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Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb?

2020, Alpha Omega

This article aims at further understanding the meaning and function of the verb “to be” in Aristotle’s Metaphysics: does it express mainly or even exclusively existence or is it used as a copula, linking a subject and predicate? Since the birth of Greek literature, the copula-use has been by far the more common, and so it is also with Aristotle. He even provides us with the nucleus of a theory of the copula, which is not the case with existence in the strict philosophical sense. Analyzing Met. V, 7, VI, 4 and VIII, 2, I conclude that wherever Aristotle tries to determine, what, for being as being, it means “to be”, he refers not to existence, but to some concrete being-such, where the verb “being” functions as a copula. So while metaphysical being does also consistently carry an existential force, regarding its syntactic function it is nonetheless copulative through and through.

Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? Albert Gutberlet, L.C. Οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ πεφατισμένον ἐστιν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν (Parmenides, Περὶ φύσεως, Frgm. 6.35-36)1. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist, wirst du das Erkennen finden2. Ein Wesensmerkmal des griechisch-römischen Kulturerbes ist die Tradition der Allgemeinwissenschaft. Sie beginnt mit dem Blick der Präsokratiker auf das All (πάντα) und dessen Rückführung auf einen einzigen Urgrund (ἀρχή). Es gilt hier, (a) alles (b) unter einen Begriff (λόγος) zu bringen, der dann seit Parmenides das Sein (εἶναι) ist. Mit Parmenides wird die Allgemeinwissenschaft zur Metaphysik, der Lehre vom Seienden (ὂν). Aristoteles formalisiert die Seinslehre als »Wissenschaft, welche das Seiende als solches betrachtet und das demselben von sich aus Zukommende« (»ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν 1 H. Diels (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1903, 124. 2 Übersetzung: E. Heitsch (Hrsg., Übs.), Parmenides, Die Fragmente: griechischdeutsch, Artemis, München-Zürich 19952, 30. Alpha Omega, XXIII, n. 3, 2020 - pp. 441-481 Albert Gutberlet, L.C. 442 καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ᾽ αὑτό«, Aristoteles, Metaphysik. IV, 1, 1003a213, s. auch Met. IV, 2, 1004b15-17 und 1005a13-14)4. Der folgende Aufsatz soll der erste einer Reihe von Publikationen sein, die schließlich in dem Versuch einer zeitgemäßen Aktualisierung der Metaphysik münden soll: (a) in einer Feinabstimmung ihres Ansatzes und (b) ihrer Methode, und (c) in einer nach hinten heraus offen bleibenden Durchführung derselben. Der erste notwendige Schritt hierzu ist eine vorläufige Klärung der Worte „sein“, „seiend“, „Seiendes“. Dies wiederum erfordert eine intensive Diskussion der wichtigsten diesbezüglichen Positionen im Verlaufe der Philosophiegeschichte. In dieser Diskussion soll Aristoteles den Anfang machen (nicht freilich ohne eine klärende „Vorgeschichte des Seins“ im antiken Griechenland, s. u. Abschn. 1: Der Sinn des griechischen „εἶναι“). Unsere erste Frage an Aristoteles ist eine typisch neuzeitliche, postkantianische: Von Avicenna über Scotus und Suárez bis Wolff sah man das definierende Element des metaphysischen Seins vorwiegend in der existentia (sei sie nun substantiell oder akzidentell, real oder ideal, wirklich oder möglich)5. Im Folgenden zitiere ich dieses Werk unter dem Kürzel „Met.“. Für den griechischen Text folge ich, wenn nicht anders angegeben, der Ausgabe von W.D. Ross: Aristotle’s Metaphysics, Clarendon, Oxford 1924. Für die deutsche Übersetzung, wo nicht eigens angemerkt: H. Seidl (Hrsg.), Aristoteles’ Metaphysik, Neubearbeitung der Übersetzung von H. Bonitz, mit Einleitung und Kommentar, Meiner, Hamburg 20094. 4 Die Formulierung aus Met. VI, 1: »Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung« (1025b3) wandelt nicht die Intention der Metaphysik, noch fügt sie ihr etwas in Met. IV völlig Unerwähntes hinzu (s. 1003a26-31), sondern diese Prinzipien und Ursachen fallen ja unter das, was dem Seienden von sich aus zukommt (so Aristoteles ausdrücklich hinsichtlich der ersten Prinzipien, der Axiome im Allgemeinen [Met. IV, 3, 1005a21-23] und des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch im Besonderen [ebd. 1005b15-23]). 5 Avicenna erklärte die Existenz (wuğūd) bzw. das Existierende (mawjūd) zum eigentlichen Gegenstand der Metaphysik (s. Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele [Al-Shifa’], vierte Summa: Über die metaphysischen Dinge [Al-Ilahiyyāt], Übs. M. Horten, Verlag Rudolf Haupt, Halle 1906, 1. Abhandlung, Kap. 1, S. 14, Kap. 2, 19-20); das Seiende ist für ihn, was entweder in der Seele oder außer ihr existiert (s. ebd. Kap. 5, 50). Scotus seinerseits hat dieses Seiende (ens = res), den neuzeitlichen Existenzbegriff antizipierend, ausdrücklich gefasst als: »was dem Nichts entgegengesetzt ist« (L. Wadding [Hrsg.], Joannis Duns Scoti Opera Omnia, Bd. XXV, Quaestiones Quodlibetales, Vivès, Paris 1895, quaest. 3, nn. 1-2, S. 116). Doch »schlechthin nichts« ist für ihn nicht einfach das Unwirkliche, sondern nur das, was nicht einmal möglich ist, weil es vom Begriff her widersprüchlich ist. Seiendes ist also letztlich auch wieder (a) was außerhalb des Denkens existiert und (b) was innerhalb des Denkens existiert (das Mögliche weil Nicht-Widersprüchliche). 3 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 443 Ob dieses Seinsverständnis auch schon in der Absicht des Stagiriten lag, oder ob dieser vielleicht eher die kopulative bzw. universal-prädikative Funktion des Verbs im Sinn hatte – dies die These, zu der ich neige – soll in diesem Aufsatz untersucht werden. 1. Der Sinn des griechischen „εἶναι“ Um uns für diese Untersuchung zu rüsten, sollten wir wenigstens kurz die Frage behandeln, was das antike Griechentum allgemein unter dem Verb „εἶναι” verstand bzw. nicht verstand. In diesem Sinne hier einige Stichpunkte zu dem, was sich in jüngerer Vergangenheit in Philologie und Philosophie hinsichtlich der Interpretation des „εἶναι“ getan hat. Für Suárez ist die ratio formalis des ens in quantum ens nun ganz ausdrücklich die Existenz, sei es die wirkliche Existenz, sei es die Fähigkeit (aptitudo) zu derselben (S. Rábade, S. Caballero, A. Puigcerver [Hrsg.], Disputationes Metaphysicae, Gredos, Madrid 1960, Bd. I, disp. II, sect. I, n. 9, S. 368-370; sect. IV, nn. 4, 5, 7, 9, 11, S. 417-423; Bd. V, disp. XXXI, sect. I, n. 2, S. 12-13). Wolff schließlich drückt dies so aus, dass der Gegenstand der »Weltweisheit« alles möglicherweise Existierende ist, »es mag entweder würklich da seyn, oder nicht« (C. Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, Olms, Hildesheim 1965, Vorbericht von der Weltweisheit, §§ 1 & 3, S. 115). Diese metaphysische Tradition wird auch oftmals – und mit Recht – „Wesensmetaphysik“ genannt und in diesem Sinne einer „Existenzmetaphysik“ sogar entgegengesetzt, sofern die essentia realis in ihrer Nichtwidersprüchlichkeit und folglichen aptitudo existentiae das ihr zugrundeliegende ens bildet. Diese Bezeichnung ist völlig angemessen, wenn wir das materielle Objekt der Metaphysik, das Seiende in den Blick nehmen: „Seiendes“, „Sache“ und „reales Wesen“ sind hier ein und dasselbe. Wenn wir aber das formelle Objekt der Metaphysik betrachten: das Sein, welches das Seiende zu einem solchen macht, dann bleibt dies doch die Existenz: Existenz im Denken oder Existenz in der Realität. Die essentia realis abstrahiert ja nicht von der Existenz überhaupt, sondern nur von der realen Existenz. Die mögliche Existenz ist dagegen sogar ihr definierendes Merkmal: Sie ist ein auf die reale Existenz hingeordnetes Wesen. Das „sein“ wird in ihr daher nicht als Kopula, sondern als Existenzverb aufgefasst, was für uns hier das Entscheidende ist. Albert Gutberlet, L.C. 444 1.1 Die Neuinterpretation des griechischen „εἶναι“ nach Mill und Russell Seit John Steward Mill und Bertrand Russell (Mitte 19., Anfang 20. Jh.) hat diese Interpretation sich gewandelt. Mill und Russell haben mit aller Strenge die neuzeitliche Unterscheidung zwischen dem kopulativen und dem existenzialen „ist“ als Maßstab an die traditionelle Seinslehre angelegt und ein vernichtendes Urteil über sie gesprochen: Das Wort „sein“ sei missverständlich (ambiguous), und daher gehe der Metaphysik von Anfang an das einheitliche Subjekt ab, das von einer Wissenschaft gefordert ist. Mill hat die herkömmliche Metaphysik als »unseriöse Spekulation über die Natur des Seins« gescholten, »die dadurch entstand, dass man die Doppelbedeutung des Wortes sein übersehen hat«, dadurch also, dass man annahm, dass, wenn es existieren bedeutet und wenn es eine-bestimmte-Sache-sein bedeutet [= die kopulative Funktion, u. K.], es trotzdem im Grunde ein und derselben Idee entspreche, und dass man für es eine Bedeutung finden müsse, nach der es zu all diesen Fällen passt6. Russell befand in den Principia Mathematica: Das Wort ist ist fürchterlich missverständlich, und es bedarf großer Sorgfältigkeit, um seine verschiedenen Bedeutungen nicht zu verwechseln7. »…the frivolous speculations concerning the nature of Being […] which have arisen from overlooking this double meaning of the word to be; from supposing that when it signifies to exist, and when it signifies to be some specified thing […] it must still, at bottom, answer to the same idea, and that a meaning must be found for it which shall suit all these cases« (J. S. Mill, A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, Longmans, Green, Reader, and Dyer, London 1872, Bd. I, 86). 