblich wieder zu erfinden gilt. Die Umgestaltung des Politischen wird über die ästhetischen und analytischen Dimensionen erfolgen müssen, die in den drei Ökologien Umwelt, Sozius und Psyche enthalten sind. Ohne eine Veränderung der Mentalitäten, ohne das Vorantreiben einer neuen Kunst, in Gesellschaft zu leben, kann man sich keine Antwort auf die dem Treibhauseffekt geschuldete Vergiftung der Atmosphäre und die Erwärmung des Planeten, keine einfache demographische Stabilisierung vorstellen. […] Ohne eine neue Art und Weise, die politische und ökonomische Demokratie unter Achtung kultureller Unterschiede zu begreifen, […] kann man sich eine kollektive Rekomposition des Sozius […] nicht vorstellen […]. Die einzige akzeptable Zweckbestimmtheit menschlicher Tätigkeiten ist die Produktion einer Subjektivität, die auf kontinuierliche Art und Weise ihre Beziehung zur Welt selbst-erweitert. […] [D]ie Dichtung [hat uns] heute vielleicht mehr zu lehren als die Wirtschaftswissenschaften, die Humanwissenschaften und die Psychoanalyse zusammen!“ 9 9 Félix Guattari, Chaosmose, 2014, S. 32 f. 129 Guattaris Kunstinteresse gründet also weder in einer Faszination für das vermeintlich außergewöhnliche Schaffen von Künstler*innen noch im Anliegen einer Ästhetisierung des Sozialen, sondern vielmehr in der Beschäftigung mit produktiven Prozessen der Heterogenese. Mit Heterogenese meint Guattari Prozesse eines kollektiv-relationalen Werdens unterschiedlicher materieller und sozialer Kräfte, ohne dass deren Zusammenspiel homogenisierend einen universellen Charakter annimmt. Heterogenese geht dabei von irreduziblen Differenzen aus, während sie zugleich eine stetig fortschreitende Differenzierung betreibt. Damit hält Guattaris Ökosophie eine nuanciertere und kritischere Ästhetik bereit, als sie Bourriauds „Materialismus der Begegnung“ im Sinne eines humanistischen Dialogs in der Tradition der europäisch-universalistischen Aufklärung in Anschlag bringt. Relationale Ästhetik durch verschiedene Currys differenzieren Zu Bouriauds meistzitierten Beispielen relationaler Kunst zählen die Projekte von Rirkrit Tiravanija. Tiravanija gelangte in den 1990er-Jahren dadurch zu Bekanntheit, dass er in seinen Ausstellungen nicht objekthafte und vermarktbare Kunstwerke präsentierte, sondern die Ausstellungsbesucher*innen zu selbstgekochtem Essen einlud. Für Untitled (Free) von 1992 verlegte er das Lager und Büro einer New Yorker Galerie in den Ausstellungsraum und richtete im Lagerraum eine temporäre Suppenküche ein. Während der siebenwöchigen Ausstellung bekochte er die Besucher*innen täglich gratis mit Thai Curry. Was als künstlerische Arbeit hier unter dem Titel Untitled (Free) firmiert, 130 ist das Ereignis selbst, die kommunikative und konviviale Situation des gemeinschaftlichen Essens. Bourriaud zufolge verwirklichen die „konvivialen Situationen“ Tiravanijas inmitten einer kapitalistisch rationalisierten Welt eine „Kultur der Freundschaft“ 10. Dabei erachtet er die „Idee einer Inklusion des Anderen“ und die „Aufforderung zu Harmonie und Gemeinschaftlichkeit“ als „essenziell für das formale Verständnis“ von relationaler Kunst. 11 Diese Auffassung Bourriauds rief harsche Kritik auf den Plan. Claire Bishop argumentierte (wie nach ihr viele andere), dass Tiravanijas Projekt – das in einer Kunstgalerie stattfand und folglich ein privilegiertes und verhältnismäßig homogenes Publikum von Galeriebesucher*innen involvierte – eine elitäre, sich selbst bestätigende Gemeinschaft formierte und weit entfernt von jeder antikapitalistischen und radikaldemokratischen Verwirklichung sei. 12 Zudem verschlimmere Bourriauds Theorie diesen Umstand noch, indem Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, 2002, S. 32. Ebd., S. 52 u. 53. 12 Vgl. Claire Bishop, „Antagonism and Relational Aesthetics“, 2004. Hinsichtlich Bishops Vorwurf der elitären Exklusivität scheint uns bemerkenswert, dass Liam Gillick in einer Antwort auf Bishop Folgendes berichtet: „When Bishop asks of Tiravanija’s exhibition at the Köln Kunstverein, ‚Who is the „everyone“ here?‘, it is quite obviously anyone who wants to walk through the open doors into the free exhibition. […] On my visit, late at night, to Tiravanija’s exhibition, I came across exactly the kind of diverse group of local people that she claims to be excluded by the purview of the project. The work was used by locals as a venue, a place to hang out and somewhere to sleep. I doubt that she was ever there.“ (Liam Gillick, „Contingent Factors“, 2006, S. 105). Obgleich Gillicks Erzählung sich auf ein anderes Projekt von Tiravanija bezieht, ist es durchaus möglich, dass auch der an Untitled (Free) teilnehmende Personenkreis sehr viel heterogener war, als es Bishop auf Grundlage von Berichten von Kunstkritiker*innen wie Jerry Saltz annimmt. 10 11 131 sie diese spezielle Gemeinschaft universalisiere und damit die sie bedingenden Exklusionsmechanismen verschleiere. Es gibt allerdings ein wichtiges Detail, das in den Texten der meisten Kritiker*innen Tiravanijas keine Beachtung fand. Auch Bourriaud blendet es aus – was sich nicht nur für die Rezeption Tiravanijas, sondern für das ganze Konzept der Relationalen Ästhetik als fatal erweist. Tatsächlich kochte und servierte Tiravanija nämlich zwei verschiedene Curryversionen: ein scharfes Pad Thai mit thailändischen Zutaten und ein milderes mit Zutaten aus den USA. Während dieser Umstand in den späteren Deutungen von Untitled (Free) als relationaler Kunst im Sinne Bourriauds nicht mehr auftaucht, schreibt Lois Nesbitt seinerzeit: „In a subtle critique of Western tendency to stereotype ethnic products, he served both ‚authentic‘ curry made with Thai vegetables and a New York variant made with local products.“ 13 Wir halten dieses Detail für äußerst entscheidend, da es eine komplexere, differenziellere relationale Ästhetik forciert als diejenige, die Bourriaud vorschwebt. Aus Tiravanijas Untitled (Free) geht eben nicht eine harmonische Gemeinschaftlichkeit hervor, sondern eine Begegnung von kulturellen Unterschieden auf der Ebene kulinarischer Geschmäcker, was diverse Zirkulations-, Migrations- und Machtverhältnisse involviert. Diese Begegnung besteht aus verschiedenen Gewürzen und anderer (teils weit gereister) essbarer Materie sowie unterschiedlich sozialisierten Geschmacksrezeptoren, Zungen und Gaumen. Folgen wir Bourriauds Verweis auf Althussers Materialismus der Begegnung, so ist es die Materialität des 13 Lois Nesbitt, „Rirkrit Tiravanija: 303 Gallery“, 1992, S. 95. 