Eine polyphone Ästhetik der Vielheiten und Differenzen. Ein anti-universalistisches
Unterfangen der Verkomplizierung und Kompliz*innenschaft. Ein being concerned.
Polyphone Ästhetik
Eine kritische Situierung
transversal.at
Polyphone Ästhetik
Sofia Bempeza, Christoph Brunner,
Katharina Hausladen, Ines Kleesattel,
Ruth Sonderegger
POLYPHONE ÄSTHETIK
Sofia Bempeza, Christoph Brunner,
Katharina Hausladen, Ines Kleesattel,
Ruth Sonderegger
POLYPHONE ÄSTHETIK
Eine kritische Situierung
transversal texts
transversal.at
ISBN der Printausgabe: 978-3-903046-24-5
transversal texts
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transversal texts, 2019
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Z
hdk
Zürcher Hochschule der Künste
Institute for Cultural Studies in the Arts
Inhalt
Polyphone Ästhetik. Ein Anfang
Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina
Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger
7
Am Küchentisch.
Ein Streitgespräch mit der Ästhetik
Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina
Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger
15
Politik des Bezeichnens.
Formen der Aneignung in der Popmusik
Katharina Hausladen
39
Elemente einer postkolonialen Genealogie
der westlichen Ästhetik
Ruth Sonderegger
53
Vom Sensus Communis zu den Dirty Aesthetics.
Für eine entgrenztere Theoriepraxis
Ines Kleesattel
71
Die Eule der Minerva de-rationalisieren oder: den
postkolonialen Ansatz der documenta 14 situieren
Sofia Bempeza
87
Affekt und dekoloniale Aisthesis als
anderes Wissen
Christoph Brunner
103
Earthly Relational Aesthetics.
Eine post-koloniale Differenzierung mit Glissant
Christoph Brunner, Ines Kleesattel
125
Es war einmal eine Ästhetik (die hatte sich
selbst sehr lieb)
Sofia Bempeza, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger
149
Bibliografie
165
Polyphone Ästhetik. Ein Anfang
Wie ließe sich eine polyphone Ästhetik erzeugen, begreifen, ausrufen? Eine Ästhetik von Vielheiten und
Differenzen, die sich verschiedener Praktiken, Situationen und Rhythmen annimmt. Ein anti-universalistisches Unterfangen der differenzierenden Verkomplizierung und Kompliz*innenschaft. Ein being concerned, das
das Wir, als welches wir hier schreiben, auch aufgrund
seiner konstitutiven Widersprüchlichkeit unruhig bleiben lässt; das den Austausch mit weniger hegemonialen
Perspektiven und Problematisierungen sucht; und das
schreibend mit den Verstrickungen in die inner- und
außerakademische Welt mit ihren Machtbeziehungen
agiert.
Wenn wir hier von Ästhetik sprechen, beschäftigen
wir uns sowohl mit der gleichnamigen philosophischen
Disziplin als auch mit heterogenen ästhetischen Praktiken, mit auf diese Praktiken bezogenen Theoriebildungen sowie mit dem Begriff der Ästhetik und seiner
Geschichte. Diesen Begriff beschränken wir dezidiert
nicht auf eine als high art verstandene Kunst oder auf
das Schöne. Vielmehr verstehen wir ihn als aisthesis, das
heißt in Verbindung mit je spezifischen Bedingungen,
Möglichkeiten und Effekten von Wahrnehmung und
Vernehmbarkeit, Sinnlichem und Sinnhaftem. Es geht
uns weniger darum, die bereits vorhandenen Großdefinitionen der philosophischen Ästhetik durch eine weitere, inklusivere zu ergänzen, die eine Anerkennung des
jeweils Ausgeschlossenen gerade dadurch negiert, dass
allein sie zu dieser Anerkennung legitimiert. Stattdessen
bemühen wir uns um ein anderes politisches Sprechen,
7
das sich in seiner Positionierung ebenso angreifbar
macht, wie es in seiner ästhetischen Ambivalenz radikal
unabgeschlossen bleibt.
Eine polyphone Ästhetik erwächst aus der Freiheit,
der Dringlichkeit und der Freude, mit verschiedenen
Stimmen zu arbeiten und durch andere Positionen zu
denken, ohne die Differenzen, die der Polyphonie immanent sind, durch Inklusion zu neutralisieren. Der
Dialog, in den wir hier miteinander und mit Ideen und
Praktiken aus unterschiedlichen ästhetischen, theoretischen, geopolitischen und historischen Kontexten
treten, hat u. a. das Ziel eines differenzsensiblen Geschichtenerzählens im Sinne Donna Haraways, mit der
wir die Überzeugung teilen: „[I]t matters which ideas
we think other ideas with.“ 1 Im Gegensatz zu den universalistischen Implikationen des kosmopolitischen
Anspruchs eines sensus communis oder der wohlmeinenden, aber nicht minder kolonialen Geste eines Reinholens ‚fremder‘ Personen und Positionen üben wir uns
im Situieren von Partialität. Unser Anliegen ist, die
Verheißung von sozialen, politischen und kulturellen
Praktiken im Bereich der Ästhetik offenzulegen, und
zwar nicht aus einer distanzierten Perspektive, die über
andere Subjekte als Objekte spricht, sondern aus der
Involvierung im Sinne eines „speaking nearby“ 2. Dabei fragen wir uns ausgehend von unseren eigenen Situiertheiten, wie wir mit vielfältigen und dabei stets
Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 14 f.
Als „speaking nearby“ bezeichnet Trinh Thi Minh-hà den postkolonialen Dokumentarfilm-Ansatz, der ihrem Film Reassemblage
(1982) zugrunde liegt. Wenn Minh Hà dort erklärt, „I do not intend
to speak about. Just speak nearby“, so bezieht sie sich auf eine Situation, in der es schwierig bis unmöglich ist, in direkte Kommunikation mit anderen zu treten.
1
2
8
bestimmten ästhetischen Praktiken und Milieus polyphon in Resonanz treten können.
Wie dieses Buch situiert ist
Wer ist dieses Wir, von dem wir hier immer wieder dezidiert schreiben? Zunächst einmal meinen wir damit
nicht mehr als die fünf Autor*innen dieses Buches. Ein
partiales Wir, das aufgrund unserer je eigenen Interessen, sozialen Rollen und Subjektivierungsweisen als
Wissenschaftler*innen, Lehrende, Künstler*innen und
Theoretiker*innen in sich heterogen ist. Dies umso
mehr, als wir uns mit unseren unterschiedlichen und
unterschiedlich errungenen Privilegiertheiten verschieden zur gemeinsamen Theorieproduktion verhalten. Auf
der anderen Seite bleibt unser Wir als akademisches und
europäisch-weißes immer noch ziemlich homogen.
Anlass zu diesem Buch gab unsere Teilnahme am
X. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGÄ), der im Februar 2018 unter dem Titel Das
ist Ästhetik! an der HfG Offenbach stattfand und nach
Geschichte und Gegenwart der philosophischen Ästhetik fragte. In unterschiedlichen Konstellationen – teils
mit Einzelvorträgen, teils mit dem Panel Vorschläge zur
Situierung und Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik 3 – formulierten wir dort in verschiedenen Bezugsrahmen das gemeinsame theoriepolitische
Anliegen, den Anspruch der Cultural und Postcolonial
Studies, westlich-europäische Selbst- und Fremdbilder
und die „über Jahrhunderte entwickelte[n] Vorstellungen
Neben Sofia Bempeza, Ines Kleesattel und Ruth Sonderegger war
auch Eva Kernbauer Teil dieses Panels. Bei ihr wollen wir uns an
dieser Stelle für die gemeinsamen Auseinandersetzungen bedanken.
3
9
von kultureller Überlegenheit und Unterlegenheit“ 4
aufzubrechen, in die philosophisch-ästhetische Disziplin hineinzutragen. So verwarfen wir einerseits einen
von kolonialen und anderen Ausschlüssen abstrahierenden Ästhetikbegriff mit der Behauptung „Das ist nicht
die ganze Ästhetik!“. Andererseits öffneten wir einen
auf Kunst verkürzten Begriff des Ästhetischen mit der
Forderung „Das ist auch Ästhetik!“ für alternative Bestimmungen. Unsere Vorschläge finden sich in diesem
Buch in Form von fünf Einzelbeiträgen, die mehr oder
weniger identisch mit unseren in Offenbach gehaltenen
Vorträgen sind; in der Gestalt eines transkribierten Gesprächs, das wir an zwei Tagen im August 2018 in Wien
führten, um unsere Vorträge zu reflektieren und zu ergänzen; eines ko-autorschaftlichen Aufsatzes, der den
Topos der Relationalen Ästhetik mit Édouard Glissant
und Donna Haraway einer postkolonial differenzierenden Revision unterzieht; sowie in Form eines Pharmakons aus der Hexenküche ästhetischer Fabulation, das
zum Schluss des Buches den Versuch eines kollektiv gegendisziplinären Theoretisierens unternimmt.
Matters of Concern
Die Beiträge dieses Buches möchten den selbstgerechten
Autoritätsanspruch der westlichen Theoriepraxis unterwandern und produktiv verunsichern. Somit ist dieser
Band unser erster Versuch einer Situierung, ein Begehren nach Formen des gemeinsamen und kollektiven Arbeitens, Denkens, aber eben auch Empfindens und Lebens. Dabei befassen wir uns mit so unterschiedlichen
ästhetischen Dimensionen wie der Problematisierung
4
Christian Kravagna, „Postcolonial Studies“, 2016, S. 68.
10
des postkolonialen Unterfangens der documenta 14 in
Athen, den rassistischen Implikationen von Kants Ästhetik, kulturellen Aneignungspraktiken in der Popmusik, den Reinheitsphantasmen durchkreuzenden
Dirty Aesthetics oder mit dekolonialer Affektivität und
ihren politischen Effekten. Dies tun wir nicht zuletzt
auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden gewaltvollen Aneignung ästhetischer Praktiken und Theorien durch die (Neue) Rechte unter dem Deckmantel
vermeintlich intellektueller Debatten etwa zum theoretisch und kulturell exklusiven Erbe Europas. So hat
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen,
während wir diese Einleitung schreiben, nicht nur eine
„Generaldirektion für die europäische Verteidigungsindustrie“, sondern auch ein Kommissariat zum „Schutz
der europäischen Lebensweise“ ins Leben gerufen, das
der griechische Rechtskonservative Margaritis Schinas
bekleiden soll. 5
Dieses Buch ist als Manifestation eines im gemeinsamen Austausch gewachsenen Unbehagens am westlichen Kanon ästhetischer Theorie und als vorläufiges
Ergebnis des Begehrens nach kollektiveren Formen von
Theoriepraxis zu verstehen. Polyphonie impliziert hier
den klaren Wunsch nach Öffnung und Erweiterung,
nach einem Vernehmen von bisher Unvernehmbarem.
Polyphonie heißt für uns deshalb auch, nicht permanent zu reden, sondern vor allem zuzuhören und immer
5 In seiner neuen Funktion wird Schinas (langjähriges Mitglied des
internationalen rechten Bündnisses European People’s Party) das
Dossier „Schutz der Europäischen Lebensweise“, das Sicherheit und
Migration umfasst, verantworten. Vgl. Alexandra Leistner und Alice
Tidey, „Was ist die ‚europäische Lebensweise‘? In der neuen Kommission wird die jetzt geschützt“, in: Euronews 11.09.2019.
11
wieder zu schweigen, um neben schrillen auch leisere
oder gebrochene Stimmen und Klänge ins Gewicht fallen zu lassen.
Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen,
Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger im September 2019
zwischen Athen, Hamburg, Wien und Zürich
12
Am Küchentisch
Ein Streitgespräch mit der Ästhetik
Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen,
Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger
Die folgende Diskussion fand an einem Wochenende im
Sommer 2018 statt. Ines, Katharina, Sofia, Ruth und
Christoph saßen an einem Küchentisch auf einer sonnigen Terrasse in Wien, die unserer Gruppe freundlicherweise von Markus für zwei Tage zur Verfügung gestellt
wurde. Ein Plastik-Flamingo im Topf starrte uns an.
Auf dem Holztisch stand ein Kaktus, der die Computerstrahlung frisst bzw. absorbiert. Mithilfe von elektronischen Geräten, Getränken und Fruchtgummis
sprachen wir über mehrere Stunden. Zwischendurch haben wir uns Videos angeschaut, und das Essen hat nicht
gefehlt. Am späteren Abend riefen die Nachbar*innen
im Hof nach Ruhe – wir gaben keine! Teile des zweitägigen Gesprächs wurden aufgezeichnet und Monate später
transkribiert. Für diese Publikation wurde das Gespräch
leicht überarbeitet und stellenweise ergänzt. Die orale
Dimension blieb trotzdem erhalten. Die durchaus massiven Auslassungen längerer Gesprächsteile haben wir
nicht markiert.
Verschiedene Geschwindigkeiten gleichzeitig
fahren
I: Die Frage „Wer spricht aus welcher Perspektive und
mit welcher Legitimation?“ spielt für uns alle eine Rolle; in Ruths und Christophs Vorträgen taucht sie ganz
explizit auf. Katharina stellt sie aus einer etwas anderen
15
Richtung. Während Ruth und Christoph sie als institutionskritische und selbstsituierende Notwendigkeit einfordern, formulieren Katharina und Sofia sie
als emanzipationspolitische Frage nach Aneignung
aus nicht-legitimierter Position heraus im Sinne einer
Selbstermächtigung.
K: Es stellt sich dies aber auch als ästhetische Frage: In
welcher Form findet das statt, wie soll das beispielsweise
Musik sein?
S: Das würde dafürsprechen, die Disziplinen zu sprengen.
I: Dort, wo Praktiken aus einer marginalen Position heraus stattfinden. Während es bei Ruth und Christoph
um ein Sprechen aus privilegierter Position heraus innerhalb der Disziplin oder aus der Disziplin heraus geht,
das sich für Marginalisiertes interessiert. Was heißt das
konkret für uns? Ruth schreibt: „Die philosophische
Ästhetik ist weniger geniale Erfindung als vielmehr ReAktion.“ Aber wenn wir uns nun dennoch in der philosophischen Ästhetik verorten und das unsere eigene
Legitimation begründet – wie können wir dann agieren?
R: Das ist für mich die wichtigste Frage: Wie gehe ich
mit einer zutiefst kolonialen Tradition um, in der ich
sozialisiert bin und die insofern sehr perfide ist, als der
Kunst und dem ästhetischen Handeln in Gestalt des
Emanzipationsversprechens so oft die Unschuldshandschuhe angezogen wurden. Mir geht es um die Frage: Wie arbeitet man weiter mit dem ganzen Ballast,
der ja auch ein Berg von Gewalt ist, ohne sich selbst
zum Opfer zu stilisieren im Sinne von „Was haben
16
wir’s schwer“? Nein! Sondern wie geht man mit dieser
extremst kontaminierten Subjektivierung und, darüber hinaus, Disziplinierung um, ohne zu leugnen, dass
da manchmal andere Dinge möglich werden. Ich finde es allerdings wichtig, diese Herausforderung nicht
als Plattmach-These zu formulieren à la: Auf dem Boden, auf dem wir uns bewegen, kann gar kein Gras mehr
wachsen.
K: Aber auch nicht allzu euphorisch zu werden angesichts jener „Non-Performativity“, die du in deinem
Text dem Kunstfeld mit seinen üblichen Themenkonjunkturen attestierst.
R: Sara Ahmed spricht von der Nicht-Performativität
der Diversität. Wenn ich sie richtig verstehe, meint sie,
dass dort, wo Diversitätsmarker auf Websites etc. großgeschrieben werden, ziemlich sicher nichts in Sachen
Diversität getan wird. Diese tollen Gutwörter wie u. a.
Diversität haben es nämlich geschafft, den Eindruck zu
erzeugen, als wäre man mitten in der Praxis der Veränderung, aber es bleibt eben bei einem bloßen Performen von Wörtern, die nichts Emanzipatorisches nach
sich ziehen. Ahmed zufolge tun Sprechakte der Diversitätsbekundung schon was, aber garantiert nicht das, was
sie ankündigen. Und so etwas Ähnliches gilt in meinen Augen für viele emanzipatorische Konzepte wie zum
Beispiel ästhetische Bildung und sensus communis. Die
reden von Gleichbehandlung, Inklusion und Aufstiegschancen, haben aber während des Großteils der europäischen Geschichte das Gegenteil bewirkt; und, so meine
ich, sie haben solche Gegenteile nicht nur nebenher bewirkt, sondern das war ein zentrales Anliegen.
17
S: Aber die Frage ist: Wie spricht man aus einer heutigen Perspektive? Angenommen, dass man die Geschichte
der philosophischen Ästhetik mitrezipiert und diese auch
transparent macht. Das ist die erste Aufgabe. Denn man
arbeitet immer noch mit diesen Begriffen und Diskursen, anhand von diesem philosophisch-ästhetischen Diskurs wird es auch unterrichtet. Das ist sehr stark präsent
insbesondere im deutschsprachigen akademischen Raum.
Erstmal muss man das lernen, wie es war. Mit Kant, Hegel, Schiller und den großen Ästhetikern. Und dann muss
man das verlernen, also um dann auch sagen zu können:
So war’s aber nicht bzw. so war’s gemeint. Aber aus welcher
Perspektive können wir jetzt gleichzeitig Kritik an diesen
Texten üben und etwas noch Brauchbares aus ihnen herauspicken; wie etwa den Anspruch auf Gleichheit?
I: Ich halte die Frage nach dem Anknüpfen-Können an
Brauchbares für zentral. Also auch bei der Non-Performativity. Die ist doch immerhin etwas – im Gegensatz
dazu, wenn nicht einmal mehr die vorhanden ist. Mir
ist es lieber, es gibt zumindest eine Dekolonisierungsbehauptung, der gegenüber ich dann immerhin sagen
kann: „Schau dir mal deine Ausschlüsse an, die du trotzdem weiter produzierst.“ Da gibt es dann immerhin einen Anspruch, und ich kann mit dieser Person oder
Institution den Abstand von oder Gegensatz zwischen
Anspruch und Realität verhandeln. Das ist doch immer
noch besser, als wenn jemand direkt sagt: „Weiße Männer zurück an die Macht!“
S: Ja unbedingt, aber man muss all diese Geschwindigkeiten gleichzeitig fahren. Also erstmal zu versuchen,
uns im akademischen Raum zu ‚verständigen‘ und zu
18
verstehen. Dass es nicht nur die eine Erzählung gibt,
sondern daneben auch eine andere, sogar viele andere. Diese sollen auch ernst genommen und nicht als zu
‚ideologisch‘, zu politisch, zu feministisch, zu zu zu zu …
gelabelt werden. Wenn wir an dem Punkt anlagen, dass
es zumindest zwei Erzählungen gibt, dann fehlt da aber
noch eine dritte Erzählung. Weil die Kritikerzählungen
sind im sogenannten westlichen Diskurs auch sehr gefärbt. Immer dieser Anspruch auf Kritik und Kritikalität. Immer noch. Es gibt dann noch die Imports sozusagen, also Spivak, Mignolo, Homi K. Bhabha u. a.,
anders gesagt: die zehn Leute, die wir permanent zitieren, während die vielen Autor*innen im nicht alteuropäischen Kontext immer noch woanders sind.
Die Frage ist doch auch: Was möchten wir mit der
postkolonialen Kritik in den europäischen Institutionen
erreichen? Was ist da noch rauszuholen und wo muss
dann dekoloniale Praxis außerhalb der Institutionen
passieren oder auch in der Institution, aber in einer anderen Form, die nicht nur ein theoretisches Reinholen
wäre? Diskursiv sind nämlich die Sachen schon viel weiter als die erlebte Praxis – das alte Problem halt.
C: Du hast gerade etwas gesagt, was ich sehr wichtig fand, nämlich „mit allen Geschwindigkeiten parallel agieren“. Also ich glaube auch: Diese verschiedenen
Formen der Zeitlichkeit, die in bestimmte Aktualitäten
intervenieren, aber auch bestimmte geschichtliche Linien aufgreifen und vervielfältigen und auch mögliche
Optionen, gilt es, experimentell nach vorn zu denken;
und dann an diesem Scharnier zu arbeiten. Das heißt
nicht, dass das eine Narrativ das andere jetzt ablösen
muss, sondern dass diese dritte Option der Kritik oder
19
die hundert anderen Optionen diese trotzdem nicht ignorieren, sprich, dass die Kritik immer wieder aus gutem
Grund hervorgebracht wurde. Das ist ja, was die Rechten
permanent versuchen, zu sagen: „Jetzt dürfen wir auch
reden!“, und damit zu unterminieren, dass die Kritik an
der Rechten oder auch feministische Kritik klar einen
historischen Grund hat. Also nicht nur: „Wer spricht aus
welcher Perspektive und mit welchem Hintergrund?“,
sondern auch: „Wann und wie wird gesprochen?“
I + S: Und auch: „Mit wem?“.
K: Absolut. Es ist wichtig, an diese historischen Linien von zum Beispiel feministischer und antirassistischer Kritik zu erinnern, insbesondere auch an die
Errungenschaften, die aus diesen Kritikoffensiven hervorgegangen sind. Wichtig ist das auch deshalb, da linke Bündnisse heute häufig nicht nur von rechtsaußen
torpediert werden, sondern sich ja leider oft auch durch
die Antifeminismen und Traditionalismen altlinker
Dogmatiker*innen herausgefordert sehen, die dann zum
Beispiel – wie man bei Andrea Nagle 1 nachlesen kann
– die PC Culture dafür verantwortlich machen, dass die
Neue Rechte ihren Unmut gegen Sprachregulierungen
in umso verletzenderen Redepraktiken via Social Media
kommuniziert und dadurch angeblich erst erstarken
konnte. Die Frage ist: Wie lassen sich unter diesen Voraussetzungen linke Koalitionen schmieden?
I: Wir müssen gleichzeitig unsere eigenen Inklusionspraktiken problematisieren, mit denen wir Postkoloniales
1
Vgl. Angela Nagle, Kill All Normies, 2017.
20
in die westliche Academia reinholen, und uns fragen, was
vom westlich-europäischen Kanon wir wie fortschreiben oder nicht. Daran knüpft an, was eine DGÄ-Konferenzbesucherin mir nach meinem Vortrag entgegnete
und was du, Christoph, ebenfalls aufbrachtest: Wie steht
Arendt in Bezug zu Haraway und produziert das nicht
einen Widerspruch? Und wenn ich dann sage: „Das interessiert mich jetzt gar nicht, ich nehme von Arendt
nur das, was ich gebrauchen kann“, dann fragen diese
Konferenzbesucherin oder Christoph zu Recht: „Wieso
nimmst du dann überhaupt Arendt, wieso nimmst du
jemand, die auch ein problematisches Gepäck hat, und
sagst, das Problematische lass ich einfach liegen?“
C: Aber es gibt niemand, der kein problematisches Gepäck hat. Die Verwicklungen und gegenseitigen ‚Begrabbelungen‘ dieser Positionen bewirken, wenn man
Modernität und Kolonialität zusammendenkt, dass auch
Dekolonialität immer schon mit Kolonialität zusammengedacht werden muss. Dieser Glaube an den archimedischen Punkt, von dem aus man Neutralität hätte,
ist einfach nicht wahr.
I: Stimmt, das sagt Ruth am Ende ihres Vortrags auch.
Dieses Alles-richtig-machen-Wollen kann nicht der
Weg sein.
R: Das ist etwas, das ich bei Spivak immer wieder sehr
produktiv finde. Gerade über die europäische Ästhetik,
die dann in die Welt hinaus missioniert wurde, wird
häufig gesagt, dass sie im 18./19. Jahrhundert ein Problem war, wir sie aber heute inklusiver denken und ‚natürlich‘ keine Frauen* und Queers oder Menschen of
21
Colour mehr ausschließen. Spivak thematisiert das als
Reinheitsfantasien; im Sinne von: Wir Westler*innen
können alles managen und aus allen ‚Fehlern‘ das Richtige lernen, um dann die Vergangenheit ad acta zu legen.
Aus dieser Denke möchte ich herauskommen. Es reicht
meines Erachtens auch gerade nicht aus, sich pragmatisch von verschiedenen Positionen das zu nehmen, was
man brauchen kann, wenngleich ich das auch nicht total
verabschieden möchte. Aber das heißt eben immer auch,
von den unangenehmen Seiten, die selbst zu den tollsten
Texten und Denkmodellen gehören, total zu schweigen.
Das läuft wohl darauf hinaus, Lektüren zu verkomplizieren, ohne sich nur in Metadiskursen zu bewegen, sodass man im besten Fall eine gewisse Leichtigkeit darin
kriegt, das Problematische im Rettenswerten mitzusagen, ohne selbst zu verstummen.
C: Genau, ich glaube, es ist schon total viel gewonnen,
wenn du einen Verweis darauf machst. Zu sagen: Klar
geschieht das in einem bestimmten historischen Kontext, den muss und soll man auch weiter problematisieren, ich benutze nun aber hier diesen Begriff oder diesen
Sachverhalt, weil er mir hier erlaubt, das so zu problematisieren. Und dann können wir darüber diskutieren,
ob diese Problematisierung, die ich hier vorstelle, reicht
oder ob sie, weil sie verhaftet ist in einem bestimmten
historischen Kontext, noch mal anders gebrochen werden könnte. Um sich so auch immer noch navigierbar
zu halten.
R: Das gilt natürlich auch für den Ästhetikbegriff
selbst. Dessen Herausforderung, ja Anmaßung benennt
wohl Christoph am klarsten, wenn er die Verengung
22
der Ästhetik auf Angelegenheiten der Kunst thematisiert und dagegen die aisthesis hält. Ich will die Ästhetik
damit nicht gleich verabschieden, schon deshalb nicht,
weil das ja schon wieder so eine schnöde Schlussstrichgeschichte wäre. Und bei dir, Katharina, scheint mir
dieselbe Problematik in Bezug auf Pop als eine Zwischenform zwischen Kunst und Politik aufzutauchen.
Letztlich durchzieht die Frage, ob/wo wir von Kunst,
ästhetischen oder aisthetischen Praktiken sprechen, die
Überlegungen von uns allen. Das hat wohl auch damit
zu tun, dass wir alle an Politisierungen interessiert sind;
dabei ist die Frage der Kolonialität ganz zentral.
S: Kulturelle Aneignung auch, als Teil des kolonialen
Denkens.
K: Das ist eine Seite von cultural appropriation, sozusagen Kolonialität in Reinform: der exotistische Import
des als absolut anders Behaupteten. Eine andere Seite
wäre – neben der Tatsache, dass den Appropriierenden
nicht immer klar ist, dass und was sie sich gerade aneignen – die Besetzung von Handlungsräumen, das Populärwerden minorisierter Lebensformen mit populären
Mitteln. Das ist es, was Performer*innen wie Fatima Al
Qadiri auf den Punkt bringen, wenn sie über Aneignung
‚sprechen‘, also Kunst machen.
C: Ja, Kolonialität eben nicht nur in einem territorialen Anderen, sondern auch immanente Kolonialität.
Das ist, was Stuart Hall so gut sagt in „When was ‚the
post-colonial‘?“. 2 Das ist ein super Text. Er schreibt hier
2
Stuart Hall, „When was ‚the post-colonial‘?“, 1996.
23
sinngemäß, der Begriff der Postkolonialität weise uns
darauf hin, dass Kolonisierung immer als immanenter
Bestandteil der imperialen Metropole der Kolonialkulturen gedacht werden muss. Anders gesagt, Kolonialität
ist fester Bestandteil des Denkens, der Strukturen und
Institutionen der Kolonialkulturen und entsteht nicht
erst mit der territorialen Kolonisierung.
Über Haraway, Kant und andere Werkzeugkästen
R: Es wäre interessant, beides – den Haraway’schen Einspruch gegen eine bestimmte Art der Akademisierung
und unseren derzeitigen politischen Alltagskontext eines rechten Antiintellektualismus – als Schlaglichter zu
nehmen, von denen her wir nochmals unsere Theorieproduktion beackern könnten. Wie sehr wollen wir ästhetische Theorien verfeinern?
C: Für mich war das total klar. Dass unsere Bezugsfelder eigentlich Praxisfelder sind, nicht die Theorien.
Klar geht es um eine Verfeinerung bestimmter Begrifflichkeiten, aber immer in Resonanz mit bestimmten
Praxisfeldern, sei es Pop, sei es Documenta. Wir haben
in unseren Arbeiten immer mit ganz konkreten Fällen
und Phänomenen zu tun, mit Dingen, die sich ereignen im Bereich des Sinnlich-Empfindbaren, der Effekte. In der Doku Story Telling for Earthly Survival (von
Fabrizio Terranova) beginnt Haraway ihre Erörterung
des Feminismus mit ihrer Liebe zu Science-Fiction, feministischer Science-Fiction-Literatur. Da macht sie
klar, dass die Genealogien politischen Denkens ohnehin immer schon heterogen und verwoben sind. Ich
meine, dass hier deutlich wird, dass politisches Denken
viele Orte und Ausdrucksformen hat, die sich nicht in
24
einem abgegrenzten Bereich der Politik abspielen, sondern eben in der Sprache, im Denken, im Empfinden,
in der Art und Weise, wie gehandelt, gelebt und erfahren wird. Ich fände es interessant, nicht wieder in der
akademischen Manier eine Aneignung des Weirden, des
Dirty zu betreiben. Sondern unsere eigenen Praktiken
hier aufzubrechen und zu fragen, was für Möglichkeiten
es gibt, in Resonanz damit zu treten.
I: Für mich ist das der Punkt, weshalb es nicht viel Sinn
macht, zwischen ästhetischen Praktiken und der ästhetischen Theorie als Praxis zu unterscheiden, oder höchstens aus analytischen Gründen. Ich glaube bei dir, Sofia,
verhält sich das anders, weil du eine künstlerische Praxis
jenseits/zusätzlich zu deiner theoretischen Arbeit hast.
Aber für uns hier ist doch die Frage „Wie diese ästhetische Theorie betreiben?“ ein Anliegen. Und dabei sind
sicher Überlegungen, die unsere Pädagogik oder Lehre
betreffen, zentral. Gerade in Bezug auf die Lehre scheinen mir Fragen nach dem Nichtlegitimierten wichtig.
Andererseits arbeitet Haraway mit den nichtlegitimierten Wissensformen auch auf formaler Ebene, sie beeinflussen ihre eigene Theoriepraxis. Das macht sie mitunter auch schwer zugänglich. Und dann ist da auf der
anderen Seite das Problem konkreter politischer Dringlichkeiten: Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse,
die man erst einmal kennen muss. Ich merke, ich habe
ein pädagogisches Sendungsbewusstsein, und weiß, das
ist problematisch. Aber ich frage mich auch: Was ist die
Alternative?
K: Eben weil sich mit Haraway aber die Frage nach
dem Wie der ästhetischen Theorie als Frage nach den
25
verworfenen und „übersehenen“, wie Michaela Ott es
nennt, 3 Teilen eines größeren Theoriezusammenhangs
stellt, sozusagen als Legitimierungsversuch des Delegitimierten, kann diese Legitimierung kein Selbstzweck
sein, muss die nächste Frage vielmehr lauten: Wie rechtfertigt sich dieser Versuch? So kann es das eine Mal
wichtig sein, auf dem Widerspruch zwischen Form und
Gegenstand zu bestehen oder auf dem Unterschied zwischen Theorie und Kunst (etwa als Reaktion auf einen
inflationär gewordenen, drittmittelkompatiblen Interdisziplinaritätsfetisch), das andere Mal, die prinzipielle Formoffenheit von Kunst sich für die Theorie anzueignen und sich damit auch gegen eine problematische
Verkürzung von Theorie auf, sagen wir: Philosophie
zu stellen. Deshalb scheint es mir auch viel näher an
Haraway dran zu sein, vom Verworfenen, Abjekten als
dem jeweils Delegitimierten zu sprechen, als eine „Aneignung“ des Dreckigen zu versuchen, wie Christoph es
eben genannt hat. Das, von dem nicht von vornherein
feststeht, wie es aussieht oder was es sein könnte, ist
doch das Interessante. Nicht das, was für die eine unangepasst ist und für den anderen einfach nur ugly – auch
wenn das ein Effekt sein kann.
S: Das Problem ist, wie man sendet. Nicht nur was man
sendet, sondern wie. Wer bildet wen aus und zu welchem Ziel? Oder warum überhaupt? Im deutschsprachigen (akademischen) Raum ist dieser Bildungsbegriff so
beladen. Das muss man endlich thematisieren, dass das
der falsche Anfang ist. Wenn man immer mit dieser hohen Pädagogik kommt, setzt man nicht gut an – aus
3
Vgl. Michaela Ott, Welches Außen des Denkens?, 2018.
26
einer (post)migrantischen Perspektive nicht, aus einer
nichteuropäischen Perspektive auch nicht. Immer dieses Durch-Bildung-etwas-Erreichen – dieses bürgerliche Ideal möchte ich nicht mehr. Aber wir sind immer
noch am Unterrichten. Es gibt viele Wege, gemeinsam
zu lernen, die weniger autoritär, vernunftgeschult (siehe Aufteilung Kopf und Hand) und universalistisch im
Sinne von welterklärend sind. Wir brauchen auf dem
akademischen Terrain andere Lernpraktiken.