7 »The word is is terribly ambiguous, and great care is necessary in order not to confound its various meanings« (B. Russell, The Principles of Mathematics, Cambridge University Press, 1903, Bd. I, Nr. 64, S. 65, Fußnote). 6 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 445 In seiner Introduction to Mathematical Philosophy ging er schließlich so weit, es eine »Schande für das Menschengeschlecht«8 zu nennen, dass wir dasselbe Wort „ist“ für so völlig verschiedene Ideen benutzen9. Im Nachhall dieses Mill-Russellschen Paukenschlages erhob sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erste Welle von Neuinterpretationen der antiken Ontologie, die ihren Klimax mit Größen wie F. M. Cornford, W. D. Ross, W. K. C. Guthrie, Harold Cherniss, Ingemar Düring und Gilbert Ryle erreichte. Hier las man die Kopula-Existenzverb – Unterscheidung bewusst in die antiken Texte hinein10, und zwar entschied man sich generell für die Existenz und gegen die Kopula als 8 172. B. Russell, Introduction to Mathematical Philosophy, Allen & Unwin, London 1919, Es ist bekannt, dass Russel die Plurisignifikanz des Wortes „sein“ auf vier nicht auf eine einzige Grundbedeutung rückführbare Sinne ausdehnte (Existenz, Identität, Prädikation und formelle Implikation). Doch meines Erachtens schießt diese Vervielfältigung der Seinssinne weit über das Ziel hinaus. Copulare heißt einfach verbinden, das Bindewort als solches verbindet nur; es stellt irgendeine Einheit her, sei es Identität, logische Implikanz oder ein bloßes Zukommen. Es genügt daher ein einziger Kopulabegriff, eine einzige Seinsfunktion (was Owen den connective sense genannt hat), eine einzige grammatische Struktur, welche Identität, Prädikation und formelle Implikation gleichermaßen einschließt. Für den Unterschied zwischen Identitätsaussage, Prädikation und formeller Implikation gilt nämlich, was u. a. Kahn, Hintikka, Brown und Dancy herausgestellt haben: er beruht auf dem Satz- oder Redezusammenhang als ganzem und nicht auf angeblich verschiedenen Wortbedeutungen. Dass z. B. der Satz S1: „Der heutige Papst ist Jorge Bergoglio“ ein Identitätssatz ist, und dass der Satz S2: „Jeder Papst ist Priester“ eine formelle Implikation enthält, ergibt sich allein und unmissverständlich aus dem Zusammenhang zwischen den verbundenen Termen; ein Missverständnis stellt sich nur ein, wenn man diesen Zusammenhang missversteht: Wenn einer zum Beispiel glaubt, jeder Priester sei Papst, dann wird er S2 als Identitätssatz missverstehen. Daran trägt aber das Bindewort „… ist …“ nicht die geringste Schuld. Denn in S1 sagt das „…ist …“ nicht: „…ist dasselbe wie …“, sondern eben bloß: „…ist …“. In S2 sagt es nicht: „…ist notwendigerweise …“, sondern auch wieder nur: „…ist …“. An sich ist es weder ein Identitäts-ist noch ein Implikations-ist, sondern einfach nur Kopula. Anders ist es zwischen dieser Kopula-im-weiten-Sinne und dem Existenzverb. Zwar spielt auch hier der Satzzusammenhang eine Rolle, denn dass der Satz „Gott ist!“ ein Existenzialsatz ist, das erkenne ich aus dem Fehlen jeglicher weiteren Bestimmung des Seins; dass der Satz „Gott ist gut“ hingegen ein Kopulativsatz ist, erkenne ich aus der Anwesenheit einer solchen Bestimmung („…gut“). Doch in diesem Fall wirkt sich der Gesamtsinn eindeutig auf den Sinn (bzw. Funktion) des „ist“ selber aus. Im ersten Fall heißt „…ist“, dass ein gewisses Subjekt kein bloßes Nichts ist; im zweiten Fall zeigt das „…ist …“ an, dass ein Attribut seinem Subjekt zukommt. An und für sich genommen handelt es sich um zwei verschiedene „ist“. Wir werden daher im Folgenden die Dualität Kopula – Existenzverb klar beibehalten, uns aber strikt auf sie beschränken. 10 S. hierzu kritisch: J. Hintikka, »The Varieties of Being in Aristotle«, in S. Knuuttila, J. Hintikka (Hrsg.), The Logic of Being, Historical Studies, Reidel, Dordrecht 1986, 81. 9 446 Albert Gutberlet, L.C. constitutivum des metaphysischen Seins (so z. B. Ross11, Düring12, Guthrie13). Nicht zu unterschätzen ist dabei die Tatsache, dass die RossÜbersetzung der aristotelischen Metaphysik in die im angelsächsischen Bereich bis heute grundlegend-autoritative Revised Oxford Translation eingegangen ist14. Gleich im ersten Kapitel des vierten Buches, wo Aristoteles den Gegenstand der Metaphysik als »τὸ ὂν ᾗ ὂν« bestimmt, wird das entsprechende »τὰ ὄντα« klar interpretativ als »existing things« übersetzt (1003a28-29)15. Daher verwundert es nicht, dass viele Autoren aus diesem Sprachraum bis heute das metaphysische Sein als Existenz auslegen. So beispielsweise David Bostock16, Gareth Matthews, Christopher Shields, Julie Ward etc.17 Zudem verlief die erste post-Russellsche Interpretationswelle der antiken Philosophie parallel mit einer neuen sprachgenetischen These, die auf Autoren wie Berthold Delbrück, Karl Brugmann und Antoine 11 S. Kapitel VI (Metaphysics) seines Klassikers Aristotle, Methuen, London 1923, 154186, insb. 154-159, 164-165. 12 Hier zwei besonders klare Sätze aus seiner Monografie über Aristoteles: (1) »Der prōtos philosophos, oder nach späterer Terminologie der Metaphysiker, ist also derjenige, der allgemein über den Begriff Existenz im primären Sinn forscht« (I. Düring, Aristoteles, Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 597). (2) »An zwei Stellen wird also klar ausgesprochen, daß die Erste Philosophie „allgemein“ ist, d. h. über den Begriff der Existenz in allgemein-abstraktem Sinne handelt« (ebd. 599). 13 W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. VI: Aristotle, an Encounter, Cambridge University Press, 1981, Bd. 6, Kap. XI (Substance, 203-222), insb. 203-204, 207208, 221-222. 14 J. Barnes, The Complete Works of Aristotle, The Revised Oxford Translation, Princeton University Press, Oxford 1984, Bd. II. 15 In derselben interpretativen Linie auch die Übersetzung von Met. IV, 2, 1003b27-28; 4, 1008b3-5; V, 29, 1024b21-27. 16 Bostock liefert zu Büchern VII und VIII eine Paralleloption zur Ross-Übersetzung. In seinem Kommentar erklärt er zwar zunächst, dass Aristoteles das Sein nicht nach der Mill-Russel Unterscheidung einteilt (d. h.: in Existenz, Identität und Kopulation, 45). Trotzdem ist er der Meinung, dass das für die Metaphysik relevante Sein ausschließlich das existenziale ist (s. D. Bostock, Aristotle, Metaphysics, translated with a Commentary, Clarendon, Oxford 1994, 45-52). 17 G. Matthews, »Aristotle on Existence«, in Bulletin of the Institute of Classical Studies, 40 (1995), 233-238; C. Shields, Order in Multiplicity. Homonymy in the Philosophy of Aristotle, Clarendon, Oxford 1999, insb. 244-260; J. Ward, Aristotle on Homonymy: Dialectic and Science, Cambridge University Press, 2008, Abschn. 4.1, The Homonymy of Being: Preliminary Problems, insb. S. 105. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 447 Meillet18 zurückgeht, nach welcher das Verb „ἔστι“, „est“, „ist“, usw. (aus der indoeuropäischen Wurzel *es-) ursprünglich einen »anschaulichen«19, »materiellen«20 Sinn gehabt habe, der uns nicht genau bekannt sei, weil nicht literarisch belegt. Schon Delbrück und Brugmann tendierten allerdings klar dahin, den Ursinn des *es- im „Vorhandensein“ bzw. der „Existenz“ zu vermuten, und diese Tendenz hat sich dann zu einer bis heute dominanten Tradition verdichtet (s. z. B. Benveniste21, Ruijgh22, De Rijk23 et al.). Die Nominalkopula hingegen, in welcher sich dieser materielle Vorstellungsinhalt verflüchtigt habe, sei vielmehr eine Spätgeburt im indoeuropäischen Sprachraum. Diese in vieler Hinsicht wertvolle sprachgeschichtliche These wurde dann in philosophischen Kreisen manchmal im Sinne der undifferenzierten Theorie missverstanden, Existenz im streng philosophischen Sinne sei die ursprüngliche Bedeutung des „εἶναι“ und müsse folglich auch der Gegenstand der Metaphysik sein. (Hierzu hat sich insbesondere Charles Kahn kritisch geäußert24). Während also die Hypothese einer zwischen Kopula und Existenzverb streng unterscheidenden antiken Ontologie noch weiterwirkte, wurde sie jedoch eigentlich Mitte der Sechzigerjahre bereits von A. Meillet, La phrase nominale en indoeuropéen, Librairie H. Champion, Paris 1906. K. Brugmann, Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Trübner, Straßburg 1904, 627. 20 B. Delbrück, »Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen«, in K. Brugmann, B. Delbrück (Hrsg.), Grundriss der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen, Trübner, Straßburg 1900, Bd. 5, 11; K. Brugmann, Die Syntax des einfachen Satzes im Indogermanischen, De Gruyter, Berlin-Leipzig 1925, 70, 75, 77. 21 E. Benveniste, Problèmes de linguistique générale, Gallimard, Paris 1966, 160, 189. 22 C. Ruijgh, Rezension von C. Kahn, The Verb ‘Be’ in Ancient Greek, Reidel, Dordrecht/Boston 1973, in Lingua 48 (1979), 55f.; »Sur la valeur fondamentale de είναι: Une réplique«, in Mnemosyne 37 (1984), 267. 23 L. de Rijk, »The Anatomy of the Proposition. Logos and Pragma in Plato and Aristotle«, in L. de Rijk, H. Braakhuis (Hrsg.), Logos and Pragma. Essays on the Philosophy of Language in Honour of Professor Gabriel Nuchelmans, Nijmegen 1987, 348-350; Aristotle: Semantics and Ontology, Brill, Leiden 2002, Bd. I, 33. 