132 Essens selbst, die Sinnesdifferenzen des Geschmacks mit geopolitischen Verhältnissen und der Zirkulation von Nahrungsmitteln verbindet. Die verschiedenen Zutaten erzeugen ein materielles Essenskontinuum und betonen die ökologischen Verwicklungen von Sozialem, Materiellem und Umweltlichem, ähnlich wie es Guattaris Neues Ästhetisches Paradigma vorschlägt. Wenn Tiravanijas Arbeit eine Neubegründung von Politik mit sich bringt, dann handelt es sich um eine Neubegründung durch ästhetische Erfahrung, die sowohl die ökologischen und sozialen als auch die physischen Dimensionen materieller Differenzen einbezieht. Es geht hier konkret um ästhetische Erfahrung als zentralen Prozess der Subjektivierung. Für Guattari ist die Produktion von Subjektivität der wichtigste Angelpunkt seines Politik- wie auch Ästhetikverständnisses. Subjektivierung entfaltet sich mit und durch eine Earthly Relational Aesthetics, die entlang mehr-als-menschlicher Dimensionen von materiellen und sinnlichen Faltungen verläuft. Bezogen auf Untitled (Free) hängt die Situation von ihrem spezifischen Ort ab, in diesem Fall einem Ausstellungsraum mit Gratis-Essen – eigentlich ein Szenario, das mit Suppenküchen für Obdachlose assoziiert wird – inmitten einer westlichen Metropole mit ihren homogenisierenden Geschmackspolitiken und -stratifizierungen. Tiravanijas Arbeit verweist zugleich auf die materiellen Aspekte kolonialer Verwicklungen in einer post-kolonialen Gegenwart. Die Zirkulation von Gütern und der herausgestellten materiellen Einschreibungen vermittelt ein Gefühl für den globalisierten Kapitalismus, der kolonisierte Territorien durchdringt und ihre Geschmacksnuancen extrahiert. Es ist dieses Ineinanderwirken von sinnlicher Erfahrung, erdlicher Materialität und der kulturellen 133 Zirkulation von Waren und Geschmack, das in der Arbeit Tiravanijas ein Zusammenkommen von Guattaris ethisch-ästhetischem Paradigma und Glissants Poetik der Erde erahnen lässt und das eine tiefgreifende Erweiterung des bisherigen Verständnisses von Relationaler Ästhetik mit sich bringt. Für eine Earthly Relational Aesthetics sind die Differenzen zwischen den beiden Currys prioritär – als differenzierende Begegnung mit unabsehbaren Vermischungspotenzialen, nicht als dualistische Kontrastierung zwischen ‚exotischem‘ Original und westlicher Kopie. Anhand der empfindbaren Differenz werden materiell-soziale Bindungen in der Praxis des Essens und Schmeckens deutlich. Sie ermöglicht es einer post- und dekolonialen Kritik, Teil der ansonsten reduktiven Rahmung von Konvivialität zu werden. Zugleich widersteht ein erdlicher Materialismus der Begegnung einer enthistorisierenden Metaphysik der Unmittelbarkeit. Mit Blick auf die materiellen Verstrickungen des Erdlich-Sozialen bietet eine Earthly Relational Aesthetics kantischer Transzendenz Einhalt und betont die Untrennbarkeit von Natur und Kultur. Die zwei Currys manifestieren eine körperliche Begegnung mit einer ganzen Reihe spezifischer kultureller, historischer und sinnlicher Züge, die ihre Spuren auf Zungen hinterlassen und die Verdauung passieren. Ohne die Sinnesmodalitäten trennen zu wollen, sehen wir in Tiravanijas subtiler Modulation des Geschmackssinns und in den daraus entstehenden Differenzierungen das Aufrufen einer erdlichen Ästhetik, die unterschiedlichste, von historischen Linien des Kolonialismus durchzogene Orte in Beziehung zu setzen vermag. 134 Glissants relationale Poetik: Landschaft, Erde, Worlding Wenn Guattari von einer „Kunst in der Gesellschaft zu leben“ spricht, die immer wieder aufs Neue erfunden werden muss, spielt er damit auf Prozesse nichtindividualistischer Subjektivierungen als Grund solcher Kunst an. Subjektivität ist für ihn vergleichbar mit dem, was Glissant als die „Leidenschaft der Erde [oder des Ortes oder Landes], wo man lebt“, bezeichnet. 14 Während Glissant den Lebensort und das materielle Land als Erde meint, wollen wir seinen erweiterten Begriff von Land/Erde mit dem des „existentiellen Territoriums“ bei Guattari verknüpfen. Für Glissant ist die Erde oder der Ort, „wo man lebt“, weit mehr als ein Herkunftsnarrativ. Vielmehr handelt sich um eine durch die Landschaft empfundene und mit der Materialität der Erde verbundene raumzeitliche Intensität. In ähnlicher Weise erlauben es „existentielle Territorien“ im Sinne Guattaris – konträr zu Glissants Absage an den Begriff –, spezifische Linien der Subjektivierung im Werden zu erkennen sowie die materiellen und nichtkörperlichen Wertuniversen (wie Affekte) in ihrer Wirkung auf die Subjektivierung anzuerkennen. Existenzielle Territorien bewegen sich stets entlang dieser Werte und kreieren so eine immanente Verbindung zwischen dem, was sich an eine spezifische körperliche Situation bindet (Erde), der eine solche Situation ermöglichenden Vergangenheit (Landschaft) und dem potenziellen Werden dieser Territorien (Worlding). Im Folgenden werden wir uns auf diese Linien in ihrem subjektivierenden Wirken beziehen und die Glissant’schen Begriffe der Landschaft [paysage] 14 Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 165. 135 als lokaler und historischer Einschreibung von Erfahrung, der Erde als materiellem und körperlichem Ausgangspunkt für eine „Poetik der Relation“ 15 und deren Worlding als spekulatives Relais erkunden. Im Zusammenspiel von Erde, Landschaft und Worlding entfaltet sich das poetische Potenzial einer relationalen Ästhetik – unabgeschlossen und zugleich bestimmt in ihrer politischen Verortung. Glissants Texte enthalten zahlreiche Passagen, die sich auf spezifische Landschaften beziehen, auf deren geologischen wie biologischen Reichtum in ständiger Transformation und Differenzierung. Im Schreiben über Landschaft bringt er eine doppelte Bedeutung von Chaos in Anschlag: eine, „die keine Sprachen kennt, aber quantifizierbare Vielheiten von ihnen hervorbringt“, und eine, die „eine der Kolonisation inhärente strukturelle Unordnung“ produziert. 16 Er führt weiter aus, „ChaosWelt [chaos-monde] ist weder Fusion noch Konfusion. Sie erkennt weder die uniforme Mischung – eine gefräßige Integration – noch ein vermurkstes Nichts an.“ 17 Die post-kolonial globalisierte Chaos-Welt birgt für Glissant das Potenzial für neue Subjektivierungen wie auch für präzisere Wahrnehmungen der kolonialkapitalistischen Operationsweisen der Moderne (zu denen auch die westliche Ästhetik gehört). So agiert das Chaos in zweifacher Weise: als zersetzende Kraft und als sich aus materiellen wie historischen Situationen und Bewegungen ergebender Möglichkeitsraum. Hier und im Folgenden verwenden wir weiterhin den geläufigeren Begriff „Poetik“ (wie auch Glissant von poétique spricht), während wir ihn jedoch als poiesis, also Hervorbringung, verstehen. 16 Ebd., S. 139 f. 17 Ebd., S. 108. 15 136 In der Schilderung einer Situation am Diamant-Strand an der Südküste Martiniques verbindet Glissant ein Landschaftsnarrativ, das die „rhythmische Rhetorik der Bewegung des Strandes“ im aufgewühlten Zustand während der Regenzeit hivernage hervorhebt, mit der Begegnung eines sprachlosen Mannes. Glissants Erzählung zufolge hat dieser sein Sprachvermögen verloren, weil ihn die Gewalt der Kolonisierung sprachlos gemacht hat. Im Folgenden erkundet Glissant die Küste; ihre chaotische Komposition, in der sich bereits die wiederkehrende Hitze ankündigt, die Rhythmen und Bewegungen von Körpern am Strand, die nichtsdestotrotz imstande sind, durch Gesten zu kommunizieren. Dergestalt wird die chaotische Landschaft durch ein poetisch relationalisierendes Worlding entfaltet, während sie zugleich befleckt ist von der ihrerseits chaotischen und disruptiven Ökonomie des (Post-)Kolonialismus. Den Begriff des Worlding übernehmen wir an dieser Stelle von Haraway – die ihn in dezidierter Abgrenzung von einem „griesgrämig-heideggerianischen Welten des menschlichen Exzeptionalismus“ 18 setzt –, um den spekulativ-hervorbringenden Aspekt der Poetik der Relation als Worlding Poetics zu bezeichnen, die die ChaosWelt als polyphone, dissensuelle tout-monde (All-Welt) zum Ausdruck bringt. Deshalb ist Glissants LandschaftSchreiben keine auktoriale Beschreibung, sondern ein spekulatives, aber erdgebundenes Worlding, das gewissermaßen kollektiv aus der Landschaft hervorgeht; es ist relational hervorbringende Poetik, in der die tout-monde „sich selbst erzeugt, das heißt, sich rechtmäßig der Kontrolle westlicher Erkundungen entzieht: den Entdeckern, 18 Donna Haraway, Unruhig bleiben, 2018, S. 22. 