I: Und angesichts der realen Bedrohung von Rechtsradikalisierung würdest du trotzdem sagen: „Kant wegschmeißen“?
S: Eine Ansicht disziplinärer Philosophie wäre, zu
sagen, weil die Philosophie-Studiengänge jetzt mit
postkolonialen und Gendertheorien ‚vergiftet‘ sind,
verbaut man den jungen Frauen* den Weg zur klassischen, das heißt philosophischen Theorie: Platon
usw. Es ist wohl wichtig, die akademische Disziplin
der Philosophie zu vergiften! Gleichzeitig gibt es auch
die feministische These: Der Kanon ermächtigt; die
‚Mädels‘ werden aber jetzt (fast nur) mit neuem Material konfrontiert, das nicht zum Kanon gehört, und
sie haben nicht die Möglichkeiten, den Kanon kennenzulernen.
K: Ich sehe das Problem auch, gerade an Kunstakademien. Ich finde es ganz wichtig, den Kanon zugänglich zu
machen und gleichzeitig die Kanonproblematik zu benennen. Wichtig ist also das Gleichzeitige: Kanon und
Antikanon. Platon und Haraway. Wobei: Haraway is
today’s Plato. (lacht) Jedenfalls im Kunstfeld.
27
I: Die eine Frage ist, ob wir den Kanon reproduzieren
wollen oder nicht und inwiefern die Kanonkritik zu begreifen ist, ohne den Kanon zu kennen. Eine andere
Frage ist die der problematischen Moderne bzw. westlichen Aufklärung. Wir sind in der Aufklärungskritik
drin, klar …
S: Du meinst, weil die neuen Rechten jetzt antimodernistisch argumentieren?
I: Ja, weil die sogenannten Werte der Aufklärung nicht
mehr ohnehin als gesetzt und gültig gelten.
S: Das Problem hatten wir auch schon vorher. Aus meiner Sicht ist das politische Problem jetzt, dass die alten
und neuen Rechten so eine Antimoderne starkmachen,
um humanistische und demokratische Ideale sowie
Menschenrechte oder auch die Transformationen um
1968 zu degradieren. Aber eigentlich ist das ein bisschen ein Pseudodilemma.
R: Ich glaube auch, dass es ein Pseudodilemma ist. Es
ist nicht so, dass Aufklärung nur für Menschenrechte
steht. Aufklärung steht für Kolonialität und für Menschenrechte. Immer für beides. Insofern geht es für
mich nicht um Aufklärung ja oder nein, sondern darum, diesen double bind, diesen double move, wie Spivak
zu Recht sagt, erneut aufzugreifen. Wir können nicht
einfach zurück zur Moderne, gerade jetzt, wo uns zu
dämmern beginnt, dass die schönen Dinge wie Menschenrechte immer nur für Nordeuropa gegolten haben,
und auch da nur für einige wenige.
28
I: Wahrscheinlich greift dann auch hier die Entwederoder-Frage zu kurz; trotzdem will ich sie stellen: Mit
Kant arbeiten, ihn problematisieren und mit anderem
konfrontieren oder nicht mehr mit Kant arbeiten, weil
wir mit ihm sowieso immer nur an einen problematischen Punkt kommen?
S: Och, doch ein bisschen schon. Das Dilemma ist jetzt
ein bisschen … naja … Wenn der Kanon mit Kant arbeitet, dann können wir uns zumindest fragen: Was können wir von Kant noch gut gebrauchen? Jedenfalls nicht
seinen Habitus! (lacht) Es war ja auch nicht einfach nur
Kant, Kant steht in einem historischen Kontext, in dem
die ganze Gesellschaft etwa wie Kant getickt hat.
R: Ich würde sagen, es haben nicht alle so getickt wie
Kant. Nicht mal die Mehrheitsgesellschaft. Die bestand
im Zeitalter von Kants Aufklärung nämlich aus (Quasi-)Leibeigenen und einigen proletarischen Menschen.
Und dann muss man, um die Gemengelage der Aufklärung zu verstehen, immer den Code Noir dazulesen, das
Gesetz, das es in Frankreich schon vor der Französischen
Revolution gab und das bis 1857 bestand – eine eigene Gesetzgebung für Kolonisierte. Dieser Code startet
mit der Prämisse, dass Sklaverei legitim ist. Das ist bei
der Französischen Revolution genau so durchs Tribunal
durchgegangen. Der Code Noir ist also auch Aufklärung, und zwar Bildungsaufklärung! In diesem Code ist
nämlich auch festgelegt, wie viele Jahre du zum Lernen
brauchst, um für die Freiheit gerüstet zu sein, wenn du
Sklavin dieser oder jener Herkunft bist. Oft waren so
viele Jahre für die Bildung zur Freiheit vorgesehen, dass
sie in einem Menschenleben gar nicht erreichbar war.
29
Aber zurück zur Kantfrage. Im Kontext, in dem ich unterrichte und in dem es auch studentische Wünsche
nach Überblicksvorlesungen zur ästhetischen Theorie
gibt, da sag ich: ja, Kant lesen.
I: Und dazu Simon Gikandi lesen. 4
K: Es kann schon eine Emanzipation darstellen, etwas
besser verstehen zu lernen von dem, was vom Kanon
reproduziert wird. Über Kant Bescheid zu wissen, kann
eine Befreiung darstellen.
R: Irre finde ich im Moment auch, dass die AfD eine KantStiftung ins Leben rufen wollte – als ihren parteinahen
Think-Tank; ihre Rosa-Luxemburg- oder Heinrich-BöllStiftung sollte eine Kant-Stiftung sein. Innerhalb der AfD
gab es dann aber Einsprüche, sodass die Sache auf Bundesebene nicht durchging. Aber in Nordrhein-Westfalen hat
die AfD jetzt eine Kant-Stiftung. Da ist auf der Homepage
unter dem Stichwort Kant zu lesen: „Wer sich zum Wurm
macht, soll nicht klagen, wenn er getreten wird. Habe
Mut(h), dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Wirklich irre, wie da Aufklärung mit Herrenmoral gemixt wird. Als ich das las, dachte
ich, wow, jetzt muss ich vielleicht doch wieder anfangen,
das möglicherweise Subversivere bei Kant zu retten.
C: Die zwingen dich einfach dazu, die sitzen dir einfach
im Nacken.
4 Zum Beispiel Simon Gikandi, „Race and the Idea of the Aesthetic“,
2001.
30
R: Genau. Deshalb verfolge ich das ja auch. Ich möchte
auch genauer verstehen, was die AfD-Begehrlichkeiten
in Bezug auf Kant sind. Die interessieren sich, nach allem, was ich bisher gelesen habe, überhaupt nicht für
Kants Ideen, oder kaum. Vielmehr geht es um das alte
Deutschland, als Königsberg noch Teil davon war. Ich
erwähne das jetzt vor allem, um zu sagen, es kann nochmals eine ganz andere Notwendigkeit geben, darüber
nachzudenken: Warum eigentlich (nicht) Kant?
S: Ich würde gerne nochmals zum nichtlegitimierten
Wissen zurück, um darüber nachzudenken: Wie reproduziert man das Wissen? Und was gilt als legitimiertes oder nichtlegitimiertes Wissen? Von welchen Seiten
(geografischem Raum, sozialem Hintergrund, Genderidentität etc.) kommt Wissen und wie wird es generiert?
Dieses nichtlegitimierte Wissen kann mehr Platz beanspruchen, auch als feministisches und/oder migrantisches Wissen. Aber nicht im Sinne von: ah, dieses legitimierte Wissen (oder diese Theorie) ist nur für die
Gender-Gruppe und das andere etwa nur für die ernsthafte Philosophie-Gruppe.
Plus die alte Frage: Wer schreibt? Ah, nicht nur wer
schreibt, sondern auch wie. Wie wird geschrieben? Mit
welchen sprachlichen/inhaltlichen Qualitätsansprüchen
wird ein theoretischer Text verfasst? Dass man so und
nicht anders schreibt, ist sehr habituell. Es wird unterrichtet und es wird gelernt, dass man so schreiben muss.
R: Für mich wird das auch zunehmend wichtiger,
weil ich merke, wie sehr mir das akademische Schreiben zur zweiten Natur geworden ist. Manchmal finde ich das wahnsinnig einengend und möchte ihm nur
31
entkommen. Aber bei der DGÄ-Tagung beispielsweise
war mir völlig klar: Ich schreibe einen ganz klassisch
argumentierenden Vortrag und benutze einfach mal die
Tools, die ich halt so anwenden kann, weil ich ein Argument machen möchte. Ich passe mich also bewusst
der Sprache an, die auf solchen Tagungen gesprochen
wird. Und ich hab mich auch total wohlgefühlt mit
dem, was ich da präsentiert habe. Wenn ich das jetzt
mit euch anschauen würde als Veröffentlichungstext …
no way!
C: Vielleicht kann man da auch Audre Lordes Statement „The master’s tools will never dismantle the
masters’s house“ noch mal ein bisschen weiterdenken.
Dass es klar auch Momente gibt, in denen du nur mit
den master’s tools überhaupt die master’s narratives erreichen kannst. Und gleichzeitig kannst du dich darauf
nicht ausruhen, sondern musst auch mit anderem Werkzeug andere Häuser bauen.
I: Aber es setzt voraus, dass ich einen Kasten habe.
C: Einen Werkzeugkasten.
R: Ja. Und es ist ein Privileg, einen Werkzeugkasten
zu haben, ein unglaubliches Privileg. Aber andererseits
denke ich, es ist auch eine wahnsinnige Verarmung. Es
ist beides.
I: Verarmung? Den Kasten zu haben?
K: Kommt drauf an, was in dem Kasten ist.
32
R: Der Kasten macht dich unfähig, etwas anderes zu
tun.
I: Aber in einen Werkzeugkasten kann ich doch auch
neue Sachen reinschmeißen.
R: Aber er diszipliniert dich auch, da hab ich keine
Illusionen.
S: Ja, der Kasten hat viele Tools drin, aber dann bist du
permanent mit diesem Kasten unterwegs …
I: Ich würde sagen, diszipliniert bist du eh. Die Frage ist einfach, sind es Werkzeuge, die ich nehmen und
sagen kann: Hier passt das Werkzeug oder an dieser
Stelle funktioniert dieses Werkzeug dafür. Oder wende
ich halt irgendwas an und manchmal macht es das und
manchmal macht es das. Ich kann Werkzeuge ja auch
zweckentfremden, verbiegen und umfunktionieren.
S: Aber du hast immer den Gedanken: Ich hab genug
Werkzeuge und kann wählen.
R: Genau!
S: Oder du hast eine Palette von Werkzeugen. Nicht
die ganze Welt, aber du kannst wählen und aussuchen:
Du hast das Vermögen. das zu machen bzw. eine weitere Lösung oder einen anderen Vorschlag zu erarbeiten.
I: Aber ich kann schon vielleicht auch etwas wählen
und dann merken, das ist hier nicht richtig und ich
33
muss jetzt improvisieren oder ich muss mir noch ein
Werkzeug bauen, was hier besser passt.
R: Ja, das schon …
S: … aber es ist der zweite Schritt.
R: Ich verdächtige meinen Werkzeugkasten zutiefst. Ich
verdächtige auch meine Tendenz, zu denken, ich hab eh
einen guten, der zwar Grenzen hat, aber prinzipiell okay
ist. Zum Glück gibt es Erfahrungen, die einen da rausholen. Zum Beispiel den Lesekreis gegen Rechts, den
Leute von MAIZ und Das Kollektiv gestartet haben, 5
wo mir beim gemeinsamen Gramsci-Lesen …
C: Machen die Rechten ja auch ganz gern momentan
bzw. haben sie schon länger getan. Die Sache ist hier:
Ein Tool ist niemals neutral, und der Kasten ebenso wenig. Aber es gibt Werkzeuge der Herrschaft und es gibt
welche, die sich nicht so leicht fügen wollen. Wenn man
davon ausgeht, dass im Denken der Rechten nur vordergründig intellektuelle Interessen bekundet werden,
es aber immer um eine Reduktion der Komplexität auf
klare Größen, eben wie Nation, Land, Wahrheit, Volk,
Blut etc., geht, dann erkennt man auch, dass Gramsci
sich nicht so leicht vor den Karren der rechten Ideologie
spannen lässt, wie die das gerne hätten. Und hier brauche ich auch meine Tools, um das zu verdeutlichen und
zu untermauern.
5 MAIZ: https://www.maiz.at/news/2019/maiz-kultur/wien-wochesymposium; Das Kollektiv: https://www.das-kollektiv.at/home (zuletzt aufgerufen am 24.09.2019).
34
R: Ja, aber MAIZ geht es u. a. wirklich um den Werkzeugkasten des migrantischen Wissens. Ich muss da
wahnsinnig aufpassen, das nicht zu romantisieren, aber:
Wow, die Leute haben eine Lektüreform des Sicheinzelne-Begriffe-Rausschnappens, wo ich merke, wie
durchdiszipliniert ich bin. Ich frage: Wo ist das Hauptargument, was ist der rote Faden? Ich lese mir ein bisschen Kontext zusammen, wann hat er das geschrieben,
und so weiter. Und dann bin ich damit konfrontiert,
dass die meisten Teilnehmer*innen des Lesekreises gegen Rechts den Gramsci-Text ab Satz eins auf die neue
Gesetzeslage für Arbeitslosengeld beziehen. Von vornherein. Ich dachte erst so was wie, das ist doch ein wenig
weit hergeholt, aber ich habe dazugelernt … Ich musste
schon vorher an diesen Lesekreis denken, weil wir jetzt
seit zwei Tagen diskutieren, während wir umgeben sind
von Rechten. Und beim Lesekreis ist das ganz klar da,
immer da. Ich habe dort andererseits schon auch gemerkt, dass ich was reingeben kann, aber ich habe auch
krass gelernt, wie beschränkt ich bin.
I: Und du bringst dann eigentlich deine Werkzeuge in
diese Runde mit. Und in der Runde sind noch andere
Kästen, in denen ihr gemeinsam wühlen könnt.
R: Ja, und das ist das Tolle. Und wenn wir jetzt tatsächlich zusammen ein Buch oder einen Essay angehen mit
den oder ohne die alten DGÄ-Vorträge, die können ja
schon auch mit drin sein, dann können wir jetzt einfach
was anderes machen.
K: Trotzdem sehe ich das größere Problem in der Tendenz, zu denken, man hat eh einen guten Kasten, als im
35
Kastenhaben selbst. Dieser Gedanke ist ja ein besonderer Kasten: einer, der sich prinzipiell schwertut mit der
Tatsache, dass es auch noch andere Werkzeuge gibt, andere Kästen.
C: Man könnte ja genau das theoretisch auch in einem
Buch machen: Man könnte sagen, hey, das ist eine bestimmte Weise, mit bestimmten Werkzeugen in bestimmten Kontexten zu arbeiten – und das ist eine andere. Ein anderer Kontext und eine andere Option. Und
vielleicht auch nochmals zwei, drei Leute dazuholen, die
unsere Betriebsblindheit echt mit auf den Plan rufen.
Weil da wird es nämlich interessant. … also auch wenn
du, Ruth, bei der DGÄ sagst, ich möchte mich nicht
angreifbar machen aufgrund der Form und gleichzeitig
interessiert mich natürlich die Form brennend. Diese
Nicht-Ausschließlichkeit herzustellen. Man macht Setzungen, klar, aber man ist strategisch in den Situationen
und man muss das Unternehmen polyphoner angehen.
S: Bisschen Stellungskrieg, aber polyphon. Dirty. Wir
hatten viele Gründe, da hinzugehen. Ein Grund war,
dass wir auch was zu sagen haben. Der Kontext ist da
gegeben, es gibt Hierarchien und es gibt Diskurse, die
sich vordrängen und von sich behaupten: „Das ist die
ästhetische Theorie!“ Ich fand, es ist unsere Pflicht, zu
sagen: „Nein, das ist auch ästhetische Theorie!“ Das
ist auch ästhetische Theoriepraxis, das kann auch ästhetische Bildung sein. Und nicht nur, was bestimmte
high-theory-Fraktionen behaupten. Es gab viele Subszenen im DGÄ-Kontext; es war dort auch nicht homogen. Insofern fand ich es gut, dass wir als Panel und
auch ihr (schaut zu K und C) (und andere) als einzelne
36
Teilnehmende gesagt haben: „Ich denke aber so.“ Das
heißt nicht, dass man jetzt den konservativen Diskurs
im Ganzen torpediert bzw. verändert hat. Wir gehen
wieder nach Hause und machen weiter, auch mit unserem Publikationsprojekt, und die DGÄ ist, was sie war.
37
Politik des Bezeichnens
Formen der Aneignung in der Popmusik
Katharina Hausladen
Als 2016 das Album Resolutionary erschien, das sämtliche Songs vereint, die Vivien Goldman, Musikjournalistin und Mitbegründerin der Postpunkband Flying
Lizards, zwischen 1979 und 1982 aufgenommen hat,
hieß es dazu im press release des Berliner StaubgoldLabels: „There’s a myth about music critics that says
we are frustrated, wannabe performers. Evidence to the
contrary: Vivien Goldman.“ 1 Dem Mythos des über
Popmusik schreibenden Fans, der am liebsten selbst zur
Gitarre greifen würde, widerspricht Goldman allerdings
nicht nur aufgrund ihrer Praxis als Musikerin. Auch
stehen ihre Kritiken nicht für jene freundliche Deskription, die den positivistischen Nerd kennzeichnet.
So stellt Goldman im Zuge des Themenschwerpunkts
„Who Owns What and Who Can Speak for Whom?“
der englischen Ausgabe der Frieze (10/2017) mit Blick
auf kulturelle Aneignungspraktiken in der Popmusik
fest: „Without cultural appropriation there would be
no pop, which is intrinsically mixed, racially impure,
creole. The rhythms of captive Africans, centuries on,
provide the framework for pop.“ 2 Goldman, die seit den
1970er-Jahren zahlreiche Artikel über afroamerikanische, insbesondere afrokaribische Popmusik verfasst und
wie viele Postpunkmusiker*innen auch Reggae- und
1 http://www.staubgold.com/en/album/154/resolutionary-songs1979-1982/.
2 Vivian Goldman, „Art, Culture & Appropriation“, 2017.
39
Dubversionen ihrer Stücke veröffentlicht hat, macht
hier nicht nur deskriptiv auf die für Popmusik konstitutive Praxis der Dekontextualisierung und Wiederaneignung, kurzum: das Sampling aufmerksam. Sie erinnert
auch daran, dass solche Wiederaneignungen bisweilen
eine Enteignung derer bedeuten, die ohnehin weniger, wie sie schreibt, „money, entitlement, power and
access“ 3 besitzen.
Die Legitimität der Appropriation kultureller Praktiken und Güter müsse deshalb stets, so Goldman, an den
politisch-ästhetischen Motiven bemessen werden, die
einer jeweiligen Appropriation inhärent sind. Entsprechend räumt sie ein, dass die Reggae-Anleihen mancher Songs von The Clash wie etwa deren Coverversion des Reggae-Klassikers „Police and Thieves“ (1977,
im Original von Junior Murvin: 1976) keine popmusikalische Kolonialisierung, sondern im Gegenteil: die
emphatische Umarmung einer freien Gesellschaft darstellten. Schließlich zielten Punk und Postpunk auf die
Überwindung von auf patriarchaler und rassifizierender
Unterdrückung basierenden Klassengesellschaften, auch
wenn antidisziplinarische Slogans und Stilpraktiken
weitaus wichtiger waren als das Ausformulieren einer
politischen Programmatik. Die ästhetische Bezugnahme auf Reggae und Dub als einer „Rebel Music“ (Bob
Marley & The Wailers, 1986), einer Musik des Rastafarianismus war, wie Goldman treffend formuliert, „less
‚Other‘ to The Clash than were The Beatles“. 4 Denn
erst die jeweiligen Kampfsituationen, aus denen heraus
Punk und Reggae eine andere Gesellschaft entwarfen,
3
4
Ebd.
Ebd.
40
machten ein Näheverhältnis zwischen beiden möglich,
von dem eine vergleichsweise bürgerliche Band wie die
Beatles mit ihrer musikalischen Virtuosität und Disziplinarität ausgeschlossen war.
Down the Lido/Tu den Strand
Wenn heute hingegen Popstars wie beispielsweise Kygo
oder Thomas Jack sich unter der Genrebezeichnung
Tropical House des digitalen Zitats von Klängen lateinamerikanischer Instrumente wie Marimba, Panflöte
oder Steeldrum bedienen und in raunchy Videoclips von
sich am Pool räkelnden Girls den partystrandgewordenen Traum exotisierter Summer Vibes aufleben lassen,
dann ist das ästhetisch Reaktive der popmusikalischen
Appropriation derart an ein politisch Reaktionäres geknüpft, dass eine Desartikulation weißer patriarchaler Vorherrschaft gerade verunmöglicht wird. Anders
gesagt, sind „diejenigen, die vorher [schon] nicht zur
Gestaltung der Welt zugelassen waren“, 5 es jetzt erst
recht nicht. Der Kulturimperialismus scheint vielmehr
dadurch, dass die Politizität des Aneignens ästhetisch
verkannt wird, das heißt, das Sampling Selbstzweck ist,
auch noch politisch ins Recht gesetzt. Damit verhält
Tropical House sich ungefähr so zu Punk und Reggae
wie einst der Post-Ambient-Sound von Café del Mar zu
Ambient: Konnotationen des ‚Fremden‘, Nichtalltäglichen, die den sozialen Bezug schon allein wegen der auf
diese Konnotationen projizierten Errettung aus Arbeit,
Sparsamkeit und Disziplin negieren, treten an die Stelle einer Aufklärung über die „historischen Spuren des
Partikularen […] als Musik einer nicht zu Öffentlichkeit
5
Diedrich Diederichsen, „Sampling und Montage“, 2006, S. 403.
41
zugelassenen Gruppe“. 6 Aber auch mit Blick auf die Gegenwart findet das Verhältnis von Macht und Gesellschaft sich hier nicht thematisiert. Kontextblindheit ist
im Falle von Tropical House nur ein anderer Name für
die Freiheit eines Marktes, der das tropikalische ‚Andere‘ als willkommenen Fluchtpunkt in den Routinen der
Reproduktion stilisiert und verkauft.
Es zeigt sich in dieser Blindheit der Verlust einer Reflexivität, die Adam Harper als „music-as-music-criticism“ 7
bezeichnet, genauer: als „music […] listening critically to
itself, adding information to the images it suggests to listeners and developing them“. 8 Je geringer demnach die ästhetische Awareness für die Appropriiertheit von Popmusik
ist, desto geringer ist auch die politische Awareness dafür,
wer was wann wie zu welchem Zweck appropriiert. Man
kann einem Sound also seine Politik ablesen, und das ganz
unabhängig davon, ob es sich um welthaltiges – wie bei
Punk und Postpunk – oder um artifizielles Soundmaterial – wie in der elektronischen Popmusik – handelt. Mithin besteht die „Politik des Bezeichnens“ 9, wie Stuart Hall
betont, genau darin, dass Bedeutung niemals ohne Bezug
„auf eine bereits mit Bedeutungen versehene Welt“ 10 produziert werden kann und sich als je spezifischer Kampf um
kulturelle Hegemonie artikuliert.
Sound der (Selbst-)Kritik: Fatima Al Qadiri
Interessanterweise ist eine so verstandene ästhetische Selbstreflexivität derzeit häufig dort zu finden,
Diedrich Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, 1999, S. 169.
Adam Harper, Infinite Music, 2011, v. a. S. 147 f.
8 Ebd., S. 158.
9 Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, 2004, S. 80.
10 Ebd., S. 90.
6
7
42
wo man Popmusik als Kunst behandelt. Nicht nur,
weil die betreffenden Musiker*innen zum Teil auch
Bildkünstler*innen sind oder mit diesen (ästhetisch
schlüssige) Partner*innenschaften eingehen, sondern
auch, weil es konzeptionelle und distributionelle Überschneidungen zwischen Pop und Kunst gibt. Blicken wir
zum Beispiel auf eine in diversen Künsten tätige und
im wahrsten Sinne des Wortes globalisierte Performerin
wie Fatima Al Qadiri, 11 so fällt auf, dass der Sound ästhetisch reflektiert, was er politisch involviert, und insofern selbstkritisch im Sinne Harpers ist. Zwar erklingen auch auf Al Qadiris Album Chinesisch (2014) falsche
Panflöten und Steeldrums. Gleichwohl ist die Kombination von „irgendwie asiatisch konnotierten Signalen,
von denen nicht klar ist, ob sie irgendeinen Ursprung in
irgendeinem realen Asien haben[,] […] mit abstraktem
R’n’B und britischer Bassmusik“ 12 kein undialektischer
Mix aus nur allerlei beliebigen Klangzeichen ganzer Hemisphären der Popmusik. Stattdessen evozieren diese
Zeichen, wie es im Pressetext heißt, „fantasies of east
Asia as refracted through pulpy Western pop culture, in
particular, Hollywood, literary fiction, music, cartoons
and advertising“. 13 So gesehen existieren diese Zeichen
bei Al Qadiri überhaupt nur als solche: als Projektionen
oder besser: als mittels Projektionen ästhetisch gegen
sich selbst urteilende politics of sound. Damit lässt Al
11 Allein die in Reviews und Ankündigungen stets mitgenannten
geografischen Stationen im Leben Al Qadiris lassen sich so deuten:
Geboren im Senegal, aufgewachsen in Kuwait, Studium in New York
City, lebt und arbeitet sie derzeit u. a. in Berlin.
12 Klaus Walter, „Review: Fatima Al Qadiri Asiatisch“, 2014.
13 http://fatimaalqadiri.com/music/fatima-al-qadiri/asiatisch/file/
about-asiatisch/.
43
Qadiri nicht nur „Kategorien des Primären in der Kunst
kollabieren“ 14 – das tut auch Tropical House. Vielmehr
verliert die Musik auch ihre politische Stellvertreterinnenrolle gegenüber dem angeeigneten Material, indem
Formen der Aneignung ästhetisch Thema werden. Das
heißt, es kollabiert hier zugleich auch die Vorstellung eines kulturellen Holismus, also die der Geschlossenheit
von Kultur. Folglich handelt es sich auch nicht um kulturelle Appropriation im strengen Sinne, sondern um
Musik über diese. Denn das Sampling, sprich: die musikalische Aneignung pop(ulär)kultureller Spuren von als
‚chinesisch‘ assoziierten kulturellen Mustern und Codes,
suspendiert gerade die Idee einer einheitlichen Kultur
des ‚Chinesischen‘, die es anzueignen gelte, und einen
mit dieser Idee verknüpften imperialen Blick auf eine als
absolut behauptete Alterität solcher Muster und Codes.
Auch das Album Shaneera (2017), dessen Titel eine
mispronunciation des arabischen Wortes „shanee’a“ – eine
Slang-Bezeichnung für Queers – ist und laut Al Qadiri so
viel bedeutet wie „evil queen“, vereint westliche DrumMachine- und Khaleeji-Rhythmen. 15 Die Lyrics sind
zum Teil arabischen Drag-Comedies und Grindr-Chats
entnommen und von Drag-Performer*innen aus Kuwait
neu eingesungen. An die Seite der durch den massenkulturellen Fleischwolf gedrehten Projektionen westlicher Gesellschaften auf China gesellt sich mit Shaneera
eine „Queer Arabic Dance Music“ 16 , die in ausdrücklicher Offensive zu sexistischen Ausschlüssen queerer
Diedrich Diederichsen, „Sampling und Montage“, 2006, S. 393.
Fatima Al Qadiri, in: Fatima Al Qadiri und Michelle Lhooq,
„Fatima Al Qadiri on the Risks of Making Queer Arabic Dance
Music“, 2017.
16 Ebd.
14
15
44
Personen (nicht nur) in den Golfstaaten antritt. Im Vergleich zu Chinesisch wählt Al Qadiri dazu aber den genau
entgegengesetzten Weg: nicht den einer Dekonstruktion des Populären, also dessen, was bereits durchgesetzt
ist, sondern den einer Popularisierung derer, die dem
hegemonialen Wahrheitsregime der Idee einer kohärenten Geschlechtsidentität entgegenstehen und es dadurch
verunsichern. Nicht derart, dass die von diesem Regime
Unterdrückten dessen Abwertungen und Ausschlüsse in
einfacher Negation überschreiten und damit lediglich
in der Logik dieser Unterdrückung verbleiben, sondern
dass sie diese Unterdrückung als solche explizieren und
neu codieren. Genauer: Dass sie die Macht der Verführung als performatives Element nutzen, um Rechte gegenüber dem Publikum geltend zu machen und dadurch
womöglich auch „außerhalb des Schutzraums der Ästhetik die Sicherheit […] [zu] [gewinnen], so drohen und
versprechen zu können“. 17
Somit erweist der Appropriationsgedanke sich aus
der Perspektive der evil queen als performativer Entwurf
antiholistischer Subjektivitäten, die, mit Butler gesprochen, „Möglichkeiten eröffnen, die Begriffe der Verletzung gegen ihre verletzenden Zielsetzungen zu resignifizieren“ und damit „den Anspruch der Heterosexualität
auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit“ zu bestreiten. 18
Die Tatsache, dass dieser Entwurf bei Al Qadiri ebenso schillernd ist, wie der Sound, in dem er sich artikuliert, flach ist, lässt die autonomen, nicht von Notwendigkeit beherrschten Momente darin überwiegen oder
zumindest als solche eindeutig erkennbar bleiben: als
17
18
Diedrich Diederichsen, Eigenblutdoping, 2008, S. 145.
Judith Butler, Körper von Gewicht, 2014, S. 176 ff.
45
Nichtkäuflichkeit. Zwar ist auch der Widerspruch zwischen Form und Gegenstand, kulturindustriell gesprochen, käuflich. In der hier eigentümlichen Spannung
aus Verführung und Zurückhaltung, Aufladung und Abkühlung stellt sich aber eine andere Art der Souveränität, der Autonomie ein: eine Öffnung auf die gelebten
Verhältnisse außerhalb der Performance, durch die die
Ökonomie des Auftritts allererst sichtbar werden kann.
Eine andere Subjektivität
Weshalb sind Popmusiker*innen wie Al Qadiri, wenn es
um Fragen der Politizität von Kunst geht, im Kontext
der bildenden Kunst derzeit (einmal mehr) so populär? 19
Möglicherweise deshalb, weil Popmusik genau im Zwischenbereich von Kunst und Politik angesiedelt ist, wie
Diedrich Diederichsen einräumt:
„Pop-Musiker sind bis zu einem gewissen Grad
mit Rollen identifiziert, die wie Theaterrollen gebaut sind, zum anderen sind sie mit ihrer privaten
Person identifiziert. […] Insofern sind Aussagen
von Pop-Musikern weder Sprechakte, die unmittelbare Konsequenz in der Wirklichkeit verlangen
(‚Auf zur Bastille!‘), noch sind sie ganz von der
Konvention des Fiktionalen eingerahmt und damit politisch entschärft wie [die] des Schauspielers, der, wenn er ‚Feuer!‘ ruft, niemanden dazu
bringt, das Parkett zu verlassen.“ 20
Die Politizität des Ästhetischen ist in der Popmusik also deutlich verbindlicher an die Reflexivität einer
Neben ihren Konzerten u. a. im MoMA PS1, auf der Art Basel
und im Wiener mumok wird Al Qadiri im sozialen Milieu der bildenden Kunst vielfach rezipiert.
20 Diedrich Diederichsen, in: Christoph Bartmann, Wenzel Bilger
und Diedrich Diederichsen, „Musik und Politik“, 2014.
19
46
Sprecher*innenposition rückgebunden als beispielsweise in der high art. Umgekehrt ist das Als-ob der Kunst
so viel zwingender als das der Popmusik, dass selbst
dann, wenn Künstler*innen in ihrer Kunst als Person
aufscheinen, dies immer Teil der reflexiven Logik von
Kunst bleibt. 21 Die Konjunktur von Popmusik im Ausstellungs- und Rezeptionskontext der bildenden Kunst
ist daher nicht nur eine des ästhetischen Formats (zum
Beispiel des Liveacts) oder der personellen Überschneidungen (seien es Freundschaften, erotische Beziehungen oder „popbildnerische[]“ 22 Transfers), sondern auch
eine der politischen Verbürgtheit ihrer Performer*innen
für das, was sie ästhetisch tun. Man könnte auch sagen: eine Konjunktur der Authentizität. Und das selbst
dann, wenn Authentizität bei Performer*innen wie Al
Quadiri ausdrücklich den Gegenstand einer Kritik an
okzidentalen und heteronormativen Originalitäts- und
Ganzheitlichkeitsnarrativen bildet. Der Brecht’sche Einstellungswechsel auf das politische Außen der ästhetischen Erfahrung als Wesen dieser Erfahrung, der oben
als Autonomie beschrieben wurde, ist so gesehen der
Wiedergänger einer Autor*innenschaft, die längst für
tot geglaubt wurde: „eine Form von Subjektivität, die
gleichsam die lange Bahn der Entsubjektivierung durchlaufen hatte, um danach umso ‚subjektivierender‘ in Erscheinung zu treten“, 23 wie Christian Höller es nennt.