24 »As I see it, confusion reigns both in the traditional account of the verb given by linguists and philologists, and also in much of the philosophical exegesis of ancient theories of being. The two lines of confusion have infected one another, since the linguists have borrowed their notions of existence and the copula from philosophy (and from rather superficial philosophy at that), while philosophers have in turn made use of linguistic doctrine as a basis for their own account of Greek ontology« (C. Kahn, »Retrospect on the Verb ‘to Be’ and the Concept of Being«, in S. Knuuttila, J. Hintikka, The Logic of Being, 1). 18 19 448 Albert Gutberlet, L.C. einer neuen Interpretationswelle abgelöst, von Forschern die klar erkannten, dass eine solche Unterscheidung so ausdrücklich weder bei Aristoteles noch bei Plato, noch bei sonst einem Griechen der klassischen Periode stattgefunden hat. Entscheidende Meilensteine dieses Umdenkens waren G. E. L. Owens Aristotle on the Snares of Ontology (1965)25, Michael Fredes Habilitationsschrift von 1967: Prädikation und Existenzaussage26, Charles H. Kahns Vortrag: Why Existence Does Not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy (1976)27, Lesley Browns Being in the Sophist (1986)28, Jaako Hintikkas The Varieties of Being in Aristotle (1986), On Aristotle’s Notion of Existence (1999)29 und sein mit Risto Vilkko verfasster Aufsatz Existence and Predication from Aristotle to Frege (2006)30. Diese und andere Autoren konvergieren – in verschiedenen Schattierungen – in dem klaren Ergebnis, dass selbst Plato und Aristoteles einen Unterschied zwischen Kopula und Existenzverb nie ausdrücklich-systematisch als Missverständlichkeit im Sinne von Mill und Russell anerkannt haben. Das Sein, welches dem metaphysischen Blick unterliegt, ist in der Tat für die Griechen weder das rein kopulative noch das rein existenziale Sein, sondern ein mehr oder weniger einheitlicher Begriff, in dem mehrere Seinssinne bis zu einem gewissen Grade zusammenfließen. 1.2 Der kopulative und existenziale Seinsgebrauch im antiken Griechenland Die Aufmerksamkeit, die Aristoteles in seiner Prima Philosophia der Kopula schenkt, scheint mir enorm wichtig, um den Sinn der Metaphysik als solcher zu erfassen. Doch um den Stellenwert der Kopula in der griechischen Ontologie im Allgemeinen und bei Aristoteles im Besonderen wertschätzen zu können, kommen wir meines Erachtens nicht an dem sorgfältigsten und geduldigsten der soeben erwähnten In J. R. Bambrough, (Hrsg.), New Essays on Plato and Aristotle, Humanities Press, London 1965, 69-90. 26 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 27 In Archiv für Geschichte der Philosophie, 58 (1976), 323-334. 28 In Ancient Philosophy 4 (1986), 49-70. 29 In The Review of Metaphysics, 52 (1999), 779-805. 30 In Philosophy and Phenomenological Research, 73 (2006), 359-377. 25 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 449 Forscher vorbei: Charles H. Kahn31. Dieser sowohl philologisch als auch philosophisch außergewöhnlich beschlagene Kenner der antiken Ontologie hat sich seit Anfang der Sechzigerjahre bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2013 fast ausschließlich der philologisch-philosophischen Untersuchung des altgriechischen „εἶναι“ gewidmet, und wurde kürzlich (September 2019) für seine außerordentlichen Verdienste mit dem Werner Jäger Preis der Gesellschaft für antike Philosophie geehrt. Zwischen 1963 (Beginn der Vorbereitungen für seinen monumentalen Klassiker The Verb ‘Be’ in Ancient Greek) und 2008 (Postscript on Parmenides32) sind dabei entstanden: The Greek Verb ‘to Be’ and the Concept of Being (1966)33, The Thesis of Parmenides (1969)34, On the Terminology for Copula and Existence (1972)35, Language and Ontology in the “Cratylus” (1973)36, On the Theory of the Verb “To Be” (1973)37, The Verb ‘Be’ and Its Synonyms (1974)38, Why Existence Does Not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy (1976), Some Philosophical Uses of ‘To Be’ in Plato (1981)39, Retrospect on the Verb ‘To Be’ and the Concept of Being (1986)40, Being in Parmenides and Plato (1988)41, Parmenides and Plato Once More (2002)42 und A Return to the Theory of the Verb Be and the Concept of Being (2004)43. Er hat als einziger den schwierigen Spagat zwischen einer streng philosophischen Untersuchung des philosophischen „εἶναι“ und einer streng philologischen Untersuchung des vor-philosophischen „εἶναι“ gewagt. Während Delbrück seine sprachgenetischen Überlegungen immer wieder am altindischen Rigveda (dem ältesten uns überlieferten indoeuropäischen S. hierzu den Kommentar von Hintikka in »The Varieties of Being…«, 81. In C. Kahn, Essays on Being, Oxford University Press, 2009. 33 In Foundations of Language, 2 (1966), 245-265. 34 In The Review of Metaphysics, 22 (1969), 700-724. 35 In R. Walzer, S. Stern, A. Hourani, V. Brown (Hrsg.), Islamic Philosophy and the Classical Tradition, University of South Carolina Press 1972, 141-158. 36 In E. Lee, A. Mourelatos, R. Rorty (Hrsg.), Exegesis and Argument, Phronesis, Zusatzband I, 1973, 152-176. 37 In M. Munitz, Logic and Ontology, New York University Press 1973, 1-20. 38 Rezension in Review of Metaphysics 27 (1974), 614-615. 39 In Phronesis 26 (1981), 105-134. 40 In S. Knuuttila, J. Hintikka, The Logic of Being, 1-28. 41 In La Parola del Passato, 43 (1988), 237-261. 42 In G. Caston (Hrsg.), Presocratic Philosophy, Aldershot, Ashgate 2002, 81-93. 43 In Ancient Philosophy, 24 (2004), 381–405. 31 32 450 Albert Gutberlet, L.C. Text überhaupt, vermutl. 1500 v. Chr.) gemessen hatte, hat Kahn v.a. eine minutiöse Untersuchung und Klassifizierung aller Vorkommnisse des Verbes „εἶναι“ in den ersten zwölf Kapiteln der homerischen Ilias unternommen (ca. 700 v. Chr., gemeinsam mit der Odyssee »frühestes brauchbares Denkmal der [griechischen] Sprache«44)45. Auf diese Weise hat er versucht, »die grammatischen Prolegomena zum Studium der antiken Ontologie« und somit »den vor-theoretischen Ausgangspunkt für die von Parmenides, Plato und Aristoteles entwickelten Seinslehren« herauszuarbeiten46. Ohne auf die 1973 noch überzogene Polemik gegen Brugmann und Meillet einzugehen47, die Kahn 2003 selbst wesentlich revidiert hat48, möchte ich hier nur zwei bleibende, positive sprachhistorische Ergebnisse der kahnschen Forschung hervorheben, welche die Unhaltbarkeit der Vorstellung aufzeigen, die Existenz sei der Ursinn des Seins und das Ursubjekt der Metaphysik: (I) das statistische Überwiegen des Kopulagebrauchs bei Homer und (II) das späte Datum des Existenzverbs im strengen Sinne. (I) Kahn entdeckte im Rahmen seiner statistischen Untersuchung, dass unter Homers Verwendungen des Verbes „εἶναι“ die Kopulativkonstruktionen wenigstens 80 % und vielleicht über 85 % aller Instanzen ausmachen49. Unabhängig davon also, ob es eiC. Kahn, »Why Existence Does Not Emerge…«, 9. Außer den homerischen Epen der Ilias und der Odyssee hat Kahn aber auch noch viele andere Autoren untersucht, wie Hesiod, Aischylos, Sophokles, Herodot, Euripides, Kritias, Thukydides, Aristophanes, Lysias, Xenophon, Demosthenes, Menander etc. 46 Kahn schreibt: »When I began work on the Greek verb to be in 1963, in the project that took shape in the article “The Greek Verb ‘to be’ and the Concept of Being” and eventually resulted in a book on the Greek verb ‘to be’ in 1973, my aim was to provide a kind of grammatical prolegomena to the study of Greek ontology. I wanted to give a description of the linguistic facts concerning the ordinary use and meaning of the verb, apart from its special use by the philosophers, in order to clarify the pre-theoretical point of departure for the doctrines of Being developed by Parmenides, Plato, and Aristotle« (C. Kahn, »Retrospect on the Greek Verb…«, 1; s. auch »A Return to the Theory…«, 381). 47 Kahns Erstausgabe von The Verb ‘Be’…, 1973, 373-385. 48 Kahns Einleitung zur Neuausgabe von 2003 (Hackett, Cambridge), xxviii. 49 C. Kahn, The Verb ‘Be’…, 87; »Retrospect on the Greek Verb…«, 2-3. Interessant zum Vergleich: In Delbrücks Analyse des Rigveda stehen in Wirklichkeit auch nur acht Beispiele eines im weitesten Sinne „existenzialen“ Gebrauches ganzen 15 Beispielen des kopulativen Gebrauchs gegenüber. Nehmen wir zudem die Kopula ganz allgemein als Bindewort, dann fällt auch die Lokativkopula („Ich bin hier“ – „Sokrates ist auf dem Marktplatz“) unter die Kopulativkonstruktionen. In diesem Fall verschiebt sich das Verhältnis auf 6 : 17. Betrachten wir 44 45 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 451 nen „Ursinn“ des Seins gibt und worin er liegt, hat der Grieche schon Jahrhunderte vor Geburt der Ontologie beim Worte „εἶναι“ vorwiegend die Kopula im Ohr. Da ist es dann nicht mehr gerechtfertigt, a priori anzunehmen, Parmenides, Plato und Aristoteles dächten das metaphysische Sein ausschließlich im Sinne der Existenz. Zu erwarten ist vielmehr eine ähnlich gemischte spontane Auffassung wie die ihrer Zeitgenossen und Vorfahren. Und auch wenn höchstwahrscheinlich, wie Kahn zugesteht50, der Sinn des Seins einmal in prähistorischen Zeiten ausschließlich um die Vorhandenheit und das Da-sein kreiste, so ist das für einen Parmenides, Plato oder Aristoteles nicht unmittelbar bestimmend. Allenfalls ein bloßer »Schatten« dieses räumlich-sinnlichen Ursinnes fällt dann noch auf sie51; eigentlich bestimmend ist dagegen die sie direkt prägende Sprachtradition, und da ist die Kopula eindeutig vorwiegend. Noch konkreter: In den für die Bestimmung des metaphysischen Seins entscheidenden Büchern IV–VI der Metaphysik machen die Kopulativgebräuche meiner Rechnung nach 77,6 % der Seinsausdrücke aus52. Aristoteles wäre ein schlechter Kenner seiner eigenen Worte gewesen, wenn er da die Kopula in der Theorie zugunsten des Existenzverbes vernachlässigt hätte. (II) Delbrück und Brugmann sprechen von einem „anschaulichen“, „materiellen“ Ursinn des Seins (s. o.), weil sie von der allgemeinen und plausiblen sprachgenetischen Theorie ausgehen, dass das konkret-sinnliche Denken und Sprechen dem abstrakten vorausgeht. Und in der Tat: „Vor-Handen-heit“ und „Da-sein“ sind, wenn sie wörtlichräumlich verstanden werden, durchaus anschaulich und materiell. Die „Existenz“ im streng philosophischen Sinne ist es hingegen nicht. Sie dazu mit Kahn den Possessivgebrauch („Ich bin dein“) nicht als Existenzialgebrauch, sondern als eine Seinsfunktion a se, dann steht es 5 : 17. Rechnen wir außerdem vier weitere Beispiele des „ist“ als Lokativkopula hinzu, die Delbrück im Zusammenhang der Ortsadverbien anführt, kommen wir auf ein Verhältnis von 5 : 21, d. h. 24 % zu 76 %. Ob dieses Verhältnis für das Rigveda als Ganzes repräsentativ ist, vermag ich allerdings nicht zu sagen. 