137 Händlern, Eroberern, Ethnologen – den Männern des Okzidents mit Intelligenz, Glauben und Gesetz“. 19 Am unruhigen Diamant-Strand situiert und durch diesen konkreten Ort auf die chaotische tout-monde bezogen – die für Glissant stets beides impliziert: (post-) koloniale Globalisierung und relationale Heterogenese –, fragt Glissant: „Gibt es eine stichhaltige Sprache für das Chaos? Oder kreiert Chaos nur eine Sprache, die reduziert und zerstört?“ 20 Über diese Fragen wendet er sich den aufkommenden Komplexitäten der Sprachlosigkeit des Mannes zu und dem auf Gesten beruhenden Kontakt, durch den das Verschwiegene und zugleich Ausdrucksvolle in seiner Resonanz mit der sich durch die Landschaft ausdrückenden Chaos-Welt empfindbar wird. Diese Sprache des Chaos ist nur im Zusammenspiel der materiellen, historischen und spekulativen Ebenen von Erfahrung vernehmbar – durch eine Poetik der Relation, die sich nicht mehr in begrifflichen Definitionen oder wortsprachlicher Theorie fassen lässt. Glissants Landschaftsnarration ist – wie auch sein Sprachverständnis überhaupt – zutiefst von den historischen Gewalterfahrungen des Kolonialkapitalismus 21 geprägt. Carine Mardorossian führt hierzu aus: „Glissant’s work highlights the ways in which language and history construct, without subsuming, both humanity and the environment, body and land. Inversely, he also shows how in interacting with human beings, the land’s specificity Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 38. Ebd., S. 138. 21 Mangels besserer Alternativen verwenden wir den Begriff Kolonialkapitalismus. Zugleich gehen wir davon aus, dass jede Form von Kapitalismus auf kolonialen Strukturen gründet. 19 20 138 codetermines and permeates our identities and representational structures.“ 22 Statt die gewaltvoll chaotischen kolonialkapitalistischen Bedingungen, die durch seine Erfahrung von Landschaft wahrnehmbar werden, bloß zu konstatieren oder zu beklagen, schlägt Glissant vor, „zu den Quellen unserer Kulturen und der Mobilität ihres relationalen Inhalts zurückzukehren, um eine bessere Wertschätzung dieser Unordnung zu erlangen und um jede Aktion entsprechend zu modulieren“. 23 Diese zunächst etwas befremdlich anmutende Unterbreitung meint keinesfalls eine Rückbesinnung auf kulturelle Ursprünge und deren Wiederherstellung. Vielmehr geht es Glissant – der hier nicht zufällig von Kulturen im Plural und ihrer inhaltlichen Beweglichkeit spricht – um ein Erinnern an das, was durch die Landschaft verläuft und qua einer Poetik der Relation anstelle kapitalistischer Stratifizierung heterogenisierend „relationale Inhalte“ hervorzubringen bzw. zu aktivieren vermag. So experimentell die Begegnung am Diamant-Strand einerseits anmuten mag, so konkret sind Glissants Vorschläge andererseits. Dem Kolonialkapitalismus als schmerzhaftem „Produkt struktureller Unordnung“, die „keine Planung einer ideologischen Ordnung jemals korrigieren könnte“, stellt Glissant eine „Ökonomie der Unordnung“ gegenüber, die sich durch den „zyklischen, wechselhaften und mutierenden“ Rhythmus der Landschaft entfaltet. 24 Mittels der Beobachtung der Landschaft und im poetischen Austausch mit ihr erschließt sich hier die dichte 22 23 24 Carine Mardorossian, „Poetics of Landscape“, 2013, S. 989. Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 140 f. Ebd. 139 Präsenz dieses spezifischen Ortes in der Sprache des Chaos; als spekulativer Ausdruck der chaotischen toutmonde selbst. Glissants Schreiben unternimmt also ein poetisches Worlding mit und durch Landschaft – um das sich in der Welt verkörpernde Relationale „zu öffnen und zu vervollständigen“. 25 Im Beobachten der Landschaft schreibt er: „[W]as jede*r erhofft zu sehen [ist] die Erde, die aus dem Abgrund aufscheint und sich ausdehnt.“ 26 Dieses materielle und sinnliche Worlding ist ein beständiges, spekulatives und entschieden mehr -als -menschliches Werden, in das sich Subjektivierungsweisen einschreiben, ohne sich davon lösen zu können. Innerhalb einer Poetik der Relation ist Poetik nie das Produkt einer subjektiven Verwendung von Sprache, sondern entsteht in prozessualen und verwickelten Begegnungen unterschiedlicher Materialitäten und Dynamiken. Die alltagspraktische Dringlichkeit eines solchen Worlding formuliert Glissant in Worten, die uns sowohl an Guattaris antikapitalistische Ökosophie als auch an Tiravanijas Curry-Differenzierung denken lassen: „Entgegen der Standardisierung, die die Affekte der Menschen verstört, indem sie diese durch das internationale Handhaben und Handeln von Gütern ablenkt, entweder in Zustimmung oder gezwungenermaßen, besteht die Notwendigkeit, die Vorstellungen und Ästhetiken der Bezugnahme zur Erde zu erneuern. […] Die Standardisierung des Geschmacks wird durch industrielle Mächte gelenkt. […] Eine solche internationale Standardisierung der Konsumation lässt sich nicht umkehren, solange die diversen Sensibilitäten der Gemeinschaften nicht grundlegend verändert 25 26 Édouard Glissant, L’intention Poétique, 1969, S. 17. Ebd., S. 15. 140 werden, indem man die Perspektive auf die oder zumindest die Möglichkeit einer relationalen Ästhetik zur Erde erneuert.“ 27 Zeigt sich mit Blick auf Tiravanijas zwei Currys – deren Situierungen und Relationalitäten – nicht eine ganz ähnlich dringliche Möglichkeit: nämlich Standardisierungen des Geschmacks durch die Differenzierungen einer Earthly Relational Aesthetics herauszufordern? Unserer Ansicht nach lassen sich die beiden Currys als Einladung für eine geschmackliche Spekulation vorstellen; für ein Worlding, das durch die erdlichen Materialitäten des Essens, die körperlichen Vermögen des Schmeckens und entlang verschiedener kultureller Konditionierungen eine post-koloniale Heterogenese des Sinnlichen und eine differenziertere Empfindsamkeit gegenüber der konstitutiven Relationalität der Chaos-Welt erlaubt. Dabei ist entscheidend: So, wie Land/Erde bei Glissant nicht Heimat, sondern den chaotischen Lebensort bzw. das existenzielle Territorium meint, das Potenziale für noch nicht standardisierte Subjektivierungsweisen in sich trägt, so sind die beiden Currys nicht als dualistische Gegenüberstellung von ‚authentisch-exotischer‘ und verwestlicht-globalisierter Kulinarik misszuverstehen. Vielmehr stellen wir sie uns als nur zwei exemplarische, aber spezifisch situierte Intensitäten eines reichen materiellen Kontinuums vor; als kleinstmögliche Formation einer differenziellen Relationalität, die auszudrücken vermag: „Die Differenz trägt ebenso zur Fusion wie zur Differenzierung bei.“ 28 27 28 Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 162–165. Édouard Glissant, Philosophie de la Relation, 2012, S. 101. 141 Worlding Poetics: spekulativ, kollektiv, situiert Glissant zufolge ist es die Poetik, die eine diversifizierte esthétique de la terre erst ermöglicht. Als hervorbringende Potenz des Imaginären bringt uns die Poetik dazu, „mit der unfassbaren Globalität der Chaos-Welt schwanger zu gehen und zugleich einige Details daraus hervorzuheben – und insbesondere unseren Ort zu besingen, unergründlich und irreversibel“. 