Beispielhaft hierfür sind Jeff Koons’ „Made in heaven“-Serie, die
zahlreiche Bilder und Skulpturen enthält, die ihn mit Ex-Partnerin
Cicciolina beim Geschlechtsverkehr zeigen, oder Arbeiten von Tracey
Emin (etwa ihre Selbstporträts oder ihre berühmte Installation ihres
eigenen, ungemachten Betts).
22 Christian Höller, „Luftgitarren-Playback“, 2009, S. 51.
23 Ebd., S. 52.
21
47
Ohne ermächtigtes Künstler*innensubjekt, mit anderen
Worten, keine politische (Selbst-)Ermächtigung.
Es ließe diese Konjunktur des Authentischen in der
Kunst – für die die Konjunktur popkultureller Formen
des Sprechens ein Beispiel ist, die Kompensation politischer Forderungen durch Kunst ein weiteres – sich
aber auch in Richtung einer Subjektkritik formulieren,
die das Subjekt weder als rein strukturellen Effekt noch
als immer schon autonome Instanz seines Handelns begreift. 24 Das subjektmetaphysische Label des Authentischen, sofern damit Widerspruchsfreiheit im Selbstwie im Weltbezug gemeint ist, gilt dann für diejenigen
Sprech- und Lebensweisen gerade nicht, die den politischen Bezug auf je andere und anderes als Verantwortung für das einzelne Subjekt verstehen: als Selbstbestimmung im Licht der sozialen Voraussetzungen, die
das Subjekt jeweils konstituieren, aber auch im weiteren Kontext einer Herrschaftskritik, die Gesellschaft als
„nicht de[n] alleinige[n] Besitz einer bestimmten sozialen Gruppe oder eines einzigen Diskurses“ 25 herausstellt.
Mehr als nur ein Rollenspiel
Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass der Anspruch auf Authentizität meist auch an
Theoretiker*innen herangetragen wird, jedenfalls dann,
wenn sie als Wissenschaftler*innen verstanden werden;
dass dieser Anspruch sich hier aber völlig anders äußert
In der aktuellen Ausgabe von Texte zur Kunst wird eine so verstandene Subjektkritik im Hinblick auf die literarische Form der
Autofiktion diskutiert. Vgl. hierzu v. a. Isabelle Graw und Brigitte
Weingart, „Entre nous“, 2019.
25 Stuart Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation, 2004, S. 63.
24
48
als in der Popmusik. Während von Popmusiker*innen
eine Aufspaltung in Person und Persona erwartet wird,
wird Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, zwischen
verschiedenen Sprecher*innenrollen wechseln zu können, in der Regel abgesprochen. Mitunter ersetzt die
selbstidentische Zuschreibung zu einer Disziplin sogar
die notwendige Argumentationsarbeit: „Ich als Medienwissenschaftler …“ Die Authentizität der in ihrer
fiktiven Rolle brillierenden, quasi naturgemäß gespaltenen Pop-Persona weicht hier einem Verständnis von
Authentizität als kohärenter Ich-Identität, die zur Teilnahme an einer sozialen Praxis wie der akademischen
allererst legitimiert. Im Medium der Selbstdarstellung
inszenieren sich zwar beide. Als authentisch gelten
Wissenschaftler*innen aber weniger in dem Sinn, dass
sie ihre Rolle gut spielen (obwohl sie das gegebenenfalls tun), sondern dass sie ein scheinbar objektives, ihrer Person vorgängiges Vermögen verkörpern, mit dem
sie zweifelsfrei identifiziert sind und das ihrem Sprechen
Macht verleiht. Das ästhetische Verfahren der Aneignung ist hier also eines der sozialen Identität als Folge
wissenschaftlicher Disziplinierung. Nicht selten droht
solch disziplinäre (Selbst-)Bestätigung eine Reflexion auf die in einer jeweiligen sozialen Praxis, und das
heißt eben auch: in der Theoriepraxis, sich artikulierenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse abzulösen. Damit weicht auch die für Kritik notwendige Politisierung
beim Machen von Theorie einer Ideologie der narzisstischen Selbstbestätigung widerspruchsfreier Subjekte
und durch sie hindurch agierender, vorgeblich mit sich
selbst identischer Disziplinen. Im Sinne dieser Ideologie
erscheint das Naturalisierende disziplinärer Sprech- und
Lebensweisen von Wissenschaftler*innen dann nicht
49
als Effekt gesellschaftlichen Handelns, das als solches
grundsätzlich veränderbar ist, sondern wird in seiner
vermeintlichen (Vor-)Bestimmtheit als das Andere der
Theorieproduktion nur umso verlässlicher bestätigt.
Nun stellte das Sprengen tradierter Disziplingrenzen in Reaktion auf diese Situation lediglich so lange
eine Intervention in herrschende universitäre Denk- und
Vermittlungsmuster dar, mehr noch in ein disziplinäres
Denken überhaupt, solange Interdisziplinarität nicht zur
Währung diversitätsmanagerialer Anforderungsprofile
avancierte. Nicht nur wurde auf diese Weise die Formoffenheit, die Theorie dadurch mit Kunst verband, als
bildungspolitische Metanorm ästhetisch vereindeutigt,
sondern in ihrem Namen zuweilen auch ein ‚Offenheiten‘ verwertender neoliberaler Kapitalismus als hegemoniekritisch gerechtfertigt: Disziplinen aller Art vereinigt euch, damit die Wissensbilanz stimmt! – Nicht die
beste Voraussetzung für eine Arbeit an der Herrschaft.
Das Wie der Theorieproduktion sollte vielmehr auf eine
Weise in die Theorie selbst Eingang finden, dass bereits
in der Beschreibung der gelebten Verhältnisse als umkämpft eine gegenhegemoniale Kritik an der Definitionsmacht bestimmter hegemonialer Diskurse über Gesellschaft und Kultur aufscheinen kann. Ganz im Sinne
eines solchen (theorie)politischen Engagements entwickelte jene Linie in den britischen Cultural Studies, die
auch Hall repräsentiert, eine, in Nora Räthzels Worten, „Perspektive des Eingreifens beim Betreiben von
Theorie“. 26 Indem Hall sich Arbeiter*innen-, Jugendund Migrant*innenkulturen in Überschneidung mit bestimmten Herrschaftstechniken widmete, ermöglichte
26
Nora Räthzel, „Vorwort“, 2000, S. 5.
50
ihm dies eine Analyse der praktischen Normativität von
Kultur. Die Grenze zwischen kritischer Praxis und kritisiertem Objekt wurde so zum Ausgangspunkt von Theorie, da diese ihrerseits in die Strukturen, die sie untersucht, eingelassen ist. Wenn Pop, wie festgestellt wurde,
im Zwischenbereich von Kunst und Politik liegt, qualifiziert ihn das in besonderem Maße zu einer so verstandenen Theorie: Als Arena im Kampf um kulturelle
Hegemonie ist er der Ort, an dem eine Öffnung auf alternative Formen der Vergesellschaftung möglich wird,
politische Eindeutigkeit sich aber auch ästhetisch mehrdeutig äußern kann. Eine ästhetische Theorie, die sich
um Deutungshoheiten nicht prügeln, sondern deren soziale Voraussetzungen explizit machen, ja sie womöglich
verändern will, wäre hier gut beraten.
51
Elemente einer postkolonialen Genealogie
der westlichen Ästhetik
Ruth Sonderegger
„Hey, Mister Backlash, Mister Backlash,
Just who do you think I am
[…]
You give me second class houses,
Second class schools.
Do you think that colored folks
Are just second class fools?
[…]
Hey, Mister Backlash, Mister Backlash,
What do you think I got to lose?
I’m gonna leave you, Mister Backlash,
with the backlash blues“
(Nina Simone) 1
1. Zoom in. Von der Globalisierung im 18.
Jahrhundert zum Fokus auf Kant
Die folgenden Überlegungen 2 sind von der Hypothese getragen, dass die allmähliche Herausbildung der
philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert Teil eines groß angelegten Selbstermächtigungsversuchs
Der Song „Backlash Blues“ von Nina Simones Album Nina Simone
Sings the Blues (1967) basiert auf einem der letzten Gedichte von
Langston Hughes, das er kurz vor seinem Tod 1967 schrieb, nämlich „The Backlash Blues“, in: Langston Hughes, The Panther & the
Lash. Poems of Our Times, 1992, S. 8.
2 Mittlerweile wurde eine ausgearbeitete Version dieses Vortrags unter dem Titel „Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten
Kapitalismus. Ein Fragment zur Entstehung der philosophischen Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt“ (2018) veröffentlicht.
1
53
seitens des wohlhabenderen Bürgertums in Westeuropa ist. Im Zentrum dieses Versuchs stehen die
schier unüberschaubaren Debatten über den Geschmack und wer ihn wie lernen kann. Logischerweise sind das auch Debatten darüber, wer für die
Geschmackserziehung noch nicht oder überhaupt nie
infrage kommt. Indem die philosophische Ästhetik
mit dieser Aufteilung entsteht, ist ihre Geschichte
eine der Gewalt – der potenzierten Gewalt. Denn die
Formierung der westlichen Ästhetik dient auch dem
Zweck, die gewaltvollen Entwicklungen des kolonial
gestützten Kapitalismus, der sich damals von England
aus auszubreiten begonnen hatte, aus der Perspektive
seiner Profiteur*innen zu rechtfertigen. Das wiederum impliziert: Die philosophische Ästhetik ist weniger geniale Erfindung als vielmehr Re-Aktion. 3
Vor dem Hintergrund dieser Ausgangshypothese
möchte ich im Folgenden zweierlei tun: Einerseits werde ich versuchen, in sehr groben Zügen die Verflechtung
der im 18. Jahrhundert neuen philosophischen Disziplin mit den Entwicklungen des kolonial gestützten Kapitalismus zu skizzieren. Dabei werde ich diesen Kapitalismus nicht so sehr und sicher nicht ausschließlich
als Wirtschaftsform, sondern als eine Vergesellschaftungs- und Lebensweise im Sinn des dirty capitalism
verstehen. Ich übernehme dieses Konzept von der Sozialwissenschaftlerin Sonja Buckel. 4 Sie hat den Begriff
3 Zudem eignete sich, wie Simon Gikandi in Slavery and the Culture
of Taste (2012) mit Bezug auf das englische 18. Jahrhundert gezeigt
hat, der immer autonomer werdende Bereich der Kunst auch prima, um kolonial erbeutetes Geld durch Investitionen ins entstehende
Kunstfeld reinzuwaschen – nicht selten karitativ verbrämt.
4 Sonja Buckel, „Dirty Capitalism“, 2014.
54
entwickelt, um jene im Tandem mit der kapitalistischen
Wirtschaftsweise entstandene Form der Vergesellschaftung zu beschreiben, die auf vielfältigen, gewaltsamen
Trennungen entlang hierarchisierender Achsen beruht.
Als solche Achsen sind nicht nur Kategorien wie race,
class, gender oder ability zu verstehen, sondern etwa auch
die Hierarchien zwischen Menschen und Tieren, belebter und unbelebter Natur wie vielleicht überhaupt das
Denken in Identitäten.
Andererseits möchte ich, was die interne Logik der
philosophischen Ästhetik als eines Aufteilungsunternehmens betrifft, Elemente der Kolonialität herausarbeiten, und zwar exemplarisch an Kant. Die Gewalt der
Kolonialität ins Zentrum zu stellen, ist mir wichtig, weil
sie in Bezug auf die Disziplin der Ästhetik bislang viel
weniger Aufmerksamkeit bekommen hat als beispielsweise die Klassenfrage; und zu gender-Implikationen der
Ästhetikdiskussion im 18. Jahrhundert haben wir soeben einen Vortrag von Eva Kernbauer gehört. Auf Kant
fokussiere ich, weil in der bestehenden Forschung über
den Zusammenhang der Geschichte der Ästhetik mit
der Kolonialität der deutschsprachige Diskurs bislang
allenfalls am Rand behandelt wurde. Und dort wiederum, wo Kants Beitrag zu einem rassialisierenden
Denken und Handeln diskutiert wird, 5 spielt seine
Vgl. Robert Bernasconi, „Who Invented the Concept of Race?
Kant’s Role in the Enlightenment Construction of Race“, 2001;
Charles Mills, „Kant’s Untermenschen“, 2005; Charles Mills, „Kant
and Race, Redux“, 2014. In der ersten Anmerkung dieses Aufsatzes gibt Mills einen Überblick über die englischsprachige Literatur
zu Kant und dessen Beschäftigung mit ‚Rasse‘. Ein „Roundtable on
Kant and Race“ mit Bernasconi und Mills, der 2015 an der New
Yorker New School stattfand, findet sich online unter: https://www.
youtube.com/watch?v=NJJ3cdIafBo.
5
55
Ästhetik kaum eine Rolle, sondern in erster Linie
seine Anthropologie. 6 Mir geht es dabei nicht so sehr
um Kant als eine besonders wichtige, erratische oder
– wie manche meinen – geniale Einzelposition. Vielmehr sehe ich ihn als Teil eines Geflechts von akademischen und nichtakademischen Diskursen und
Praktiken, in dem einzelne Positionierungen gleichwohl in der Verantwortung ihrer Verfechter*innen
standen.
2. Kants Ästhetik als Scharnier und Zäsur im
kolonialen Diskursgeflecht
Die terminologischen Unterscheidungen zwischen
verschiedenen Urteilstypen im ersten Paragrafen der
Kritik der Urteilskraft (1790) muten zunächst einmal
wie terminologische Klärungen an. Doch damit ist
die vielleicht entscheidende Zäsur, die Kant in der
Entwicklung der Ästhetik – wirkmächtig, aber nicht
als Erster, denn zum Beispiel Moses Mendelssohn
und Karl Philipp Moritz hatten ähnliche Überlegungen publiziert – setzt, schon eingeführt: die absolute Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen. Denn mit
der kategorialen Abgrenzung zwischen Erkenntnis,
Moral und Ästhetik samt ihren jeweiligen Urteilsformen hat Kant im § 1 der Kritik der Urteilskraft
nicht lediglich zwischen Urteilstypen differenziert.
Vielmehr hat er damit die These aufgestellt, dass es
Kants früher Text zur Ästhetik, nämlich seine Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), auf den ich gleich zurückkommen werde, wird von jenen, die sich mit Kants ‚Rassen‘Theorie beschäftigen, eher als Beitrag zur Anthropologie gelesen.
Vgl. etwa David Bindman, Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of
Race in the 18th Century, insb. S. 151–189.
6
56
darüber hinaus keine weiteren Urteilstypen bzw. mit
ihnen korrespondierende Wirklichkeitsbereiche gibt
und dass die drei Bereiche nichts miteinander zu tun
haben, sondern jeweils eigenen Logiken folgen – autonomen Logiken eben, die sich in Kants drei Kritiken spiegeln. Kant spricht zwar nicht von gesellschaftlichen Bereichen. Doch es dürfte offensichtlich
sein, dass er mit der kategorialen Trennung zwischen
drei Urteilspraktiken jener als Inbegriff der Modernität geltenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher
Sphären zuarbeitet, deren Gegenteil fortan als Primitivität verhandelt wird.
So deskriptiv – bzw. im transzendentalphilosophischen Sinn re-konstruktiv – Kant vorzugehen verspricht, so offensichtlich stellt er mit den beiden Charakteristika, die das ästhetische Urteil zum Ausdruck
bringen sollen – Interesselosigkeit und Allgemeinheit
–, eine Forderung auf: Er definiert eine neue Norm
des Schönen, indem er den Begriff der ästhetischen
Erfahrung so (eng) anlegt, dass fast nichts von dem,
was bis dahin als schön galt, mehr Platz findet. Nicht
nur wird das Schöne ins Subjekt verlagert und von allen bestimmbaren Eigenschaften eines Objekts abgetrennt. Das sinnliche Affiziert-Werden von einem Gegenstand, das den Begriff des Ästhetischen im Sinn der
aisthesis bis dahin geradezu definiert hat – so auch noch
in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) –, wird in
der Kritik der Urteilskraft bedingungslos durchgestrichen. Wie der § 2 deutlich macht, geht es bei Kant in
Sachen Schönheit nur darum, was ein Ich aus seiner
Vorstellung eines Gegenstands „selbst mach[t]“, 7 und
7
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 2, S. 117.
57
nicht länger um ein passives Affiziert-Werden durch einen Gegenstand. 8
Es liegt auch auf der Hand, dass die Uninteressiertheit des ästhetischen Verhaltens außerordentlich voraussetzungsreich ist und viele de facto ausschließt; der Tatsache zum Trotz, dass Kant – formal gesehen – zunächst
einmal alle Wesen, die über Einbildungskraft und Verstand verfügen, als zu ästhetischen Erfahrungen und
Urteilen fähig erklärt. Denn ohne ökonomische Absicherung etwa, ohne Befriedigtheit der Grundbedürfnisse und ausreichend Freizeit ist die Haltung der Interesselosigkeit zumindest nur schwer einzunehmen.
Im Licht der Tatsache, dass die von Kant postulierte
Interesselosigkeit außerordentlich voraussetzungsreich
ist, muss man sich schließlich auch fragen, ob dem von
Kant konzipierten Ästhetischen nicht doch Zwecke zukommen; und zwar andere als jene, die es in der Systematik der Kant’schen Philosophie ohnehin hat: Das
Schöne soll hier auf das Passen der Vernunft zur Empirie und das Erhabene auf die Moralität vernünftiger
Wesen hinweisen. Ich meine Zwecke wie etwa die Erholung vom ökonomischen Konkurrenzkampf und die
Ablenkung von unangenehmen ethischen und moralischen Fragen, die mit der Intensivierung der Sklaverei
8 Das ist der Punkt, an dem Kant sich von der englischen Tradition
trennt, mit der er das Interesse an der Konzeptualisierung des ästhetischen Geschmacks (taste) teilt. Im Unterschied zu Kant behaupten seine englischen Kollegen von Joseph Addison bis David Hume
auch einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem
Guten. Wenn Kant später in der Kritik der Urteilskraft auf einen
möglichen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten
zurückkommt, unterstreicht er, dass mögliche moralische Effekte des
Schönen nicht intrinsisch zu diesem gehören, sondern gewissermaßen parasitär sind.
58
und der kapitalistischen Ausbeutung gegen Ende des
18. Jahrhunderts immer lauter gestellt wurden; kurz das,
was später als Eskapismus und Kompensationsfunktion
der Kunst bezeichnet wurde. Ein weiterer – zumindest
impliziter – Zweck des Kant’schen Schönen besteht darin, in der Manier des Hautfarben-Rassismus hellhäutige Menschen von angeblich dunkleren zu trennen und
die Letzteren unterzuordnen; und zwar mit dem Ziel,
auf genau dieser Hierarchie das Konzept des zivilisierten,
ja kosmopolitischen, zunächst einmal nur männlichen
Subjekts des Westens aufzubauen.
Die wohl offensichtlichste Ausschließung aller Schwarzen Menschen aus dem Bereich des Schönen findet sich in
einem relativ frühen Text Kants zur Ästhetik, nämlich in
seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). 9 Dort heißt es unzweideutig:
„Die N*s von Afrika haben von der Natur kein
Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr
Hume fodert [sic!] jedermann auf, ein einziges
Beispiel anzuführen, da ein N* Talente gewiesen
habe, und behauptet: daß unter Hunderttausenden
von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts
In der Kant-Forschung wird zwar meist ein großer Unterschied
zwischen dem sogenannten kritischen Kant der drei transzendentalphilosophischen Kritiken und dem vorkritischen gemacht. Gerade
in Sachen rassialisierender oder sexistischer Ausschlüsse aus dem
Reich des reinen ästhetischen Urteils ändert sich Kants Position
durch seine gesamte Karriere hindurch aber kaum. Zwar spielt die
Frage der ‚Rasse‘, die Kant in seinen Vorlesungen mehrmals ausgiebig behandelt, in der Kritik der Urteilskraft nur an wenigen Stellen
eine Rolle. Gleichwohl wird die Fähigkeit zum reinen ästhetischen
Urteil, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, weiterhin durch
einen Bildungsmechanismus so künstlich wie gewaltvoll verknappt,
indem sie nur jenen zugebilligt wird, die Teil der „auf den höchsten
Punkt gekommene[n] Zivilisierung“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 41, S. 230) sind.
9
59
verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in
Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in
Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern
rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt
habe […].“ 10
Diese Sätze sind fast wörtlich aus Humes Abhandlung
„Of National Characters“ abgeschrieben. Aber das macht
sie keineswegs weniger falsch. „Herr Humes“ These von
der Unmöglichkeit Schwarzer Dichter und Denkerinnen,
auf die sich Kant stützt, geht auf eine Auseinandersetzung
über den jamaikanischen Dichter Francis Williams zurück. Es war eine Debatte darüber, ob Francis Williams,
der vom Duke of Montagu im Rahmen eines Experiments
über die geistigen und ästhetischen Fähigkeiten Schwarzer
Menschen zum Studium nach England geschickt worden
war, durch die englische Bildung ein echter Dichter geworden war, wie die meisten Zeitgenoss*innen meinten,
oder nur Verse in Schullatein reproduzieren konnte. David
Hume schlug sich in dieser Debatte auf die Seite von einem der wohl krassesten Leugner von Williams’ ästhetischen Fähigkeiten, nämlich auf die eines Vertreters der
Plantagenaristokratie auf Jamaika: David Long. 11
Zur Widerlegung der These von der Unmöglichkeit Schwarzer Künstler*innen könnte man auch auf
die Schriftstellerin Phillis Wheatley (1753–1784)
verweisen. Die 1753 in Gambia geborene Wheatley
10 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und
Erhabenen, 1993, S. 70 f.
11 In einer berühmt gewordenen Fußnote seines Aufsatzes „Of National Characters“ (1742) schreibt Hume: „In Jamaica, indeed, they
talk of one Negro as a man of parts and learning; but it is likely he is
admired for very slender accomplishments, like a parrot, who speaks
a few words plainly.“ In: David Hume, Essays. Moral, Political, and
Literary, 2006, S. 213.
60
wurde mit sieben Jahren auf einem Sklavenschiff nach
Boston deportiert und dort von einem Kaufmann namens Wheatley ersteigert, der ihr den Namen des Sklavenschiffs gab, auf dem sie verschleppt wurde: Phillis.
Obwohl versklavt, ließ er ihr den Unterricht der eigenen Kinder zukommen. Wheatley sprach in kürzester
Zeit Latein und Griechisch und begann Gedichte zu
schreiben. Gedichte schreiben musste sie auf Geheiß
ihrer Besitzer, des Ehepaars Wheatley, sodann auch in
exotisierenden öffentlichen Performances. Denn offenbar war der Spektakelwert einer Schwarzen Schriftstellerin, die antike Versmaße beherrschte, riesig. 12 Noch
versklavt erschien von ihrer Hand das erste Buch einer
afroamerikanischen Schriftstellerin und wurde in den
USA sowie in London ein großer Erfolg und wichtiges
Beweismaterial für die Kampagne der abolitionistischen
Bewegung. Nicht zuletzt ließen die zukünftigen englischen Romantiker*innen sich von ihr vielfältig inspirieren. Kant hat von Wheatley möglicherweise durch seine wichtigsten Freunde in Königsberg, die schottischen
Unternehmer Joseph Green und Robert Motherby, gewusst, die zwischen London und Königsberg pendelten,
als Wheatley ein Star der Londoner Szene war. Ganz
sicher aber musste die afroamerikanische Schriftstellerin Kant in Johann Friedrich Blumenbachs (1752–1840)
Schrift Beyträge zur Naturgeschichte begegnet sein. Denn
nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft schreibt
Kant an Blumenbach, wie wichtig diese Schrift für das
Verfassen der dritten Kritik gewesen sei. 13
Vgl. Rochelle Raineri Zuck, „Poetic Economics: Phillis Wheatley and
the Production of the Black Artist in the Early Atlantic World“, 2010.
13 John C. Shields, Phillis Wheatley and the Romantics, 2010, insb.
das 5. Kapitel mit dem Titel „Kant and Wheatley“, S. 85–95.
12
61
Damit kehre ich zur Kritik der Urteilskraft zurück, in der
der Ausschluss angeblich nichtweißer Menschen aus dem
Universum der Ästhetik zwar deutlich subtiler ausfällt
als in Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen
und Erhabenen, aber nicht verschwindet. Im Gegenteil.
Trotz der Transzendentalisierung seiner Überlegungen
bleibt Kant seinem früheren Text in Sachen Ausschluss
befremdlich nahe; und auch Humes Verdikt. Der Tatsache zum Trotz, dass Kant den Hume’schen Empirismus ebenso ablehnte wie auch dessen typisch englische
These vom intrinsischen Zusammenhang zwischen dem
Ästhetischen und dem Moralischen. Was beide jedoch
teilen, ist eine ästhetische Theorie der zivilisatorischen
Sensibilisierung, die die Quadratur des Kreises ermöglicht: Die These von der universellen Fähigkeit zum ästhetischen Erfahren und Urteilen – Hume spricht vom
universell gegebenen standard of taste, Kant vom ästhetischen Urteilen – wird vereinbar mit der Auffassung,
dass es nur wenige Auserwählte sind, die tatsächlich ästhetisch urteilen können. So schreibt Hume in „Of the
Standard of Taste“: „[A]nd hence a true judge in the
finer arts is observed, even during the most polished
ages, to be so rare a character.“ 14
Wie fragil die gleichwohl immer wieder behauptete Universalität des Geschmacks in Kants dritter Kritik
ist, zeigt bereits der § 2. Dort behauptet Kant scheinbar ganz nebenbei als Selbstverständlichkeit, dass der
„Irokesische Sachem“ sich nur für die Gaumenfreuden –
konkret die Garküchen in Paris – interessiere, und legt
damit nahe, dass er zum uninteressierten ästhetischen
Verhalten bzw. zu Urteilen über das Schöne nicht in der
14
David Hume, „Of the Standard of Taste“, 2006, S. 247.
62
Lage ist. An einer späteren Stelle der Kritik der Urteilskraft
werden Irokesen – zusammen mit den Bewohner*innen
der Karibischen Inseln – grundsätzlich auf die niedrigste
Stufe der sogenannten Zivilisation gestellt. 15
Das geschieht im Rahmen von Kants Suche nach
einem Prinzip, das die Allgemeinheit des ästhetischen
Urteils trotz der Tatsache, dass es ein subjektives ist,
absichern soll. Zunächst scheint diese Allgemeinheit
garantiert, sofern in der ästhetischen Erfahrung nichts
anderes als das Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen
Einbildungskraft und Verstand am Werk ist, über die
alle denkenden Wesen verfügen. Aber, so fragt Kant:
Wie kann das urteilende Subjekt dafür sorgen, dass sich
in seine Lust tatsächlich keine materiellen Aspekte und
Interessen gemischt haben, sondern nur das eine Rolle spielt, was alle denkenden Wesen teilen – nämlich
Einbildungskraft und Verstand? Kant zufolge kann diese
Allgemeinheit nur durch den sensus communis sicher verbürgt werden; das heißt mittels der Fähigkeit, das eigene Urteil so mit Bezug auf mögliche versteckte Interessen zu testen, dass ich mich als Urteilende an die Stelle
aller anderen vernünftigen Wesen versetze und die schöne
Dem „Stellenkommentar“ der Ausgabe der Kritik der Urteilskraft
im Deutschen Klassiker Verlag von Manfred Frank und Véronique
Zanetti (2009, S. 1331) zufolge bezieht sich Kant hier auf eine Schrift
des Jesuitenpaters François Xavier Charlevoix (1682-1761). David
Kazanijan schreibt in einer Diskussion der beiden Stellen, an denen
in der Kritik der Urteilskraft Irokesen auftauchen: „[T]he Iroquois
were represented in Dutch, French, British, and U.S. colonial discourses as a politically savvy and militarily brutal empire. This dual
interpretation of the Iroquios as a politically advanced federation but
a socially barbaric or underdeveloped people persists with remarkable
consistence, continuing to appear in the twentieth century […].“ David Kazanjian, The Colonizing Trick. National Culture and Imperial
Citizenship in Early America, 2003, S. 156.
15
63
Vorstellung aus deren Perspektive wahrnehme bzw. beurteile. Erst mit diesem Test des sensus communis, den Kant
mit Geschmack und Zivilisiertheit gleichsetzt, ist das kosmopolitische Subjekt der westlichen Moderne vollkommen. Nicht ohne Grund wird Hannah Arendt diese ästhetisch eingeführte Fähigkeit zum Kern ihrer politischen
Philosophie machen, ohne jedoch die kantischen Abgründe dieses Gemeinsinns auch nur zu erwähnen. 16
Zwar lässt Kant zunächst noch offen, ob der sensus
communis angeboren ist oder gelernt werden muss, wenn
er im § 22 der Kritik der Urteilskraft schreibt: „[O]b
also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches,
oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und
künstlichen Vermögen sei […]: das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen.“ 17 Doch später,
im § 41, spricht er sich klar dafür aus, dass der sensus
communis, von dem letztlich die gesamte ästhetische Urteilskraft abhängt, zwar in allen vernunftbegabten Wesen
angelegt ist, aber der Bildung bzw. Zivilisierung bedarf.
Und in ebendiesem Bildungs- und Zivilisierungskontext
tauchen auch die Irokesen wieder auf, und zwar auf der
untersten Stufe der Zivilisation. Denn Kant schreibt:
„[U]nd so werden freilich anfangs nur Reize,
z. B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den
Karaiben und Zinnober bei den Irokesen), oder
Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen
(als an Kanots, Kleidern, u. s. w.), die gar kein
Vergnügen, d. i. Wohlgefallen des Genusses bei
sich führen, in der Gesellschaft wichtig […]: bis
16 Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, 1985, insb. S. 92–103.
17 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 22, S. 159 f.
64
endlich die auf den höchsten Punkt gekommene
Zivilisierung daraus beinahe das Hauptwerk der
verfeinerten Neigung macht […].“ 18
Einer solchen sogenannten Stadientheorie der Zivilisation zufolge können zumindest prinzipiell alle Menschen
für den sensus communis sensibilisiert werden, wenngleich
sie dafür unterschiedlich viel Zeit benötigen. Doch dies
ist lediglich der Auftakt zu Kants abschließender und
viel krasser ausschließenden Bemerkung über den sensus
communis im § 42. Dort heißt es: „[E]rstlich ist dieses
unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich
nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder
dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist.“ 19
Damit stellt Kant nichts anderes als die Behauptung
auf, dass manche Menschen prinzipiell für das Erlernen des sensus communis unempfänglich sind und somit
unfähig, ästhetisch zu erfahren und zu urteilen. Diese
Fähigkeiten sind also alles andere als selbstverständlich
oder gar universell, sondern letztlich eine Auszeichnung,
die das Bürgertum samt seinen Intellektuellen im 18.
Jahrhundert für sich reklamiert. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den
unteren Klassen, die noch sensibilisiert werden müssen,
sowie gegenüber dem kolonialen Außen, das nur teilweise für die Pädagogik der Zivilisierung infrage kommt.
Genau an dieser Stelle setzt kurz nach dem Erscheinen
der Kritik der Urteilskraft Schillers Manifest zur
ästhetischen Erziehung in einer Reihe von Briefen an, 20
Ebd., § 41, S. 230.
Ebd., § 42, S. 234.
20 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in
einer Reihe von Briefen, 1979.
18
19
65
das meist als eines der Emanzipation von der entfremdenden Arbeitsteilung hin zur politischen Freiheit mit
den Mitteln der Kunst gelesen wurde. Erlösung bringt
bei Schiller bekanntermaßen ein ästhetischer Spieltrieb.
Denn während die Menschen das wahre Spiel noch lernen müssen, ist es im Bereich der schönen Künste in
den Augen Schillers schon realisiert. Eben deshalb kann
das Schöne zum entscheidenden Vorbild des neuen und
freien Menschen werden. Allerdings ist diese Freiheit
Schiller zufolge ein Ideal, das Menschen in absehbarer
Zeit nicht erreichen, sondern nur anstreben können.
Es geht im Lauf der Briefe zur ästhetischen Erziehung
auch immer deutlicher nur mehr um den Bildungsprozess weniger Auserwählter und nicht länger um die politische Freiheit für alle. Potenziert durch die massive
Rezeption Schillers im Schulbereich beginnt damit die
breitenwirksame Einübung des bürgerlichen Subjekts in
einen Habitus des unterwürfigen Strebens und Perfektionierens, dessen ästhetisches Ziel nie erreicht wird –
bis hin zum gegenwärtigen Imperativ, lebenslang zu lernen. 21 Das Emanzipations- bzw. Aufstiegsversprechen
der ästhetischen Erziehung sorgt zugleich dafür, dass
die Ausschlüsse, die dieser Subjektivierungsweise innewohnen, als Ausnahmen von der Regel im Hintergrund
bleiben oder völlig unsichtbar gemacht werden.