50 The Verb ‘Be’…, Einleitung zur Neuausgabe, xxvii-xxviii. 51 »…what we do have in the case of the nominal copula is a kind of shadow of the local sense in what linguists recognize as the stative aspect of einai« (ebd.). 52 Unter den 597 Vorkommnissen des Verbes „εἶναι“ in seinen verschiedenen Formen, die nach meinem Dafürhalten ohne ein aprioristisches Interpretationsschema eindeutig klassifizierbar sind, habe ich 463 kopulative, 117 existenziale (19,6 %) und 17 sonstige Wortgebräuche (2,8 %) gefunden. 452 Albert Gutberlet, L.C. ist die abstrakte Entgegensetzung gegen das bloße Nichts53. Existenz denkt erst, wer zuvor das reine Nichts gedacht hat. Das reine Nichts wiederum ist der Inbegriff der Abstraktion: die Abstraktion von allem. So abstrakt dachten der Ur-indoeuropäer und auch Homer noch nicht, so das Resultat der kahnschen Untersuchung54. Homers manchmal allein stehendes „ἔστι“ ist niemals im strengen – oder wie Kahn es ausdrückt – im abstrakten, spekulativen Sinne 53 S. hierzu Kahns Einleitung zur Neuausgabe von The Verb ‘Be’…, xxv, xxvii, sowie »A Return to the Theory…«, 397. Schon Avicenna setzte die Existenz (wujūd) dem Mangel (ʿadam) entgegen. In der Hochscholastik (beispielsweise bei Petrus Aureolus, 1280-1322) wird sie bereits ausdrücklich dem Nichts entgegengesetzt. Seit der Spätscholastik, in welcher sie zu einem zentralen philosophischen Begriff avancierte, und bis weit in die Moderne hinein ist das „esse extra nihil“ (das „über das nichts hinaus sein“ = „mehr als nichts sein“) das constitutivum der Existenz (so bei Thomas Cajetan [1469-1534], Domingo Báñez [1528–1604], Francisco Suárez [1548-1617], Johannes a Sancto Thoma [1589-1644], Antoine Goudin [1639-1695], Charles-René Billuart [1685-1757], Plácido Renz [1692-1748], Jacques-Paul Migne [18001875], Jacques Maritain [1882-1973] etc.). Bei Petrus Aureolus und Johannes a Sancto Thoma finden wir auch den Ausdruck „positio extra nihil“, der dann bei Kant zur „absoluten Position“ wird (s. W. Weischedel [Hrsg.], Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Insel-Verlag, Wiesbaden 1956, Bd. II, Kritik der reinen Vernunft, B 626, A 598, S. 533, sowie die vorkritische Schrift: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Erstdruck: Kanter, Konigsberg 1763, S. 8; historisch-kritische Edition, Meiner, Hamburg 2011, S. 17). Zwar haben der Existenzialismus und die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts die Existenz als spezifisch-menschliche Weise des Daseins umgedeutet, doch auch der transzendentale Existenzbegriff lebt heute weiter, vor allem in der formalen Logik, und zwar in Gestalt des sogenannten existenzialen Quantors (∃x): „∃xPx“ besagt, dass es zumindest ein Individuum (d. h. mehr als nichts) mit der Eigenschaft P gibt. Diese Formalisierung des Existenzbegriffes hat seine Ursprünge bei Boole und Frege und bestimmt das aktuelle logische Denken, insb. im mathematischen Bereich (s. C. Kahn, »Retrospect on the Greek Verb…«, 10-11; M. Bunge, Diccionario de Filosofía, Siglo XXI Editores, Buenos Aires 2001, Einträge: »cuantificador« und »cuantificador existencial«, S. 43, Eintrag: »existencia«, S. 73-75; J. Hintikka, R. Vilkko, »Existence and Predication from Aristotle to Frege«, in Philosophy and Phenomenological Research, 73 (2006), 369-375; G. Haeffner, Eintrag: »Dasein/Existenz«, in W. Brugger, H. Schöndorf, [Hrsg.], Philosophisches Wörterbuch, Alber, Freiburg/München 2010, 73). 54 Kahn erklärt, dass ein radikaler Skeptizismus, der Griechenland erst im dritten vorchristlichen Jahrhundert erreichte, eng mit der Herausbildung des Existenzbegriffs verbunden ist. (C. Kahn, The Verb ‘Be’…, Einleitung zur Neuausgabe, xxxi-xxxii; »A Return to the Theory…«, 403). Noch unmittelbarer sei das Denken des „Nichts“ im jüdisch-christlichen Begriff der Schöpfung als Entstehen-aus-nichts (fieri ex nihilo) für die begriffliche Formulierung der Existenz entscheidend gewesen (C. Kahn, »Why Existence Does Not Emerge…«, 323-324, s. auch C. Kahn, »The Greek Verb ‘to Be’…«, 256, 264; »A Return to the Theory…«, 403). Der Schöpfungsgedanke habe schließlich zur ausdrücklich-begrifflichen Unterscheidung zwischen Wesen und Existenz geführt, die zum ersten Mal bei Avicenna zutage tritt (s. C. Kahn, »The Greek Verb ‘to Be’…«, 262). All dies lag für den blinden Poeten aus Hellas aber noch in weiter denkgeschichtlicher Ferne. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 453 existenzial, denn nie geht es um die Hypothese der reinen Nichtigkeit, sondern immer um ein konkretes Vorhandensein, ein Irgendwoanwesend-sein: sei es, dass man fragt, ob [jemand] »noch lebt (ζώει) und [unter uns anwesend] ist (ἔστιν) oder schon tot ist (τέθνηκε) und im Haus des Hades (εἰν Ἀΐδαο δόμοισιν)« (Odyssee, 24.263-264)55; sei es, dass sich etwas irgendwo befindet: »In einem Zipfel von […] Argos ist (ἔστι, befindet sich) eine Stadt [namens] Ephyra…« (Ilias, 6.152)56, bzw.: »Es war (ἦν, befand sich) aber unter den Trojanern Einer, Dolon, der Sohn des Eumedes…« (Ilias, 10.314)57; sei es, dass man die Vorhandenheit bzw. Anwesenheit einer Person mit einer bestimmten Eigenschaft bestätigt, negiert oder erfragt: »Möge ein Gefährte sein [εἴη, vorhanden sein], der die Botschaft schnell zum Sohn des Peleus bringen könnte« (Ilias, 17.640-641)58. Erst Mitte bis Ende des 5. vorchristlichen Jahrhunderts tritt die Möglichkeit des reinen Nichts, des aller Anschauung entrückten Resultats der schlechthinnig-universalen Negation – und in Abhebung davon das, was wir heute „Existenz“ nennen – ins griechische Denken Für den Griechen der homerischen Zeit war der Tod niemals das schlechthinnige Sichin-nichts-auflösen, sondern ein Hinübergehen aus dem Diesseits in ein Jenseits. S. hierzu C. Kahn, The Verb ‘Be’…, 378: »There are some passages in Homer and in later poetry which definitely support the view […] that the most vivid of all uses of εἰμί where it can be translated “am alive”, must have originated from a metaphorical or pregnant use of the verb with the local sense “am present”, “am at hand.” On this view, ἔστι “is alive” will at first have meant “is present among men”, is here among us in the light of day rather than below in the dark and gloomy house of Hades; “the one who is not” (in the sense of “the dead”) would be an elliptical or euphemistic expression as in our phrases the departed, the one who is gone (from among us)«. 56 Es geht hier nicht um die Existenz einer Stadt, sondern um eine Ortsangabe, welche Glaukos benutzt, um seine eigene geografische Herkunft und Identität zu klären. (C. Kahn, The Verb ‘Be’…, 246). Das „ἔστι“ hat hierbei keine streng existenziale, sondern vielmehr eine rhetorische Funktion: die Einführung eines Subjektes in die Erzählung (ebd. 249). 57 Auch hier wird nicht die Existenz des Dolon gegen seine Nichtigkeit gesetzt, sondern eine Person in die Erzählung eingeführt. Homer fährt fort: »Dieser ergriff nun das Wort …« (Z.319). 58 Die Übersetzungen in diesem Absatz sind meine eigenen. Für den griechischen Text verwende ich die Internetausgaben Homer, The Odyssey, Cambridge, MA., Harvard University Press; London, W. Heinemann, Ltd. 1919, http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3atext%3a1999.01.0135, sowie Homer, Ilias (Homeri Opera, Oxford University Press 1920, Bd. II, http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3atext%3a1999.01.0133). 55 454 Albert Gutberlet, L.C. ein59. Sie wird zuerst von Parmenides und Gorgias thematisiert. Parmenides negiert sie: μηδὲν δ› οὐκ ἔστιν – nichts gibt es nicht60; Gorgias affirmiert sie, wenn er zu beweisen sucht, dass nichts ist – ὅτι μὲν οὖν οὐδὲν ἔστιν61. Erst ab da wird die Existenzfrage im strengen Sinne denkbar. Denkbar wird sie, und doch noch nicht im eigentlichen Sinne begreifbar; denn zunächst ermangelte das antike Griechisch noch eines eigentlichen Existenzverbes. Um die Existenzfrage auszudrücken, musste weiterhin das polyfunktionale „εἶναι“ herhalten. Man fragte: εἰ ἔστι [ἢ μὴ] – ob [etwas] ist [oder nicht]62, oder: ist [überhaupt] ein gewisser Zeus? – Ζεύς γάρ τις ἔστι;63 Oder man sagte: Von den Göttern vermag ich nicht zu erkennen, ob sie sind oder ob sie nicht sind (οὔθ ὡς εἰσὶν οὔθ ὡς οὐκ εἰσὶν)64. S. C. Kahn, The Verb ‘Be’…, 297-306, 320-323; »Retrospect on the Verb…«, 11; Einleitung zur Neuausgabe von The Verb ‘Be’…, xxiv-xxv, xxvi, xxxii, xxxv; »A Return to the Theory…«, 396-397. 