29 Eine so verstandene Poetik ist nicht nur mit Guattaris ökosophischer Ästhetik eng verwandt; auch Haraways Plädoyer für ein „Story Telling for Earthly Survival“ 30 begründet sich ähnlich: Sie insistiert auf der Lebensnotwendigkeit poetischer Praktiken, die uns eine „reichere und bessere Darstellung einer Welt, in der ein gutes Leben möglich sein soll“, 31 anbieten können. In einer imaginär agierenden, produktiven Ästhetik (das heißt Poetik) liegen Möglichkeiten für „reichere und bessere“ (das heißt konkretere, weil erdliche, situierte und nicht standardisierte) Darstellungen unserer gemeinsam geteilten Welt, Édouard Glissant, Traité du Tout-monde, 1997, S. 22; vgl. auch Édouard Glissant, Traktat über die Welt, S. 18. 30 So der gleichnamige Titel der Dokumentation mit und über Donna Haraway von Fabrizio Terranova (2016). 31 Donna Haraway, „Situiertes Wissen“, 1995, S. 78. Im englischsprachigen Originaltext schreibt Haraway „richer, better account of a world, in order to live in it well“ („Situated Knowledges“, 1988, S. 579). Die deutsche Übersetzung von „account“ als „Darstellung“ scheint auf den ersten Blick etwas unzulänglich, da im Wort „account“ die Begegnung und das Frequentieren einer Idee oder eines Gegenstands sowie das sich anschließende Verständnis auf Basis dieser Begegnung mitschwingen, während „Darstellung“ nach einem repräsentationslogischen Begriff klingt. Gut gewählt erscheint Darstellung jedoch dann, wenn man sich die frühere, heute kaum mehr gebräuchliche – und nur in der Chemie noch verwendete – Bedeutung von Darstellung als Synthese, die etwas Neues hervorbringt, in Erinnerung ruft. 29 142 die als Chaos-Welt unrein, undurchsichtig und unabgeschlossen bleibt. Poetische Praktiken, die „unruhig bleiben“ und in einer post-kolonialen, mehr-als-menschlichen Welt das „risky game of worlding and storying“ 32 spielen, unterbrechen die „triumphale Stimme“ der westlichen systematischen Wissenschaften, des abstrakten Denkens und der universalistischen europäischen Ästhetik nicht nur; sie eröffnen inmitten der anhaltenden Kolonialisierung eine widerständige und zugleich riskante Abzweigung. Diese ist weder alternativlos noch falsifizierbar noch klar umrissen, denn „Relation kann nicht ‚belegt‘ werden, weil man ihrer Totalität nicht habhaft werden kann. Aber sie lässt sich imaginieren“. 33 Das wiederum heißt nicht, dass Poetik keine Kriterien hätte, denn das Imaginäre, durch das eine Worlding Poetics hervorgebracht wird, ist weder bloßer Traum noch hohle Illusion. 34 Entscheidend ist, was ein Imaginäres in welchem Verbund ins Gewicht zu fallen lassen erlaubt, ob es „verschleppte Schreie und tödliches Schweigen“ 35 zu hören ermöglicht, weniger identitäre Subjektivierungen eröffnet, diversere Leben lebbar macht. Das Imaginäre einer spezifischen Landschaft – und der mehr als menschlichen tout-monde, die sich aus dieser entfalten lässt – muss spekulativ, aber sorgfältig sein; erdlich und kollektiv: „Der Anspruch, aus einem Besonderen ein Universelles abzuleiten, reizt uns nicht mehr. Es gilt vielmehr, das Material aller Orte selbst, ihre genauen 32 33 34 35 Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 13. Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 188. Vgl. Édouard Glissant, Traktat über die Welt, 1999, S. 18. Ebd., S. 22. 143 und unerschöpflichen Details und ihr überschwängliches Ensemble in ein heimliches Einverständnis mit jenen aller Orte zu bringen. Schreiben heißt, den Geschmack der Welt zu sammeln. Die Idee der Welt ist dabei nicht genug.“ 36 Ebenso wenig, wie eine abstrakte Idee (etwa die eines universalistischen Kosmopolitismus) für eine Worlding Poetics tauglich ist, wäre es der Verzicht auf Genauigkeit. Genauigkeit nicht als die penible Präzision eines Nichtsauslassen-Wollens, sondern als erdbezogene Sorgfalt, als bescheidenes Zuhören und freundliche Vorsicht [politeness] für das Leise und Kleine, das Mannigfaltige und Besondere. „The details matter. The details link actual beings to actual responsibilites“, schreibt Haraway, die dafür plädiert, sich im multi-species-storytelling in komplexe kollektive Worldings zu verstricken, während sie auch daran erinnert: „[W]e are not all response-able in the same ways. The differences matter – in ecologies, economies, species, lives.“ 37 ‚Wir‘ sind nicht alle auf gleiche Weise verstrickt, in jedem ‚Wir‘ finden sich divergierende Situiertheiten und Relationalitäten und damit unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten, response-able zu sein, ungleiche Vermögen des Zuhörens, Ansprechbar-Seins und sorgetragenden Wahrnehmens. Details fordern uns auf, sie anzunehmen, mit all den Unbequemlichkeiten und Potenzialen, die sie für uns und unsere Art des verantwortlichen Geschichtenerzählens mit sich bringen. Nochmals auf den stummen Mann am Strand zurückkommend, spricht Glissant den/die Leser*in direkt an: 36 37 Édouard Glissant, Traité du Tout-monde, 1997, S. 120. Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 116. 144 „Nimm ihn wahr, distanzierter Leser, der du die unmerklichen Details am Horizont nachbildest, dir vorstellst – der du die Freizeit und den Luxus hast, es dir vorzustellen – so viele geschlossenen und offenen Orte auf der Welt. Stell ihn dir vor, wie er in eine irreparable Erschöpfung fällt, oder wie er plötzlich aufwacht und zu schreien anfängt, oder wie er seine Familie allmählich auf ihn aufpassen lässt, oder wie er plötzlich ins Alltagsleben zurückkehrt, ohne weitere Erklärung. Er richtet diese kaum angedeutete Geste, die allen Sprachen vorausgeht, an dich. Es gibt so viel über die Welt zu offenbaren, sodass du ihn in seiner Perspektive sein lassen kannst. Aber er wird dich nicht mehr verlassen. Aus der Ferne wirft er einen Schatten, der in deine Nähe fällt.“ 38 In der Geste steckt die Öffnung einer Earthly Relational Aesthetics als einer Worlding Poetics, als Praxis einer Sprache, die sich im Materialismus – sprich im Detail, dem Ort und der Bewegung – immer wieder neu begegnet. Von der westlich-philosophischen Ästhetik wird diese Sprache beständig ignoriert, da sie in der Polyphonie, im Zuhören und im teilweisen Schweigen, in den Gesten passiert. Es ist eine Sprache, die sich vom Denken in Relation zum Ort des Geschehens nicht lösen lässt. Im Lesen und Zuhören können sich neue Begegnungen und neue Materialitäten entfalten. Zugleich ist für uns (die Autor*innen dieses Textes) wichtig, anzuerkennen, dass manche Orte nicht die unseren sind. So verstehen wir Glissants Ansprache als Einladung, die Tiefe der Gesten zwischen Form und Inhalt anzunehmen, mit ihnen zu werden und zugleich zu wissen, dass es nicht unsere Gesten sind. Wie also schreiben, eine Earthly 38 Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 224. 145 Relational Aesthetics, die in der ästhetischen Theorie eine Worlding Poetics praktiziert, sodass sie in der Präsenz der Gesten des Materiellen denkt und in Solidarität mit verschiedenen Orten, Personen und Erfahrungen handelt? to be continued, differently … 146 Es war einmal eine Ästhetik (die hatte sich selbst sehr lieb) Sofia Bempeza, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte das NeunbindenGürteltier-Shuttle (NBGT) mit einem energischen Zischen in sieben Richtungen auseinander, von unten nach oben, gleichzeitig mittendurch. Pink Fairy und Leafy Seadragon hingen vor der Armadillage. Heute ausnahmsweise nicht, um aus ihrem unerschöpflichen Speicher von Bild-, Ton-, Haptik- und Geruchsdokumenten wieder eine Kuriosität hervorzukramen, die sie zum Weiterdenken inspirierte. Da die Armadillage mit ihrer kombinierten Hologramm- und Beam-Technik in beschränktem Maß auch den Transfer von Materie erlaubte, ließ sie sich mit ein paar Kniffen in einen passablen Space-TimeMatterer verwandeln, der sich recht gut zum Austausch mit Wesen in anderen Gegenwarten eignete. (Das alte Scheinproblem, dass die historische ‚Ordnung‘ durch Zeitreisen durcheinandergeraten könnte, stellte sich freilich nicht mehr, seit das patriarchale Linearitätsparadigma im Variantenkosmos aufgelöst worden war.) Als Leafy Seadragon und Pink Fairy es endlich schafften, zu Lampe* 1 durchzukommen, gähnte dieser. 