3. Ausblick in die Gegenwart
Mein Fazit aus dem zugegebenermaßen viel zu lückenhaften Blick in die Geschichte lautet: Philosophische Ästhetik, wie sie von Kant äußerst wirkmächtig formuliert
wurde, ist in ihrem Fundament – dem sensus communis –
21
Vgl. Ian Hunter, „Aesthetics and Cultural Studies“, 1992.
66
auf Superioritätsdenken, Ausschluss und Trennung angelegt: zwischen Subjekten, die Geschmack und damit
das Vermögen des sensus communis bereits besitzen –
aber auf stets noch perfektionierbare Art; solchen, die
den Geschmack prinzipiell lernen können; und solchen,
für die auch Letzteres nicht infrage kommt. Dabei geht
es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den niederen Klassen und Geschlechtern, die
noch geschult werden müssen, wie gegenüber dem kolonialen Außen, das zumindest in Teilen im Zustand der
Nichtzivilisiertheit verbleiben soll. Damit steigt die Gefahr, dass aus dem sensus communis, dem Vermögen, sich
in die Position aller anderen zivilisierten Wesen versetzen zu können, die Zementierung eines Zirkels von Eingeweihten wird. Da, wo der Übergang zwischen weniger
und mehr Zivilisation konzeptualisiert wird, wie etwa
bei Schiller, gibt es eine Tendenz, die Übenden im Zustand des Übens zu halten, sodass das ästhetische Zivilisierungsunternehmen zum nicht nur ausschließenden,
sondern auch die Eingeschlossenen disziplinierenden
Selbstzweck wird.
Meine Diagnose der abgründigen Grundlegung der
westlichen Ästhetik zielt also nicht nur auf die Beispiele
Kants. Sie betrifft auch den systematischen Kern der Kritik der Urteilskraft. Dieser Abgrund kann nicht dadurch
überwunden werden, dass die ästhetische Gemeinschaft
(der Theoretiker*innen) sich einfach vornimmt, in Zukunft tatsächlich die Perspektiven aller möglichen Marginalisierten zuzulassen, weil sie in den universalistischeren Bemerkungen Kants mitgemeint seien; einmal
ganz abgesehen davon, dass Westeuropäer*innen das bis
heute nicht wirklich gelungen ist. Denn wie wir anschließend im Vortrag von Sofia Bempeza hören werden,
67
schwankt die westliche Kunstgemeinschaft immer noch
zwischen Exotisierung und Bevormundung und verkauft
dies auch noch als ein „Lernen von den anderen“. Die
Herausforderung besteht meines Erachtens vielmehr darin, sich gegen alle derartigen Schlussstriche ebenso zu
wehren wie gegen den ewigen Aufschub von Alternativen durch ästhetische Erziehungsprogramme für die
angeblich Zurückgebliebenen, die dann Schulungen für
die Zurückgebliebenen aufgedrückt bekommen; „second
class schools“ für „second class fools“, wie Nina Simone
– Langston Hughes zitierend und mit ihm und der Civil
Rights Bewegung gegen Rassismus protestierend – 1967
singt. Denn genau dann, wenn der Anspruch erhoben
wird, (universalistisch-perfektionistisch) alles richtig zu
machen – sich in die angeblich Andere nicht nur versetzt, sondern sie tatsächlich selbst sprechen gelassen
zu haben –, ist die Gefahr des Ausschlusses am größten; eben weil – wie man unter anderem von Jacques
Rancière lernen kann – jene, die Teil dieser vermeintlich perfekten ästhetischen Gemeinschaft sind, meist
gar nicht wissen, wie und was sie alles ausschließen und
durch wen hindurch sie Schlussstriche ziehen.
Das führt allenfalls zur, wie man mit Sara Ahmed
sagen könnte, non-performativity 22 von Inklusion und
Diversität im Kunstfeld: zu Gutwörtern ohne emanzipatorische, dafür aber mit genial versteckten ausschließenden Folgen. Über Alternativen zu diesem immer
noch weit verbreiteten Verständnis von philosophischer
Ästhetik, ästhetischer Bildung und Emanzipation wird
nun Ines Kleesattel sprechen.
Sara Ahmed, „Declarations of Whiteness: The Non-Performativity
of Anti-Racism“, 2004.
22
68
Vom sensus communis zu den
Dirty Aesthetics
Für eine entgrenztere Theoriepraxis
Ines Kleesattel
Der Ausgangspunkt dieses Beitrags, der für eine Verunreinigung des sogenannten sensus communis und dessen Überführung in die Dirty Aesthetics plädieren wird,
ist ein doppelter: Einerseits geht es mir um eine Verteidigung des epistemischen und ethischen Potenzials,
das solche Gegenwartskunst, die sich unter anderem
als „entgrenzt“, „recherchebasiert“ und „wissensproduzierend“ beschreiben lässt, zuweilen besitzt. Verbunden
damit möchte ich andererseits eine Kritik am Reinheitsideal einer ursprünglich Kant’schen und bis heute wirkmächtigen Ästhetik der subjektiven Erfahrung
formulieren. Denn in einer bestimmten Spielart der
Kunstphilosophie erwachsen aus dieser Ästhetik apodiktische Definitionen von ‚guter Kunst‘ und einer ihr
entsprechenden Rezeptionsweise, die ich für vollkommen untauglich halte, um dasjenige zu fassen, was Einzelfälle von zeitgenössischer Kunst im besten, glückenden Fall heute ermöglichen können: nämlich adäquates
und relevantes Erkennen von komplexen globalen Verflechtungen.
Im Einspruch gegen eine ästhetische Theorie, die
an der Abspaltung von Ästhetik, Erkenntnis und Ethik
bzw. Politik festhält, werde ich im Folgenden von Kant
über Arendt zu Haraway den Weg in Richtung einer
entgrenzten ästhetischen Theoriepraxis skizzieren, die
Gegenwartskunst nicht auf eine eng gefasste Erfahrungsästhetik verpflichten muss und die keine Angst vor
71
Bastardisierungen hat. Mut zur Entgrenzung bedeutet dabei nicht zwangsläufig, alles ad acta zu legen, was
Kunstautonomie einmal versprach. Im Gegenteil: Was
Adorno den Verzweckung, Positivismus und Identifizierung widerstehenden „Erkenntnischarakter der Kunstwerke“ nannte, 1 könnte in den Dirty Aesthetics eine Reaktualisierung erfahren.
Dementsprechend ist es mir hier nicht um eine generelle Nobilitierung der künstlerischen Wissensproduktion im Kollektivsingular zu tun. Angesichts der
enormen Diversität von Formaten und Praktiken, die
„Kunst“ und/oder „Wissen“ genannt werden, halte ich
allgemeingültige Aussagen über das Verhältnis von beidem für weder sinnvoll noch möglich. Und selbstverständlich ist mir bewusst, dass an Bezeichnungen wie
„Artistic Research“, „forschender“, „recherchierender“
oder „wissensproduzierender“ Kunst usw. erhebliche
disziplinäre und ökonomische Interessen haften. Aber
gerade angesichts von kognitivem Kapitalismus und Bologna-Bildungspolizei wäre es fatal, die Möglichkeit zu
verschenken, in der Begegnung mit Kunst unter Umständen doch etwas darüber zu erfahren, „was nötig ist,
damit […] die Beteiligung an der Wissensproduktion
nicht unmittelbar einem verwertungslogischen Denken
der Selbstoptimierung anheimfällt“. 2 Translokal agierende Künstler*innen wie Maria Thereza Alves, Amar
Kanwar, Antje Majewski, knowbotiq oder Judith Raum
involvieren in ihre Recherchearbeiten breit gefächerte
Methoden, diverse Medien und heterogene (menschliche wie nichtmenschliche) Beteiligte. An geografisch
1
2
Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), 2009, S. 327.
Elke Bippus, „Teilhabe am Wissen“, 2016.
72
konkreten Orten und in spezifischen Situationen suchen sie Begegnungen, spüren ihnen nach, hören zu,
zeichnen auf. So bergen sie latente Wissen unterschiedlichster Provenienz, die sie in Installationen und Videoessays zu Konstellationen aus multiplen Körpern, Perspektiven und Stimmen fügen. Auf diese Weise werden
multidimensionale Verflechtungen der (post)kolonialen
Geschichte und globalisierten Gegenwart polyphon verhandelt, ohne dass sich explizite und „implizite“ Wissen
dabei voneinander ablösen ließen. Vielmehr erlauben die
aus Feld-, Archiv- und Materialitätsforschungen stammenden Wissen erst innerhalb der konstellativen Wechselbeziehungen von Materiellem und Diskursivem, Assoziativem, Imaginativem und Sensuellem ein Erkennen
von „unterworfenen Wissen“ im Sinne Foucaults; also
ein Vernehmen sowohl von „historische[n] Inhalte[n]
[…], die verschüttet, in funktionalen Zusammenhängen
oder in formalen Systematisierungen verschleiert wurden“, als auch von „eine[r] ganze[n] Reihe von Wissensformen, die sich als nicht-begriffliches Wissen, als
unzureichend ausgearbeitetes Wissen, […] als Wissen
unterhalb des Niveaus der Erkenntnis oder der erforderlichen Wissenschaftlichkeit disqualifiziert fanden“. 3
‚Gute Kunst‘, Subjekt und sensus communis
Ungeachtet solcher künstlerischer Arbeiten, unterworfener Wissensformen und der sie begleitenden kunstkritischen Diskurse konstatieren Christoph Menke und
Alexander García Düttmann: „Kunst produziert keine
Wissensformen“ und „Die Kraft der Kunst besteht nicht
Michel Foucault, „Vorlesung vom 7. Januar 1976“, 2003, S. 217
u. 218.
3
73
darin, Erkenntnis, Politik oder Kritik zu sein“. 4 Was
‚gute‘ Kunst auszeichnet (bzw. überhaupt Kunst, die ihren Namen verdient), ist ihnen zufolge eine erkenntnisferne, subjektiv zu erfahrende „Unbestimmtheit“,
„Kraft“, Teilnahme am „schöpferischen Akt“ und „gefühlte Intensität“. „Man verweilt, empfindet Lust, ohne
etwas zu erkennen oder zu wissen“, 5 lautet Düttmanns
Beschreibung dessen, wie sich ‚gute Kunst‘ unter Beweis
stellt. Solche Begegnungen mit intensiver, kraftvoller
Kunst sind also vor allem durch Begriffsferne und Urteilslosigkeit geprägt; bzw. basiert dasjenige ästhetische
Urteil, das selbst auszusprechen die Philosophen nicht
schüchtern sind, auf der Erfahrung einer (wie Menke
es nennt) „Aporie des Urteilens“, in der „das urteilende Subjekt sich selbst unerträglich“ wird. 6 Oder noch
einmal anders gesagt: Das ästhetische Urteil „läuft auf
Hochtouren leer“. 7 Deutlich wird hier eine Theorietradition fortgeschrieben, die erstens auf der disziplinären
Abspaltung der Ästhetik von Erkenntnis und von Ethik
bzw. Politik basiert und zweitens ästhetische Autonomie
als die außergewöhnliche Erfahrungsform eines primär
selbstreflexiven Subjekts bestimmt. Mit nicht unerheblicher Diskursmacht verlängert derartige Kunstphilosophie Kants Ästhetik der subjektiven Autonomieerfahrung in den Bereich heutiger Kunstrezeption.
Das Subjekt dieser Ästhetik ist bekanntlich kein
empirisches Individuum, sondern das transzendentale
Subjekt, das heißt „der Mensch“ im Generellen unter
4 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 82;
Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 11.
5 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 52.
6 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, 2013, S. 78.
7 Alexander García Düttmann, Was weiß die Kunst?, 2015, S. 43.
74
Absehung von aller soziohistorischer Partikularität. Und
genau hierin liegt das Problem. Ruth Sonderegger hat
in ihrem Beitrag 8 bereits deutlich gemacht, wie wenig neutral die Kant’sche Ästhetik ist; dass etwa seine Gegenüberstellung eines „reinen Geschmacks“ des
interesselosen Wohlgefallens einerseits und eines von
weltlichen Interessen verunreinigten „barbarischen Geschmacks“ andererseits auf spezifische Weise soziohistorisch verortet ist: im Zusammentreffen von europäischer
Aufklärung und Kolonialismus, das die Gewaltherrschaft weißer Europäer*innen philosophisch legitimationsbedürftig machte. Zudem bedarf es noch nicht
einmal einer globalhistorischen Kontextualisierung, um
wahrzunehmen, dass interesseloses Wohlgefallen nur
unter sehr privilegierten Bedingungen möglich wird
und seine Verknüpfung mit sogenannter ‚Hochkultur‘
der sozialen Distinktion dient – Pierre Bourdieu stellte dies vor mehr als drei Jahrzehnten unter Beweis; und
verwandte Exklusionsmechanismen werden auch in der
Gegenwart von Soziolog*innen noch empirisch belegt. 9
Für Kant und seine Nachfolger*innen stellt sich – unter
Absehung von historischen und soziologischen Spezifiken – immerhin das Problem, dass der transzendentalphilosophisch begründete, allgemeine Geltungsanspruch des „reinen Geschmacks“ im Widerspruch zur
empirisch beobachtbaren Divergenz von Geschmäckern
steht. Kant sichert die Kompatibilität von Subjektivität und Allgemeingültigkeit des reinen Geschmacks bekanntlich über den sensus communis (oder Gemeinsinn).
Siehe Ruth Sondereggers Beitrag in diesem Band.
Vgl. dazu Heike Munder und Ulf Wuggenig, Das Kunstfeld, 2012,
sowie Philippe Saner, Sophie Vögele und Pauline Vessely, Art.School.
Differences, 2016.
8
9
75
Dieser garantiert, dass mein Geschmacksurteil – zum
Beispiel „Das ist gute Kunst“ – zu Recht auf die Zustimmung anderer abhebt und nicht bloß partikulare Privatmeinung sein will.
„Dieses geschieht nur dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die
Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß
von den Beschränkungen, die unserer eigenen
Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert
[…].“ 10
Der sensus communis als
Bildungs(bürger*innen)norm
Auf die von Kant im § 21 der Kritik der Urteilskraft gestellte Frage, ob „man mit Grund einen Gemeinsinn voraussetzen könne“, antwortet Jens Kuhlenkampf erfrischend direkt mit:
„Nein! Man kann keinen Gemeinsinn (als Übereinstimmung aller) voraussetzen, denn es gibt
keinen, ebensowenig übrigens, wie es gemeinen
Verstand oder gemeine Menschenvernunft als geteilten Schatz von Meinungen und Einstellungen einfach so gibt, da sie sich vielmehr nur als
ein bestimmter Beurteilungsstandpunkt erwiesen haben, den man einnehmen kann oder auch
nicht.“ 11
Kant allerdings kann trotz kontrafaktischer Voraussetzungen dennoch einen sensus communis annehmen, weil
er diesen als „eine bloße idealische Norm“ vorstellt –
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 40.
Jens Kuhlenkampf, „Vom Geschmacke als einer Art sensus communis“, 1995, S. 45.
10
11
76
die nicht besagt, dass jede und jeder „mit unserem Urteil übereinstimmen werde, sondern damit zustimmen
solle“. 12 Deshalb, so Kuhlenkampf, sei der sensus communis
Name eines Ideals, „das erst noch zu realisieren ist“.
„Die ‚Einhelligkeit der Sinnesart‘ in ästhetischen
Kontexten ist nichts, was schon zur natürlichen
Ausstattung des Menschen gehört, sondern etwas, das in einem kulturellen Bildungsprozeß der
Menschen allererst hervorzubringen ist […].“ 13
Kuhlenkampfs Interpretation des sensus communis rückt
damit in die Nähe von Shaftesburys common sense, der
ab Mitte des 18. Jahrhunderts zum missionarischen Imperativ einer ästhetischen Bildung wurde, die Waisenkinder aus Londoner Elendsvierteln mittels Kunst zu
bürgerlich wertvollen Gesellschaftsmitgliedern machen
sollte. Carmen Mörsch hat grundlegend aufgearbeitet,
wie die karitativ auftretende Kunstvermittlung im damaligen England dezidiert als paternalistische Inklusionsmaßnahme befördert wurde, unter anderem um drohenden Armenaufständen vorzubeugen. 14 Auch in der
Gegenwart laufen Kunstvermittlung wie Vermittlungskunst mit der Adressierung von sogenannten ‚Randgruppen‘ Gefahr, im Gewand inkludierender Emanzipation als bildungsbürgerliches Missionsprojekt zu
fungieren. Kritische Kunstvermittler*innen wie Mörsch
oder Nora Sternfeld argumentieren angesichts dessen
jedoch, die Antwort auf drohenden Paternalismus könne
nicht sein, sämtliche Einladungspolitiken aus der kulturellen Bildung zu verbannen. Stattdessen müsse es viel
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1974, § 22.
Jens Kuhlenkampf, „Vom Geschmacke als einer Art sensus communis“, 1995, S. 46.
14 Carmen Mörsch, Die Bildung der Anderen mit Kunst, 2017.
12
13
77
eher um eine differenzsensible Arbeit mit und in Ambivalenzen gehen und um Perspektivwechsel, die zu streitenden Auseinandersetzungen über ästhetische Definitionsmacht führen. Eine ästhetische Theorie, die diesen
verstrickungsbereiten Faden aus der kulturellen Bildung
aufzunehmen bereit wäre, hätte die idealistische Norm
des sensus communis so zu reformulieren, dass der sensus
communis nicht länger für Einsinnigkeit, sondern vielmehr für Polyphonie und Dissens stünde.
sensus communis revised
Mit Kants Transzendentalphilosophie ist das freilich
nicht zu machen; mit Hannah Arendts eigenwilliger,
quer zur Scheidung von Ästhetik, Politik und Erkenntnis liegender Kant-Interpretation allerdings schon.
Denn Arendt hält Kants sensus communis für „das politischste unter den geistigen Vermögen“, da er die Fähigkeit sei, „die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern aus der Perspektive aller anderen, die ebenfalls
präsent sind, zu sehen“, und somit die „Grundfähigkeit, die den Menschen erst ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt zu
orientieren“. 15 Intersubjektivität wird bei Arendt folglich nicht wie bei Kant durch intrasubjektive Abstraktion
hergestellt. Vielmehr verweist die Intersubjektivität des
sensus communis ihr zufolge sowohl auf die Relationalität zwischenmenschlicher Bezugnahmen als auch auf
das weltlich-objektive „Zwischen“, das alle weltlichen
Wesen gleichermaßen miteinander verbindet wie trennt.
„Das Urteil entspringt hier [in der Ästhetik
wie in der Politik, I. K.] der Subjektivität eines
15
Hannah Arendt, „Kultur und Politik“, 2012, S. 299.
78
Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen
nur ihm eigenen Standpunkt hat, eine objektive
Gegebenheit ist, etwas, das uns gemeinsam ist.
Im Geschmack entscheidet sich, wie die Welt qua
Welt, unabhängig von ihrer Nützlichkeit und unseren Daseinsinteressen in ihr, aussehen und ertönen, wie sie sich ansehen und anhören soll. Der
Geschmack beurteilt die Welt in ihrer Weltlichkeit […].“ 16
Damit ist der sensus communis nicht nur eine politische
Fähigkeit, sondern auch von besonderem epistemischen
Wert. Arendt nennt ihn die intersubjektive Fähigkeit,
„Besonderheiten zu beurteilen, ohne sie unter jene allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können“; 17 für sie ist entscheidend, dass
der sensus communis über individualistische Subjektivität hinausführt, ohne auf universalistische Wahrheit abzuheben. Im Gegensatz zu weltabgewandter Metaphysik wie auch zu despotischem Rationalismus erlauben
Politik und Kultur ein Miteinander-Begutachten der
gemeinsam-geteilten Welt sowie Entscheidungen über
deren weitere ästhetische und politische Verfasstheit.
Arendt spricht in diesem Zusammenhang von Meinungsbildung – womit sie eine Neubewertung des philosophiegeschichtlich diskreditierten Begriffs der Meinung vornimmt:
„Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so
Ebd., S. 300.
Hannah Arendt, „Über den Zusammenhang von Denken und
Moral“, 2012, S. 155.
16
17
79
mit repräsentiere. […] Je mehr solcher Standorte
ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen
kann, was ich denken und fühlen würde, wenn
ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto
besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht, und desto qualifizierter wird schließlich
[…] meine Meinung sein.“ 18
Arendts Argumentation scheint mir ein produktiver
Durchgangspunkt zu sein, um zu einer ästhetischen
Theorie zu gelangen, die der epistemisch-ethischen Relevanz von entgrenzter Gegenwartskunst gerechter werden könnte, als dies eine universalistisch-subjektive Erfahrungstheorie vermag. Von Arendt aus weiterdenkend
lässt sich der sensus communis nämlich so vorstellen, dass
er auf der empirischen Pluralität ästhetischer Alltagspraktiken basiert, ohne dabei einem unkritischen Positivismus anheimzufallen. Im Sinne der (Birminghamer)
Cultural Studies könnte dieser sensus communis auf der
Heterogenität divergierender Perspektiven, Rezeptionen
und Erfahrungen gründen; er könnte ein Weltwahrnehmen ermöglichen, das sich jenseits der Dualismen
von richtigem versus falschem Bewusstsein oder Ästhetischem versus Begriffslogischem am graduelleren, differenzierteren Kriterium einer nichtreduktionistischen
Komplexität orientiert.
Auch bei Arendt garantiert Perspektivenpluralität,
dass eine Meinung als qualifiziert gelten kann. Dennoch
ist sie keine Cultural-Studies-Vertreterin avant la lettre.
Die Intersubjektivität ihres sensus communis ist zwar
nicht mehr kantisch formal-abstrakt, bleibt aber nichtsdestotrotz repräsentativ. Arendt schlägt vor, sich die
18
Hannah Arendt, „Wahrheit und Politik“, S. 342.
80
Perspektiven anderer Abwesender vorzustellen. So spricht
sie einmal sogar vom Versuch, sich an die Stelle eines
armen, hoffnungslosen Slum-Bewohners zu denken. 19
Sich Andere als Gegenüber auszumalen, um den eigenen
Standpunkt zu präzisieren, ist ein fragwürdiges Verfahren und höchst anfällig für stereotypisierende Projektionen bzw. (um es mit Gayatri Spivak zu sagen) für epistemische Gewalt.
Statt den sensus communis zum Othering zu
degradieren, käme es vielmehr darauf an, ihn zur
idealischen Norm einer heterogen perspektivierten,
dissensuell-sinnlichen Intersubjektivität zu machen;
zum Pendant dessen, was Édouard Glissant unter einem Gemeinplatz versteht: „Gemeinplätze sind für
mich nicht vorgefasste Meinungen, sondern […]
Orte, an denen eine Idee über die Welt einer anderen begegnet.“ 20 Begegnung und Relationalität sind
dabei nicht gleichzusetzen mit der naiven Behauptung von Herrschaftsfreiheit oder dem homogenisierenden Ideal harmonistischer Inklusion. Glissants
postkolonial informierte Poetik der Relation basiert
auf gänzlich anderen Voraussetzungen und Bezugnahmen als Nicolas Bourriauds differenzblinde Relationale Ästhetik (wie Christoph Brunner und ich in unserem Beitrag in diesem Buch aufzeigen). Der sensus
communis, der mir vorschwebt, ist uneins und unrein,
weltlich verwickelt, lustvoll und streitend. Er könnte die ästhetisch-politische Urteilskraft dessen sein,
was Donna Haraways kritischer Epistemologie zufolge dirty knowledges bzw. situierte Wissen ermöglicht.
19
20
Hannah Arendt, Über das Böse, 2013, S. 142.
Édouard Glissant, Kultur und Identität, 2005, S. 23.
81
Dreckig werden
Haraways Epistemologie der situierten Wissen stützt
sich auf empirische Partialitäten, irreduzible Differenzen und multiple Verstrickungen. Welterkenntnis ist ihr
zufolge als ein geosoziohistorisch situiertes, relationsbewusstes Wahrnehmen von Komplexität zu verstehen, das
dem Umstand Rechnung trägt, dass jedes erkennende
Subjekt „in all seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, […] immer konstruiert und unvollständig
zusammengeflickt, und deshalb fähig [ist] zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen Sichtweise
ohne den Anspruch, jemand anderes zu sein“. 21 Intersubjektive Relationalität meint hier also nicht ein Ideal
von harmonisch-homogener Gemeinschaft, sondern die
Anerkennung materialistisch existenzieller Verflochtenheiten. Und aufgrund dieses weltlichen Verstricktseins
machen Perspektivität und Partikularität situierte Wissen nicht zum Spielball beliebiger Interpretation. Dirty
knowledges basieren auf dem materialistischen Objektivitätsanliegen einer unreinen epistemischen Praxis, die
„eine adäquatere, reichere und bessere Darstellung einer Welt, in der ein gutes Leben möglich sein soll, anbietet, und [die] ein kritisch-reflexives Verhältnis zu unseren eigenen wie auch
zu fremden Herrschaftspraktiken und dem für
jede Position konstitutiven, unterschiedlichen
Maß an Privilegiertheit und Unterdrückung ermöglicht. In traditionellen philosophischen Kategorien formuliert, heißt das, daß es möglicherweise stärker um Ethik und Politik geht als um
Epistemologie.“ 22
21
22
Donna Haraway, „Situiertes Wissen“, 1995, S. 86.
Ebd., S. 78.
82
Explizit spricht Haraway zwar nur vom Epistemischen
und Ethischen, doch dirty knowledges gründen dabei
fundamental im Ästhetischen. Denn: „Kämpfe darüber,
was als rationale Darstellung der Welt gelten darf, sind
Kämpfe über das Wie des Sehens.“ 23 Haraway macht
deutlich, dass diese Kämpfe mit Sicht aus weltlichen
Körpern geführt werden müssen, die sich durch ihre je
spezifisch situierten Partialitäten dem „God-Trick“, das
heißt der Behauptung einer universellen Überblicksperspektive, widersetzen.
Was einige Fälle künstlerischer Wissensproduktion
aktuell zu bieten haben, sind „adäquatere, reichere und
bessere Darstellungen von Welt“. Sie implizieren damit eine ethisch-politische Epistemologie, die „die vom
westlichen Forschungsethos postulierten Paradigmen
der Systematik, Replizierbarkeit und Wertfreiheit“ herausfordert und dem neoliberalen Wissenskapitalismus
durch inkommensurable Partialitäten und Verstrickungen widersteht. 24 Eine ästhetische Theoriepraxis, die
sich auf diese Herausforderungen einlassen will, kann
nicht urteilslose Kontemplation bleiben. Und sie wird
sich kaum um apodiktische wie müßige Kunst-odernicht-Kunst-Definitionen kümmern. Ihr Anliegen wird
vielmehr ein polyphoner Austausch mit multiplen Bezugnahmen auf die gemeinsam geteilte Welt sein – und
auf die differenzierende Entfaltung von deren mannigfaltigen und verflochtenen Singularitäten, die Wissenskunst im glückenden Fall hervorzubringen vermag. Eine
ästhetische Theoriepraxis, die in diesem Sinne Dirty
Ebd., S. 88.
Anette Baldauf und Ana Hoffner, „Kunst-basierte Forschung und
methodischer Störsinn“, S. 335.
23
24
83
Aesthetics genannt werden könnte, hat sich über disziplinäre Grenzen hinwegzusetzen und in Widersprüche
zu verstricken; sie hat Definitionsmacht und Privilegien
zu teilen. Sie hat nicht nur zu sehen, spüren und meinen, sie hat sich auch beständig auszutauschen, zu entgrenzen, streiten und involvieren. Kurz gesagt: Solche
ästhetische Theorie ist weder rein noch allein praktizierbar.
84
Die Eule der Minerva de-rationalisieren
oder: den postkolonialen Ansatz der
documenta 14 situieren
Sofia Bempeza
In der Kurzbeschreibung des Panels Vorschläge zur Situierung und Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik schlagen wir 1 vor, die westliche ästhetische
Theorie zu situieren und den von ihr beanspruchten
Universalismus zu kritisieren. Insofern möchten wir die
Bedingungen der Theoriebildungen des Ästhetischen in
der realen und historischen Welt ansprechen und ihren Konkretisierungen jenseits von universalistischen
Rundum-Erklärungen erst einmal Raum geben.
Mein Anliegen ist es, die philosophische Ästhetik als Theorie der freien Künste bzw. Wissenschaft
der sinnlichen Erkenntnis und der sinnlichen Darstellung (Baumgarten) mit der Konstruktion von kulturellen Identitäten zu verbinden. Insofern argumentiere ich
zwar durchaus in der Linie eines bestimmten traditionsreichen Ästhetikbegriffs, aber in Abgrenzung zum sogenannten ‚Westen‘ als hegemonialem Erfahrungshorizont, der die geografische und kulturelle Wahrnehmung
des globalen Südens, des Balkans und des Orients dominiert. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass erstens die
Erfahrungshorizonte der meisten Ästhetiker*innen nach
wie vor an eine klassen- und disziplinspezifische Weltanschauung gekoppelt sind und zweitens all diese Begriffe („Westen“, „Orient“, „Süden“) auf Konstruktionen
1 Sofia Bempeza, Eva Kernbauer, Ines Kleesattel und Ruth Sonderegger.
87
und Konzepten der (Selbst-)Identifikation und einer
problematischen Setzung des ‚Anderen‘ beruhen. In
diesem Paper konzentriere ich mich auf die Idee kultureller Überlegenheit der logozentrischen abendländischen Philosophie und ihre Auswirkungen im Kunstfeld
und frage nach den politisch-ästhetischen Konnotationen und den Zwängen, die kuratorische Konzepte wie
das der documenta 14 in sich tragen. Genauer gesagt,
möchte ich einerseits den postkolonialen Ansatz der
documenta 14 im griechischen Kontext situieren und
seine Wechselbeziehung mit dem griechischen KryptoKolonialismus (crypto-colonialism) oder Ersatz-Kolonialismus (surrogate colonialism 2) beleuchten. Andererseits
möchte ich das Verhältnis von Exotismus zu Selbst-Exotisierung thematisieren, die die Präsenz der documenta
14 in Athen hervorgerufen hat. Hierfür problematisiere ich den historischen Blick der modernen europäischen (insbesondere der britischen, französischen und
deutschen) Kulturwissenschaft auf Griechenland. Kurzum, es geht mir um die wirkmächtigsten Versuche von
Historiker*innen und Archäolog*innen, Politiker*innen
und Literat*innen des sogenannten ‚Westens‘, ihre Überlegenheit mithilfe der römischen und der griechischen
Antike in Abgrenzung zum Orient zu demonstrieren.
Als Gegenstück zum Westen wurde der Orient seit
der Antike etwa mithilfe der griechischen Tragödie (beispielsweise mit Aischylos’ Die Perser und Euripides’ Die
Bakchen) als Motiv des gefährlichen und mysteriösen
Zur Etablierung und Verwendung des Begriffs im akademischen
Diskurs (u. a. bei Michael Herzfeld, Katherine E. Fleming, Stathis
Gourgouris und Vangelis Calotychos) siehe Yannis Hamilakis, „Some
Debts Can Never Be Repaid“, 2017.
2
88
‚Fremden‘ verwendet. 3 Edward Said erinnert uns an die
Darstellung des Orients als ‚heimliche Gefahr‘ in Die
Bakchen:
„Vernunft fällt den östlichen Exzessen zum Opfer,
die in einem auf mysteriöse Weise reizvollen Gegensatz zu den als normal erscheinenden Werten
stehen. Die Kluft zwischen Ost und West äußert
sich in der Strenge, mit der Pentheus anfangs die
hysterischen Bacchantinnen zurückweist. Als er
später selbst zu einem Bacchanten wird, muss er
nicht deshalb sterben, weil er Dionysos nachgegeben hat – sondern weil er ihn von Anfang an
unterschätzt hat.“ 4
In den beiden oben genannten Tragödien wird Said zufolge eine klare Grenzlinie zwischen dem Orient und
dem Westen gezogen: Während der Orient nach westlichem Verständnis „besiegt und kleinlaut“ und zugleich
begehrt ist, stilisiert der Westen sich als „mächtig und
wortgewaltig“. 5 Said macht darauf aufmerksam, dass
Euripides die ‚fremden‘ asiatischen ‚Mächte‘ und die
orientalischen ‚Mysterien‘ als Herausforderung für den
rationalen westlichen Geist erklärt. Die europäischen
Intellektuellen wurden dadurch stets zu neuen Beweisen ihres eigenen wortgewaltigen Ehrgeizes animiert.
An anderer Stelle bemerkt Said: „Europa sah im Orient fast von Anfang an mehr, als es empirisch über ihn
wusste.“ 6 Das heißt, Europa projizierte allerlei Symbolik willkürlich auf den Orient, um eine vermeintlich
aufklärerische Idee des Westens von allem abzugrenzen,
3
4
5
6
Vgl. Edward W. Said, Orientalismus, 2009, S. 72 f.
Ebd., S. 73.
Ebd., S. 71.
Ebd.
89
was diesem unbekannt war und insofern als ‚bedrohlich‘
angesehen wurde.