60 Parmenides, Περὶ φύσεως, Frgm. 6.2, in H. Diels, Die Fragmente…, 121, m. Ü. 61 Gorgias, Περὶ τοῦ μὴ ὄντος ἢ περὶ φύσεως, Frgm. 3, 66, in H. Diels, Die Fragmente…, 528, m. Ü. 62 S. Aristoteles, Analytica Posteriora, II, 1, 89b23-33, m. Ü. Für den griechischen Text und die deutsche Übersetzung folge ich sonst, wenn nicht anders angegeben, der Ausgabe von H. Seidl, Königshausen und Neumann, Würzburg 1987. Im Folgenden verwende ich das Kürzel „Anal. Post.“. 63 Aristophanes, Die Wolken, in F. Hall, W. Geldart (Hrsg.), Aristophanes Comoediae, Clarendon, Oxford 1907, Internetausgabe (http://www.perseus.tufts.edu/hopper/ text?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0027%3Acard%3D1452), Bd. II, 1470, m. Ü. 64 Protagoras, Frgment 4 (Περὶ θεῶν), in H. Diels, Die Fragmente…, 519, m. Ü. 59 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 455 Für die „Existenz“ im spekulativen Sinne besaß das klassische Griechentum also weder Begriff noch Theorie. Viel später erst – in hellenistischer Zeit und im Neuplatonismus – begann man, das Verb ὑπαρχείν als terminus technicus für das beständige Hinausstehen [über das Nichts] (= ex-si-stere65) zu verwenden. Der ausdrücklich definierte Begriff der abstrakten Existenz, den manche zum Urbegriff des Seins schlechthin erklären möchten, ist also nicht nur post-homerisch, sondern sogar post-aristotelisch66. Begrifflich viel weiter war Aristoteles ganz ohne Zweifel mit dem kopulativen Seinsgebrauch. Da ist zunächst einmal Peri Hermeneias 10, wo von einem „ist“ die Rede ist, welches »als Drittes mit hinzuprädiziert wird« (»τρίτον προσκατηγορηθῇ«67, 19b19-20), z. B.: Der Mensch ist gerecht - ἔστι δίκαιος ἄνθρωπος (ebd. 20-21)68, 1 3 2 im Gegensatz zum „ist“ als selbständigem Zweiten69: Der Mensch ist - ἔστιν ἄνθρωπος (ebd. 15). 1 2 Von diesem als Drittem hinzu prädizierten „ist“, gilt dann, was der Stagirit in Kap. 3 vorweggenommen hat: Die Verschmelzung von philosophischer Definition („esse extra nihil“) und Etymologie („ex-si-stere“ aus „ex-“, [aus, außer, über-hinaus] und der Reduplikation des Verbes „stare“, die ich mir hier zunutze mache, geht auf Cajetan zurück (s. G. Haeffner, Existenz, 73). 66 Kahn schreibt: »…the notion of existence as such plays no clearly defined role in ontological speculation from Parmenides to Aristotle« (The Verb ‘Be’…, Einleitung zur Neuausgabe, xxxi). So auch beispielsweise M. Sanmartín, »To be (something) or not to be: Existence and predication in Aristotle’s logic and metaphysics«, in Filosofi a Unisinos, 11 (2010), 79: »… in ancient Greek there is no verb unequivocally referring to our notion of existence«. 67 Hierher der scholastische Begriff tertium adiacens für das kopulative Sein. 68 Im Folgenden verwende ich das Kürzel „Peri Herm.“. Für den griechischen Text folge ich L. Minio-Paluello (Hrsg.), Aristotelis Categoriae et liber de interpretatione, Oxford University Press, London 19745. Für die deutsche Übersetzung, wenn nicht anders angegeben, folge ich H. Weidemann, (Übs., Komm.), Aristoteles, Peri Hermeneias, de Gruyter, Berlin 20143. 69 Vgl. das secundum adiacens der Scholastik. 65 456 Albert Gutberlet, L.C. Wenn du das bloße „seiend“ selbst aussprichst, […] so ist es für sich genommen überhaupt nichts (αὐτὸ μὲν γὰρ οὐδέν ἐστιν), sondern bedeutet [lediglich] eine gewisse Verbindung (σύνθεσίν τινα) mit hinzu (προσσημαίνει), die sich ohne das, was jeweils miteinander verbunden ist (συγκειμένων), nicht verstehen lässt. (Peri Herm. 3, 16b23-25, Übs. Weidemann, leicht modifiziert)70. Selbst der in dieser Hinsicht äußerst zurückhaltende Kahn erkennt ohne Umschweife an, dass diese Passagen den philosophiegeschichtlichen Kern bilden, aus dem heraus sich im Mittelalter – insbesondere bei Abaelard – und in der Neuzeit eine systematische Theorie der Kopulation entwickelt hat71. Mehr noch: eine sprachliche σύνθεσίς (bzw. συμπλοκή = Verbindung, copulatio) herzustellen, ist für Aristoteles die Funktion der Affirmation überhaupt (s. Kategorien 4, 2a6-772, Met. VI, 4, 1027b18-21), und das „ἔστι“ („ist“) eben der Universalausdruck dieser copulatio (s. Peri Herm. 12, 21b5-10, Met. V, 7, 1017a22-31; IX, 10, Während die Übersetzung der unmittelbar vorausgehenden Zeilen (19-22) äußerst schwierig und heftig umstritten ist (s. H. Wagner, »Aristoteles, De Interpretatione, 3. 16 b 1925«, in R. Palmer, R. Hamerton-Kelly [Hrsg.], Philomathes. Studies and essays in the Humanities in Memory of Phillip Merlan, Nijhoff, Den Haag 1971, 95; C. Kahn, »On the Terminology for Copula…«, 45; H. Weidemann, Aristoteles, Peri Hermeneias, 178), bereitet dieser Passus für sich genommen keine größeren Schwierigkeiten, solange man anerkennt, dass er eine eigene Einheit bildet. Ich folge wesentlich der Interpretation von Weidemann. Was hier verbunden wird, kann, wie dieser unterstreicht, nichts anderes sein als »was [in einem Satz] als Subjekt und [was in ihm] als Prädikatsnomen fungiert« (H. Weidemann, ebd. 185), wodurch klar wird, dass Aristoteles an ein „…ist …“ denkt, welches »als Kopula fungiert« (ebd.), denn andernfalls ergibt der Passus keinen Sinn. Wer nämlich das „ὂν“ aus Zeile 23 nominal als „das Seiende“ im Sinne des „Existierenden“ auffasst (wie z. B. Montanari und tendenziell Ackrill), wird nicht erklären können, warum es dann auf einmal »nichts ist«, wo doch das Existierende gerade das dem Nichts Entgegengesetzte ist. Also muss das „ὂν“ verbal-kopulativ gemeint sein (s. H. Wagner, »Aristoteles, De Interpretatione…«, 108-110, 114; C. Whitaker, Aristotle’s De Interpretatione, Contradiction and Dialectic, Clarendon, Oxford 1996, 56; H. Weidemann Aristoteles, Peri Hermeneias, 185-186). 71 »The medieval-modern concept of the copula has its historical roots in De Int. 16b22– 5 and 19b19–22« (C. Kahn, »The Greek Verb ‘to Be’…«, 249n3). 72 Das von nun an verwendete Kürzel ist „Kat.“. Für den griechischen Text folge ich erneut der Ausgabe von Minio-Paluello. Für die deutsche Übersetzung, wenn nicht anders angegeben, folge ich Aristoteles, Kategorien, neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von E. Rolfes, Meiner, Leipzig 1920. 70 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 457 1051b, 11-12)73. Man darf also guten Gewissens von einem Ansatz einer allgemeinen Theorie von der Kopula bei Aristoteles sprechen. 2. Kopula und Existenzverb in der aristotelischen Metaphysik Dies führt uns in medias res: zur Untersuchung der wesentlichen Texte, in welchen Aristoteles seine Wissenschaft vom Seienden als solchem genauer zu bestimmen sucht. Anhand ihrer möchte ich versuchen, die folgende These zu rechtfertigen: Auch wenn das spezifisch metaphysische „τὸ ὂν“ bei Aristoteles stets eine gewisse existenziale Valenz hat, so muss es an denjenigen Stellen, wo Sinn und Gebrauch desselben genauer bestimmt, differenziert und eingeengt wird, dennoch durch und durch verbal-kopulativ aufgefasst werden. Hierzu sind drei Aspekte zu untersuchen: (1) der morphologische, (2) der syntaktische und (3) der semantische. (1) Im morphologischen Sinne fragen wir: Ist das „ὄν“ in „τὸ ὂν“ (α) als Partizip im strengen Sinne ein adjektivisch gebrauchtes Verb (β) oder vielmehr ein vom Partizip bloß abgeleitetes Substantiv? Schon Parmenides deutete die Universalität der Kopula an, als er – wie eingangs bereits partiell zitiert – schrieb: »Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist, wirst du das Erkennen finden« (Περὶ φύσεως, Frgm. 8, 34-36, in H. Diels, Die Fragmente…, 124, Übs. E. Heitsch, Parmenides, Die Fragmente…, 30). Hierzu merkt Berti an: »Wenn man sich nun fragt, aus welchem Grunde Parmenides im Verb „sein“ das einzige Verb ausmacht, welches die Wahrheit auszudrücken vermag, und somit im Sein den einzig möglichen Gegenstand des Denkens, dann kann man vielleicht antworten, dass dieses Verb in der griechischen Sprache als einziges in der Lage ist, als Prädikat oder Kopula alle Wahrheiten auszudrücken. […] Diese Tatsache, also dass dem Verb „sein“ die Funktion eines allgemeinen Stellvertreters für alle Verben zukommt, musste Parmenides bereits bekannt sein« (»Se poi ci si chiede per quale ragione Parmenide avesse individuato nel verbo “essere” l’unico verbo capace di esprimere la verità, e quindi nell’essere l’unico oggetto possibile del pensiero, si può forse rispondere che questo verbo è l’unico, nella lingua greca, capace di esprimere, come predicato o come copula, tutte le verità. […] Questo fatto, cioè la funzione, per così dire, di vicario universale di tutti i verbi, propria del verbo “essere”, doveva essere nota già a Parmenide«, E. Berti, »Essere«, in M. Ferraris [Hrsg.], Storia dell’Ontologia, Bompiani, Mailand 2008, 33-34). 73 458 Albert Gutberlet, L.C. (2) Im syntaktischen Sinne fragen wir: Ist das zugrundeliegende Verb (εἶναι) (α) als eine Relation herstellendes Bindewort (Kopula) (β) oder als absolutes, alleinstehendes Vollverb gebraucht? (3) Im semantischen Sinne fragen wir: (α) drückt es wesentlich oder gar ausschließlich Existenz aus (β) oder nicht? In 2.1 wird es um die morphologische Frage gehen: Ist „τὸ ὂν“ verbal oder nominal gebraucht? In 2.2 werden die syntaktische und semantische Frage gemeinsam behandelt. 