1 „Kants Haushälterin war ein Mann, der gute Lampe*! Über vier Jahrzehnte war Lampe* seinem Herrn treu ergeben. Im hohen Alter allerdings, als Lampe* wegen zunehmendem Alkoholismus nicht mehr zuverlässig war, musste er ihn entlassen. An einen neuen Diener, den sein Freund Wasianski eingestellt hatte, konnte Kant sich nicht gewöhnen. […] Wasianski sorgte dafür, daß Lampe* entlassen wurde. Er erhielt eine jährliche Pension unter der Bedingung, daß weder er noch irgendeiner seiner Angehörigen Kant je wieder belästigten. Seinen neuen Diener nannte Kant weiterhin ‚Lampe*‘. Um sich zu erinnern, schrieb er in eines seiner Notizbüchlein ‚Der Name Lampe* muß nun völlig vergessen werden!‘“ (Jürgen Rixe, „Haushälterinnen berühmter Philosophen“). 149 Die schrecklichen Schlaf-Wach-Rhythmen seines Arbeitgebers machten ihm noch immer zu schaffen, trotz der Anti-Trypasomiasis-Shots, mit denen Leafy Seadragon und Pink Fairy ihn seit Monaten versorgten. Leafy Seadragon und Pink Fairy wollten sich von Lampe* nochmals ausführlicher erzählen lassen, wie es in dessen Gegenwart dazu gekommen war, dass die Ästhetik für 250 Jahre dermaßen austrocknen und verkümmern konnte. Es hatte doch zunächst ganz gut begonnen und sprießte in diversen Gegenwartsvarianten auch heftig. Aber dort, in Lampes* Universum, hatte sich dann dieses merkwürdige – und zugegebenermaßen durchaus faszinierende – Etwas herausgebildet, das seinerzeit „Kunst“ genannt wurde und sich auf unbegreifliche Art von einem anders Gearteten namens „Nichtkunst“ unterscheiden sollte. Pink Fairy und Leafy Seadragon fiel es alles andere als leicht, den binär gebauten Argumenten zu folgen, die Lampe* so virtuos vorführen konnte. Seine Ausführungen dazu, dass Kunst eher als Institution denn als ein Etwas zu denken gewesen sei, schienen Leafy Seadragon und Pink Fairy zwar plausibel, kreierten aber auch wieder weitere Probleme. Hinzu kam, dass ihr liebstes Begehren unbeantwortet blieb, nämlich, dass diese Entitäten, die Philosophen oder auch Kant, Hegel oder Heidi hießen, „über ihr Sexualleben redeten …“ 2. An die Überraschungen, die transtemporale Kommunikation üblicherweise mit sich brachte, hatten sich Leafy Seadragon, Pink Fairy und Lampe* längst 2 Jacques Derrida, ungefähr zitiert nach Paul B. Preciado, Testo Junkie, 2016, S. 15. Wenn wir hier und im Folgenden „ungefähr zitiert“ schreiben, dann weil von uns einige Auslassungen und grammatikalische Anpassungen vorgenommen wurden. 150 gewöhnt. Um das intermediale Vergnügen noch zu steigern, hatten die drei beschlossen, schreibenderweise festzuhalten, welche Details in Lampes* Kosmosvariante um 1800 herum zur Trockenlegung und Einsperrung der Ästhetik beigetragen hatten – und an welchen Abzweigungen im Variantenkosmos Fenster übersehen worden waren, die zu öffnen vielversprechend sein könnte. Bislang jedoch hatte niemand eine einzige Zeile geschrieben. Lampes* Vorschlag, die altertümliche Technik des Schreibens zu verwenden, hatte bei Pink Fairy und Leafy Seadragon zwar einige Euphorie ausgelöst, aber dann machten weder sie noch Lampe* und noch nicht einmal die Armadillage den Anfang. Wahrscheinlich hatte das am Alleinsein gelegen, an der alten Einäugigkeit, die auch in Zeiten der Armadillage nicht völlig verschwunden war. Sie hatten vereinbart, dort zu beginnen, wo sich die drei jeweils gut auskannten: bei ihrer eigenen Situation. Lustvoll sollte es werden, „spielerisch“ hatte Lampe* gesagt, während Leafy Seadragon es „betörend“ haben wollte. Doch dann brachte das Alleinsein nichts anderes hervor als die Frage: Womit genau kenne ich mich überhaupt aus, was gibt es zwischen all den schönen Wissenslücken und was ist unsere ‚eigene‘ Situation überhaupt? Jetzt allerdings, da sich die drei endlich wieder gegenüberlagen, spuckte die Armadillage prompt etwas aus: „Wie lässt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß? Man schreibt nur auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine ins andere übergehen lässt. Behebt man die Unwissenheit, so verschiebt man das Schreiben auf morgen und 151 macht es vielmehr unmöglich.“ 3 Leafy Seadragon rollte mit dem Auge, strich dann aber grinsend über den vierten Gürtel der Armadillage und antwortete ihr: „Du Bescheidwisserin“. Lampe* runzelte die Stirn. Ihm lag die Frage auf der Zunge, ob sie echt schon wieder einem Wesen von der Sorte dieser Philosophen ihre Aufmerksamkeit schenken wollten, denn er hatte zu viele von denen als Dienstherren gehabt. Doch natürlich entsprang diese Sorge genau jener von Einteilungen strotzenden Weltwahrnehmung, die für Pink Fairy und Leafy Seadragon immer schwer vorstellbar war und die diesem staubigen, binär strukturierten Zeitalter angehörte, in dem es so viel Gewicht gehabt hatte, ob ein Wesen menschlich, alt, weiß, männlich war – oder nicht. Bevor sich Lampe* entscheiden konnte, ob er seine Bedenken nun äußern sollte, begann die Armadillage schon mal vorsorglich, das allenfalls notwendige Hintergrundwissen aufzusagen: „Als Projekt einer neuen allgemeinen Wissenschaft des sexualisierten Körpers entstand im 18. Jahrhundert eine neue sexuelle Anatomie, in der das weibliche Geschlecht aufhörte, die Inversion oder Verinnerlichung des männlichen Geschlechts zu sein, und zu etwas wurde, das gänzlich anders ist. Dies machte eine neue Ästhetik des Geschlechtsunterschiedes nötig, um mit ihr die anatomisch-politische Hierarchie zwischen den Geschlechtern (männlich/weiblich) und den ‚Rassen‘ (weiß/nichtweiß) zu legitimieren. Während die disziplinargesellschaftlichen Technologien der Subjektivierung den Körper von außen kontrollierten, waren die Technologien der pharmapornografischen 3 Ungefähr zitiert nach Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 2007, S. 13 f. 152 Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts Teil des Körpers, sie wurden Somatechnologien. Neurotransmitter modifizierten unsere Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten, Hormone wirkten systemisch auf Hunger und Schlaf, sexuelle Erregung, Aggressivität oder gesellschaftliche Lesbarkeit. …“ 4 – „Stop!“, pfiff Lampe* die sich in Rage informierende Armadillage zurück, „wir wollten dieses Mal doch versuchen, zügig zur Sache zu kommen – und unsere Somaenergievorräte sinnvoll und zielgerichtet nutzen! Also …“ – „Nein, warte!“, rief Leafy Seadragon und schüttelte den Kopf und ihre Fetzen, „ich bin noch müde von der Zeitreise mit dem NBGT-Shuttle und habe gerade erst zu denken begonnen.“ Der ShuttleWagon, der mit gemütlichen Lamettavorhängen, singenden Lautsprechern und duftenden Zitronenkugeln ausgestattet war, erwies sich als etwas eng für Wesen mit derart viel Volumen wie Leafy Seadragon. Aber das tat ihrer Neugier auf die alten Geschichten von Lampe* keinen Abbruch. Der erzählte mit Feingefühl, aber auch Unmut davon, wie es bei seinem pedantischen Philosophenherren gewesen war. Kant hatte seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen und jeden Nachmittag zur gleichen Uhrzeit seine Freunde getroffen – ein Leben voller Routinezwänge. Sein Schlafzimmer hatte er aus Angst vor Wanzen nie gelüftet und sich fürchterlich aufgeregt, wenn er Lampe* dabei erwischte, wie der das Fenster heimlich einen einladenden Spalt öffnete; 5 vollkommen unverständlich für Leafy Seadragon, die die 4 Ungefähr zitiert nach Paul B. Preciado, Testo Junkie, 2016, S. 78–119. 