Ich möchte im Folgenden Saids prägnante These im
Hinblick auf das Anliegen der documenta 14 in Athen
taktisch paraphrasieren und zeigen, dass die nordwestliche Kulturinstitution in Athen von Anfang an
nur das sah, was sie bereits im Vorfeld durch die wirkmächtigsten Darstellungen von Griechenland über
Athen zu glauben wusste. 7 Mich interessiert dabei vor
allem die heutige Wahrnehmung von Griechenland als
antikem Vermächtnis und somit als Projektionsfläche
des westlichen demokratischen Ideals ebenso wie als
Beispiel der Verschuldung und der neoliberalen Unterdrückung. 8 Durch dieses Prisma möchte ich das Anliegen der documenta 14 „Von Athen lernen“ näher
beleuchten.
Von Athen lernen?
Adam Szymczyk, der sich 2015 neben Kassel für Athen
als zweitem Ausstellungsort entschied, führt im Vorwort
des documenta-14-Readers aus:
„[I]t makes sense to initiate the fourteenth iteration of documenta by moving it from its location on the margins of the European economic
Ich befasse mich nicht explizit mit künstlerischen Arbeiten und es
ist keinesfalls so, dass einzelne künstlerische Projekte im Rahmen
der documenta 14 tout court der kuratorischen Leitidee unterworfen
sind oder dass ich die gesamte Arbeit der documenta-Akteur*innen
vor Ort pauschal negiere. Vgl. Sofia Bempeza, „Rezept, Rezeption,
Rezeptionist“, 2017.
8 Diese Unterdrückung zeigte sich etwa im Jahr 2015, als die sogenannten Troika-Institutionen (EZB, EU und IWF) den Antrag der
griechischen Regierung auf einen Schuldenschnitt abgelehnt haben,
woraufhin Griechenland sich erneut durch den Kauf von Anleihen
weiter verschuldet hat.
7
90
power to the city that was once one of the central
meeting points of the Mediterranean world, and,
with it, the proverbial cradle of that same European civilization that has reached its present state
of exhaustion.“ 9
An anderer Stelle schreibt Szymczyk:
„The move of documenta to Athens, in order to
unlearn what we know, and not give its people
lessons, is meant to open up a space of possibility.
The old world is based on concepts of belonging,
identity, and rootedness. Our world, ever new,
will be one of radical subjectivities. The search
for lost origins, the disentangling of confused
selves, coming to terms with uprooted identities
and statelessness, keep us busy […].“ 10
Szymczyks Einführungstext lässt den Eindruck einer
Glorifizierung von Athen als einem Ort der Transformation, als Nexus der kulturellen Vielfalt und der demokratischen Freiheit bzw. als Herausforderung für das
gesamte europäische Projekt und die Genese radikaler
Subjektivität(en) entstehen. Folgende Fragen möchte
ich zur Diskussion stellen, wenn wir mit gutem Willen davon ausgehen, dass die documenta 14 keinen Exotismus betreibt, sondern nach bestem Wissen und Gewissen der Idee von decoloniality einen zentralen Platz
einräumt: 11
Adam Szymczyk, „Iterability and Otherness-Learning and Working
from Athens“, 2017, S. 29.
10 Ebd., S. 32.
11 Ein Blick auf viele Beiträge im documenta-14-Reader entlarvt
decoloniality als Kernbegriff für die theoretische Rahmung der Ausstellung (siehe: Indian Act, General Act of the Berlin Conference,
Marshall Plan, McKee Treaty, Sámi Act, Zapatista Women’s Revolutionary Law, Treaty of Waitangi).
9
91
• Inwiefern wurde die europäische Triplett-Erzählung
von Griechenland als dem Ort der klassischen Antike,
als kulturellem Amalgam zwischen Westen, Balkan
und Orient und als Subjekt der Krise ausgearbeitet?
• Könnte es sein, dass im Rahmen der documenta 14
postkoloniale Theorien, die im institutionellen Kunstdiskurs berechtigterweise an Boden gewinnen, kaum
kontextualisiert, das heißt ohne eine tiefgehende Betrachtung der spezifischen Situation in Athen angewandt wurden?
• Ist es möglich, dass die emanzipativen Praktiken von
indigenous peoples (zum Beispiel polynesischen, maorischen, aboriginalen) willkürlich im griechischen Kontext mit Kolonialismus assoziiert wurden?
Um diese Fragen zu erörtern, muss ich bestimmte historische Aspekte und Darstellungen von Kolonialismus,
Nationalismus und Orientalismus erläutern, die uns bei
der Verortung des kulturellen Diskurses der documenta
14 helfen können.
Kolonialismus und Nationalismus in
Griechenland
In der Antike war Griechenland keine Kolonie, im Gegenteil: Die „Ionische Kolonisation“, also die Besiedlung
der kleinasiatischen Ägäisküste mit griechischen ‚Pflanzstädten‘ im 10. Jahrhundert vor Christus, sowie die „Große Kolonisation“ zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert vor Christus in Richtung Kaukasus, Ägypten und
Spanien weisen auf eine antike Kolonisationsbewegung
hin, die von griechischer Seite aus vollzogen wurde. In
der Zeit der osmanischen Herrschaft nach der Auflösung des Byzantinischen Reichs (1453) und während des
Griechischen Unabhängigkeitskriegs nach der Gründung
92
der Ersten Hellenischen Republik (1822) kann man verschiedene koloniale Zustände beobachten: Mit König
Otto von Bayern (damals noch Prinz) wurde ab 1833 wie
zuvor im Osmanischen Reich eine Monarchie installiert,
während die sogenannten Großmächte Großbritannien, Frankreich und Russland einen wesentlichen Einfluss
auf den neu gegründeten Staat hatten. Griechenland war
trotzdem keine Kolonie im klassischen Sinne. Die Gründung jedoch des modernen griechischen Staates weist auf
einen Kolonialisierungsprozess hin, der, wie Yannis Hamilakis betont, nicht nur aus dem Einfluss der Ideen der Aufklärung auf Griechenland resultiert, sondern auch auf jene
ausländischen und einheimischen Akteur*innen zurückzuführen ist, die sich dafür eingesetzt haben, eine neue
soziale Ordnung zu etablieren. 12 Dieser Prozess ist unmittelbar mit der Konstruktion der Antike als dem Zentrum
der griechischen Nation und der Entwicklung des griechischen Nationalismus über mehrere Jahrhunderte verbunden. Kurz gefasst: Das Konzept des westlichen Hellenismus, also die europäische Version der klassischen Antike
als Fundament der westlichen Zivilisation (oder Kultur,
je nach Sprachraum), hat die Antike in den Mittelpunkt
des griechischen ‚Imaginären‘ gestellt. 13 Griechische Intellektuelle haben sich dieses Konzept angeeignet und es
adaptiert, um ein nationalistisches Narrativ zu schaffen:
die Idee der langen Kontinuität des Hellenismus und die
Verschränkung mit der griechisch-orthodoxen Kirche.
Vgl. Yannis Hamilakis, The Nation and its Ruins. Antiquity,
Archeology and National Imagination in Greece [2012], 2007, S. 45.
13 Zur longue durée der abendländischen Rezeption Griechenlands
seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert siehe auch
Stathis Gourgouris, Dream Nation – Enlightenment, Colonization
and the Institution of Modern Greece, 1996.
12
93
Wenn wir also den Kolonialismus im griechischen Kontext betrachten wollen, müssen wir zwei Momente in
Betracht ziehen: Erstens die Tatsache, dass solche nationalistischen Ideen sich aus einer lokalen Wiederaneignung der westlichen kolonialen Idee bzw. der
kolonialen Herrschaft ergeben. Zweitens, dass die Nationalisierung der Gesellschaft eine Form immanenter
Kolonialisierung ist, die im Wahrheitsregime der westlichen Aufklärung entwickelt wurde. In diesem Sinne
wurde auch eine essenzialistische Definition von Identität sowohl von den Akteur*innen des westlichen Zentrums wie von den lokalen Machthabern und den westlich geschulten Intellektuellen des kolonisierten Landes
begünstigt.
Selbst-Exotisierung und Orientalismus
Die gegenwärtige Selbstwahrnehmung vieler Griech*innen ist mit der Re-Konstruktion der westlichen (insbesondere der englischen, französischen und deutschen)
Kulturgeschichte und den romantischen Projektionen
auf die antike Vergangenheit Griechenlands verbunden.
Wenn in den letzten Jahren Athen vermehrt als ‚alternativer‘ und exotischer Ort innerhalb Europas wahrgenommen wird, dann deshalb, weil Exotismus, oder
genauer gesagt: Orientalismus, von beiden Seiten, das
heißt innerhalb und außerhalb Griechenlands, betrieben
wird. Die kritische Frage nach der Exotisierung durch
einen Blick von ‚außen‘ (intellektueller Philhellenismus) kann meines Erachtens nicht ohne die Dimension der Selbst-Exotisierung der Griech*innen als Europas
Außenseiter*innen beantwortet werden. Das Narrativ
des ‚Exzeptionalismus‘ Griechenlands scheint mir wie
folgt zu funktionieren.
94
Lange Zeit wurde Griechenland hauptsächlich mit seiner antiken Vergangenheit assoziiert und die Inseln und
Dörfer Griechenlands etwa als Aussteigerparadies der
68er am Mittelmeer rezipiert. Gegenwärtig wird Griechenland (bzw. reduktionistisch: Athen) erneut als exotischer, und zwar rebellischer Ort verstanden, zumindest in
der Narration der documenta 14. Athen wurde zugleich
als Inbegriff der europäischen Demokratie und eines national codierten Widerstands gegen die neoliberale Politik der Eurozone betrachtet. Kein Wunder, dass der Parthenon im Rahmen der documenta 14 als Symbol für das
demokratische ‚Imaginäre‘ Europas auftrat, allen voran in
der Arbeit von Martha Minujin. Nun ist es auf der Ebene
der Werkrezeption eine Sache, ein Parthenon von zensierten Büchern im argentinischen postdiktatorischen
Kontext zu errichten, und eine andere Sache, den Parthenon als Symbol im gegenwärtigen griechischen Kontext anzupreisen. Im ersten Fall steht der Bücher-Parthenon möglicherweise symbolisch für den demokratischen
Geist. Im zweiten Fall kann die symbolische Präsenz des
antiken Monuments im neugriechischen Kontext nicht
losgelöst von nationalistischen und westlich-hegemonialen Geschichtsnarrativen gelesen werden. Das historische
Monument hat zwar keine ideologische Färbung an sich,
aber seine häufige Anwendung in der modernen nationalistischen Erzählung Griechenlands lässt sich nicht ignorieren. Zwei Beispiele:
• Als der junge König Otto von Bayern am 23. August
1834 die Akropolis in Athen besuchte, um an der Eröffnung der Restaurationsarbeiten teilzunehmen, erwartete ihn eine von Leo von Klenze gut orchestrierte
Zeremonie. Von Klenze lobte das Projekt und gab mit
seiner Rede den politischen Ton der Restaurierungen
95
auf dem Tempelberg an: Er begrüßte die ‚Säuberung‘
des Tempels von barbarischen Elementen, nämlich die
Entfernung der osmanischen Teilbauten, die nicht aus
der Antike stammten.
• Während der Zeit der Diktatur der Obristen (1967–
1974) wurden politische Gefangene auf der Insel Makronisos dazu gezwungen, Modelle des Parthenons
nachzubauen. Die Idee der griechischen Junta war
einfach: Der internationale Kommunismus und andere linke Theorien des ‚Westens‘ seien nicht kompatibel mit dem hellenischen Geist. Deshalb mussten die
kommunistischen Gefangenen klassische Antiquitäten
nachbauen, um sich als wahre Nachkommen der klassischen Antike zu erweisen. 14
Selbstverständlich ist die gegenwärtige gesellschaftliche Konstellation in Griechenland viel komplexer: Eine
starke gesellschaftliche Polarisierung zwischen politischen Feldern ist seit Jahren im Gange. Aktuell (Februar
2018) kann man diese Polarisierung anhand der Debatten bzw. des Streits um den Namen Mazedonien gut beobachten. 15 Die Mehrheit der griechischen Gesellschaft
(ob Rechte, Linke oder Sozialdemokrat*innen) identifiziert sich nach wie vor patriotisch mit Griechenland.
Immerhin oszilliert das griechische Selbstverständnis
Vgl. Yannis Hamilakis, The Nation and its Ruins. Antiquity,
Archeology and National Imagination in Greece [2012], 2007.
15 Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, die griechisch-orthodoxe Kirche und der reaktionäre Teil der griechischen Gesellschaft
beharren auf einer einzigen, und zwar griechischen Identität von
Mazedonien. Die Syriza-Anel-Regierung und die Parteien Pasok
und Nea Dimokratia sprachen von einem „komplexen Namen mit
geografischer Bestimmung“. Ein großer Teil der Linken und Teile
der Zivilgesellschaft befürworten das Recht auf selbstbestimmte Namensgebung der noch relativ jungen Republik Mazedonien.
14
96
permanent zwischen drei ungeheuren Konstrukten: dem
‚Westen‘, dem ‚Osten‘ und dem ‚Balkan‘. Diese Selbstdarstellung entspricht sogar der Wahrnehmung der früheren westeuropäischen und russischen Philhellenen.
Wie Tanja Zimmermann in ihrer Studie über den Balkan konstatiert, haben sowohl westeuropäische als auch
russische Philhellenen wie Jakob Philipp Fallmerayer,
Viktor Tepljakov oder Aleksandr Puškin in ihren Auseinandersetzungen mit dem antiken Erbe Griechenlands
nach 1830 die ersten Anzeichen eines Orientalismus gezeigt. 16 Said schlägt vor, den Orientalismus als hegemonialen Diskurs aufzufassen, um nachvollziehen zu können, „mit welcher enorm systematischen Disziplin es
der europäischen Kultur in nachaufklärerischer Zeit gelang, den Orient gesellschaftlich, politisch, ideologisch,
wissenschaftlich und künstlerisch zu vereinnahmen – ja,
sogar erst zu schaffen“. 17
Die documenta 14 in Athen
Das kulturhistorische Narrativ der documenta 14 stärkt
neben dem Orientalismus drei weitere Aspekte, die ich
als problematisch erachte. Erstens: Die Etablierung eines
neuen intellektuellen Philhellenismus, der sich – ähnlich wie Fallmerayer Griechenland als „ungemeißeltes,
totes Marmorgebröckel“ 18 ansieht – aus den vom Koloss
des neoliberalen europäischen Reichs (anstelle des türkischen Reichs) herabgeschlagenen Trümmern herausgebildet hat. Zweitens: Die (Selbst-)Wahrnehmung der
Vgl. Tanja Zimmermann, Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, 2014, S. 21.
17 Edward W. Said, Orientalismus, 2009, S. 12.
18 Jakob Philipp Fallmerayer, Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Zweiter Teil, 1836.
16
97
Griech*innen als Opfer der neoliberalen Geschichte Europas wird als Alleinstellungsmerkmal exemplifiziert.
Drittens: Im Rahmen der plausiblen Kritik an der neoliberalen Austeritätspolitik in Europa, die die documenta 14 als deutsche Kulturinstitution äußerte, wurde die
Komplexität der griechischen Antiausteritätsbewegungen außer Acht gelassen.
Vielleicht fokussierte die documenta 14 sich selektiv auf die linken politischen Praktiken der Occupy-Bewegungen ab 2011, 19 während die nationalpatriotischen
Teile, die ähnlich gegen die Troika auf öffentlichen Plätzen mobilisierten, kaum thematisiert wurden. Stattdessen hob zum Beispiel das öffentliche Programm „34
Exercises of Freedom“ Freiheitskonzepte von indigenen Bevölkerungen und antifaschistischen Kämpfen in
Griechenland hervor. Von griechischen liberalen und
konservativen Medien wurde dieses Programm als eine
Art Wiedergänger der Linken (Ideologie) wahrgenommen und führte meiner Meinung nach zur Verwechselung zumindest zweier Perspektiven: Einerseits steht
die Notwendigkeit im Raum, dekolonisierendes und
migrantisches Wissen sowie queer-feministische und
LGBTQI+-Identitäten in den Vordergrund zu rücken
und emanzipatorische politische Projekte zu verteidigen.
Andererseits ist die Anwendung solcher Praxen und Positionen unter dem Deckmantel einer allgemein formulierten antikapitalistischen Idee indigener Freiheit wenig
19 Siehe hierzu beispielsweise die Splittung des Syntagma-Platzes
während der Occupy-Bewegung 2011 in einen ‚oberen‘ und einen
‚unteren‘ Teil, genauer: einen Teil mit nationalpatriotischen und einen mit linken Akteur*innen. Zum nationalpatriotischen Aspekt in
den Bewegungen gegen die Austeritätspolitik in Griechenland siehe
Sofia Bempeza, „Evacuating the Political. New Greek Patriotism in
the Context of People’s Movements“, 2014.
98
überzeugend. 20 Diese Idee zieht nämlich eine willkürliche Parallele zwischen den emanzipatorischen Kämpfen indigener Bevölkerungen außerhalb Europas, dem
antidiktatorischen Kampf im Griechenland der 1970erJahre sowie den Bewegungen gegen Austeritätspolitik in
Europa und gegen Identitätspolitiken im Allgemeinen.
Zum Schluss möchte ich mit jenem überstrapazierten Vogel der Philosophie sprechen, der Eule: „Wenn
die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt […], dann ist
eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in
Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, 21 schrieb Hegel am
Ende seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie. Die Eule
der Minerva ist als bildliche Umschreibung der Philosophie oder der Weisheit zu verstehen. Im Kontext
der documenta 14, die eine Eule als Logo verwendete,
möchte ich vorschlagen, die Fortsetzung des westlichen
intellektuellen Philhellenismus unter die Lupe zu nehmen. Eine konkrete Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen soziopolitischen Verhältnissen in Griechenland
sollte nicht erneut durch das Prisma der Antike entstehen. Die Debatte über Postkolonialismus im Fall Griechenlands hätte eine andere Relevanz, sollte die Last der
Antike bzw. des westlichen Universalismus eine differenzierte Rezeption in der Gegenwart haben. Es ist an
der Zeit, ein zeitgenössisches Bild von diesem Land zu
20 „34 Exercises of Freedom“, 14.–24. September 2016, Parko
Eleftherias, Athens Municipality Arts Center. https://www.documenta14.de/en/news/1929/34-exercises-of-freedom-extended-pro
gram-september-14-24-2016.
21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des
Rechts, 1820.
99
kreieren, das nicht aus einer medialen, voyeuristischen
Krisenbeobachtung resultiert. Wir müssen über die selektive Rezeption Griechenlands als antikem Vermächtnis ebenso wie als Schuldenkolonie sprechen und die
historische Komplexität, den blinden Fleck des exotisierenden Blicks sowie die genannten gegenwärtigen
Symptome des (westlichen) Hellenismus in den Blick
nehmen. Es ist, mit anderen Worten, an der Zeit, die
antiken Steine andersartig zu appropriieren und die Monolithen der antiquierten Rezeption Athens zu klauen,
wie dies eine Gruppe von LGBTQI+ Refugees in Athen
mit dem „Schwurstein“ des Künstlers Roger Bernat getan hat. 22
Die LGBTQI+ Refugees entführten das Stein-Kunstwerk, das
auf einer Veranstaltung der Athener Polytechnischen Universität
ausgestellt war, und machten den Raub in einem Video auf Facebook öffentlich. Vgl. Markus Kowalski, „LGBTI-Flüchtlinge entführen Documenta-Kunstwerk“, 2017. Für das Video der Aktion von
LGBTQI+ Refugees in Griechenland siehe: https://www.facebook.
com/lgbtqirefugeesingreece/.
22
100
Affekt und dekoloniale Aisthesis als
anderes Wissen
Christoph Brunner
Kritische Selbstverortung
Einleitend möchte ich kurz den Kontext dieses Vortrags
erläutern. Die Idee, Affekt bzw. Affekttheorien mit dekolonialen theoretischen Positionen zusammenzubringen, ist Teil eines dreijährigen Projekts, das im Rahmen des DFG-Forschungsnetzwerks „Anderes Wissen
in künstlerischer Forschung und ästhetischer Theorie“
realisiert wird. Das Anliegen dieses Netzwerks ist die
Verschiebung eines bis anhin in Verbindung mit der
künstlerischen Forschung gebrachten Diskurses zur
epistemischen Dimension künstlerisch-forschender
Praxis hin zu einer Befragung ästhetischer Theorie auf
die ihr immanenten ästhetischen Aspekte. Sprich, eine
aus den Geistes- und Kulturwissenschaften kommende
Annäherung an Theorie als eine (ästhetische) Praxis.
Die epistemische Frage nach einem „anderen Wissen“
versteht sich vor diesem Hintergrund, wobei ich unter
Hinzunahme dekolonialer theoretischer Positionen den
Ansatz eines kritischen Wissens verfolge, ähnlich wie
es Donna Haraway aus feministischer Perspektive tut,
wenn sie davon spricht, dass es im Kampf gegen Unterdrückung eher um Ethik und Politiken als um Epistemologie gehen müsste. 1 Ich möchte mich der kritischen
Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik, wie sie von Sofia Bempeza, Eva Kernbauer, Ines
1 Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im
Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, 1995.
103
Kleesattel und Ruth Sonderegger im Rahmen des DGÄKongresses 2018 in Anschlag gebracht wurde, anschließen und zugleich unterstreichen, dass sich eine Kritik
der westlichen philosophischen Ästhetik sowohl aus der
ihr eigenen Genese als auch aus nichtwestlichen Perspektiven vornehmen lässt. Dem Versuch einer Hinwendung zu Ethik und Politiken eines Ansatzes des kritischen Wissens möchte ich durch den Begriff des Affekts
und seine oft marginalisierte Begründungsfigur, Baruch
Spinoza, und mit dem, was Walter Mignolo gemeinsam
mit weiteren dekolonialen Denker*innen „dekoloniale
AestheSis“ nennt, nachgehen.
Zugleich eröffnen sich für mich einige Problematiken
in Relation zu dekolonialen Theorien, oder eher Gesten
und Optionen, wie Mignolo sie bevorzugt nennt. Zum
einen frage ich mich, ob es sich nicht bei der Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Positionen um
ein verstecktes Begehren nach dem Anderen, Differenten
und Neuen handelt, das sich nur vermeintlich aus den
Fängen der Moderne befreit hat, während es ihr eigentlich noch nähergekommen ist. Anders gesagt: Sind diese
Positionen lediglich von einer vordergründigen ‚Hippness‘ oder ‚Criticality‘ motiviert oder geht es darum, die
fundamentale Kritik post- und dekolonialer Theorien
auf die westlichen Denktraditionen anzuwenden und somit das eigene, habituierte Denken zu dekolonisieren? 2
Zum anderen stellt sich die Frage der Aneignung solcher
In gewisser – und vielleicht schon differenzierterer – Weise wird
dies in Diskursen der Queer, Feminist und Critical Race Studies getan, und zugleich beobachte ich, dass es ein langer Weg ist zwischen
Anerkennung und Befürwortung solcher Positionen in den universitären Curricula und einer integralen Aktivierung dieser Kritiken,
die über „dann machen wir halt noch ein Modul zu Gender und
Feminismus“ hinausgeht.
2
104
differenter theoretischer Positionen durch einen hegemonialeren Diskurs und der Legitimation oder Delegitimation einer solchen Aneignung. Es scheint mir absolut
notwendig, dass es mehr und vertiefte Auseinandersetzungen gibt, jedoch nicht, um diese dann einfach zu
applizieren, ohne die Situiertheit dieser Kritik miteinzubeziehen. Viel eher verstehe ich dekoloniale theoretische Strömungen als Fürsprecherinnen für konkrete Problematiken der Repräsentation und der Aufteilung des
Sinnlichen und Diskursiven samt der Körper und Gesten, die sich in permanenten globalen und zunehmend
logistisch kalkulierten Bewegungen befinden.
Anderes Wissen
In seinem Artikel „Worlds and Knowledges Otherwise“
beschreibt Arturo Escobar die Entwicklung dessen,
was er „border epistemologies“ oder „border thinking“
nennt. 3 Er proklamiert, eine solche Epistemologie
„should be seen as another way of thinking that
runs counter to the great modernist narratives
(Christianity, liberalism, and Marxism), it locates
its own inquiry in the very borders of systems
of thought and reaches towards the possibility of
non-eurocentric modes of thinking.“ 4
Für Escobar steht die Gegenwart an einem Scheideweg,
an dem sich entweder eine Modernität mit ihrem Drang
nach Entwicklung und Modernisierung mit all ihren
Gewissheiten festschreibt oder eine zutiefst ausgehandelte Realität sich weiter entfaltet, die viele heterogene
Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007, S.
179.
4 Ebd., S. 180.
3
105
kulturelle Formationen einbindet. Er bezeichnet Modernität als
„an order in the basis of the construct of reason,
the individual, expert knowledge, and administrative mechanisms linked to the state. Order and
reason are seen as the foundation of equality and
freedom, and enabled by the language of rights.“ 5
Philosophisch versteht Escobar Modernität als die Fokussierung auf den Menschen als ‚Herren‘ des Wissens
bzw. der Erkenntnis und an ein Ordnungsprinzip gebunden, das sich an einer Logik der Entwicklung (Bildung) orientiert. Modernität verknüpft sich mit einem
Eurozentrismus, der in diesem Fall nicht bloß das antike Erbe fortschreibt, sondern der durch Kolonisierung,
Industrialisierung und Aufklärung zu einer Radikalisierung und Universalisierung der Modernität führt und
eine „Subalternisierung“ des Wissens nichteuropäischer
kultureller Formationen mit sich bringt. 6 Für Escobar
ist Eurozentrismus diejenige Wissensform der Modernität/Kolonialität, die sich eben nicht in einer homogenen und linear fortschreitenden Geschichte in Europa
finden lässt, sondern sich (in den Worten Paul Virilios)
eher als „global de-localization“ manifestiert. 7
Dieser Punkt scheint mir überaus wichtig, ist man
doch häufig geneigt, post- oder dekoloniale Positionen
Ebd., S. 182.
Enrique Dussel benennt die Kolonisierung als erste Modernität
und Industrialisierung und Aufklärung als zweite Modernität. Siehe
Enrique Dussel, „Europe, Modernity, and Eurocentrism“, 2000. Hier
schließt sich eine klar über Marx hinausgehende Genese kapitalistischer Operationen an, wie sie u. a. Jason Moore in seinen Arbeiten
zu The Capitalocene (2017) darlegt und wie sie von Aníbal Quijano
bereits 2000 in Bezug auf Lateinamerika ausgeführt wurde.
7 Paul Virilio, Politics of the Very Worst, 1999.
5
6
106
als radikal anderen Entwurf zur eurozentrischen Modernität zu verstehen, und läuft Gefahr, das Andere und das
Begehren danach zu romantisieren. Aus der Verknüpfung von Modernität und Kolonialität gehen nicht nur
territoriale, materielle und epistemische Gewalt, sondern
auch Widerständigkeiten gegen diese hervor. In den differenziellen Beziehungen dieser Verknüpfung begründet
sich Escobars Forderung „to take seriously the epistemic
force of local histories and to think theory through from
the political praxis of subaltern groups“. 8 Die Subalternisierung von Geschichte und lokalen Praktiken führt
erst zu einer „colonial difference“, die Escobar als privilegierten epistemologischen und politischen Raum des
Widerstands bezeichnet.
Die koloniale Differenz, die sich durch die Unterdrückungsmechanismen dominanter (oft von Rassismen
und Sexismen geprägter) Herrschaftskonstellationen
mitentwickelt, lässt sich meines Erachtens auch in europäischen philosophischen Konstellationen wiederfinden.
Ich schlage daher vor, ein dekoloniales Denken auf der
Ebene der Subalternisierung von Wissen und die hieraus erwachsenden Potenziale einer kolonialen Differenz
als Vehikel eines anderen Wissens fruchtbar zu machen.
Dabei scheint es mir unabdingbar, die Kritiken dekolonialer Positionen, wie Escobar und Mignolo sie unter
den Begriffen des „border thinking“ oder der „border
epistemologies“ hervorbringen, ernst zu nehmen. Zu
Recht weisen sie darauf hin, dass eurozentrierte Kritiken des Eurozentrismus weiter in eurozentrischen Kategorien und nicht aus der Perspektive einer kolonialen
Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007,
S. 185.
8
107
Differenz denken – sprich, von den Orten und Kämpfen derer, die aufgrund der eurozentrischen Rationalität ausgeschlossen sind; ein Punkt, der spätestens seit
Audre Lordes Feststellung „the master’s tools will never
dismantle the master’s house“ in die postkoloniale Theoriebildung eingeflossen ist. 9
Es geht also nicht darum, ein Außen der Modernität
als vermeintlich anderes Wissen zu konstatieren, sondern um Arten und Weisen, Modernität von ihrer Unterseite her zu denken und zu befragen. Mit dem Begriff
des „border thinking“ verfolgt Mignolo eine ähnliche
– wenngleich genealogisch anders operierende – Linie, wie Donna Haraway es in Anlehnung an eine feministische Wissenschaft tut, wenn er schreibt, „border
thinking“ „is the space for an epistemology that comes
from the border and aims toward political and ethical
transformation“. 10
Mich interessiert genau diese Forderung nach einem
Praxisverständnis, das ästhetische und epistemologische Praktiken auf Basis ihres politischen und ethischen
Transformationspotenzials in den Blick nimmt. Aus diesem Grund bedeutet ein anderes Wissen für mich zuallererst eine Veränderung des Wissensbegriffs: Es geht
um Wissenspraktiken, die sich sowohl durch ihre Situiertheit kontextualisieren als auch (im Kontrast zu einer kritischen Differenzierung des westlich-hegemonialen Wissensbegriffs) durch andere Praktiken und deren
ethische, politische und ästhetische Dimensionen immer wieder neu befragen. Anders gesagt, der Fokus liegt
9 Audre Lorde, „The Master’s Tools Will Never Dismantle the
Master’s House“, 1984.
10 Walter Mignolo, „Local Histories and Global Designs“, 2001, S.
11.
108
nicht mehr auf einem „Denken über“, das ein objektives
Außen annimmt, oder auf einem rein subjektiven Perspektivismus, sondern, in den Worten Donna Haraways
und Isabelle Stengers’, auf einem „thinking-with“ und
„thinking in the presence of“ – wobei ein solches Denken immer auch ein Handeln ist und sich nicht von einer konkreten Situation ablösen lässt. 11
Dekoloniale Aisthesis
Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und Künstler*innen aus geopolitisch nichtwestlich situierten Regionen und aufbauend auf den von Escobar als Initiationspunkt hervorgehobenen CEISAL Congress „Cruzando
Frontera“ im Jahr 2002, hat Walter Mignolo im Rahmen
einer Summerschool 2012 und anschließend in einer
gleichnamigen Ausgabe von Social Text Periscope im Jahr
2013 den Begriff der „decolonial AestheSis“ vorgeschlagen. Die Hinwendung zur Ästhetik und zur Aisthesis
ist eine Erweiterung der bis dahin geführten Debatte
entlang einer „epistemic disobedience“ und des Begriffs
der Modernität/Kolonialität. 12 Diese beiden Begriffe erlauben es, sogenannte dekoloniale Optionen zu eröffnen,
und agieren entlang von Praktiken des de-linkings von
der Kolonialität. Mignolo schreibt hierzu:
„[D]e-linking implies epistemic disobedience
rather than the constant search for ‚newness‘
[…]. Epistemic disobedience takes us to a different place, to a different ‚beginning‘ (not in
Greece, but in the responses to the ‚conquest and
11 Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 34; Isabelle
Stengers: „The Cosmopolitical Proposal“, 2005, S. 996.
12 Walter Mignolo, „Epistemic Disobedience and the Decolonial
Option“, 2011, S. 45.
109
colonization‘ of America and the massive trade of
enslaved Africans), to spatial sites of struggles and
building rather than to a new temporality within
the same space (from Greece, to Rome, to Paris,
to London, to Washington DC).“ 13
Mignolos Fokus auf den Raum scheint mir hier zu eng
geführt, nimmt er doch die anderen Temporalitäten
nicht auf, die sich in den gegenwärtigen Migrations-,
technologischen und zunehmend logistischen Strömungen global intensivieren. Zugleich ist diese räumliche
Differenz Triebfeder für seine Definition von Dekolonialität in Abgrenzung zu Postkolonialität, die sich dann
wiederum an die Zeit koppelt:
„The ‚post‘ and the ‚de‘ belong to different genealogies of meanings, processes, and contexts,
having in common an element of content: colonialism […]. The ‚post‘ remains within the modern colonization of time and space […]. The idea
of European Renaissance was built upon a double
colonization – that of space and that of time.
The colonization of time consisted in inventing
‚Antiquity‘ and the ‚Middle Ages‘ and placing the
‚European Renaissance‘ in the present of a linear
history […]. By confusing the European narrative
of global history with the history of Europe, the
self-fashioning narrative of Western Civilization
left at the margin of its history the regions and
people that Europe colonized.“ 14
Es sind diese marginalisierten Räume, von denen aus
„andere“ Modi des Denkens, Handelns und Empfindens
Ebd.