2.1 An den das spezifisch metaphysische „τὸ ὂν“bestimmenden Stellen wird es verbaladjektivisch und nicht nominal gebraucht. Von der deutschen Grammatik ausgehend scheint der Ausdruck „τὸ ὂν“ auf den ersten Blick einen Nominalgebrauch anzuzeigen, denn unser Artikel „das“ hat klar nominalisierende Funktion: Aus „drückend“ wird „das Drückende“, aus „erhebend“ wird „das Erhebende“ und aus „seiend“ („ὄν“) wird „das Seiende“ („τὸ ὂν“). Das scheint ganz selbstverständlich. Hierzu kommt die auf Boethius (und letztlich sogar auf Seneca74) zurückgehende scholastische Tradition, das „τὸ ὂν“ unterschiedslos als „ens“ oder „id quod est“ wiederzugeben und dem Verbum „esse“ entgegenzusetzen (»diversum est esse et id quod est«75). Doch für Aristoteles ist der Artikel „τὸ“ nicht unbedingt immer ein Nominalisator. Er benutzt ihn sehr häufig einfach nur, um ein Wort im Satzzusammenhang als Wort zu kennzeichnen. Der Satz: »εἰ τὸ ἄνθρωπος σημαίνει ἕν« (Met. IV, 4, 1006a31) bedeutet nicht etwa: »wenn das Mensch Eines bezeichnet«, was unsinnig wäre, sondern: »wenn das Wort ‚Mensch‘ Eines bezeichnet« (so die Bonitz-Seidl Übersetzung76, s. auch ebd. 1006b2, 14, 16, 23, 30, 32-33). Dies gilt Seneca, Ad Lucilium Epistulae Morales, Oxford University Press 1969, Bd. I, 58, 7. Boethius, De hebdomadibus, Documenta Catholica Omnia, http://www.documentacatholicaomnia.eu/03d/0480-0524,_Boethius,_De_Hebdo-madibus,_LT.pdf, regula 1. 76 G. Reale (Aristotele, Metafisica, Introduzione, traduzione, note e apparati, Rusconi, Mailand 1993) benutzt in seiner Übersetzung Anführungszeichen, um das Gleiche 74 75 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 459 praktisch immer, wenn ein durch das „τὸ“ gekennzeichnetes Wort als Subjekt von „σημαίνει“ oder eines intransitiven „λέγεται“77 erscheint. So zum Beispiel in den Begriffsdefinitionen in Met. V: τό ἀγαθὸν καὶ τὸ κακὸν σημαίνει τὸ ποιὸν ἐπὶ τῶν ἐμψύχων78, [die Worte] „gut“ und „schlecht“ bedeuten die Qualität bei den beseelten Wesen79. τὸ καθ᾽ ὃ λέγεται πολλαχῶς80, das [Wort] „wonach“ wird auf vielfältige Weise gebraucht81. Wenn nun das gekennzeichnete Wort ein Adjektiv ist, so denkt es Aristoteles praktisch durchgehend adjektivisch und nicht nominal. Einige Beispiele: ὥσπερ καὶ τὸ ὑγιεινὸν ἅπαν πρὸς ὑγίειαν [λέγεται], τὸ μὲν τῷ φυλάττειν τὸ δὲ τῷ […] καὶ τὸ ἰατρικὸν πρὸς ἰατρικήν82, sondern so wie das [Wort] „gesund“ von allem [Gesunden] im Hinblick auf die Gesundheit [gesagt wird] […] und das [Wort] „medizinisch“ im Hinblick auf die Medizin (m. Ü.)83. ἐπεὶ οὕτω γε κἂν τὸ μουσικὸν καὶ τὸ λευκὸν καὶ τὸ ἄνθρωπος ἓν ἐσήμαινεν84, auszudrücken: »supponiamo che “uomo” abbia un solo significato«. Ebenso Ross: »if “man” has one meaning«. 77 Der intransitive Gebrauch weist folgende Struktur auf: „τὸ Α λέγεται τὸν τρόπον“ (= „Das [Wort] ‚A‘ wird so und so gebraucht“). Der transitive Gebrauch hingegen: „τὸ Α λέγεται (τὸ) Β“ (= „A wird ‚B‘ genannt“). 78 Kap. 14, 1020b23-24. 79 Bonitz-Seidl, leicht modifiziert. 80 Kap. 18, 1022a14. 81 Bonitz-Seidl, leicht modifiziert. Reale: »L’espressione “ciò per cui” ha molteplici significati«. Ross: »”That in virtue of which” has several meanings«. 82 Met. IV, 2 1003a34-b1. 83 Reale: »…ma nello stesso modo in cui diciamo “sano” tutto ciò che si riferisce alla salute […] o anche nel modo in cui diciamo “medico” tutto ciò che si riferisce alla medicina…«. 84 Met. IV, 4, 1006b, 16-17. 460 Albert Gutberlet, L.C. denn in diesem Sinne würde auch „gebildet“ und „weiß“ und „Mensch“ Eins bezeichnen85.86 Folgerichtig ist es auch im Falle eines Partizips, das ja nichts anderes als ein Verbaladjektiv ist, sinnvoll, es ebenfalls verbaladjektivisch und nicht nominal aufzufassen, wenn ihm ein „τὸ“ vorausgeht und ein „σεμαίνει“ bzw. ein intransitives „λέγεται“ folgt. Und in der Tat, wenn Aristoteles genauer bestimmen will, wie das die Metaphysik angehende „ὄν“ gebraucht wird, benutzt er eben diese Art von Konstruktion: τὸ ὂν λέγεται …87, τὸ ὂν σεμαίνει …88. Dies ist dann folgendermaßen zu übersetzen: Das [Wort] „seiend“ wird [so und so] gesagt (gebraucht). Das [Wort] „seiend“ bezeichnet (bedeutet) [dies und das]. Aristoteles bezweckt hier keine strenge Unterscheidung zwischen einem vermeintlich nominalen „τὸ ὂν“ und einem verbalen „εἶναι“ bzw. „ἔστιν“, sondern ganz im Gegenteil: Gerade in Met. V, 7, wo die verschiedenen Seinssinne am Eingehendsten erläutert werden, zeigt sich eine generelle Austauschbarkeit der Ausdrücke89: 85 Bonitz-Seidl, leicht modifiziert. Reale bedient sich wieder der Anführungszeichen, um den adjektivischen Gebrauch der Adjektive zu kennzeichnen: »in tal modo, verrebbero a significare una medesima cosa e “musico” e “bianco” e “uomo”«. Ross fast identisch: »since on that assumption even “musical” and “white” and “man” would have had one meaning«. 86 Bonitz-Seidl übersetzen ganz systematisch in diesem Sinne: Met. IV, 4, 1007a4-5; 8, 1012b8-10; V, 5, 1015a35-36; 9, 1018a11; 12, 1019a33-34; b28-29, 30-32; 14, 1020b23-24; 29, 1024b17; VI, 4, 1027b20-22, 24-25. 87 Met. IV, 2, 1003a33, b5; 4, 1007b27; V, 7, 1017a7; 10, 1018a35-36; VI, 2, 1026a33, b2; 4, 1028a5; VII, 1, 1028a10, 13-14. 88 Met. V, 7, 1017b1, VII, 1, 1028a11-13, 14-15. 89 Schon Apelt insistiert in seinen Beiträgen zur Geschichte der griechischen Philosophie auf dieser Austauschbarkeit, wozu er auch andere Texte heranzieht wie Peri Herm. 3, 16b22-25 (s. o. 1.2), Analytica Priora II, 24b16ff., Anal. Post. II, 7, 92b13ff., Met. IV, 2, 1003b26ff., Met. X, 2, 1054 a 13ff. Er schreibt: »Zugleich geht aus [diesen Stellen] hervor, daß der Ausdruck τὸ ὄν nichts anderes besagt und ist, als das nur auf eine leichter zu handhabende grammatische Form gebrachte τὸ εἶναι oder τὸ ἔστι, wie denn schon die angezogene Stelle der Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 461 τὸ εἶναι σημαίνει … = das [Wort] „sein“ bedeutet …90, τὸ ἔστιν σημαίνει … = das [Wort] „ist“ bedeutet …91, τὸ ὂν σημαίνει … = das [Wort] „seiend“ bedeutet …92. Denn in 1017a31 haben „τὸ εἶναι“ und „τὸ ἔστιν“, in 1017a35-b1 „τὸ εἶναι“ und „τὸ ὂν“ ein und dieselbe Bedeutung: τὸ εἶναι σημαίνει καὶ τὸ ἔστιν ὅτι ἀληθές93, Das [Wort] „sein“ und das [Wort] „ist“ bedeuten, dass [etwas] wahr [ist] (m. Ü.). τὸ εἶναι σημαίνει καὶ τὸ ὂν τὸ μὲν δυνάμει ῥητὸν τὸ δ᾽ ἐντελεχείᾳ94, das [Wort] „sein“ und das [Wort] „seiend“ bezeichnen das DemVermögen-nach-[sein] und das Der-Vollendung-nach-[sein] (m. Ü.). Dreierlei sei hierzu angemerkt. (1) Das hier Ausgeführte bedeutet keineswegs, dass das „τὸ ὂν“ niemals nominal überstzt werden dürfe: Unter den 21 Vorkommnissen in den von mir diesbezüglich untersuchten Büchern Met. IV – VI fungieren 14 nicht als Subjekt eines intransitiven „λέγεται“ oder eines „σεμαίνει“ und können daher manchmal auch nominal übersetzt werden. (2) Sie müssen es sogar an den fünf Stellen, an denen das „τὸ ὂν ᾗ ὂν“ als Subjekt der Metaphysik vorgestellt wird (Met. IV, 1, 1003a21-22; 2, 1005a2-3, 13-14; 3, 1005a26-29; VI, 1, 1026a29-32), besonders wenn es als Subjekt bezeichnet wird, dem gewisse Eigenschaften »von sich aus zukommen« (1003a21-22, 1005a13-14, 26-29, 1026a29-32)95. Hermeneutik 16b 22 diese Gleichheit der Bedeutung ausdrücklich hervorhob« (O. Apelt, Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie, Teubner, Leipzig 1891, 116). 90 1017a22-23, 24, 27, 31, 35-b1. 91 1017a31. 92 1017a35-b1 (s. o. n88). 93 1017a31 als Ganzes zitiert. 94 1017a35-b1 als Ganzes zitiert. 95 Die anderen 9 Stellen sind nach meinem Dafürhalten generell verbal zu übersetzen, v.a. Met. IV, 2, 1003b22-23, 31-32; 1004a4-5; 1004b28; 1005a8-10; 7, 1012a7. Klar nominal aufzufassen sind meiner Meinung nach lediglich Met. IV, 7, 1011b26-27 und 8, 1012a28. Nicht eindeutig: Met. VI, 2, 1004b19-20. 462 Albert Gutberlet, L.C. (3) An sechs entscheidenden Stellen aber (Met. IV, 2, 1003b5-6; V, 7, 1017a7; 1017a35-b1; VI, 2, 1026a33; 1026b2; 4, 1028a5-6) wird ein intransitives „λέγεται“ oder ein „σεμαίνει“ dem „τὸ ὂν“ hinzugefügt, und dort geht es dann nicht darum, das Subjekt der Wissenschaft einfach nur vorzustellen, sondern genauer zu bestimmen, was es für dieses Subjekt heißt, zu sein: Es werden (a) verschiedene Gebräuche und Bedeutungen des Wortes „seiend“ aufgezählt (Met. V, 7, 1017a7-b9; VI, 2 1026a33-b2), und darunter (b) die für die Metaphysik zentralen (Met. IV, 2, 1003a34-b18) und überhaupt relevanten Gebräuche deutlicher in den Blick gerückt, die irrelevanten dagegen aussortiert (Met. VI, 2-4, 1026b3-1028b6). (Hierzu kommt als siebte Passage Met. IV, 4, 1007b2728, die aber für unser Thema keine Relevanz hat). 2.2 An den das spezifisch metaphysische „τὸ ὂν“bestimmenden Stellen wird es durch und durch prädikativ-kopulativ gebraucht Gehen wir nun zur syntaktisch-semantischen Analyse des aristotelischen „τὸ ὂν“ über: Ist es wesentlich existenzial oder eher kopulativ auszulegen? Die traditionell existenziale Deutung des Ausdrucks hat seine Wurzeln in sprachgeschichtlichen, übersetzungstechnischen und theoretischen Entwicklungen innerhalb der Interpretationsgeschichte der Metaphysik. Entscheidend ist insbesondere die von Avicenna über Scotus bis hin zu Suárez dominante Auslegung von Met. VI, 4, welche den Begriff des metaphysischen Seins weit über die Scholastik hinaus bestimmt hat. Dieses Kapitel gilt es daher genauer zu untersuchen. Aristoteles vollendet hier die Einschränkung des metaphysischen Seins. Er hat in Met. VI, 2 eine eigene Einteilung des Seins durchgeführt, welche wohlgemerkt nicht auf die Dualität Kopula – Existenzverb reduzierbar ist. Da ist zunächst (1) das seiend-per-accidens (ὂν κατὰ συμβεβηκός); dann (2) das seiend-im-Sinne-von-wahr[-seiend] (ὂν ὡς ἀληθές); daraufhin (3) das seiend-den-verschiedenen-Aussageformen – (den σχήματα τῆς κατηγορίας) – nach; und schließlich das seiend-demVermögen-und-der-Wirklichkeit-nach (ὂν δυνάμει καὶ ἐνεργείᾳ)96. 