5 Vgl. Antje Herzog, Lampe und sein Meister, 2017, S. 74–75; Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, 1975, S. 177–187. 153 niedlichen Kleinchen liebte. Dieser Kant war Lampes* Berichten zufolge trotzdem meistens munter, fleißig und gut gelaunt gewesen, außer wenn der Hahn des Nachbarn krähte. Offenbar war Kant von den Geräuschen aus seiner Umwelt sehr irritiert und geriet in große Unruhe, wenn kleine Gegenstände im Haus auch nur ein wenig verschoben wurden. Lampe* seinerseits hatte unter den Ticks und Ordnungsprinzipien seines Arbeitgebers sehr gelitten. Er war von Kant sogar dazu abkommandiert worden, mit dem Hahn der Nachbarschaft persönlich zu reden, um diesem opulenten Tiervogel das ‚Sprechen‘ zu verbieten. So blieb Lampe* nichts anderes übrig, als durch jahrelanges Üben Hahnisch zu lernen – mit Erfolg. Zwischen Lampe* und dem Hahn entwickelte sich über die Jahre eine intime Freundschaft, die von polydimensionalem Austausch und Multi-Species-Neologismen geprägt war, bis der Hahn eines Tages im Suppentopf seiner Madame landete. Daraufhin konnte Lampe* den Alltag nur mehr mit Alkohol meistern, was ihn schließlich seine Stelle als Haushälter gekostet hatte, wie er nun zum ersten Mal erzählte. Leafy Seadragon und Pink Fairy dachten schweigend an all die Haushälter*innen, weibliche Ehegatten und Schwestern, die seit der Antike bei Philosophen gelebt und gearbeitet hatten. Aber jetzt war Lampe* erstmal raus aus dem 18. Jahrhundert, hier bei ihnen, in guten Händen und Fetzen! Sie alle hatten große Lust auf die gemeinsame Zeitreise und beteuerten sich gegenseitig, dieses Mal ernsthaft versuchen zu wollen, die Probleme der Ästhetik neu aufzurollen. „Wir erfassen nicht die Dinge an sich, sondern die Dinge als Erscheinungen“, erinnerte Lampe* plötzlich an eine Idee seines herrischen Mitbewohners. „… und immer wieder strebt der Mensch danach, seine 154 Erkenntnis über seine Grenze hinaus zu erweitern …“, ergänzte ihn Pink Fairy, bevor sie vorschlug: „Wollen wir diesen Anthropomaniac jetzt mal vergessen und stattdessen unsere Fetzen, Gürtel und pinken Sinnlichkeiten fusionieren, um mit mehr als einer Stimme zu grooven?“ Lampe* und Leafy Seadragon nickten euphorisch. Die Armadillage fing an, sich wie ein Krake zu bewegen, und es war ein schrilles Geräusch zu hören, während sie durch ihre Gürtelenzyklopädie stöberte. Sie beamte eine Szene aus dem Film Les Abysses von Nikos Papatakis 6 in die Atmosphäre: Zu sehen ist eine Küche; eine junge Frau in Dienstkleidung zerschlägt mit einem Metallkochlöffel das Porzellangeschirr – kratz, tsirsch, skappppps. Sie lacht dabei süffisant. In der nächsten Szene schreien drei ‚Dienstmädchen‘ ihre Herrin an, weil sie sie verhungern lässt. „Danke für diesen Einblick, Armadillage! Aber wir wollten doch zur Sache kommen, oder?“, meinte Pink Fairy. Die Situation von Lampe*, Pink Fairy und Leafy Seadragon ähnelte der Qual der drei Hausdienerinnen nicht im Geringsten. Ihre Bäuche waren voll mit Leckereien und ihre Köpfe auch. Nicht umsonst hatten sie sich in all diesen Jahren vielfältige Wissen, Sinne und Erfahrungen angeeignet und konnten dadurch in 6 Der Film thematisiert die Algerische Befreiungsrevolution (1954– 1962) durch eine Allegorie und sorgte 1963 beim Cannes Film Festival für ein Politikum. Der griechisch-äthiopische Filmemacher Nikos Papatakis, der ab 1939 im Exil in Paris lebte, konnte sein ursprüngliches Filmkonzept über den Algerischen Krieg, das auf einem Buch des französisch-algerischen Journalisten Henri Alleg basierte, nicht finanzieren. So drehte er stattdessen Les Abysses mit einer subversiven Handlung. Der Film stellt anstelle des Kampfes der Araber gegen die Franzosen einen Streit zwischen Hausdienerinnen und Hausherren dar. 155 institutionellen Gefäßen sprechen. Oder sollten sie lieber schreien? Manchmal aus Wut, manchmal aus Lust und manchmal aus Prinzip hätten sie gern geschrien, um einen Wirbel zu machen. Als sie zum Wirbel ansetzten, mischte sich der Lautsprecher des NBGT-Shuttles plötzlich mit einem Lied ein: (Ooo) What you want (Ooo) Baby, I got (oo) What you need (Ooo) Do you know I got it? (Ooo) All I’m askin’ (Ooo) Is for a little respect when you come home (just a little bit) Hey baby (just a little bit) when you get home (just a little bit) mister (just a little bit) I ain’t gonna do you wrong while you’re gone Ain’t gonna do you wrong (ooo) ’cause I don’t wanna (ooo) All I’m askin’ (ooo) Is for a little respect when you come home (just a little bit) Baby (just a little bit) when you get home (just a little bit) Yeah (just a little bit) […] R-E-S-P-E-C-T Find out what it means to me R-E-S-P-E-C-T Take care … 7 Leafy Seadragon war jetzt vollends aufgewacht. „Wenn wir die Problematik der Ästhetik, so wie sie gut 250 Jahre lang Aretha Franklin, „Respect“ (1967), https://www.youtube.com/ watch?v=6FOUqQt3Kg0 (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019). Aretha Franklin singt den ursprünglich von Otis Redding geschriebenen Song und dreht dabei die Genderrollen im Lied um. Als Frau bittet sie nicht lediglich um die Anerkennung durch ihren Mann, sondern sie verlangt Respekt. 7 156 existiert hat, von heute und hier aus angehen wollen, dann möchte ich mit der Frage anfangen: Wer hat denn die Definitionsmacht gehabt, zu entscheiden, was ‚Kunst‘ hieß (und was nicht)? Welche Kunst ging als Artefakt durch, was war sogenannte ‚soziale Arbeit‘ und warum haben die Kunstmenschen sich so vor dem Handwerk gefürchtet?“ Lampe* dachte an die Vorliebe der westlichen Wissenschaft seit der Aufklärung, alle natürlichen Erscheinungsformen (Tiere, Pflanzen, Mineralien), die von Menschen geschaffenen schönen Dinge und auch Menschen nach Differenzen und Ähnlichkeiten systematisch zu kategorisieren und dann zu hierarchisieren. Aber wie könnte er diesen Wahnsinn den anderen verständlich machen? Lampe* hatte keine kleine Aversion gegen diese endlosen Listen und Kategorisierungen der naturwie geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Weil sie nicht logisch sind, fühlte sich sein Dienstherr dauernd genötigt, immer wieder neue Einteilungen anzufertigen. Mal gab es drei verschiedene Menschengruppen, dann fünf, dann noch mehr; und Lampe* musste diese unsinnigen Listen dann jeweils ins Reine schreiben. Dabei war ihm völlig klar, dass die eine so absurd wie die andere war. Pink Fairy konnte Lampes* Überlegungen intuitiv spüren. Sie hatte ein schlechtes Bauchgefühl, da sie wegen ihres Aussehens öfter als pinkhaariges extraterrestrisches Wesen exotisiert worden war. Im 19. Jahrhundert wäre sie sicher von europäischen Forschungsreisenden mit Begeisterung (und zugleich mit gelehrter Verachtung) ‚entdeckt‘ und vielleicht sogar ausgestopft in einen gleichmäßig ausgeleuchteten, staubsicheren Glaskasten im Kuriositätenkabinett eines Museums gesperrt worden. Umso mehr freute sich Pink Fairy über Lampe* und Leafy Seadragon, die ihre Pinkyness gernhatten. 