Walter Mignolo, „Looking for the Meaning of Decolonial
Gesture“, 2014, o. S.
13
14
110
erwachsen. Diese Modi sind zwar an Modernität/Kolonialität gebunden, aber sie haben diese schon zu Beginn der Kolonisierung attackiert (zum Beispiel die
Taki-Onqoy-Bewegung im kolonialen Peru 15). Hierdurch erfolgt eine zunehmende Verschiebung dieser Verhältnisse zu einer Transmodernität (ein Begriff Enrique
Dussels). 16 Transmodernität eröffnet Möglichkeiten eines nichteurozentrischen kritischen Dialogs mit Alterität, die in sich konstitutiv für die Modernität ist – eben
durch Kolonisierung, Ausbeutung und das proklamierte
Andere des Europäischen. 17 Gedenkt Mignolo in seinen
früheren Arbeiten die Möglichkeit einer Transmodernität durch die Dekolonisierung von Macht im Sinne eines „epistemischen Ungehorsams“ zu erreichen, so wendet er sich später zunehmend dem Feld des Ästhetischen
als erweiterter Ebene dekolonialer Kämpfe zu. Dies ist
zu erkennen, wenn er schreibt:
„The decolonial turn is the opening and freedom from the thinking and the forms of living (economies-other, political theories-other),
„The Taki Onqoy Movement, an indigenous collaboration that
united Andean nations against the Spanish in the 1560s, is another
example of Native American resistance. Calling for a pan-Andean
alliance of the local gods against colonization, it promoted noncooperation with the Europeans, rejection of the Christian religion
and the names, food and clothing received from the Spanish and refusal to pay tributes or fulfill labor drafts. The movement, which at its
largest stretched from Lima to Cuzco and La Paz, helped indigenous
people identify themselves as Indians, as opposed to white Christian
Europeans. Under the cover of Christianization, the Takiongos found
ways to continue to worship their gods and maintain some traditional
practices.“ (http://christianhegemony.org/the-taki-onqoy-movement;
zuletzt aufgerufen am 07.10.2019)
16 Enrique Dussel, The Understanding of Modernity, 1996.
17 Arturo Escobar, „Worlds and Knowledges Otherwise“, 2007,
S. 187.
15
111
the cleansing of the coloniality of being and of
knowledge; the de-linking from the spell of the
rhetoric of modernity, from its imperial imaginary articulated in the rhetoric of democracy.“ 18
Was hier als „forms of living“ auftaucht, lässt sich an
die ethisch-ästhetischen Verdichtungen alltäglicher populärkultureller Praktiken jenseits diskursiver Formationen anbinden und somit als Sinnesmodalitäten oder
Aisthesis begreifen. Zugleich scheint die Figur der Freiheit, so man sie auf den westlichen philosophischen
Diskurs bezieht, eine problematische zu sein. Jedoch
zeigt sich hierin die komplexe Verknüpfung von Modernität und Kolonialität im akademischen Sprechen
oder Schreiben; einem Schreiben, das Mignolo nicht
wirklich hinterfragt. Im Rahmen der eher klassischen
theoretischen Bearbeitungen Mignolos würde ich seine
Hinwendung zu Lebensweisen in dekolonialen Praktiken als Kritik eines Kant’schen Universalismus des sensus
communis verstehen. Demgegenüber verstehe ich die Fokussierung von Lebensweisen als eine Kritik der Teilhabe. Diesen Begriff der Teilhabe lehne ich hier an Jacques
Rancières „partage du sensible“ an, das sowohl Teilhabe
als auch Aufteilung bedeutet und als konstitutive Ebenen sinnlicher Wahrnehmung firmiert. 19 Mit de-linking
mit und durch Lebensweisen und ihre Praktiken ließe
sich die Problematik der Teilhabe, der Ein- und Ausschlüsse derer, die nicht gehört werden, weiter auf ästhetische Dimensionen beziehen.
Für Rolando Vázquez und Mignolo ist der sensus
communis Teil der aestheTics als Aspekt einer kolonialen
18 Walter Mignolo, „Epistemic Disobedience and the Decolonial
Option“, 2011, S. 48 (meine Hervorhebung).
19 Jacques Rancière, Le partage du sensible, 2000.
112
Machtmatrix seit dem 16. Jahrhundert, der sie eine
decolonial aestheSis gegenüberstellen:
„Decolonial aestheSis starts from the consciousness
that the modern/colonial project has implied not
only control of the economy, the political, and
knowledge, but also control over the senses and
perception. Modern aestheTics have played a key
role in configuring a canon, a normativity that
enabled the disdain and the rejection of other
forms of aesthetic practices, or, more precisely,
other forms of aestheSis, of sensing and perceiving. Decolonial aestheSis is an option that delivers a radical critique to modern, postmodern,
and altermodern aestheTics and, simultaneously, contributes to making visible decolonial subjectivities at the confluence of popular practices of re-existence, artistic installations, theatrical
and musical performances, literature and poetry,
sculpture and other visual arts.“ 20
Die Autoren führen im Weiteren zwei Linien der decolonial aestheSis aus: Zum einen verstehen sie darunter eine
Valorisierung alltäglicher Erfahrung, die sich nicht der
Hegemonie moderner Ästhetik unterwirft. Eröffnende
und befreiende Lebensweisen werden zum Antrieb einer „Re-Existenz“ (Adolfo Albán Achinte) durch alltägliche ästhetische Praktiken, die sich den hegemonialen
aestheTics entgegenstellen bzw. entziehen. Zum anderen
fassen die Autoren decolonial aestheSis als aktive Intervention in das System der Gegenwartskunst.
In diesem Punkt scheinen mir die Ausführungen
Mignolos und Vázquez’ nicht weitreichend genug zu
sein, wenn man die langetablierten, in der Philosophie
20 Rolando Vázquez und Walter Mignolo, „Decolonial AestheSis“,
2013.
113
und verwandten Feldern geführten Differenzierungen
von Ästhetik und Aisthesis bedenkt. Das Attribut „decolonial“ bedeutet aber in diesem Fall nicht eine Gegenüberstellung zweier Universalismen, sondern eine Option. Die decolonial aestheSis „is an option because it does
not seek to regulate a canon, but rather to allow for
the recognition of the plurality of ways to relate to the
world of the sensible that have been silenced.“ 21 Für
die Autoren ist moderne Ästhetik ein Mechanismus zur
Produktion und Regulation von Sinnlichkeiten, sprich,
zur Einführung von Normen und Werten. Demgegenüber verstehen sie die decolonial aestheSis als Denken
und Handeln, als Empfinden und Existieren, wobei eine
Trennung von Theorie und Praxis keinen Platz mehr
findet. Die Verbindung zur vorherigen Entwicklung eines kritischen Wissens, dem ich hier nachgehe, wird
deutlich, wenn sie schreiben:
„Decolonizing the senses means, in the last
analysis, decolonizing modern, postmodern, and
altermodern knowledge regulating aestheSis, in
order to decolonize the subjectivities controlled
under the modern imperial aestheTics and their
aftermath.“ 22
An dieser Stelle halte ich es für angebracht, den Kontext zu wechseln und zugleich eine immanente Kritik
der Positionen Mignolos zu eröffnen. Zum einen scheint
die Re-Lokalisierung einer dekolonialen Option, einer epistemic disobedience und eines de-linkings, äußerst
plausibel, insbesondere wenn sie im Wechselverhältnis mit Modernität/Kolonialität stehen. Die spezifische
21
22
Ebd.
Ebd.
114
Fokussierung auf die begrifflichen Re-Positionierungen
wirkt jedoch stark einem Duktus des hegemonialen
Sprechens und Schreibens, wenn nicht gar einem maskulinen Gestus verhaftet, der die Proklamation einer
Auflösung der Trennung von Theorie und Praxis nicht
wirklich ernst nimmt. So ließe sich die Arbeit Mignolos
und Vázquez’ als decolonial aestheTics beschreiben, als
dekoloniale Befragung ästhetischer Begriffe in Resonanz
mit dekolonialen Optionen. Demgegenüber möchte ich
die Frage aufwerfen, ob es nicht nur ein Schreiben über
ästhetische Praktiken in der Theorie gibt (und sei es
auch ein dekoloniales), sondern wie ein Schreiben in der
Präsenz dieser Praktiken und selbst als Praxis ins Verhältnis gesetzt werden kann. 23
Dies ist genau die Kritik von Silvia Rivera Cusicanqui,
selbst indigene Amayra und Europäerin, die sich vehement gegen eine interne Kolonisierung indigener
Kämpfe durch nordamerikanische universitäre Verwertungen zugunsten neuer Theorieströmungen und ihrer Protagonisten stemmt (sie nennt explizit Mignolo,
Quijano und Dussel). 24 Auch wenn ich Cusicanquis Kritik teile und die dekolonialen Praktiken sowie die indigenen Formen der Modernisierung für zentrale Formen
der Kritik halte, scheint mir eine Problematisierung der
Verbindungen von internationalem Theoriemarkt und
einer divergierenden Sensibilität, wie sie in der Perspektive der aestheTics und der aestheSis aufscheint, hilfreich.
Ich frage daher: Wie lässt sich die dekoloniale Kritik der
ästhetischen Theorie bzw. der philosophischen Ästhetik
23 Siehe Isabelle Stengers, „Introductory Notes on an Ecology of
Practices“, 2005, S. 186.
24 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012.
115
ernst nehmen und zugleich ästhetische Theorie selbst
als dekoloniale Praxis, als dekoloniale Aisthesis in Anschlag bringen?
Affekt als divergierender Begriff
In diesem Sinne möchte ich die Positionen Isabelle Stengers’ wie auch Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris ins
Spiel bringen. Letztere konstatieren in ihrem Spätwerk
Was ist Philosophie?, dass die Differenzen zwischen Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft aus deren unterschiedlichen Praxisformen entstehen. Zugleich differenzieren sich diese Praktiken fortlaufend und können
so neu in Relation zu sich selbst und zu anderen Praktiken treten. 25 Stengers nennt dies ein „Begreifen“ von
Praktiken und ihren Erfindungen, zum Beispiel einem
neuen Begriff, indem sie divergieren und nicht konvergieren oder sich synthetisieren. 26 Divergieren heißt immer, neue Optionen zu eröffnen, neue raum-zeitliche
Blöcke einzuziehen, sprich, Temporalitäten und Räume
miteinander in Resonanz zu bringen, ohne sie gegeneinander auszutauschen oder einfach zu vermengen. Das
meines Erachtens anstehende Projekt bezieht sich auf
ästhetische Praktiken, die sich in ihrer Situiertheit sowohl mit den eigenen Praxisgenealogien als auch mit
andersartigen kritischen Praktiken hin zu neuen Problematisierungsweisen verknüpfen, deren immanenter
Dissens jedoch bestehen bleibt. Daher halte ich es für
problematisch, von dekolonialer Kunst zu sprechen und
diese nun hier zu exemplifizieren. Ich verstehe Mignolo
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 2000.
Isabelle Stengers, „Experimenting with What is Philosophy?“,
2010, S. 48.
25
26
116
und Vázquez so, dass eine decolonial aestheSis als Option
immer aus raum-zeitlichen Konstellationen hervorgeht,
aber ein de-linking eben eher ein Aktivieren neuer Potenzialitäten und nicht eine neue Positionalität bedeutet. Mir geht es hier nicht darum, zu behaupten, dass
sich jegliche Form von Praxis losgelöst von ihren historischen, geopolitischen und ökonomischen sowie sozialen und materiellen Kontexten frei flottierend bewegen
könnte. Die Effekte der Modernität/Kolonialität sind
überall in Körper, Ausdrucksweisen, Landschaften und
Empfindungen eingelassen. Vielmehr geht es mir mit
dem Begriff des Affekts um eine Bedingungsebene von
Erfahrung, die ihrerseits nicht vor der subjektiven oder
körperlichen Erfahrung liegt, diese aber direkt mit hervorbringt – sprich, es handelt sich um das Verhältnis
von Affekt zu einer dekolonialen Aisthesis. Hierin besteht
für mich die Verknüpfung – wenn auch konzeptuell dem
Westen entlehnt – eines anderen Wissens mit der aisthetischen Ebene von Erfahrung. Es handelt sich um
den Prozess einer sich stets aufs neue situierenden und
durch polyphone Relationen aus einer geteilten (partagé)
Erfahrungsebene hervorgehenden Produktion von Wissen und Empfindungen.
Sowohl Spinoza als auch Deleuze beschreiben Affekt
als das Vermögen von Körpern, sich zu affizieren und
dabei zugleich affiziert zu werden. Körper meint hier
nicht allein menschliche Körper, die sich immer wieder neu und als raum-zeitliche Verdichtungen gegenseitig konstituieren. Zugleich sind es diese Körper als
Attribute und Modifikationen der einen Substanz (im
Sinne Spinozas Monismus), die Affekten einen Ausdruck verleihen, sprich, Effekte erzeugen und Affekte
zu Empfindungen werden lassen. Jedoch ist der Körper
117
an sich nicht dem Geist überlegen oder umgekehrt. Viel
eher verhält es sich Deleuze zufolge so, dass der Körper
die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und
dass das Denken umgekehrt das Bewusstsein übersteigt,
das man von ihm hat. 27 Für Deleuze bestehen Körper
selbst „immer aus unendlich vielen Teilchen: die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und
Langsamkeit zwischen den Teilchen, die einen Körper
in seiner Individualität definieren“. 28 Er betont, dass Affekt nicht eine intersubjektive Dimension der Wahrnehmung eines schon konstituierten Körpers oder Subjekts
ist, sondern ein konstitutiver und polyphoner Prozess
der Rhythmisierung, der sich als Quasi-Form Ausdruck
verleiht. Er schreibt:
„Es geht darum, das Leben, jede Individualität
des Lebens, nicht als eine Form oder Formentwicklung zu begreifen, sondern als komplexes
Verhältnis zwischen Differenzialgeschwindigkeiten, zwischen Verlangsamung und Beschleunigung von Teilchen. Eine Zusammensetzung
von Schnelligkeit und Langsamkeit auf einem
Immanenzplan.“ 29
Die Radikalität Spinozas, die ihm Anschuldigungen von
Immoralität und Atheismus eingebracht hat, wirkt auch
heute noch nach, wenn es darum geht, Dinge, Menschen oder Wesen nicht anhand ihrer ideellen Formen
oder vorgegebenen Funktionen zu definieren, sondern
anhand ihres relationalen Vermögens, zu affizieren und
affiziert zu werden. Spinoza vollzieht meiner Ansicht
27
28
29
Gilles Deleuze, Spinoza: Praktische Philosophie, 1988, S. 28.
Ebd., S. 160.
Ebd.
118
nach einen fundamentalen Einschnitt in das Verhältnis
von Geist und Körper, indem er mit dem Affekt auf
der Immanenz beider insistiert und die Welt entlang affektiver Vermögen anstatt entlang von Formen, Dingen
und Subjekten, also modernen ästhetischen Kategorien,
denkt.
In der Logik des Affekts verkompliziert sich die Trennung von aestheTics und aestheSis. Während man die Ästhetik als Teil der Modernität/Kolonialität im Sinne
postkolonialer Kritik verstehen kann, ist die aestheSis als
Gegenmodell problematisch, wenn hierdurch implizit
wieder eine Trennung von Körper und Geist eingeführt
wird. Außerdem scheint mir hier eine Manifestation
von zwei Zeitlichkeiten problematisch, nämlich einer
linear-ordnenden und unterwerfenden chronologischen
Zeit der Modernität und der Ästhetik einerseits und einer reinen Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung
in der aestheSis (oder Aisthesis) andererseits. Nun ist es
kein Kunststück, zu konstatieren, dass Unmittelbarkeit
und Prozessualität ineinanderwirken, um Zeitlichkeit
empfindbar werden zu lassen und zugleich ein Vorhergehendes und ein Zukünftiges zu bedingen. Jedoch ist
im Affekt, in seiner Kraft der Rhythmisierung, eine Immanenzebene geschaffen, die aufgrund der unterschiedlichen affektiven Vermögen von Körpern immer wieder
neu Vergangenes und Zukünftiges hervorbringt – dies
ist, was Deleuze Ethologie nennt: die Definition von
tierischen, menschlichen aber auch physischen Körpern
anhand der Affekte, zu denen sie fähig sind. 30 Das Vermögen und das Zusammenspiel von Schnelligkeiten und
Langsamkeiten, von affektiven Vermögen ist Ethik als
30
Ebd., S. 162.
119
Ethologie. Ethik bedeutet dann im praktischen Sinne,
immer wieder neu und experimentell die Körper mit ihren Vermögen und Affekten in Resonanz zu bringen,
sprich, raum-zeitliche Konstellationen herzustellen und
zu fragen, inwiefern sich neue Möglichkeiten, neue Potenzialitäten der Verbindung und Affirmation eröffnen.
Entgegen einer von Normen behafteten Moral muss
eine Ethik „präsentisch“ agieren, um einen Begriff Isabell Loreys zu borgen – sprich, es geht darum, in der
Präsenz der vorhandenen Praktiken, Körper und Kräfteverhältnisse neue konstituierende Prozesse in Gang zu
bringen. 31
Wenn Cusicanqui auf den dekolonialen Praktiken
von zum Beispiel Indigenen insistiert, dann aufgrund
des Vermögens dieser Praktiken, zu affizieren und affiziert zu werden, auf eine Art und Weise, die kolonial-moderne Machtkonstellationen herausfordert – auf
der Ebene der Ordnungen und Logiken, die bestimmte
Affizierungen zu unterbinden versuchen. Zugleich proklamiert Cusicanqui, dass es hierzu einer Dekolonisierung von Gesten, Akten und Sinnesweisen bedarf und es
nicht allein um diskursive Verschiebungen gehen kann,
die ihrerseits bestehende Wissensordnungen nicht hinterfragen. 32 An dieser Stelle möchte ich mit Spinoza etwas hinzufügen, denn die Praxis, die Geste und der Akt
sind sowohl von eher körperlichen als auch von eher
geistigen Aspekten geprägt, begrifflich ebenso wie materiell ohne jegliche Trennung, sondern viel eher eine
Kollektivität von temporellen und räumlichen Kräften
31 Isabell Lorey, „Non-representationist, Presentist Democracy“,
2011.
32 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012, S. 105.
120
hervorbringend, die nur gemeinsam als konstituierende
Macht zum Ausdruck kommen. Das Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, das allen Körpern gemein
ist (also auch allen nichtmenschlichen Körpern), definiert eine pragmatische und affirmative Ethik und somit
eine affektive Politik. Eine solche Politik wird zu einer
affirmativen Ethik, die in den Worten Rosi Braidottis
„on a time-continuum that indexes the present on the
possibility of constructing sustainable futures“ basiert.
Weiter führt sie aus:
„[H]ow to select, assess and format these forces
so as to make them into sustainable relations,
becomes the crucial issue and the main task of
critical thought. This vision makes an ethics for
affirmation also into an ethology of forces.“ 33
Eine solche Ethologie der Kräfte stellt sich nicht als Negativität einer Gegenwart entgegen, sondern sucht nach
neuen Divergenzen durch eine affirmative Praxis. Ähnlich lässt sich Cusicanqui verstehen, wenn sie schreibt:
„The indigenous world does not conceive of
history as linear; the past-future is contained in
the present. The regression or progression, the
repetition or overcoming of the past is to play in
each conjuncture and is dependent more on our
acts than our words.“ 34
In dieser Verknüpfung von Zeitlichkeiten und divergierenden Optionen liegt die Arbeit einer affektiven Politik als dekolonialer Aisthesis. Es geht hierbei nicht
nur (aber auch) um das gegenwärtige Generieren neuer
Rosi Braidotti, „New Activism: A Plea for Affirmative Ethics“,
2011, S. 267.
34 Silvia Rivera Cusicanqui, „Ch’ixinakax utxiwa“, 2012, S. 96.
33
121
Zukünfte, indem man andere Vergangenheiten aktiviert.
Diese Prozesse zeitlicher Ineinanderfaltung sind die Basis der Emergenz von Körpern, und deren raum-zeitliche Manifestation zieht konkrete Effekte der Differenz
nach sich. Affektive Politik bedeutet aber auch das Affirmieren von Kontrasten und vermeintlich heterogenen
und teilweise gegensätzlichen Elementen, die in ihrem
gemeinsamen Erscheinen eine differenzielle Polyphonie
hervorbringen können, ohne homogenisieren zu müssen. Diese Kontraste in ihrer Differenz und Resonanz
zu belassen heißt auch, Zeitlichkeiten und Orte miteinander zu verbinden, neue Allianzen zu schließen und
die Potenzialitäten und Vermögen in ihrer Komplexität
als unabgeschlossene Offenheit zu affirmieren. Eine dekoloniale Aisthesis konstituiert sich als eine Bewegung
an den Rändern des Denkens und Empfindens. Ebenso
agiert sie von den Rändern der Orte und Praktiken aus,
die in den hegemonialen Narrativen westlicher ästhetischer Philosophien meist nur als Objekte auftauchen
und nicht als divergierende Praktiken inmitten der Gewalt von Kolonialität/Modernität. Ein „thinking-with“
und „in the presence of“ als eine Ethik der Affirmation
meint aber auch ein anderes Sprechen und Schweigen,
Hinhören und vorsichtiges Fragen und Lernen, die sich
in Praktiken dekolonialer Aisthesis Raum und Zeit verschaffen.
122
Earthly Relational Aesthetics
Eine post-koloniale Differenzierung mit Glissant
Christoph Brunner, Ines Kleesattel
Mit diesem Beitrag schlagen wir eine post-kolonial differenzierte Neufassung der Relationalen Ästhetik vor.
Ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung
mit Nicolas Bourriauds Konzeption derselben plädieren
wir dafür, diese zu rekonzeptualisieren und stärker an
einen differenzbedachten und ökologischen Materialismus zu binden. Durch das Denken von Félix Guattari,
Donna Haraway und vor allem Édouard Glissant angeregt, sprechen wir uns für eine historisch wie materiell
verstrickte relationale Ästhetik aus; für eine Earthly Relational Aesthetics, die sowohl kritisch situiert als auch
spekulativ poetisch hervorbringt. Für einen politischen
Anspruch gegenwärtiger Ästhetik scheint es uns notwendig, den beschränkten und oft noch immer idealistischen Horizont ihrer westlich hegemonialen Setzungen zu erweitern: hinsichtlich diverserer (nicht nur
künstlerischer) ästhetischer Praktiken, eines institutionskritischen Blicks auf ‚die Kunst‘ und einer nicht länger dermaßen anthropozentrischen Konzeption sinnlicher Erfahrung.
Wenn wir von einer Earthly Relational Aesthetics sprechen, verweisen wir damit auf die Relationstheorien
von Glissant und Haraway. Für beide Autor*innen ist
Relationalität keine bloße Verbindung von Subjekten,
Entitäten oder Objekten, sondern eine grundlegende
Ebene prozessualen Werdens. Die materiell-sinnlichen
Ausdrucksweisen dieses kollektiven Werdens fordern
die traditionelle westlich-europäische Ästhetik heraus,
125
die sinnliche Erfahrungen an ein empfindendes Subjekt bindet. Glissant folgend beziehen wir uns auf eine
esthétique de la terre 1 und gehen mit Haraway von einer lokal verorteten und zugleich translokal multirelationalen „Erdgebundenheit“ 2 der Ästhetik aus. Als
existenziell-materielle sowie dynamisch-historische
impliziert diese Erdgebundenheit dabei die globalisierten Bewegungen kolonialer Aneignung und kapitalistischer Wertextraktion. Erde wird hierbei klar von
Territorium – und somit auch von einem heimatlichursprünglichen Erde-Begriff im Sinne Heideggers –
unterschieden. Für Glissant ist „Territorium“ immer
die „Basis für Eroberung“, wohingegen „Erde“ gemäß
seinem post-kolonial materialistischen Verständnis auf
die Ästhetik eines „variablen Kontinuums und eines
invarianten Diskontinuums“ verweist. 3 Die Relationale
Ästhetik als Earthly Relational Aesthetics zu rekonzeptualisieren heißt für uns also, von einer post-kolonialen ästhetischen Praxis zu lernen, die bereit ist, den
„Schrei der Welt“ zu vernehmen, in dessen von Brüchen, Rissen und ohrenbetäubender Stille durchsetzter
„Vermischung von Stimmen, wo es nicht mehr darum
geht, der ersten Klage stattzugeben oder sich haltlosen
Hoffnungen zu überlassen“. 4 Von einer Glissant’schen
„erdlichen Ästhetik“ zu lernen, die eine mehr-alsmenschliche, kollektive „Kunst des Schwangergehens,
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 165.
Vgl. dazu Donna Haraway, Unruhig bleiben, 2018, S. 61 f., bzw.
Staying with the Trouble, 2016, S. 41 f.
3 Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 166; Übersetzung Glissants aus dem Französischen hier und im Folgenden von
den Autor*innen.
4 Édouard Glissant, Traktat über die Welt, 1999, S. 11 u. 22.
1
2
126
Imaginierens und Agierens“ 5 ist und damit eine poetische Produktivität (bzw. eine poétique de la relation)
beinhaltet, die nicht mehr dermaßen vom individualistischen Subjekt der westlichen Aufklärung ausgeht, das
sich über seine als passiv vorgestellte Umwelt erhebt.
Bourriauds Relationale Ästhetik und Guattaris
ästhetische Ökosophie
Nicolas Bourriauds Konzeption der Relationalen Ästhetik wurde insbesondere seit der englischen Übersetzung von Esthétique relationnelle ebenso breit rezipiert wie kritisiert. Obwohl gute Gründe für Skepsis
gegenüber Bourriauds allzu optimistischen Annahmen über die Kunstwelt bestehen – wenn er Kunst
beispielsweise als ein „engelsgleiches Programm“ bezeichnet, das „Risse im sozialen Gefüge kitten“ und
antikapitalistische Formen des Gemeinschaftlichen
realisieren würde 6 –, halten wir eine auf materialistische Relationalität konzentrierte ästhetische Theorie
für durchaus wichtig. Ästhetische Praktiken als materielle Relationalität zu verstehen heißt, sie als Prozesse sinnlicher Hervorbringung mit und durch diverse körperliche, soziale und stoffliche Kräfte zu fassen.
Bourriaud zitiert in diesem Zusammenhang, aber ohne
Glissant schreibt auf französisch: „esthétique est un art de concevoir,
d’imaginer, d’agir“ (Poétique de la Relation, 1990, S. 169), was Betsy
Wing wörtlich ins Englische übersetzt mit: „aesthetics is an art of
conceiving, imagining, and acting“ (Poetics of Relation, 1997, S. 155).
Das französische „concevoir“ wie auch das englische „conceiving“
meinen sowohl „empfangen“ als auch „entwerfen“, „konzipieren“ oder
„begreifen“. Mangels eines deutschen Wortes, das diese Gleichzeitigkeit von Empfängnis und Produktivität zum Ausdruck bringen
könnte, scheint uns „Schwangergehen“ eine sinnvolle Übersetzung.
6 Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, 2002, S. 36; Übersetzung von den Autor*innen.
5
127
weitere Ausführungen, Louis Althussers „Materialismus der Begegnung“. Diesem zufolge gibt es innerhalb
der „weltlichen Kontingenz“ keine dem Sinnhaften vorgängigen Entitäten, auch menschliche Gemeinschaft
setzt sich wesentlich „trans-individuell“ relational zusammen. 7
Zwar erklärt Bourriaud in diesem Zusammenhang,
dass die Relationalität materialistischer Begegnungen
stets historisch ist, doch sein Fokussieren auf das Zusammenkommen von Menschen im exklusiven Rahmen von Ausstellungssituationen führt zu einer Vernachlässigung von spezifischen Machtbeziehungen
und Stratifizierungen (zum Beispiel Institutionen),
die soziale und materielle Begegnungen konditionieren. 8 Entgegen Bourriauds Relationaler Ästhetik geht
es uns um einen „Materialismus der Begegnung“, der
nicht nur anthropozentrismuskritisch ist und mehrals-menschliche Begegnungen forciert, sondern auch
die geopolitische und soziohistorische Dimension aller Erfahrungen berücksichtigt. In Rückbesinnung
auf eine kapitalismuskritische Ökologie, wie sie sich in
Guattaris „Neuem Ästhetischen Paradigma“ findet,
Ebd., S. 18–24.
Diese Machtblindheit verstärkt sich gegenüber seinen Ausführungen in Esthétique relationnelle in ihrer Problematik zusätzlich, wenn
Bourriaud neuerdings eine mehr-als-menschliche Co-Aktivität
adressiert, indem er der Istanbul Biennale 2019 als internationaler
Kunst-Mega-Show zuschreibt, sie befördere „dialogue and mutual
commentaries within a hybrid, creolizing, globalizing world that
includes nonhumans“. Irritierenderweise hält ihn seine vermeintlich
ökologische Hinwendung zum „phenomenon of the Anthropocene“
nicht davon ab, technik- und digitalisierungspessimistisch nach einer globalen „return of humanity, to all the areas we have vacated“
zu rufen (Nicolas Bourriaud, „Coactivity. Between the Human and
Nonhuman“, 2019).
7
8
128
möchten wir deshalb eine differenziellere Konzeption
der Relationalen Ästhetik vorschlagen. Was Guattari
„Neues Ästhetisches Paradigma“ nennt, besteht in einer direkten Verschränkung von künstlerischer Praxis,
Subjektivierungsweisen, kollektiver Produktivität und
environmentaler Ökologie:
„Unser Überleben auf diesem Planeten ist nicht
nur durch die Umweltschäden bedroht, sondern auch durch die Degeneration des Gewebes
der sozialen Solidaritäten und der Modi des psychischen Lebens, die es buchstäblich wieder zu
erfinden gilt. Die Umgestaltung des Politischen
wird über die ästhetischen und analytischen Dimensionen erfolgen müssen, die in den drei Ökologien Umwelt, Sozius und Psyche enthalten sind.
Ohne eine Veränderung der Mentalitäten, ohne
das Vorantreiben einer neuen Kunst, in Gesellschaft zu leben, kann man sich keine Antwort
auf die dem Treibhauseffekt geschuldete Vergiftung der Atmosphäre und die Erwärmung des
Planeten, keine einfache demographische Stabilisierung vorstellen. […] Ohne eine neue Art
und Weise, die politische und ökonomische Demokratie unter Achtung kultureller Unterschiede
zu begreifen, […] kann man sich eine kollektive
Rekomposition des Sozius […] nicht vorstellen
[…]. Die einzige akzeptable Zweckbestimmtheit
menschlicher Tätigkeiten ist die Produktion einer Subjektivität, die auf kontinuierliche Art und
Weise ihre Beziehung zur Welt selbst-erweitert.
[…] [D]ie Dichtung [hat uns] heute vielleicht
mehr zu lehren als die Wirtschaftswissenschaften, die Humanwissenschaften und die Psychoanalyse zusammen!“ 9
9
Félix Guattari, Chaosmose, 2014, S. 32 f.
129
Guattaris Kunstinteresse gründet also weder in einer Faszination für das vermeintlich außergewöhnliche
Schaffen von Künstler*innen noch im Anliegen einer
Ästhetisierung des Sozialen, sondern vielmehr in der
Beschäftigung mit produktiven Prozessen der Heterogenese. Mit Heterogenese meint Guattari Prozesse eines kollektiv-relationalen Werdens unterschiedlicher
materieller und sozialer Kräfte, ohne dass deren Zusammenspiel homogenisierend einen universellen Charakter annimmt. Heterogenese geht dabei von irreduziblen Differenzen aus, während sie zugleich eine stetig
fortschreitende Differenzierung betreibt. Damit hält
Guattaris Ökosophie eine nuanciertere und kritischere
Ästhetik bereit, als sie Bourriauds „Materialismus der
Begegnung“ im Sinne eines humanistischen Dialogs in
der Tradition der europäisch-universalistischen Aufklärung in Anschlag bringt.
Relationale Ästhetik durch verschiedene Currys
differenzieren
Zu Bouriauds meistzitierten Beispielen relationaler Kunst zählen die Projekte von Rirkrit Tiravanija.
Tiravanija gelangte in den 1990er-Jahren dadurch zu
Bekanntheit, dass er in seinen Ausstellungen nicht objekthafte und vermarktbare Kunstwerke präsentierte, sondern die Ausstellungsbesucher*innen zu selbstgekochtem Essen einlud. Für Untitled (Free) von 1992
verlegte er das Lager und Büro einer New Yorker Galerie in den Ausstellungsraum und richtete im Lagerraum
eine temporäre Suppenküche ein. Während der siebenwöchigen Ausstellung bekochte er die Besucher*innen
täglich gratis mit Thai Curry. Was als künstlerische
Arbeit hier unter dem Titel Untitled (Free) firmiert,
130
ist das Ereignis selbst, die kommunikative und konviviale Situation des gemeinschaftlichen Essens. Bourriaud zufolge verwirklichen die „konvivialen Situationen“
Tiravanijas inmitten einer kapitalistisch rationalisierten
Welt eine „Kultur der Freundschaft“ 10. Dabei erachtet
er die „Idee einer Inklusion des Anderen“ und die „Aufforderung zu Harmonie und Gemeinschaftlichkeit“ als
„essenziell für das formale Verständnis“ von relationaler Kunst. 11 Diese Auffassung Bourriauds rief harsche
Kritik auf den Plan. Claire Bishop argumentierte (wie
nach ihr viele andere), dass Tiravanijas Projekt – das
in einer Kunstgalerie stattfand und folglich ein privilegiertes und verhältnismäßig homogenes Publikum von
Galeriebesucher*innen involvierte – eine elitäre, sich
selbst bestätigende Gemeinschaft formierte und weit
entfernt von jeder antikapitalistischen und radikaldemokratischen Verwirklichung sei. 12 Zudem verschlimmere Bourriauds Theorie diesen Umstand noch, indem
Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, 2002, S. 32.