96 Met. VI, 2, 1026a33-b1 ist wohl die grundlegende Darstellung der aristotelischen Seinseinteilung. Eingehender erläutert wird sie zwar in Met. V, 7, klarer ist sie aber in Met. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 463 In Kapitel 2 und 3 hat der Stagirit das seiend-per-accidens als metaphysischen Seinsgebrauch ausgeschlossen und wendet sich nun in Kapitel 4 dem seiend-im-Sinne-von-wahr-seiend zu. Hier begegnet uns ein leicht misszuverstehender, typisch griechischer Seinssinn, der weder im Lateinischen noch in den modernen indoeuropäischen Sprachen geläufig ist. Die beste Erklärung dieses Seinsgebrauchs findet sich meines Erachtens erneut bei Kahn, der dazu die gesamte antike griechische Literaturgeschichte zurate gezogen hat97 (s. aber beispielsweise auch Autoren wie Pritzl und De Rijk98, die hier ganz mit Kahn übereinkommen). Kahn geht von der uns bekannten Kopulafunktion aus: (a) Die Kopula als solche setzt einen Sachverhalt, d. h. sie macht aus zwei unverbundenen Bausteinen („Glaukon“ – „clever“) einen Satz („Glaukon ist clever“). Sie ist also ein Satz-macher. (b) Wenn man nun aber dasselbe „…ist …“ eigens betont, kann man es auch als Satz-bekräftiger verwenden. Aus: „Glaukon ist clever“ wird nun: „Glaukon ist clever, kein Zweifel!“ (c) Aus der hinzukommenden bekräftigenden Funktion des „…ist …“ wird dann im Griechischen ein eigener, veritativer Seins-sinn99. Die Kopula wird gewissermaßen aus der Satzmitte herausgenommen und als eigenständiger Bekräftiger dem ganzen Satz vorangestellt: VI, 2 (s. hierzu beispielsweise F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Herder, Freiburg im Breisgau 1862, 7-8; A. Llano, »The different meanings of ‘being’ according to Aristotle and Aquinas«, in Acta Philosophica, 10 [2001], 30-31). Eine je nach den zu behandelnden Seinssinnen bereits eingeschränkte Wiederholung derselben befindet sich in Met. VII, 1, 1028a10-13, IX, 1, 1045b32-34 und XII, 1, 1069a19-21. Ergänzende Aspekte findet man schließlich unter den in Met. IV, 2, 1003b5-10, IX, 10, 1051a34-b2 sowie XII, 1, 1069a22-24 aufgezählten Seinssinnen. 97 Am Eingehendsten: C. Kahn, The Verb ‘Be’…, 334-337. Weniger ausführlich »Retrospect on the Greek Verb…«, 8 und »Being in Parmenides…«, 240-241. 98 K. Pritzl, »Being True in Aristotle’s Thinking«, in Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Brill, Leiden, Bd. 14, 1999, 178; L. de Rijk, »The Anatomy of the Proposition…«, 49; Aristotle: Semantics…, Bd. II, 143-144. 99 Kahn ist in dieser Hinsicht überraschend klar: »Despite my general reluctance to decide when a different use becomes a different sense, I am inclined to speak here of a veridical meaning or connotation of einai, in cases where the Greek verb cannot be adequately translated by the copula or by an idiomatic use of is alone« (C. Kahn, »Retrospect on the Verb…«, 9). Kahns Wortwahl „veridical“ („wahrheitsgetreu“, „wahrheitsgemäß“) wird meiner Ansicht nach der Formulierung „…im Sinne von wahr-sein“ nicht gerecht. „Wahrheitsgetreu“ kann man auch ein kopulatives oder existenziales „ist“ nennen, wenn es in einem wahren Satz vorkommt. Das Wesentliche des Seins-im-Sinne-von-wahr-sein ist hingegen, dass es die Wahrheit als solche ausdrückt. Ich benutze daher den Ausdruck „veritativ“ („wahrheits-haft“). 464 Albert Gutberlet, L.C. Es ist: Glaukon (ist) clever. „Es ist“ heißt hier so viel wie: „es ist (wahrhaftig) so“, „es stimmt“, „es ist wahr“100. Aristoteles liefert uns als erläuterndes Beispiel folgenden Satz: ὅτι ἔστι Σωκράτης μουσικός, ὅτι ἀληθὲς τοῦτο101. Wörtlich heißt dies: Dass ist: Sokrates [ist] gebildet, [heißt,] dass dies wahr [ist].102 Gemeint ist: Dass es [so] ist: ‚Sokrates ist gebildet‘, das heißt, dass dies wahr ist.103 Aristoteles selbst verwendet in diesem Sinne beispielsweise die Wendungen: εἰ τοῦτ᾽ ἔστιν (wrtl.: wenn dies ist)104 ≙ wenn diese Behauptung richtig ist (Bonitz-Seidl); δῆλον ὅτι οὐκ ἂν εἴη … (wrtl.: so ist es offenbar nicht, dass …)105 ≙ so ist es offenbar nicht wahr, dass … (Bonitz-Seidl). 100 Kahn schreibt: »The Lexicon recognizes, what every good Hellenist knows, that in many cases the verb esti and its participle on must be translated by “is true”, “is so”, “is the case” or by some equivalent phrase: esti tauta “these things are so” (cf. French c’est cela “that’s right”), legein to onta “tell the truth”, “state the facts”« (C. Kahn, »Retrospect on the Verb…«, 8). 101 Met. V, 7, 1017a34-35. 102 »Perhaps we should say that Aristotle reads ἐστί here twice: once as copula (“Socrates is musical”) and once as veridical sentence-operator (“It is true that Socrates is musical”)« (C. Kahn, »Some Philosophical Uses…«, 106-107). L. de Rijk übersetzt in »The Anatomy of the Proposition…«, 49: »“Is: Socrates-being artistic” <signifies> that this is true«. 103 Dieses Beispiel wird folgendermaßen eingeleitet: »Ferner bezeichnet Sein und Ist, dass etwas wahr ist, Nichtsein aber, dass etwas nicht wahr ist, sondern falsch, gleicherweise bei der Bejahung wie bei der Verneinung«. 104 Met. IV, 5, 1009a12. 105 Met. IV, 6, 1011b7. S. auch An. Post. I, Kap. 1, 71a13-14 sowie Kap. 10, 76a30-33. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 465 Auch Melissus, Parmenides, Protagoras und Plato106 haben das „εἶναι“ so gebraucht. Ja, das „seiend-im-Sinne-von-wahr-seiend“ geht bis weit hinter das philosophische Griechentum zurück. Es finden sich nicht nur bei Herodot und Thukydides Ausdrücke wie: λέγειν τὸ ἐόν / λέγειν τὰ ὄντα (wrtl.: das Seiende sagen) ≙ die Wahrheit sagen107, sondern …die vergleichende Grammatik zeigt, dass es sich um einen prähistorischen Gebrauch von *es- im Indoeuropäischen handelt108. Diesen veritativen Seinsgebrauch nun schließt Aristoteles in Met. VI, 4 aus der metaphysischen Betrachtung aus. Die rein-existenziale Auslegung des Kapitels glaubt, dass der Stagirit gemeinsam mit dem veritativen Seinsgebrauch auch den kopulativen ausgeschlossen habe, sodass überhaupt nur der existenziale übrig bleibe. Um zu zeigen, dass dies aber ganz und gar nicht in der Absicht des Aristoteles lag, möchte ich hier nun den Text im Detail untersuchen. Met. VI, 4 ist ein äußerst verschachteltes Kapitel mit vielen Einschüben, die für die eigentliche These in mehreren Fällen nicht unmittelbar relevant sind. Dadurch geht leicht der interpretative Faden verloren, den ich hier rekonstruieren möchte, indem ich den wesentlichen argumentativen Bogen nachziehe. Das Kapitel beginnt [a] mit der einfachen Präsentation des veritativen Seins. Von da ab arbeitet der Autor auf die Schlussfolgerung [b] hin, dass das veritative Sein von der metaphysischen Betrachtung auszuschließen ist. Dazu werden zunächst die Gründe ([a1], [a2]) angegeben, jeweils eingeleitet von einem „ἐπειδὴ“ („da“, „weil“). In [a1] werden die notwendigen Voraussetzungen ([α], [β]) grundgelegt, um den 106 107 II, 142. S. C. Kahn, »Retrospect on the Verb…«, 12-13. S. C. Kahn, »Parmenides and Plato…«, 85; L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. »Comparative grammar shows that this is a pre-historic use of *es- in Indoeuropean« (C. Kahn, »Retrospect on the Verb…«, 8. S. auch The Verb ‘Be’…, 322n2; »Parmenides and Plato…«, 85). 108 466 Albert Gutberlet, L.C. eigentlichen und unmittelbaren Grund [a2] verstehen zu können109. Die Voraussetzung [β] wird noch einmal eigens durch die Parenthese [βˈ] erläutert. Hier der aufs Wesentliche reduzierte griechische Text: [a] 1027b18 τὸ δὲ ὡς ἀληθὲς ὄν, καὶ μὴ ὂν ὡς⃒19 ψεῦδος, [a1] ἐπειδὴ [α] περὶ110 σύνθεσίν ἐστι καὶ διαίρεσιν, [β] τὸ δὲ σύν- ⃒20 ολον περὶ μερισμὸν ἀντιφάσεως [βˈ] (τὸ μὲν γὰρ ἀληθὲς τὴν ⃒21 κατάφασιν ἐπὶ τῷ συγκειμένῳ ἔχει τὴν δ᾽ἀπόφασιν ἐπὶ τῷ ⃒22 διῃρημένῳ, τὸ δὲ ψεῦδος τούτου τοῦ μερισμοῦ τὴν ἀντίφα⃒23 σιν […]); […] [a2] ⃒29 ἐπεὶ δὲ ἡ συμ- ⃒30 πλοκή ἐστιν καὶ ἡ διαίρεσις ἐν διανοίᾳ ἀλλ᾽ οὐκ ἐν τοῖς ⃒31 πράγμασι, [b] τὸ δ᾽ οὕτως ὂν ἕτερον ὂν τῶν κυρίως ([…])⃒33 τὸ […] ὡς ἀλη- ⃒34 θὲς ὂν ἀφετέον. […] γὰρ […]⃒1028a1 περὶ τὸ λοιπὸν γένος τοῦ ⃒2 ὄν-τος, καὶ οὐκ ἔξω δηλο[ί] οὖσάν τινα φύσιν τοῦ ὄντος. Nun die deutsche Übersetzung, die ich nach den in 2.1 grundgelegten Prinzipien vorgenommen habe: A. Schwegler (Die Metaphysik des Aristoteles, Grundtext, Übersetzung und Commentar, Fuks, Tübingen 1847, Bd. III, 29-30), reduziert das Hauptargument zurecht auf [a], [a1α], [a2] und [b]. Alles, was zwischen [a1α] und [b] gesagt wird, nennt er »nur erläuternde und motivierende Zwischensätze«. Die Erläuterungen [a1β, βˈ] sind jedoch zum besseren Verständnis von [a2] durchaus nützlich, weswegen ich sie hier nicht ausgelassen habe. W. D. Ross (Aristotle’s Metaphysics…, 365) bestätigt Schweglers Einsicht, dass das eigentliche, in [a1α] begonnene Argument erst wieder in [a2] aufgenommen wird, obwohl, wie er Alexander und Bonitz zugesteht, die grammatische Apodose bereits eine Zeile früher (1028b28) beginne. L. de Rijk (Aristotle: Semantics…, Bd. II, 146 n124) nennt dagegen die Konklusion [b] die eigentliche grammatische Apodose, erkennt aber dieselbe argumentative Struktur wie Schwegler und Ross an: »As for the […] construction of this chapter, the sentence (1027b18-29) [a] containing the causal conjunction επειδή (at b19) [hier beginnt [a1]], ends as an anacoluthon, and is followed by another causal sentence [a2] which, recapitulating the previous one (b29-33), introduces the apodosis [b] containing the statement which Aristotle properly wants to make«. Der einzige, unbedeutende Unterschied zu unserer Einteilung ist, dass er den ersten Satz aus [b] (»τὸ δ᾽ οὕτως ὂν ἕτερον ὂν τῶν κυρίως«) noch zur Begründung und nicht zur eigentlichen Konklusion zählt. 