157 Aber Lampe* war mit seinen Gedanken noch im 18. Jahrhundert und bei Geschichten aus den sogenannten ‚Kolonien‘, die sein Dienstherr in Zeitungen und Journalen gesammelt und immer fett unterstrichen hatte … Auch das Schicksal der Hausangestellten ging ihm heute so wenig aus dem Kopf wie damals, als diese Ästhetik, der sie jetzt zum x-ten Mal auf der Spur waren, kategorisiert und diszipliniert wurde – dem Vernehmen nach maßgeblich von seinem Dienstherren. Hatte jemand von den unüberschaubar vielen Hausangestellten jemals den Sprung gemacht? Ihm kam die Geschichte von Phillis Wheatley in den Sinn, der versklavten Afroamerikanerin aus dem Senegal, die 1761 als Hausmädchen an einen Textilfabrikanten in Boston verkauft wurde und als erste Schwarze Frau eine Sammlung von Gedichten veröffentlichte. In Boston wurden ihre Gedichte nicht als literarisches Werk ernstgenommen, trotz der (nicht uneigennützigen) Unterstützung durch die Familie Wheatley. Wenigstens wurde ihre Lyrik später in London rezipiert. Lampe* hatte im Buch eines mit seinem Dienstherren bekannten Wissenschaftlers von ihr gelesen und war völlig aus dem Häuschen gewesen. Er war süchtig nach Geschichten, die halbwegs gut ausgingen. Als er seinen Dienstherren nach den Gedichten von Phillis Wheatley gefragt hatte, meinte dieser, er könne sich nicht daran erinnern, je von dieser Wheatley gehört zu haben; Lampe* sei wohl wieder einmal seinem metaphysischen Wunderglauben erlegen. Und er solle sich ja nicht erdreisten, dem befreundeten Wissenschaftler mit Briefen lästig zu fallen. Vielmehr solle er endlich anfangen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Worauf Lampe* nur kleinlaut „Tue ich ja, du Trottel!“ gedacht hatte. Mit seinem Hausherren über solche 158 Wunder zu diskutieren, hatte er längst aufgegeben. Mit Leafy Seadragon und Pink Fairy hingegen machten gerade die Wundergeschichten am meisten Spaß. Als Pink Fairy ihm ein paar süßwarme Wellen, die nach Kakteen rochen, herüberschickte, kam Lampe* aus 1791 wieder in die Gegenwart seiner Freund*innen zurück. Mit betonter Ernsthaftigkeit schlug er ein Buch über Ästhetik auf, denn schließlich wollten sie darüber nach wie vor reden. Er stolperte über Hegels Begriff des „allgemeinen Weltzustands“ und kam aus einem alten Automatismus heraus ins Dozieren: „Man kann […] von einem Zustande der Bildung, der Wissenschaften, des religiösen Sinnes oder auch der Finanzen, der Rechtspflege, des Familienlebens und anderer sonstiger Lebenseinrichtungen sprechen“, 8 so der alte Idealist. Leafy Seadragon schielte in Lampes* Buch hinüber, schüttelte ihre Fetzen und zweifelte ein wenig, ob es wirklich nötig war, sich schon wieder mit der Theorie des deutschen Idealismus auseinanderzusetzen. Zwar stimmte sie Hegel zu, dass die Kategorie des Weltzustands eine allgemeine, prä-ästhetische Kategorie war, die notwendigerweise zum Begriff des Ästhetischen gehörte. Nicht zuletzt deshalb, weil das ja schon mal ein interessanter Hinweis darauf war, dass es diese Ästhetik und ihre Kunst nicht immer schon gegeben hatte. Aber mit Hegels philosophischem Projekt, die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen einschließlich aller geschichtlichen Parallelkosmen und aller sich beständig in Transformation befindlichen Feinigkeiten als absolute Einheit eines ‚objektiven Geists‘ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 1986, S. 237. 8 159 zu deuten, konnte sich Leafy Seadragon echt nicht anfreunden. Und erst recht nicht mit der Behauptung, dass es die Rolle der Kunst sei, das Wesen der Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen. Überhaupt, schon von ‚einem Wesen der Wirklichkeit‘ zu sprechen, wo es doch derart viele Wesen in allen möglichen Universen gab, schien ihr ziemlich absurd. Auch zur Wirklichkeit hatte Leafy Seadragon ein verqueeres Verhältnis – denn ihre Wirklichkeit war wahr und fake zugleich. Pink Fairy schaute sich um und fragte in die Runde: „Könnten wir jetzt endlich über Ästhetik diskutieren, statt uns durch Gespenstergeschichten vom objektiven Geist und seiner Selbstgewissheit aufhalten zu lassen? Konzepte wie die des aufgeklärten, autonomen Individuums sind doch nervig und gruselig zugleich. Ich bin nämlich kein autonomes Individuum! Im Gegenteil, ich kann und will gar nicht ohne euch sein!“ Die Armadillage war hörbar erfreut über diese Liebeserklärung und konnte sich nur mit äußerster Anstrengung zurückhalten, Pink Fairy nicht mit Tausenden von ausgespuckten Zitaten zu beschenken, in denen der Begriff ‚Ästhetik‘ vorkam. Aber das wäre jetzt bestimmt nicht gut angekommen. Die Diskussion war ohnehin schon wieder viel weiter. Leafy Seadragon überlegte nämlich gerade laut, ob sie alle zusammen vielleicht gar nicht rauskommen konnten aus den philosophischen Projektionen des bürgerlichen Zeitalters auf die Welt der antiken Tragödie und all dem Ideal-Zeug, das angeblich die Voraussetzung für Freiheit und Autonomie sein sollte. Oder hatte sich das geändert? „Klar“, meinte Pink Fairy, „sonst würde es uns nicht so verdammt schwerfallen, uns diese angeblich universelle Währung einer Ästhetik der autonomen 160 Kunst vorzustellen.“ Das fuhr direkt in die Blätterfetzlein von Leafy Seadragon, die plötzlich so glitterten, dass auch die Armadillage emphatisch zu blinken begann. Leafy Seadragon konnte jetzt offensichtlich sehr schnell denken, denn ihre Körperteilchen flatterten wie wild. Sie zählte eins und eins zusammen und alle spürten, dass jetzt sicher nicht zwei herauskam. „Wenn schon wir nicht autonom sein wollen, wie soll das dann bei der Kunst gehen? Und warum sollte ich mir mit euch etwas vorstellen oder wünschen wollen, das sich selbst genug ist und von und mit uns gar nichts will?“ Lampe* fühlte sich genötigt, die Begeisterung von Leafy Seadragon und Pink Fairy etwas zu bremsen. Bloß weil man sich etwas nicht vorstellen kann, so belehrte er die anderen, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existierte. „Mein Dienstherr hätte sich nie und nimmer vorstellen können, dass es solche Wesen gibt, wie wir eines sind. Gibt es uns deshalb nicht?“ Die Armadillage wollte sagen, dass sie sich gar nicht so unverbunden mit der Geschichte der Ästhetik fühlte, denn ihr Server war voll mit Daten, die von dieser handelten. Aber alles um sie herum fühlte sich jetzt eher so an, als wäre die Sache mit der autonomen Ästhetik wieder einmal völlig unwichtig geworden. Pink Fairy, Leafy Seadragon und Lampe* hatten sich schon in einen Film gebeamt, in dem eine Haushaltshilfe ihre Madame umbringt. Lampe* liebte dieses Krimi-Genre, und das steckte auch Leafy Seadragon und Pink Fairy jedes Mal an. Noch bevor die Armadillage die Gewissheit denken konnte, dass ihre Daten nach dem nächsten Shuttle-Crash ohnehin wieder wichtig für die anderen werden würden, weil sie dann sicher erneut auf diese Gruselgeschichte mit der Ästhetik zurückkämen, war sie 161 auch schon mitten im Film und durfte genau wie alle anderen auch einmal die Haushaltshilfe spielen. Zum Abspann des Films summten sie, etwas schräg und nicht ganz einstimmig: Typical girls try to be Typical girls very well Typical girls try to be Typical girls very well 9 Diesen Song hatte die Armadillage einmal gefunden, als sie ihren Datenspeicher nach Stichworten durchsuchte, die Lampe* ihr gefüttert hatte: ‚freie Schönheit (pulchritudo vaga)‘ und ‚bloß anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens)‘. Hier handelt sich um den Song „Typical Girls“ von The Slits: https://www.youtube.com/watch?v=LOJs9oycX5E (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019). 