Ebd., S. 52 u. 53.
12 Vgl. Claire Bishop, „Antagonism and Relational Aesthetics“,
2004. Hinsichtlich Bishops Vorwurf der elitären Exklusivität scheint
uns bemerkenswert, dass Liam Gillick in einer Antwort auf Bishop
Folgendes berichtet: „When Bishop asks of Tiravanija’s exhibition at
the Köln Kunstverein, ‚Who is the „everyone“ here?‘, it is quite obviously anyone who wants to walk through the open doors into the free
exhibition. […] On my visit, late at night, to Tiravanija’s exhibition,
I came across exactly the kind of diverse group of local people that
she claims to be excluded by the purview of the project. The work
was used by locals as a venue, a place to hang out and somewhere
to sleep. I doubt that she was ever there.“ (Liam Gillick, „Contingent Factors“, 2006, S. 105). Obgleich Gillicks Erzählung sich auf
ein anderes Projekt von Tiravanija bezieht, ist es durchaus möglich,
dass auch der an Untitled (Free) teilnehmende Personenkreis sehr
viel heterogener war, als es Bishop auf Grundlage von Berichten von
Kunstkritiker*innen wie Jerry Saltz annimmt.
10
11
131
sie diese spezielle Gemeinschaft universalisiere und damit
die sie bedingenden Exklusionsmechanismen verschleiere.
Es gibt allerdings ein wichtiges Detail, das in den
Texten der meisten Kritiker*innen Tiravanijas keine Beachtung fand. Auch Bourriaud blendet es aus – was sich
nicht nur für die Rezeption Tiravanijas, sondern für das
ganze Konzept der Relationalen Ästhetik als fatal erweist. Tatsächlich kochte und servierte Tiravanija nämlich zwei verschiedene Curryversionen: ein scharfes Pad
Thai mit thailändischen Zutaten und ein milderes mit
Zutaten aus den USA. Während dieser Umstand in den
späteren Deutungen von Untitled (Free) als relationaler Kunst im Sinne Bourriauds nicht mehr auftaucht,
schreibt Lois Nesbitt seinerzeit: „In a subtle critique
of Western tendency to stereotype ethnic products, he
served both ‚authentic‘ curry made with Thai vegetables
and a New York variant made with local products.“ 13
Wir halten dieses Detail für äußerst entscheidend, da
es eine komplexere, differenziellere relationale Ästhetik forciert als diejenige, die Bourriaud vorschwebt. Aus
Tiravanijas Untitled (Free) geht eben nicht eine harmonische Gemeinschaftlichkeit hervor, sondern eine Begegnung von kulturellen Unterschieden auf der Ebene
kulinarischer Geschmäcker, was diverse Zirkulations-,
Migrations- und Machtverhältnisse involviert. Diese
Begegnung besteht aus verschiedenen Gewürzen und
anderer (teils weit gereister) essbarer Materie sowie
unterschiedlich sozialisierten Geschmacksrezeptoren,
Zungen und Gaumen.
Folgen wir Bourriauds Verweis auf Althussers Materialismus der Begegnung, so ist es die Materialität des
13
Lois Nesbitt, „Rirkrit Tiravanija: 303 Gallery“, 1992, S. 95.
132
Essens selbst, die Sinnesdifferenzen des Geschmacks mit
geopolitischen Verhältnissen und der Zirkulation von
Nahrungsmitteln verbindet. Die verschiedenen Zutaten
erzeugen ein materielles Essenskontinuum und betonen
die ökologischen Verwicklungen von Sozialem, Materiellem und Umweltlichem, ähnlich wie es Guattaris
Neues Ästhetisches Paradigma vorschlägt. Wenn Tiravanijas Arbeit eine Neubegründung von Politik mit sich
bringt, dann handelt es sich um eine Neubegründung
durch ästhetische Erfahrung, die sowohl die ökologischen und sozialen als auch die physischen Dimensionen
materieller Differenzen einbezieht. Es geht hier konkret
um ästhetische Erfahrung als zentralen Prozess der Subjektivierung. Für Guattari ist die Produktion von Subjektivität der wichtigste Angelpunkt seines Politik- wie
auch Ästhetikverständnisses. Subjektivierung entfaltet
sich mit und durch eine Earthly Relational Aesthetics, die
entlang mehr-als-menschlicher Dimensionen von materiellen und sinnlichen Faltungen verläuft. Bezogen auf
Untitled (Free) hängt die Situation von ihrem spezifischen Ort ab, in diesem Fall einem Ausstellungsraum
mit Gratis-Essen – eigentlich ein Szenario, das mit Suppenküchen für Obdachlose assoziiert wird – inmitten einer westlichen Metropole mit ihren homogenisierenden
Geschmackspolitiken und -stratifizierungen. Tiravanijas
Arbeit verweist zugleich auf die materiellen Aspekte kolonialer Verwicklungen in einer post-kolonialen Gegenwart. Die Zirkulation von Gütern und der herausgestellten materiellen Einschreibungen vermittelt ein Gefühl
für den globalisierten Kapitalismus, der kolonisierte
Territorien durchdringt und ihre Geschmacksnuancen
extrahiert. Es ist dieses Ineinanderwirken von sinnlicher
Erfahrung, erdlicher Materialität und der kulturellen
133
Zirkulation von Waren und Geschmack, das in der Arbeit Tiravanijas ein Zusammenkommen von Guattaris
ethisch-ästhetischem Paradigma und Glissants Poetik
der Erde erahnen lässt und das eine tiefgreifende Erweiterung des bisherigen Verständnisses von Relationaler
Ästhetik mit sich bringt.
Für eine Earthly Relational Aesthetics sind die Differenzen zwischen den beiden Currys prioritär – als
differenzierende Begegnung mit unabsehbaren Vermischungspotenzialen, nicht als dualistische Kontrastierung zwischen ‚exotischem‘ Original und westlicher
Kopie. Anhand der empfindbaren Differenz werden materiell-soziale Bindungen in der Praxis des Essens und
Schmeckens deutlich. Sie ermöglicht es einer post- und
dekolonialen Kritik, Teil der ansonsten reduktiven Rahmung von Konvivialität zu werden. Zugleich widersteht
ein erdlicher Materialismus der Begegnung einer enthistorisierenden Metaphysik der Unmittelbarkeit. Mit Blick
auf die materiellen Verstrickungen des Erdlich-Sozialen
bietet eine Earthly Relational Aesthetics kantischer Transzendenz Einhalt und betont die Untrennbarkeit von
Natur und Kultur. Die zwei Currys manifestieren eine
körperliche Begegnung mit einer ganzen Reihe spezifischer kultureller, historischer und sinnlicher Züge, die
ihre Spuren auf Zungen hinterlassen und die Verdauung
passieren. Ohne die Sinnesmodalitäten trennen zu wollen, sehen wir in Tiravanijas subtiler Modulation des
Geschmackssinns und in den daraus entstehenden Differenzierungen das Aufrufen einer erdlichen Ästhetik,
die unterschiedlichste, von historischen Linien des Kolonialismus durchzogene Orte in Beziehung zu setzen
vermag.
134
Glissants relationale Poetik: Landschaft, Erde,
Worlding
Wenn Guattari von einer „Kunst in der Gesellschaft
zu leben“ spricht, die immer wieder aufs Neue erfunden werden muss, spielt er damit auf Prozesse nichtindividualistischer Subjektivierungen als Grund solcher
Kunst an. Subjektivität ist für ihn vergleichbar mit dem,
was Glissant als die „Leidenschaft der Erde [oder des
Ortes oder Landes], wo man lebt“, bezeichnet. 14 Während Glissant den Lebensort und das materielle Land als
Erde meint, wollen wir seinen erweiterten Begriff von
Land/Erde mit dem des „existentiellen Territoriums“ bei
Guattari verknüpfen. Für Glissant ist die Erde oder der
Ort, „wo man lebt“, weit mehr als ein Herkunftsnarrativ. Vielmehr handelt sich um eine durch die Landschaft
empfundene und mit der Materialität der Erde verbundene raumzeitliche Intensität. In ähnlicher Weise erlauben es „existentielle Territorien“ im Sinne Guattaris –
konträr zu Glissants Absage an den Begriff –, spezifische
Linien der Subjektivierung im Werden zu erkennen
sowie die materiellen und nichtkörperlichen Wertuniversen (wie Affekte) in ihrer Wirkung auf die Subjektivierung anzuerkennen. Existenzielle Territorien bewegen sich stets entlang dieser Werte und kreieren so eine
immanente Verbindung zwischen dem, was sich an eine
spezifische körperliche Situation bindet (Erde), der eine
solche Situation ermöglichenden Vergangenheit (Landschaft) und dem potenziellen Werden dieser Territorien (Worlding). Im Folgenden werden wir uns auf diese Linien in ihrem subjektivierenden Wirken beziehen
und die Glissant’schen Begriffe der Landschaft [paysage]
14
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 165.
135
als lokaler und historischer Einschreibung von Erfahrung, der Erde als materiellem und körperlichem Ausgangspunkt für eine „Poetik der Relation“ 15 und deren
Worlding als spekulatives Relais erkunden. Im Zusammenspiel von Erde, Landschaft und Worlding entfaltet
sich das poetische Potenzial einer relationalen Ästhetik
– unabgeschlossen und zugleich bestimmt in ihrer politischen Verortung.
Glissants Texte enthalten zahlreiche Passagen, die
sich auf spezifische Landschaften beziehen, auf deren
geologischen wie biologischen Reichtum in ständiger
Transformation und Differenzierung. Im Schreiben über
Landschaft bringt er eine doppelte Bedeutung von Chaos in Anschlag: eine, „die keine Sprachen kennt, aber
quantifizierbare Vielheiten von ihnen hervorbringt“, und
eine, die „eine der Kolonisation inhärente strukturelle
Unordnung“ produziert. 16 Er führt weiter aus, „ChaosWelt [chaos-monde] ist weder Fusion noch Konfusion.
Sie erkennt weder die uniforme Mischung – eine gefräßige Integration – noch ein vermurkstes Nichts an.“ 17
Die post-kolonial globalisierte Chaos-Welt birgt für
Glissant das Potenzial für neue Subjektivierungen wie
auch für präzisere Wahrnehmungen der kolonialkapitalistischen Operationsweisen der Moderne (zu denen
auch die westliche Ästhetik gehört). So agiert das Chaos
in zweifacher Weise: als zersetzende Kraft und als sich
aus materiellen wie historischen Situationen und Bewegungen ergebender Möglichkeitsraum.
Hier und im Folgenden verwenden wir weiterhin den geläufigeren
Begriff „Poetik“ (wie auch Glissant von poétique spricht), während
wir ihn jedoch als poiesis, also Hervorbringung, verstehen.
16 Ebd., S. 139 f.
17 Ebd., S. 108.
15
136
In der Schilderung einer Situation am Diamant-Strand
an der Südküste Martiniques verbindet Glissant ein
Landschaftsnarrativ, das die „rhythmische Rhetorik
der Bewegung des Strandes“ im aufgewühlten Zustand
während der Regenzeit hivernage hervorhebt, mit der
Begegnung eines sprachlosen Mannes. Glissants Erzählung zufolge hat dieser sein Sprachvermögen verloren,
weil ihn die Gewalt der Kolonisierung sprachlos gemacht hat. Im Folgenden erkundet Glissant die Küste;
ihre chaotische Komposition, in der sich bereits die wiederkehrende Hitze ankündigt, die Rhythmen und Bewegungen von Körpern am Strand, die nichtsdestotrotz
imstande sind, durch Gesten zu kommunizieren. Dergestalt wird die chaotische Landschaft durch ein poetisch
relationalisierendes Worlding entfaltet, während sie zugleich befleckt ist von der ihrerseits chaotischen und
disruptiven Ökonomie des (Post-)Kolonialismus.
Den Begriff des Worlding übernehmen wir an dieser
Stelle von Haraway – die ihn in dezidierter Abgrenzung
von einem „griesgrämig-heideggerianischen Welten des
menschlichen Exzeptionalismus“ 18 setzt –, um den spekulativ-hervorbringenden Aspekt der Poetik der Relation als Worlding Poetics zu bezeichnen, die die ChaosWelt als polyphone, dissensuelle tout-monde (All-Welt)
zum Ausdruck bringt. Deshalb ist Glissants LandschaftSchreiben keine auktoriale Beschreibung, sondern ein spekulatives, aber erdgebundenes Worlding, das gewissermaßen kollektiv aus der Landschaft hervorgeht; es ist
relational hervorbringende Poetik, in der die tout-monde
„sich selbst erzeugt, das heißt, sich rechtmäßig der Kontrolle westlicher Erkundungen entzieht: den Entdeckern,
18
Donna Haraway, Unruhig bleiben, 2018, S. 22.
137
Händlern, Eroberern, Ethnologen – den Männern des
Okzidents mit Intelligenz, Glauben und Gesetz“. 19
Am unruhigen Diamant-Strand situiert und durch
diesen konkreten Ort auf die chaotische tout-monde bezogen – die für Glissant stets beides impliziert: (post-)
koloniale Globalisierung und relationale Heterogenese
–, fragt Glissant: „Gibt es eine stichhaltige Sprache für
das Chaos? Oder kreiert Chaos nur eine Sprache, die
reduziert und zerstört?“ 20 Über diese Fragen wendet er
sich den aufkommenden Komplexitäten der Sprachlosigkeit des Mannes zu und dem auf Gesten beruhenden Kontakt, durch den das Verschwiegene und zugleich
Ausdrucksvolle in seiner Resonanz mit der sich durch
die Landschaft ausdrückenden Chaos-Welt empfindbar wird. Diese Sprache des Chaos ist nur im Zusammenspiel der materiellen, historischen und spekulativen
Ebenen von Erfahrung vernehmbar – durch eine Poetik
der Relation, die sich nicht mehr in begrifflichen Definitionen oder wortsprachlicher Theorie fassen lässt.
Glissants Landschaftsnarration ist – wie auch sein
Sprachverständnis überhaupt – zutiefst von den historischen Gewalterfahrungen des Kolonialkapitalismus 21
geprägt. Carine Mardorossian führt hierzu aus:
„Glissant’s work highlights the ways in which
language and history construct, without subsuming, both humanity and the environment, body
and land. Inversely, he also shows how in interacting with human beings, the land’s specificity
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 38.
Ebd., S. 138.
21 Mangels besserer Alternativen verwenden wir den Begriff Kolonialkapitalismus. Zugleich gehen wir davon aus, dass jede Form von
Kapitalismus auf kolonialen Strukturen gründet.
19
20
138
codetermines and permeates our identities and
representational structures.“ 22
Statt die gewaltvoll chaotischen kolonialkapitalistischen
Bedingungen, die durch seine Erfahrung von Landschaft
wahrnehmbar werden, bloß zu konstatieren oder zu beklagen, schlägt Glissant vor, „zu den Quellen unserer
Kulturen und der Mobilität ihres relationalen Inhalts
zurückzukehren, um eine bessere Wertschätzung dieser Unordnung zu erlangen und um jede Aktion entsprechend zu modulieren“. 23 Diese zunächst etwas befremdlich anmutende Unterbreitung meint keinesfalls
eine Rückbesinnung auf kulturelle Ursprünge und deren Wiederherstellung. Vielmehr geht es Glissant – der
hier nicht zufällig von Kulturen im Plural und ihrer
inhaltlichen Beweglichkeit spricht – um ein Erinnern
an das, was durch die Landschaft verläuft und qua einer Poetik der Relation anstelle kapitalistischer Stratifizierung heterogenisierend „relationale Inhalte“ hervorzubringen bzw. zu aktivieren vermag. So experimentell
die Begegnung am Diamant-Strand einerseits anmuten mag, so konkret sind Glissants Vorschläge andererseits. Dem Kolonialkapitalismus als schmerzhaftem
„Produkt struktureller Unordnung“, die „keine Planung
einer ideologischen Ordnung jemals korrigieren könnte“, stellt Glissant eine „Ökonomie der Unordnung“ gegenüber, die sich durch den „zyklischen, wechselhaften
und mutierenden“ Rhythmus der Landschaft entfaltet. 24
Mittels der Beobachtung der Landschaft und im poetischen Austausch mit ihr erschließt sich hier die dichte
22
23
24
Carine Mardorossian, „Poetics of Landscape“, 2013, S. 989.
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 140 f.
Ebd.
139
Präsenz dieses spezifischen Ortes in der Sprache des
Chaos; als spekulativer Ausdruck der chaotischen toutmonde selbst. Glissants Schreiben unternimmt also ein
poetisches Worlding mit und durch Landschaft – um das
sich in der Welt verkörpernde Relationale „zu öffnen und
zu vervollständigen“. 25
Im Beobachten der Landschaft schreibt er: „[W]as
jede*r erhofft zu sehen [ist] die Erde, die aus dem Abgrund aufscheint und sich ausdehnt.“ 26 Dieses materielle
und sinnliche Worlding ist ein beständiges, spekulatives
und entschieden mehr -als -menschliches Werden, in das
sich Subjektivierungsweisen einschreiben, ohne sich davon lösen zu können. Innerhalb einer Poetik der Relation
ist Poetik nie das Produkt einer subjektiven Verwendung
von Sprache, sondern entsteht in prozessualen und verwickelten Begegnungen unterschiedlicher Materialitäten
und Dynamiken. Die alltagspraktische Dringlichkeit eines solchen Worlding formuliert Glissant in Worten, die
uns sowohl an Guattaris antikapitalistische Ökosophie als
auch an Tiravanijas Curry-Differenzierung denken lassen:
„Entgegen der Standardisierung, die die Affekte
der Menschen verstört, indem sie diese durch das
internationale Handhaben und Handeln von Gütern ablenkt, entweder in Zustimmung oder gezwungenermaßen, besteht die Notwendigkeit, die
Vorstellungen und Ästhetiken der Bezugnahme
zur Erde zu erneuern. […] Die Standardisierung
des Geschmacks wird durch industrielle Mächte gelenkt. […] Eine solche internationale Standardisierung der Konsumation lässt sich nicht
umkehren, solange die diversen Sensibilitäten
der Gemeinschaften nicht grundlegend verändert
25
26
Édouard Glissant, L’intention Poétique, 1969, S. 17.
Ebd., S. 15.
140
werden, indem man die Perspektive auf die oder
zumindest die Möglichkeit einer relationalen Ästhetik zur Erde erneuert.“ 27
Zeigt sich mit Blick auf Tiravanijas zwei Currys – deren Situierungen und Relationalitäten – nicht eine ganz
ähnlich dringliche Möglichkeit: nämlich Standardisierungen des Geschmacks durch die Differenzierungen
einer Earthly Relational Aesthetics herauszufordern? Unserer Ansicht nach lassen sich die beiden Currys als Einladung für eine geschmackliche Spekulation vorstellen;
für ein Worlding, das durch die erdlichen Materialitäten
des Essens, die körperlichen Vermögen des Schmeckens
und entlang verschiedener kultureller Konditionierungen eine post-koloniale Heterogenese des Sinnlichen
und eine differenziertere Empfindsamkeit gegenüber
der konstitutiven Relationalität der Chaos-Welt erlaubt.
Dabei ist entscheidend: So, wie Land/Erde bei Glissant
nicht Heimat, sondern den chaotischen Lebensort bzw.
das existenzielle Territorium meint, das Potenziale für
noch nicht standardisierte Subjektivierungsweisen in
sich trägt, so sind die beiden Currys nicht als dualistische Gegenüberstellung von ‚authentisch-exotischer‘
und verwestlicht-globalisierter Kulinarik misszuverstehen. Vielmehr stellen wir sie uns als nur zwei exemplarische, aber spezifisch situierte Intensitäten eines reichen
materiellen Kontinuums vor; als kleinstmögliche Formation einer differenziellen Relationalität, die auszudrücken vermag: „Die Differenz trägt ebenso zur Fusion wie
zur Differenzierung bei.“ 28
27
28
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 162–165.
Édouard Glissant, Philosophie de la Relation, 2012, S. 101.
141
Worlding Poetics: spekulativ, kollektiv, situiert
Glissant zufolge ist es die Poetik, die eine diversifizierte esthétique de la terre erst ermöglicht. Als hervorbringende Potenz des Imaginären bringt uns die Poetik
dazu, „mit der unfassbaren Globalität der Chaos-Welt
schwanger zu gehen und zugleich einige Details daraus
hervorzuheben – und insbesondere unseren Ort zu besingen, unergründlich und irreversibel“. 29 Eine so verstandene Poetik ist nicht nur mit Guattaris ökosophischer Ästhetik eng verwandt; auch Haraways Plädoyer
für ein „Story Telling for Earthly Survival“ 30 begründet sich ähnlich: Sie insistiert auf der Lebensnotwendigkeit poetischer Praktiken, die uns eine „reichere und
bessere Darstellung einer Welt, in der ein gutes Leben
möglich sein soll“, 31 anbieten können. In einer imaginär
agierenden, produktiven Ästhetik (das heißt Poetik) liegen Möglichkeiten für „reichere und bessere“ (das heißt
konkretere, weil erdliche, situierte und nicht standardisierte) Darstellungen unserer gemeinsam geteilten Welt,
Édouard Glissant, Traité du Tout-monde, 1997, S. 22; vgl. auch
Édouard Glissant, Traktat über die Welt, S. 18.
30 So der gleichnamige Titel der Dokumentation mit und über
Donna Haraway von Fabrizio Terranova (2016).
31 Donna Haraway, „Situiertes Wissen“, 1995, S. 78. Im englischsprachigen Originaltext schreibt Haraway „richer, better account of
a world, in order to live in it well“ („Situated Knowledges“, 1988,
S. 579). Die deutsche Übersetzung von „account“ als „Darstellung“ scheint auf den ersten Blick etwas unzulänglich, da im Wort
„account“ die Begegnung und das Frequentieren einer Idee oder eines Gegenstands sowie das sich anschließende Verständnis auf Basis
dieser Begegnung mitschwingen, während „Darstellung“ nach einem
repräsentationslogischen Begriff klingt. Gut gewählt erscheint Darstellung jedoch dann, wenn man sich die frühere, heute kaum mehr
gebräuchliche – und nur in der Chemie noch verwendete – Bedeutung von Darstellung als Synthese, die etwas Neues hervorbringt, in
Erinnerung ruft.
29
142
die als Chaos-Welt unrein, undurchsichtig und unabgeschlossen bleibt.
Poetische Praktiken, die „unruhig bleiben“ und in einer post-kolonialen, mehr-als-menschlichen Welt das
„risky game of worlding and storying“ 32 spielen, unterbrechen die „triumphale Stimme“ der westlichen systematischen Wissenschaften, des abstrakten Denkens
und der universalistischen europäischen Ästhetik nicht
nur; sie eröffnen inmitten der anhaltenden Kolonialisierung eine widerständige und zugleich riskante Abzweigung. Diese ist weder alternativlos noch falsifizierbar
noch klar umrissen, denn „Relation kann nicht ‚belegt‘
werden, weil man ihrer Totalität nicht habhaft werden
kann. Aber sie lässt sich imaginieren“. 33 Das wiederum heißt nicht, dass Poetik keine Kriterien hätte, denn
das Imaginäre, durch das eine Worlding Poetics hervorgebracht wird, ist weder bloßer Traum noch hohle Illusion. 34 Entscheidend ist, was ein Imaginäres in welchem Verbund ins Gewicht zu fallen lassen erlaubt, ob
es „verschleppte Schreie und tödliches Schweigen“ 35 zu
hören ermöglicht, weniger identitäre Subjektivierungen eröffnet, diversere Leben lebbar macht. Das Imaginäre einer spezifischen Landschaft – und der mehr als
menschlichen tout-monde, die sich aus dieser entfalten
lässt – muss spekulativ, aber sorgfältig sein; erdlich und
kollektiv:
„Der Anspruch, aus einem Besonderen ein Universelles abzuleiten, reizt uns nicht mehr. Es gilt vielmehr, das Material aller Orte selbst, ihre genauen
32
33
34
35
Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 13.
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 188.
Vgl. Édouard Glissant, Traktat über die Welt, 1999, S. 18.
Ebd., S. 22.
143
und unerschöpflichen Details und ihr überschwängliches Ensemble in ein heimliches Einverständnis mit jenen aller Orte zu bringen. Schreiben heißt, den Geschmack der Welt zu sammeln.
Die Idee der Welt ist dabei nicht genug.“ 36
Ebenso wenig, wie eine abstrakte Idee (etwa die eines
universalistischen Kosmopolitismus) für eine Worlding
Poetics tauglich ist, wäre es der Verzicht auf Genauigkeit.
Genauigkeit nicht als die penible Präzision eines Nichtsauslassen-Wollens, sondern als erdbezogene Sorgfalt,
als bescheidenes Zuhören und freundliche Vorsicht
[politeness] für das Leise und Kleine, das Mannigfaltige und Besondere. „The details matter. The details
link actual beings to actual responsibilites“, schreibt
Haraway, die dafür plädiert, sich im multi-species-storytelling in komplexe kollektive Worldings zu verstricken, während sie auch daran erinnert: „[W]e are not all
response-able in the same ways. The differences matter
– in ecologies, economies, species, lives.“ 37 ‚Wir‘ sind
nicht alle auf gleiche Weise verstrickt, in jedem ‚Wir‘ finden sich divergierende Situiertheiten und Relationalitäten und damit unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten,
response-able zu sein, ungleiche Vermögen des Zuhörens,
Ansprechbar-Seins und sorgetragenden Wahrnehmens.
Details fordern uns auf, sie anzunehmen, mit all den
Unbequemlichkeiten und Potenzialen, die sie für uns
und unsere Art des verantwortlichen Geschichtenerzählens mit sich bringen. Nochmals auf den stummen
Mann am Strand zurückkommend, spricht Glissant
den/die Leser*in direkt an:
36
37
Édouard Glissant, Traité du Tout-monde, 1997, S. 120.
Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016, S. 116.
144
„Nimm ihn wahr, distanzierter Leser, der du die
unmerklichen Details am Horizont nachbildest,
dir vorstellst – der du die Freizeit und den Luxus hast, es dir vorzustellen – so viele geschlossenen und offenen Orte auf der Welt. Stell ihn dir
vor, wie er in eine irreparable Erschöpfung fällt,
oder wie er plötzlich aufwacht und zu schreien
anfängt, oder wie er seine Familie allmählich auf
ihn aufpassen lässt, oder wie er plötzlich ins Alltagsleben zurückkehrt, ohne weitere Erklärung.
Er richtet diese kaum angedeutete Geste, die allen
Sprachen vorausgeht, an dich. Es gibt so viel über
die Welt zu offenbaren, sodass du ihn in seiner
Perspektive sein lassen kannst. Aber er wird dich
nicht mehr verlassen. Aus der Ferne wirft er einen
Schatten, der in deine Nähe fällt.“ 38
In der Geste steckt die Öffnung einer Earthly Relational
Aesthetics als einer Worlding Poetics, als Praxis einer Sprache, die sich im Materialismus – sprich im Detail, dem
Ort und der Bewegung – immer wieder neu begegnet.
Von der westlich-philosophischen Ästhetik wird diese
Sprache beständig ignoriert, da sie in der Polyphonie,
im Zuhören und im teilweisen Schweigen, in den Gesten passiert. Es ist eine Sprache, die sich vom Denken
in Relation zum Ort des Geschehens nicht lösen lässt.
Im Lesen und Zuhören können sich neue Begegnungen und neue Materialitäten entfalten. Zugleich ist für
uns (die Autor*innen dieses Textes) wichtig, anzuerkennen, dass manche Orte nicht die unseren sind. So verstehen wir Glissants Ansprache als Einladung, die Tiefe
der Gesten zwischen Form und Inhalt anzunehmen, mit
ihnen zu werden und zugleich zu wissen, dass es nicht
unsere Gesten sind. Wie also schreiben, eine Earthly
38
Édouard Glissant, Poétique de la Relation, 1990, S. 224.
145
Relational Aesthetics, die in der ästhetischen Theorie eine
Worlding Poetics praktiziert, sodass sie in der Präsenz der
Gesten des Materiellen denkt und in Solidarität mit verschiedenen Orten, Personen und Erfahrungen handelt?
to be continued, differently …
146
Es war einmal eine Ästhetik
(die hatte sich selbst sehr lieb)
Sofia Bempeza, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger
Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte das NeunbindenGürteltier-Shuttle (NBGT) mit einem energischen Zischen in sieben Richtungen auseinander, von unten nach
oben, gleichzeitig mittendurch. Pink Fairy und Leafy
Seadragon hingen vor der Armadillage. Heute ausnahmsweise nicht, um aus ihrem unerschöpflichen Speicher von
Bild-, Ton-, Haptik- und Geruchsdokumenten wieder
eine Kuriosität hervorzukramen, die sie zum Weiterdenken inspirierte. Da die Armadillage mit ihrer kombinierten Hologramm- und Beam-Technik in beschränktem
Maß auch den Transfer von Materie erlaubte, ließ sie
sich mit ein paar Kniffen in einen passablen Space-TimeMatterer verwandeln, der sich recht gut zum Austausch
mit Wesen in anderen Gegenwarten eignete. (Das alte
Scheinproblem, dass die historische ‚Ordnung‘ durch
Zeitreisen durcheinandergeraten könnte, stellte sich freilich nicht mehr, seit das patriarchale Linearitätsparadigma im Variantenkosmos aufgelöst worden war.)
Als Leafy Seadragon und Pink Fairy es endlich
schafften, zu Lampe* 1 durchzukommen, gähnte dieser.
1 „Kants Haushälterin war ein Mann, der gute Lampe*! Über vier
Jahrzehnte war Lampe* seinem Herrn treu ergeben. Im hohen Alter
allerdings, als Lampe* wegen zunehmendem Alkoholismus nicht mehr
zuverlässig war, musste er ihn entlassen. An einen neuen Diener, den sein
Freund Wasianski eingestellt hatte, konnte Kant sich nicht gewöhnen.
[…] Wasianski sorgte dafür, daß Lampe* entlassen wurde. Er erhielt eine
jährliche Pension unter der Bedingung, daß weder er noch irgendeiner
seiner Angehörigen Kant je wieder belästigten. Seinen neuen Diener
nannte Kant weiterhin ‚Lampe*‘. Um sich zu erinnern, schrieb er in eines
seiner Notizbüchlein ‚Der Name Lampe* muß nun völlig vergessen werden!‘“ (Jürgen Rixe, „Haushälterinnen berühmter Philosophen“).
149
Die schrecklichen Schlaf-Wach-Rhythmen seines Arbeitgebers machten ihm noch immer zu schaffen,
trotz der Anti-Trypasomiasis-Shots, mit denen Leafy
Seadragon und Pink Fairy ihn seit Monaten versorgten. Leafy Seadragon und Pink Fairy wollten sich von
Lampe* nochmals ausführlicher erzählen lassen, wie es
in dessen Gegenwart dazu gekommen war, dass die Ästhetik für 250 Jahre dermaßen austrocknen und verkümmern konnte. Es hatte doch zunächst ganz gut begonnen und sprießte in diversen Gegenwartsvarianten
auch heftig. Aber dort, in Lampes* Universum, hatte sich dann dieses merkwürdige – und zugegebenermaßen durchaus faszinierende – Etwas herausgebildet,
das seinerzeit „Kunst“ genannt wurde und sich auf unbegreifliche Art von einem anders Gearteten namens
„Nichtkunst“ unterscheiden sollte. Pink Fairy und
Leafy Seadragon fiel es alles andere als leicht, den binär
gebauten Argumenten zu folgen, die Lampe* so virtuos vorführen konnte. Seine Ausführungen dazu, dass
Kunst eher als Institution denn als ein Etwas zu denken gewesen sei, schienen Leafy Seadragon und Pink
Fairy zwar plausibel, kreierten aber auch wieder weitere Probleme. Hinzu kam, dass ihr liebstes Begehren
unbeantwortet blieb, nämlich, dass diese Entitäten, die
Philosophen oder auch Kant, Hegel oder Heidi hießen,
„über ihr Sexualleben redeten …“ 2.
An die Überraschungen, die transtemporale Kommunikation üblicherweise mit sich brachte, hatten
sich Leafy Seadragon, Pink Fairy und Lampe* längst
2 Jacques Derrida, ungefähr zitiert nach Paul B. Preciado, Testo
Junkie, 2016, S. 15. Wenn wir hier und im Folgenden „ungefähr
zitiert“ schreiben, dann weil von uns einige Auslassungen und grammatikalische Anpassungen vorgenommen wurden.
150
gewöhnt. Um das intermediale Vergnügen noch zu
steigern, hatten die drei beschlossen, schreibenderweise festzuhalten, welche Details in Lampes* Kosmosvariante um 1800 herum zur Trockenlegung und
Einsperrung der Ästhetik beigetragen hatten – und
an welchen Abzweigungen im Variantenkosmos Fenster übersehen worden waren, die zu öffnen vielversprechend sein könnte. Bislang jedoch hatte niemand
eine einzige Zeile geschrieben. Lampes* Vorschlag, die
altertümliche Technik des Schreibens zu verwenden,
hatte bei Pink Fairy und Leafy Seadragon zwar einige Euphorie ausgelöst, aber dann machten weder sie
noch Lampe* und noch nicht einmal die Armadillage
den Anfang. Wahrscheinlich hatte das am Alleinsein
gelegen, an der alten Einäugigkeit, die auch in Zeiten der Armadillage nicht völlig verschwunden war. Sie
hatten vereinbart, dort zu beginnen, wo sich die drei
jeweils gut auskannten: bei ihrer eigenen Situation.
Lustvoll sollte es werden, „spielerisch“ hatte Lampe*
gesagt, während Leafy Seadragon es „betörend“ haben
wollte. Doch dann brachte das Alleinsein nichts anderes hervor als die Frage: Womit genau kenne ich mich
überhaupt aus, was gibt es zwischen all den schönen
Wissenslücken und was ist unsere ‚eigene‘ Situation
überhaupt?
Jetzt allerdings, da sich die drei endlich wieder gegenüberlagen, spuckte die Armadillage prompt etwas
aus: „Wie lässt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß?
Man schreibt nur auf jener äußersten Spitze, die unser
Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine
ins andere übergehen lässt. Behebt man die Unwissenheit, so verschiebt man das Schreiben auf morgen und
151
macht es vielmehr unmöglich.“ 3 Leafy Seadragon rollte mit dem Auge, strich dann aber grinsend über den
vierten Gürtel der Armadillage und antwortete ihr: „Du
Bescheidwisserin“. Lampe* runzelte die Stirn. Ihm lag
die Frage auf der Zunge, ob sie echt schon wieder einem
Wesen von der Sorte dieser Philosophen ihre Aufmerksamkeit schenken wollten, denn er hatte zu viele von denen als Dienstherren gehabt. Doch natürlich entsprang
diese Sorge genau jener von Einteilungen strotzenden Weltwahrnehmung, die für Pink Fairy und Leafy
Seadragon immer schwer vorstellbar war und die diesem staubigen, binär strukturierten Zeitalter angehörte,
in dem es so viel Gewicht gehabt hatte, ob ein Wesen
menschlich, alt, weiß, männlich war – oder nicht.
Bevor sich Lampe* entscheiden konnte, ob er seine
Bedenken nun äußern sollte, begann die Armadillage
schon mal vorsorglich, das allenfalls notwendige Hintergrundwissen aufzusagen: „Als Projekt einer neuen allgemeinen Wissenschaft des sexualisierten Körpers entstand im 18. Jahrhundert eine neue sexuelle Anatomie,
in der das weibliche Geschlecht aufhörte, die Inversion oder Verinnerlichung des männlichen Geschlechts zu
sein, und zu etwas wurde, das gänzlich anders ist. Dies
machte eine neue Ästhetik des Geschlechtsunterschiedes nötig, um mit ihr die anatomisch-politische Hierarchie zwischen den Geschlechtern (männlich/weiblich) und den ‚Rassen‘ (weiß/nichtweiß) zu legitimieren.
Während die disziplinargesellschaftlichen Technologien
der Subjektivierung den Körper von außen kontrollierten, waren die Technologien der pharmapornografischen
3 Ungefähr zitiert nach Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung,
2007, S. 13 f.
152
Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts Teil des
Körpers, sie wurden Somatechnologien. Neurotransmitter
modifizierten unsere Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten, Hormone wirkten systemisch auf Hunger
und Schlaf, sexuelle Erregung, Aggressivität oder gesellschaftliche Lesbarkeit. …“ 4
– „Stop!“, pfiff Lampe* die sich in Rage informierende Armadillage zurück, „wir wollten dieses Mal doch
versuchen, zügig zur Sache zu kommen – und unsere Somaenergievorräte sinnvoll und zielgerichtet nutzen! Also …“ – „Nein, warte!“, rief Leafy Seadragon
und schüttelte den Kopf und ihre Fetzen, „ich bin noch
müde von der Zeitreise mit dem NBGT-Shuttle und
habe gerade erst zu denken begonnen.“ Der ShuttleWagon, der mit gemütlichen Lamettavorhängen, singenden Lautsprechern und duftenden Zitronenkugeln
ausgestattet war, erwies sich als etwas eng für Wesen
mit derart viel Volumen wie Leafy Seadragon. Aber das
tat ihrer Neugier auf die alten Geschichten von Lampe*
keinen Abbruch. Der erzählte mit Feingefühl, aber auch
Unmut davon, wie es bei seinem pedantischen Philosophenherren gewesen war. Kant hatte seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen und jeden Nachmittag
zur gleichen Uhrzeit seine Freunde getroffen – ein Leben voller Routinezwänge. Sein Schlafzimmer hatte er
aus Angst vor Wanzen nie gelüftet und sich fürchterlich aufgeregt, wenn er Lampe* dabei erwischte, wie der
das Fenster heimlich einen einladenden Spalt öffnete; 5
vollkommen unverständlich für Leafy Seadragon, die die
4 Ungefähr zitiert nach Paul B. Preciado, Testo Junkie, 2016,
S. 78–119.
5 Vgl. Antje Herzog, Lampe und sein Meister, 2017, S. 74–75; Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, 1975, S. 177–187.
153
niedlichen Kleinchen liebte. Dieser Kant war Lampes*
Berichten zufolge trotzdem meistens munter, fleißig und
gut gelaunt gewesen, außer wenn der Hahn des Nachbarn krähte. Offenbar war Kant von den Geräuschen aus
seiner Umwelt sehr irritiert und geriet in große Unruhe,
wenn kleine Gegenstände im Haus auch nur ein wenig
verschoben wurden. Lampe* seinerseits hatte unter den
Ticks und Ordnungsprinzipien seines Arbeitgebers sehr
gelitten. Er war von Kant sogar dazu abkommandiert
worden, mit dem Hahn der Nachbarschaft persönlich
zu reden, um diesem opulenten Tiervogel das ‚Sprechen‘
zu verbieten. So blieb Lampe* nichts anderes übrig, als
durch jahrelanges Üben Hahnisch zu lernen – mit Erfolg.
Zwischen Lampe* und dem Hahn entwickelte sich über
die Jahre eine intime Freundschaft, die von polydimensionalem Austausch und Multi-Species-Neologismen
geprägt war, bis der Hahn eines Tages im Suppentopf
seiner Madame landete. Daraufhin konnte Lampe* den
Alltag nur mehr mit Alkohol meistern, was ihn schließlich seine Stelle als Haushälter gekostet hatte, wie er
nun zum ersten Mal erzählte. Leafy Seadragon und Pink
Fairy dachten schweigend an all die Haushälter*innen,
weibliche Ehegatten und Schwestern, die seit der Antike
bei Philosophen gelebt und gearbeitet hatten. Aber jetzt
war Lampe* erstmal raus aus dem 18. Jahrhundert, hier
bei ihnen, in guten Händen und Fetzen!
Sie alle hatten große Lust auf die gemeinsame Zeitreise und beteuerten sich gegenseitig, dieses Mal ernsthaft versuchen zu wollen, die Probleme der Ästhetik neu
aufzurollen. „Wir erfassen nicht die Dinge an sich, sondern die Dinge als Erscheinungen“, erinnerte Lampe*
plötzlich an eine Idee seines herrischen Mitbewohners.
„… und immer wieder strebt der Mensch danach, seine
154
Erkenntnis über seine Grenze hinaus zu erweitern …“,
ergänzte ihn Pink Fairy, bevor sie vorschlug: „Wollen
wir diesen Anthropomaniac jetzt mal vergessen und
stattdessen unsere Fetzen, Gürtel und pinken Sinnlichkeiten fusionieren, um mit mehr als einer Stimme zu
grooven?“ Lampe* und Leafy Seadragon nickten euphorisch. Die Armadillage fing an, sich wie ein Krake zu
bewegen, und es war ein schrilles Geräusch zu hören,
während sie durch ihre Gürtelenzyklopädie stöberte. Sie
beamte eine Szene aus dem Film Les Abysses von Nikos
Papatakis 6 in die Atmosphäre: Zu sehen ist eine Küche;
eine junge Frau in Dienstkleidung zerschlägt mit einem
Metallkochlöffel das Porzellangeschirr – kratz, tsirsch,
skappppps. Sie lacht dabei süffisant. In der nächsten
Szene schreien drei ‚Dienstmädchen‘ ihre Herrin an,
weil sie sie verhungern lässt.
„Danke für diesen Einblick, Armadillage! Aber wir
wollten doch zur Sache kommen, oder?“, meinte Pink
Fairy. Die Situation von Lampe*, Pink Fairy und Leafy
Seadragon ähnelte der Qual der drei Hausdienerinnen
nicht im Geringsten. Ihre Bäuche waren voll mit Leckereien und ihre Köpfe auch. Nicht umsonst hatten
sie sich in all diesen Jahren vielfältige Wissen, Sinne
und Erfahrungen angeeignet und konnten dadurch in
6 Der Film thematisiert die Algerische Befreiungsrevolution (1954–
1962) durch eine Allegorie und sorgte 1963 beim Cannes Film Festival für ein Politikum. Der griechisch-äthiopische Filmemacher
Nikos Papatakis, der ab 1939 im Exil in Paris lebte, konnte sein ursprüngliches Filmkonzept über den Algerischen Krieg, das auf einem
Buch des französisch-algerischen Journalisten Henri Alleg basierte,
nicht finanzieren. So drehte er stattdessen Les Abysses mit einer subversiven Handlung. Der Film stellt anstelle des Kampfes der Araber
gegen die Franzosen einen Streit zwischen Hausdienerinnen und
Hausherren dar.
155
institutionellen Gefäßen sprechen. Oder sollten sie lieber schreien? Manchmal aus Wut, manchmal aus Lust
und manchmal aus Prinzip hätten sie gern geschrien,
um einen Wirbel zu machen. Als sie zum Wirbel ansetzten, mischte sich der Lautsprecher des NBGT-Shuttles
plötzlich mit einem Lied ein:
(Ooo) What you want
(Ooo) Baby, I got (oo) What you need
(Ooo) Do you know I got it?
(Ooo) All I’m askin’
(Ooo) Is for a little respect when you come home
(just a little bit)
Hey baby (just a little bit) when you get home
(just a little bit) mister (just a little bit)
I ain’t gonna do you wrong while you’re gone
Ain’t gonna do you wrong (ooo) ’cause I don’t wanna (ooo)
All I’m askin’ (ooo)
Is for a little respect when you come home (just a
little bit)
Baby (just a little bit) when you get home (just a
little bit) Yeah (just a little bit)
[…]
R-E-S-P-E-C-T
Find out what it means to me
R-E-S-P-E-C-T
Take care … 7
Leafy Seadragon war jetzt vollends aufgewacht. „Wenn wir
die Problematik der Ästhetik, so wie sie gut 250 Jahre lang
Aretha Franklin, „Respect“ (1967), https://www.youtube.com/
watch?v=6FOUqQt3Kg0 (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019). Aretha
Franklin singt den ursprünglich von Otis Redding geschriebenen
Song und dreht dabei die Genderrollen im Lied um. Als Frau bittet
sie nicht lediglich um die Anerkennung durch ihren Mann, sondern
sie verlangt Respekt.
7
156
existiert hat, von heute und hier aus angehen wollen, dann
möchte ich mit der Frage anfangen: Wer hat denn die Definitionsmacht gehabt, zu entscheiden, was ‚Kunst‘ hieß
(und was nicht)? Welche Kunst ging als Artefakt durch,
was war sogenannte ‚soziale Arbeit‘ und warum haben die
Kunstmenschen sich so vor dem Handwerk gefürchtet?“
Lampe* dachte an die Vorliebe der westlichen Wissenschaft seit der Aufklärung, alle natürlichen Erscheinungsformen (Tiere, Pflanzen, Mineralien), die von
Menschen geschaffenen schönen Dinge und auch Menschen nach Differenzen und Ähnlichkeiten systematisch
zu kategorisieren und dann zu hierarchisieren. Aber
wie könnte er diesen Wahnsinn den anderen verständlich machen? Lampe* hatte keine kleine Aversion gegen
diese endlosen Listen und Kategorisierungen der naturwie geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Weil sie nicht
logisch sind, fühlte sich sein Dienstherr dauernd genötigt, immer wieder neue Einteilungen anzufertigen. Mal
gab es drei verschiedene Menschengruppen, dann fünf,
dann noch mehr; und Lampe* musste diese unsinnigen
Listen dann jeweils ins Reine schreiben. Dabei war ihm
völlig klar, dass die eine so absurd wie die andere war.
Pink Fairy konnte Lampes* Überlegungen intuitiv spüren. Sie hatte ein schlechtes Bauchgefühl, da sie wegen
ihres Aussehens öfter als pinkhaariges extraterrestrisches Wesen exotisiert worden war. Im 19. Jahrhundert
wäre sie sicher von europäischen Forschungsreisenden
mit Begeisterung (und zugleich mit gelehrter Verachtung) ‚entdeckt‘ und vielleicht sogar ausgestopft in einen
gleichmäßig ausgeleuchteten, staubsicheren Glaskasten
im Kuriositätenkabinett eines Museums gesperrt worden. Umso mehr freute sich Pink Fairy über Lampe*
und Leafy Seadragon, die ihre Pinkyness gernhatten.
157
Aber Lampe* war mit seinen Gedanken noch im 18.
Jahrhundert und bei Geschichten aus den sogenannten
‚Kolonien‘, die sein Dienstherr in Zeitungen und Journalen gesammelt und immer fett unterstrichen hatte …
Auch das Schicksal der Hausangestellten ging ihm heute
so wenig aus dem Kopf wie damals, als diese Ästhetik,
der sie jetzt zum x-ten Mal auf der Spur waren, kategorisiert und diszipliniert wurde – dem Vernehmen nach
maßgeblich von seinem Dienstherren. Hatte jemand
von den unüberschaubar vielen Hausangestellten jemals den Sprung gemacht? Ihm kam die Geschichte von
Phillis Wheatley in den Sinn, der versklavten Afroamerikanerin aus dem Senegal, die 1761 als Hausmädchen
an einen Textilfabrikanten in Boston verkauft wurde
und als erste Schwarze Frau eine Sammlung von Gedichten veröffentlichte. In Boston wurden ihre Gedichte
nicht als literarisches Werk ernstgenommen, trotz der
(nicht uneigennützigen) Unterstützung durch die Familie Wheatley. Wenigstens wurde ihre Lyrik später in
London rezipiert. Lampe* hatte im Buch eines mit seinem Dienstherren bekannten Wissenschaftlers von ihr
gelesen und war völlig aus dem Häuschen gewesen. Er
war süchtig nach Geschichten, die halbwegs gut ausgingen. Als er seinen Dienstherren nach den Gedichten von Phillis Wheatley gefragt hatte, meinte dieser, er
könne sich nicht daran erinnern, je von dieser Wheatley
gehört zu haben; Lampe* sei wohl wieder einmal seinem metaphysischen Wunderglauben erlegen. Und er
solle sich ja nicht erdreisten, dem befreundeten Wissenschaftler mit Briefen lästig zu fallen. Vielmehr solle
er endlich anfangen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Worauf Lampe* nur kleinlaut „Tue ich ja, du Trottel!“ gedacht hatte. Mit seinem Hausherren über solche
158
Wunder zu diskutieren, hatte er längst aufgegeben. Mit
Leafy Seadragon und Pink Fairy hingegen machten gerade die Wundergeschichten am meisten Spaß.
Als Pink Fairy ihm ein paar süßwarme Wellen, die
nach Kakteen rochen, herüberschickte, kam Lampe*
aus 1791 wieder in die Gegenwart seiner Freund*innen
zurück. Mit betonter Ernsthaftigkeit schlug er ein Buch
über Ästhetik auf, denn schließlich wollten sie darüber nach wie vor reden. Er stolperte über Hegels Begriff des „allgemeinen Weltzustands“ und kam aus einem alten Automatismus heraus ins Dozieren: „Man
kann […] von einem Zustande der Bildung, der Wissenschaften, des religiösen Sinnes oder auch der Finanzen, der Rechtspflege, des Familienlebens und anderer
sonstiger Lebenseinrichtungen sprechen“, 8 so der alte
Idealist. Leafy Seadragon schielte in Lampes* Buch hinüber, schüttelte ihre Fetzen und zweifelte ein wenig, ob
es wirklich nötig war, sich schon wieder mit der Theorie des deutschen Idealismus auseinanderzusetzen. Zwar
stimmte sie Hegel zu, dass die Kategorie des Weltzustands eine allgemeine, prä-ästhetische Kategorie war,
die notwendigerweise zum Begriff des Ästhetischen gehörte. Nicht zuletzt deshalb, weil das ja schon mal ein
interessanter Hinweis darauf war, dass es diese Ästhetik und ihre Kunst nicht immer schon gegeben hatte.
Aber mit Hegels philosophischem Projekt, die gesamte
Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen
einschließlich aller geschichtlichen Parallelkosmen und
aller sich beständig in Transformation befindlichen Feinigkeiten als absolute Einheit eines ‚objektiven Geists‘
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I,
1986, S. 237.
8
159
zu deuten, konnte sich Leafy Seadragon echt nicht anfreunden. Und erst recht nicht mit der Behauptung,
dass es die Rolle der Kunst sei, das Wesen der Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen. Überhaupt, schon von
‚einem Wesen der Wirklichkeit‘ zu sprechen, wo es doch
derart viele Wesen in allen möglichen Universen gab,
schien ihr ziemlich absurd. Auch zur Wirklichkeit hatte
Leafy Seadragon ein verqueeres Verhältnis – denn ihre
Wirklichkeit war wahr und fake zugleich.
Pink Fairy schaute sich um und fragte in die Runde:
„Könnten wir jetzt endlich über Ästhetik diskutieren,
statt uns durch Gespenstergeschichten vom objektiven
Geist und seiner Selbstgewissheit aufhalten zu lassen?
Konzepte wie die des aufgeklärten, autonomen Individuums sind doch nervig und gruselig zugleich. Ich bin
nämlich kein autonomes Individuum! Im Gegenteil, ich
kann und will gar nicht ohne euch sein!“ Die Armadillage war hörbar erfreut über diese Liebeserklärung und
konnte sich nur mit äußerster Anstrengung zurückhalten, Pink Fairy nicht mit Tausenden von ausgespuckten
Zitaten zu beschenken, in denen der Begriff ‚Ästhetik‘
vorkam. Aber das wäre jetzt bestimmt nicht gut angekommen. Die Diskussion war ohnehin schon wieder
viel weiter.
Leafy Seadragon überlegte nämlich gerade laut, ob sie
alle zusammen vielleicht gar nicht rauskommen konnten aus den philosophischen Projektionen des bürgerlichen Zeitalters auf die Welt der antiken Tragödie und
all dem Ideal-Zeug, das angeblich die Voraussetzung für
Freiheit und Autonomie sein sollte. Oder hatte sich das
geändert? „Klar“, meinte Pink Fairy, „sonst würde es
uns nicht so verdammt schwerfallen, uns diese angeblich universelle Währung einer Ästhetik der autonomen
160
Kunst vorzustellen.“ Das fuhr direkt in die Blätterfetzlein von Leafy Seadragon, die plötzlich so glitterten,
dass auch die Armadillage emphatisch zu blinken begann. Leafy Seadragon konnte jetzt offensichtlich sehr
schnell denken, denn ihre Körperteilchen flatterten wie
wild. Sie zählte eins und eins zusammen und alle spürten, dass jetzt sicher nicht zwei herauskam. „Wenn schon
wir nicht autonom sein wollen, wie soll das dann bei der
Kunst gehen? Und warum sollte ich mir mit euch etwas
vorstellen oder wünschen wollen, das sich selbst genug
ist und von und mit uns gar nichts will?“ Lampe* fühlte sich genötigt, die Begeisterung von Leafy Seadragon
und Pink Fairy etwas zu bremsen. Bloß weil man sich
etwas nicht vorstellen kann, so belehrte er die anderen, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existierte.
„Mein Dienstherr hätte sich nie und nimmer vorstellen
können, dass es solche Wesen gibt, wie wir eines sind.
Gibt es uns deshalb nicht?“
Die Armadillage wollte sagen, dass sie sich gar nicht
so unverbunden mit der Geschichte der Ästhetik fühlte, denn ihr Server war voll mit Daten, die von dieser handelten. Aber alles um sie herum fühlte sich jetzt
eher so an, als wäre die Sache mit der autonomen Ästhetik wieder einmal völlig unwichtig geworden. Pink
Fairy, Leafy Seadragon und Lampe* hatten sich schon
in einen Film gebeamt, in dem eine Haushaltshilfe ihre
Madame umbringt. Lampe* liebte dieses Krimi-Genre,
und das steckte auch Leafy Seadragon und Pink Fairy
jedes Mal an. Noch bevor die Armadillage die Gewissheit denken konnte, dass ihre Daten nach dem nächsten
Shuttle-Crash ohnehin wieder wichtig für die anderen
werden würden, weil sie dann sicher erneut auf diese
Gruselgeschichte mit der Ästhetik zurückkämen, war sie
161
auch schon mitten im Film und durfte genau wie alle
anderen auch einmal die Haushaltshilfe spielen. Zum
Abspann des Films summten sie, etwas schräg und nicht
ganz einstimmig:
Typical girls try to be
Typical girls very well
Typical girls try to be
Typical girls very well 9
Diesen Song hatte die Armadillage einmal gefunden,
als sie ihren Datenspeicher nach Stichworten durchsuchte, die Lampe* ihr gefüttert hatte: ‚freie Schönheit (pulchritudo vaga)‘ und ‚bloß anhängende Schönheit
(pulchritudo adhaerens)‘.
Hier handelt sich um den Song „Typical Girls“ von The Slits:
https://www.youtube.com/watch?v=LOJs9oycX5E (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019).
9
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Burkhard Liebsch (Hg.): Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte. Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg: Felix
Meiner 2018, S. 109–125.
Stengers, Isabelle: „Experimenting with What is Philosophy?“,
in: Casper Bruun, Kjetil Rödje Jensen (Hg.): Deleuzian
Intersections: Science, Technology, Anthropology, New York:
Berghahn Books, 2010, S. 39–58.
Stengers, Isabelle: „Introductory Notes on an Ecology of Practices“, in: Cultural Studies Review 11(1), 2005, S. 183–196.
Stengers, Isabelle: „The Cosmopolitical Proposal“, in: Bruno
Latour, Peter Weibel (Hg.): Making Things Public. Cambridge, MA: MIT Press 2005.
Szymczyk, Adam: „Iterability and Otherness: Learning and
Working in Athens“, in: Quinn Latimer, Adam Szymczyk
(Hg.): Documenta 14 Reader, München: Prestel 2017.
Vazquez, Rolando und Walter Mignolo: „Decolonial AestheSis: Colonial Wounds/Decolonial Healings“, in: Social Text
Periscope 2013, online unter: https://socialtextjournal.org/
periscope_article/decolonial-aesthesis-colonial-woundsdeco
lonial-healings/ (zuletzt aufgerufen am 24.09.2019).
Virilio, Paul: Politics of the Very Worst, New York: Semiotext(e) 1999.
Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. Die großen
Philosophen in Alltag und Denken, München: dtv 1975.
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Zimmermann, Tanja: Der Balkan zwischen Ost und West: Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, Köln: Böhlau 2014.
Zuck, Rochelle Raineri: „Poetic Economics: Phillis Wheatley
and the Production of the Black Artist in the Early Atlantic
World“, in: Ethnic Studies Review 33(2), 2010, S. 143–168.
Links:
Al Qadiri, Fatima: http://fatimaalqadiri.com/music/fatima-alqadiri/asiatisch/file/about-asiatisch/ (zuletzt aufgerufen am
26.09.2019).
„Respect“ – Aretha Franklin; https://www.youtube.com/
watch?v=6FOUqQt3Kg0 (zuletzt aufgerufen am 16.10.2019).
„Roundtable on Kant and Race: Robert Bernasconi and
Charles Mills“, 2015; https://www.youtube.com/
watch?v=NJJ3cdIafBo (zuletzt aufgerufen am 05.10.2019).
Staubgold: http://www.staubgold.com/en/album/154/resolutio
nary-songs-1979-1982/ (zuletzt aufgerufen am 25.10.2019).
„The Taki Onqoy Movement“, Challenging Christian Hegemony
Blog; http://christianhegemony.org/the-taki-onqoy-move
ment (zuletzt aufgerufen am 07.10.2019).
„Typical Girls“ – The Slits; https://www.youtube.com/
watch?v=LOJs9oycX5E (zuletzt aufgerufen am 16.10.2019).
173
transversal texts
transversal.at
Aus dem Programm 2019
Verweigerungsgeste, aber nicht ein Nicht-Tun. Der Kunststreik
Sofia Bempeza
Geschichte(n) des Kunststreiks
, Unterbrechung und Sichtbarmachung der Kunstproduktion.
Sofia Bempeza
Geschichte(n) des Kunststreiks
Sofia Bempeza
Mit einem Vorwort
von Athena Athanasiou
Geschichte(n) des Kunststreiks
Die Monografie Geschichte(n) des Kunststreiks versammelt historische wie gegenwärtige Positionen der Verweigerung, der Sabotage, des
Dissenses und der politischen Organisation in der Kunst. Dabei ist es
das erklärte Ziel der Autorin, zur heutigen Diskussion über (scheinbar)
selbständige, kreative Arbeit im Kunstfeld beizutragen. Sowohl als ironische wie als ernsthafte ‚Attacke’ erweist sich der Kunststreik dabei als
eine Handlung, die die Produktion, Rezeption und Vermarktung von
Kunst genauso hinterfragt wie das Künstlersubjekt als Arbeiter_in. Die
von Bempeza diskutierten Kunststreiks setzen sich mit Museen, Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt auseinander – sei es in der Form
radikaler Institutionskritik, in Gestalt der symbolischen Kunstverweigerung und des ästhetischen Widerstands oder als organisierte kulturpolitische Intervention. Das Buch beleuchtet Kunst als eine Sphäre der
Produktion und markiert das Verhältnis von Kunst zu produktiver und
unproduktiver Arbeit. Im Hinblick auf das Verständnis von Kunst als
Arbeit werden sowohl die Bedingungen der künstlerischen Produktivität als auch die Widersprüche der kreativen Lohnarbeit verhandelt.
Bempezas Aktualisierung des Streikbegriffes erweist sich selbst insofern als politisches Handeln, als ihr Buch die Produktionsverhältnisse und Distinktionsmechanismen des Kunstfeldes sichtbar macht und
unterbricht.
ISBN: 978-3-903046-22-1
Dezember 2019
194 Seiten, broschiert, 12,- €
transversal texts
transversal.at
Aus dem Programm 2017
Geschichte der Menschheit hat jemals so viel Zeit der Arbeit
Unglück zuteilwurde, im Kapitalismus geboren zu sein.
Menschheit zu erzwungener Arbeit verurteilt,
en Produktionsniveau. Anstatt Zeit freizugeben, hat jegliche
issenschaftliche Innovation den Zugriff auf unsere
usgeweitet.
Marcel Duchamp und
die Verweigerung der Arbeit
Maurizio Lazzarato
Maurizio Lazzarato
Marcel Duchamp und
die Verweigerung der Arbeit
Maurizio Lazzaratos Auseinandersetzung mit Marcel Duchamp liest dessen Feier der Faulheit in der Kunst als radikalen Alternativentwurf zur
operaistischen Losung einer „Verweigerung der Arbeit“. Mit Duchamp
lassen sich einerseits kritische Perspektiven auf einen erweiterten und
transformierten Arbeitsbegriff gewinnen, der in neoliberalen Verhältnissen zusehends an „kreativer“ Arbeit modelliert wurde. Andererseits
wirft die Verweigerung Duchamps Schlaglichter auf eine grundlegende
Zweideutigkeit innerhalb der kommunistischen Tradition: „Ist das Ziel
die Befreiung von der Arbeit oder die Befreiung durch sie?“ Lazzaratos
Essay nimmt diese Problemfelder zum Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Bedingungen und Möglichkeiten von Handlung, Zeit und
Subjektivität im gegenwärtigen Kapitalismus – und damit nicht zuletzt
für die Frage: Was heißt es heute, Arbeit zu verweigern?
ISBN: 978-3-903046-11-5
Dezember 2019
99 Seiten, broschiert, 10,- €
transversal texts
transversal.at
Aus dem Programm 2015
oloniale Anthropophag_in, die für die Besetzung der dominanten
Realität zu verändern im Dissens zu Normen der Sprache
malisierungsdiskursen im Allgemeinen, im Dissens zu
en und zu Assimilationswünschen und zu Integrationsbemühun-
ene Sprechen in bestimmte Diskurse einschreibt.
ber andere Positionen. Die Spannung zwischen dem Bestreben,
sse zu kritisieren und verändernd auf sie einzuwirken, und
arf oder der Notwendigkeit Anderer nach schnellstmöglicher
e Verhältnisse. Widersprüche auszuhalten und als
betrachten.
Aus der Praxis im Dissens
Rubia Salgado / maiz
Rubia Salgado / maiz
Aus der Praxis im Dissens
Herausgegeben von Andrea Hummer
Der Kampf um Anerkennung, das Wissen um Unterwerfung, die Umarbeitung der Anrufungen, die Fragen nach widerständiger Handlungsfähigkeit, das Annehmen einer strategischen Identität als Ausgangsbasis
der politischen Artikulation und das Abtasten der Grenzen eines (selbst)
proklamierten strategischen Essenzialismus, das Ringen um Protagonismus und seine möglichen Definitionen und Austragungen, das Zelebrieren einer anthropophagischen Haltung und das Hinterfragen dieses
Konzeptes, der Horizont der gegenhegemonialen Wissensproduktion
und der Kulturarbeit abseits multikulturalistischer Konzepte und Praxen,
das Sich-Widersprechen, das transformative Aneignen der hegemonialen Sprache, das Betrachten von Sprache als realitätskonstituierend, das
Befragen des Lehrens der hegemonialen Sprache als Zurichtung. Die
Bemühung um ein Sprechen und ein Handeln im Widerstand und im
Dissens zur herrschenden Selbstverständlichkeit der Diskriminierungen.
Ein Schreiben im Kollektiv verortet, eingebettet, eingerahmt. Fragen,
Nachdenken und eroberte Perspektiven aus dem Denken und Handeln
in einer Selbstorganisation.
ISBN: 978-3-903046-02-3
September 2015
274 Seiten, broschiert, 15,- €
transversal texts
transversal.at
Aus dem Programm 2016
zess und Verkettung instituierender Ereignisse meint einen absoluten
tzes zur Institution: Er setzt sich nicht gegen die Institution, er flieht die
ukturalisierung. Das heißt vor allem, den Modus der Instituierung als
rdnung zu hinterfragen, und damit auch den Zusammenhang von
instituierender Praxis, von Zusammensetzung und Einsetzung. Wenn
Prozess, als Strom und als Einschnitt, Ereignis verstehen lässt, so ist es
ierung, in dem die Vorentscheidung dafür fällt, wie sich Kooperation,
twickeln, wie das con- in konstituierende Macht (als Zeichen des GeInstituierung steht.
Stefan Nowotny
Gerald Raunig
Instituierende Praxen
Stefan Nowotny / Gerald Raunig
Instituierende Praxen
Bruchlinien der Institutionskritik
Neuauflage mit neuem Vorwort
Was heißt Institutionskritik? Diese Frage lässt sich heute nicht mehr unüberprüft entlang der klassischen Gesten der Negation und Verwerfung
des Institutionellen einerseits sowie der Wiedereingliederung von Kritik
in institutionelle Apparaturen andererseits stellen. Sie ist zur Frage nach
einer Kritik geworden, die sich nicht mehr primär über die Distanznahme des Urteilens vollzieht, sondern über eine Praxis, die sich ins Kritisierte immer schon involviert weiß. Und zugleich ist sie zur Frage nach
einer Affirmation geworden, die nicht mehr Komplizenschaft mit dem
Bestehenden bedeutet, sondern die Aktualisierung von sozialen Potenzen, die ein differenzielles Wissen über institutionelle Zusammenhänge
entfalten. In der Neuauflage ihres Buchs verdichten Stefan Nowotny und
Gerald Raunig für diese Form der Institutionskritik den Begriff der instituierenden Praxen, über die kanonisierten Formen „institutionskritischer
Kunst“ hinaus reichend, indem er diese selbst in eine breitere historischpolitische Perspektive stellt.
ISBN: 978-3-903046-04-7
Frühjahr 2016
312 Seiten, broschiert, 15,- €