9 162 Bibliografie Adorno, Theodor W.: Ästhetik (1958/59), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Ahmed, Sara: „Declarations of Whiteness: The Non-Performativity of Anti-Racism“, in: borderlands 2(3), 2004, online unter: http://www.borderlands.net.au/vol3no2_2004/ahmed _declarations.htm (zuletzt aufgerufen am 05.10.2019). Al Qadiri, Fatima: „Fatima Al Qadiri on the Risks of Making Queer Arabic Dance Music“, Interview mit Michelle Lhooq, 16.10.2017, online unter: https://pitchfork.com/thepitch/ fatima-al-qadiri-interview-risks-of-making-queer-arabicdance-music/ (zuletzt aufgerufen am 26.09.2019). Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München: Piper 2013. Arendt, Hannah: „Kultur und Politik“, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München: Piper 2012, S. 277–304. 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Dabei ist es das erklärte Ziel der Autorin, zur heutigen Diskussion über (scheinbar) selbständige, kreative Arbeit im Kunstfeld beizutragen. Sowohl als ironische wie als ernsthafte ‚Attacke’ erweist sich der Kunststreik dabei als eine Handlung, die die Produktion, Rezeption und Vermarktung von Kunst genauso hinterfragt wie das Künstlersubjekt als Arbeiter_in. Die von Bempeza diskutierten Kunststreiks setzen sich mit Museen, Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt auseinander – sei es in der Form radikaler Institutionskritik, in Gestalt der symbolischen Kunstverweigerung und des ästhetischen Widerstands oder als organisierte kulturpolitische Intervention. Das Buch beleuchtet Kunst als eine Sphäre der Produktion und markiert das Verhältnis von Kunst zu produktiver und unproduktiver Arbeit. Im Hinblick auf das Verständnis von Kunst als Arbeit werden sowohl die Bedingungen der künstlerischen Produktivität als auch die Widersprüche der kreativen Lohnarbeit verhandelt. Bempezas Aktualisierung des Streikbegriffes erweist sich selbst insofern als politisches Handeln, als ihr Buch die Produktionsverhältnisse und Distinktionsmechanismen des Kunstfeldes sichtbar macht und unterbricht. ISBN: 978-3-903046-22-1 Dezember 2019 194 Seiten, broschiert, 12,- € transversal texts transversal.at Aus dem Programm 2017 Geschichte der Menschheit hat jemals so viel Zeit der Arbeit Unglück zuteilwurde, im Kapitalismus geboren zu sein. Menschheit zu erzwungener Arbeit verurteilt, en Produktionsniveau. Anstatt Zeit freizugeben, hat jegliche issenschaftliche Innovation den Zugriff auf unsere usgeweitet. Marcel Duchamp und die Verweigerung der Arbeit Maurizio Lazzarato Maurizio Lazzarato Marcel Duchamp und die Verweigerung der Arbeit Maurizio Lazzaratos Auseinandersetzung mit Marcel Duchamp liest dessen Feier der Faulheit in der Kunst als radikalen Alternativentwurf zur operaistischen Losung einer „Verweigerung der Arbeit“. Mit Duchamp lassen sich einerseits kritische Perspektiven auf einen erweiterten und transformierten Arbeitsbegriff gewinnen, der in neoliberalen Verhältnissen zusehends an „kreativer“ Arbeit modelliert wurde. Andererseits wirft die Verweigerung Duchamps Schlaglichter auf eine grundlegende Zweideutigkeit innerhalb der kommunistischen Tradition: „Ist das Ziel die Befreiung von der Arbeit oder die Befreiung durch sie?“ Lazzaratos Essay nimmt diese Problemfelder zum Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Bedingungen und Möglichkeiten von Handlung, Zeit und Subjektivität im gegenwärtigen Kapitalismus – und damit nicht zuletzt für die Frage: Was heißt es heute, Arbeit zu verweigern? ISBN: 978-3-903046-11-5 Dezember 2019 99 Seiten, broschiert, 10,- € transversal texts transversal.at Aus dem Programm 2015 oloniale Anthropophag_in, die für die Besetzung der dominanten Realität zu verändern im Dissens zu Normen der Sprache malisierungsdiskursen im Allgemeinen, im Dissens zu en und zu Assimilationswünschen und zu Integrationsbemühun- ene Sprechen in bestimmte Diskurse einschreibt. ber andere Positionen. Die Spannung zwischen dem Bestreben, sse zu kritisieren und verändernd auf sie einzuwirken, und arf oder der Notwendigkeit Anderer nach schnellstmöglicher e Verhältnisse. Widersprüche auszuhalten und als betrachten. Aus der Praxis im Dissens Rubia Salgado / maiz Rubia Salgado / maiz Aus der Praxis im Dissens Herausgegeben von Andrea Hummer Der Kampf um Anerkennung, das Wissen um Unterwerfung, die Umarbeitung der Anrufungen, die Fragen nach widerständiger Handlungsfähigkeit, das Annehmen einer strategischen Identität als Ausgangsbasis der politischen Artikulation und das Abtasten der Grenzen eines (selbst) proklamierten strategischen Essenzialismus, das Ringen um Protagonismus und seine möglichen Definitionen und Austragungen, das Zelebrieren einer anthropophagischen Haltung und das Hinterfragen dieses Konzeptes, der Horizont der gegenhegemonialen Wissensproduktion und der Kulturarbeit abseits multikulturalistischer Konzepte und Praxen, das Sich-Widersprechen, das transformative Aneignen der hegemonialen Sprache, das Betrachten von Sprache als realitätskonstituierend, das Befragen des Lehrens der hegemonialen Sprache als Zurichtung. Die Bemühung um ein Sprechen und ein Handeln im Widerstand und im Dissens zur herrschenden Selbstverständlichkeit der Diskriminierungen. Ein Schreiben im Kollektiv verortet, eingebettet, eingerahmt. Fragen, Nachdenken und eroberte Perspektiven aus dem Denken und Handeln in einer Selbstorganisation. ISBN: 978-3-903046-02-3 September 2015 274 Seiten, broschiert, 15,- € transversal texts transversal.at Aus dem Programm 2016 zess und Verkettung instituierender Ereignisse meint einen absoluten tzes zur Institution: Er setzt sich nicht gegen die Institution, er flieht die ukturalisierung. Das heißt vor allem, den Modus der Instituierung als rdnung zu hinterfragen, und damit auch den Zusammenhang von instituierender Praxis, von Zusammensetzung und Einsetzung. Wenn Prozess, als Strom und als Einschnitt, Ereignis verstehen lässt, so ist es ierung, in dem die Vorentscheidung dafür fällt, wie sich Kooperation, twickeln, wie das con- in konstituierende Macht (als Zeichen des GeInstituierung steht. Stefan Nowotny Gerald Raunig Instituierende Praxen Stefan Nowotny / Gerald Raunig Instituierende Praxen Bruchlinien der Institutionskritik Neuauflage mit neuem Vorwort Was heißt Institutionskritik? Diese Frage lässt sich heute nicht mehr unüberprüft entlang der klassischen Gesten der Negation und Verwerfung des Institutionellen einerseits sowie der Wiedereingliederung von Kritik in institutionelle Apparaturen andererseits stellen. Sie ist zur Frage nach einer Kritik geworden, die sich nicht mehr primär über die Distanznahme des Urteilens vollzieht, sondern über eine Praxis, die sich ins Kritisierte immer schon involviert weiß. Und zugleich ist sie zur Frage nach einer Affirmation geworden, die nicht mehr Komplizenschaft mit dem Bestehenden bedeutet, sondern die Aktualisierung von sozialen Potenzen, die ein differenzielles Wissen über institutionelle Zusammenhänge entfalten. In der Neuauflage ihres Buchs verdichten Stefan Nowotny und Gerald Raunig für diese Form der Institutionskritik den Begriff der instituierenden Praxen, über die kanonisierten Formen „institutionskritischer Kunst“ hinaus reichend, indem er diese selbst in eine breitere historischpolitische Perspektive stellt. ISBN: 978-3-903046-04-7 Frühjahr 2016 312 Seiten, broschiert, 15,- €