110 Ich lese mit Asclepius und den Bekker-Kodexen Fb und Hb »περὶ« anstelle des »παρὰ« b (z. B. A u. E). Die Ausgaben von Brandis, Bekker, Bonitz, Schwegler, von Christ und Didot, sowie Werner Jaeger in seiner Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles (Weidmann, Berlin 1912, 24) wählen diese Lesart. Zu den Gründen hierfür s. n112. 109 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 467 [a] Das „seiend“ im Sinne von „wahr[-seiend]“ und „nicht-seiend“ im Sinne von „falsch[-seiend]“111, [a1] [α] da es sich auf Verbindung und Trennung bezieht112, [β] und da das zusammengesetzte Ganze [d. h.: das „wahr-bzw.falsch-seiend“] sich auf die Einteilung des Widerspruchs [d. h.: eines Paares widersprüchlicher Urteile] bezieht113, [βˈ] (das „[es ist] wahr“114 meint nämlich die Affirmation 111 Der Ausdruck „τὸ ὡς ἀληθὲς ὄν“ meint, wie wir in 2.1 dargelegt haben, nicht „das Wahrseiende“ (Nominalform), sondern das „‚seiend‘ im Sinne von ‚wahr-seiend‘“ bzw. das „‚es ist‘ im Sinne von ‚es ist wahr‘“ (Verbalform). Es geht um die Funktion des veritativen Seins, die darin besteht, ein gegebenes Urteil als wahr zu bestätigen (s. hierzu L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. II, 142-147). 112 Die Lesart »περὶ« (= „über“, „betreffend“, „bezogen auf“ s. o. n110) und die entsprechende Übersetzung »…da es sich auf Verbindung und Trennung bezieht« (so beispielsweise die Reale-Übersetzung, ebenso C. Whitaker, Aristotle’s De Interpretatione…, 26, und an mehreren Stellen auch L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. II, 140, 144) ist meines Erachtens die sinnvollere. (1) So entspricht der Passus nämlich exakt dem Satz aus Peri Herm. 1, wo anstelle des „παρὰ“ ein „περὶ“ steht: »περὶ γὰρ σύνθεσιν καὶ διαίρεσίν ἐστι τὸ ψεῦδός τε καὶ τὸ ἀληθές« (»das „wahr“ und das „falsch“ betreffen nämlich Verbindung und Trennung«, 16a12-13, m. Ü.). (2) Das „περὶ“ in Satz [α] bringt einen Parallelismus zu [β] ans Licht, wo ebenfalls ein „περὶ“ steht; ein Parallelismus der sonst verloren geht: [a] Das „ist [= ist wahr]“ und das „ist nicht [= ist falsch]“ bezieht sich auf Verbindungen und Trennungen (= Affirmationen und Negationen). [β] Das Ganze, d. h., das „ist bzw. ist nicht [= ist wahr bzw. falsch]“ bezieht sich auf ein Paar widersprüchlicher Urteile (s. hierzu n113). (3) Die auf dem „παρὰ“ gründende kausale Übersetzung (»…da es auf Vereinigung und Trennung beruht«) birgt die Gefahr eines Aristoteles fremden Idealismus. Der Gedanke: „Weil S und P verbunden bzw. getrennt werden, deshalb ist ein Urteil wahr“ harmonisiert nicht mit Passagen wie Met. IX, 10, 1051b7-9 (»Nicht, weil wir wahrheitsgemäß annehmen, dass du weiß bist, bist du [auch tatsächlich] weiß«, m. Ü.) bzw. Kat. 12, 14b18-19 (»Nun ist aber die wahre Aussage gewiss nicht der Grund dafür, dass der Sachverhalt [tatsächlich] besteht«, Übs. Rolfes, leicht modifiziert). S. hierzu die Überlegung von D. Charles, M. Peramatzis, »Aristotle on Truth-Bearers«, in V. Caston, Oxford Studies in Ancient Philosophy, Bd. 50, Oxford University Press 2016, 4 n7. Die kausale Übersetzung ist nur dann akzeptabel, wenn man die verbindenden und trennenden Urteile nicht als Wirkursache, sondern als Materialursache des veritativen Seins betrachtet; genauer: als die materia c i r c a q u a m veritas affirmatur. Doch dies ist ja genau das, was die Lesart »περὶ« zum Ausdruck bringt. Kirwan schreibt in diesem Sinne ganz kategorisch: »Aristotle does not mean that beliefs cause facts (see Θ 10 1051b6-9) but that beliefs are the recipients (subject-matter) of truth« (C. Kirwan, Aristotle, Metaphysics G, D and E, Clarendon, Oxford 1993, 200). 113 Der Ausdruck „ἀντίφασις“ („Widerspruch“) meint, ähnlich wie das lateinische „contradictio” nicht nur das logische Verhältnis zwischen zwei Aussagen, sondern eben auch ein Paar widersprüchlicher Aussagen wie: „S ist P“ – „S ist nicht P“, wie Aristoteles selbst in Peri Herm. 6, 17a31-33 deutlich macht (vgl. K. Pritzl, »Being True…«, 181; L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. I, 124, Bd. II, 140). 114 Dieses »τὸ […] ἀληθὲς« und das entsprechende »τὸ […] ψεῦδος« aus Z. 22 kann sich, ebenso wie das »σύνολον« aus Zz. 19-20 nur auf das »τὸ δὲ ὡς ἀληθὲς ὄν, καὶ μὴ ὂν ὡς ψεῦδος« aus Zz. 18-19 beziehen, welches wir als »seiend im Sinne von wahr[-seiend] und 468 Albert Gutberlet, L.C. hinsichtlich des Verbundenen und die Negation hinsichtlich des Getrennten, das „[es ist] falsch“ meint hingegen das kontradiktorische Gegenteil dieser Einteilung115)116; [a2] und da die Verbindung und die Trennung im dianoetischen [= verbindenden und trennenden] Denken117 und nicht in den Dingen ist, [b] daher ist das „seiend“ in diesem Sinne [d. h.: im Sinne von „wahrseiend“] etwas anderes als das „seiend“ dessen, was im eigentlichen Sinne [seiend ist], […]118 und so müssen wir das „seiend“ im Sinne von „wahr[-seiend]“ beiseite lassen, denn [… es]119 bezieh[t] sich auf die übrige [dem dianoetischen Denken immanente] Gattung des Seiennicht-seiend im Sinne von falsch[-seiend]« übersetzt haben, bzw. als »„es ist“ im Sinne von „es ist wahr“ und „es ist nicht“ im Sinne von „es ist falsch“« (s. o. n111). 115 Die substantivische Übersetzung des »τὸ […] ἀληθὲς« als »das Wahre« im Sinne des wahren Urteils, sowie des »τὸ […] ψεῦδος« als »das Falsche« im Sinne des falschen Urteils wäre in diesem Satz auch insofern unglücklich, als es dann ja hieße: »Das wahre Urteil meint die Affirmation«, »das wahre Urteil meint die Negation«. Das kann Aristoteles aber nicht im Sinn gehabt haben, denn ein Urteil meint nicht eine Affirmation/Negation; es ist eine solche. Übersetzen wir dagegen: »Das Wort „wahr“ meint …« bzw. »der Ausdruck „es ist wahr“ meint …«, dann sind die Objekte „Affirmation“ und „Negation“ voll und ganz angemessen. 116 Ich lasse hier einige Sätze aus: (1) Zz. 23-25, wo auf die logische Einheit des (verbindenden und trennenden) Urteils hingewiesen wird; (2) Zz. 25-27, wo erklärt wird, dass sich das Eigenschaftspaar wahr bzw. falsch lediglich im Denken und nicht in den [äußeren] Dingen befindet; (3) Zz. 27-28, wo kurz das wahre Denken des Einfachen angesprochen wird und Zz. 28-29 wo diesbezüglich auf Met. IX, 10 verwiesen wird. (Auf den seit Jaeger viel diskutierten Unterschied zwischen dem »τὸ δὲ ὡς ἀληθὲς ὄν, καὶ μὴ ὂν ὡς ψεῦδος« aus Zz. 18-19 und dem »τὸ δὲ κυριώτατα ὂν ἀληθὲς ἢ ψεῦδος« aus Met. IX, 10, 1051b1-2, welchem dort ein Platz unter den „πράγματα“ [den realen Dingen] zugewiesen wird, kann im Rahmen unserer Arbeit nicht eingegangen werden. Zur Geschichte dieser Diskussion s. z. B. K. Oehler, Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles, Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsproblems in der Antike, Meiner, Hamburg, 19852, 170171, K. Pritzl, »Being True…«, 178-180, insb. 179 n12 und P. Crivelli, Aristotle on Truth, Cambridge University Press, 2004, 63-66, insb. 63 n66). 117 Im dianoetische Denken (διάνοια) geht es, wie de Rijk herausgestellt hat, generell um Verbindung und Trennung (»uniting or disconnecting«, L. de Rijk, »The Anatomy of the Proposition…«, 39, 44-45, s. auch Aristotle: Semantics…, Bd. I, 114), also um affirmative bzw. negative Kopulativurteile. 118 Die nun folgende Stelle 1027b31-33 lasse ich hier bewusst aus, um sie weiter unten aufzugreifen (s. n126). 119 Von 1027b33 bis 1028a2 behandelt Aristoteles das akzidentelle und das veritative Sein gemeinsam. Der Übersichtlichkeit halber habe ich jedoch alles, was das akzidentelle Sein betrifft eliminiert. Den Satz über die Ursache des akzidentellen und veritativen Seins (1027b34) lasse ich ganz aus. Er lautet: »Denn des einen Ursache (αἴτιον) ist unbestimmt, des andern Ursache aber ist eine gewisse Affektion (πάθος) des Denkens«. Hier gilt, was wir bereits weiter oben (n112) angemerkt haben: Besagte Affektion des Denkens (das wahre Urteil) ist nur insofern Ursache des veritativen Seins, als es seine materia circa quam darstellt. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 469 den120 und offenbar[t] keine außerhalb [desselben] bestehende Natur des Seienden121. Wollen wir dem aristotelischen Argumentationsstrang folgen, müssen wir mit den in [a1] grundgelegten Voraussetzungen beginnen: [α] Das veritative „ist [= es ist wahr, dass …]“ und das entsprechende „ist nicht [= es ist nicht wahr, dass …]“ bezieht sich auf verbindende (affirmative) und trennende (negative) Urteile. Das verbindende Urteil hat die allgemeine Form „S ist P“ und wird auch einfach „Verbindung“ („σύνθεσίς“, „συμπλοκή“) genannt122, das trennende Urteil hat die Form „S ist nicht P“ und wird auch einfach „Trennung“ („διαίρεσις“) genannt. In der Formulierung »γένος τοῦ ὄντος« (»Gattung des Seienden«) ist „ὄν“ substantivisch zu verstehen (als thing-that-is, id quod est), wie de Rijk zu Recht anmerkt (Aristotle: Semantics…, Bd. II, 147). In 1027b31-33 hat Aristoteles von einer ersten Seinsgattung gesprochen: von denjenigen Dingen, die im eigentlichen Sinne seiend sind (τῶν κυρίως [ὄντων]), weil sie außerhalb des dianoetischen Denkens bestehen. Hier spricht er nun von der »anderen« (»ἕτερον«, Z.31) bzw. »übrigen« (»λοιπὸν«, 1028a1) Seinsgattung: von denjenigen Dingen, die nur innerhalb des dianoetischen Denkens bestehen, nämlich von den wahren und falschen Urteilen. Charles und Peramatzis beschreiben diese Seinsgattung folgendermaßen: »The way of being in question is, as Aristotle emphasises, one which belongs per se to thoughts and is distinguished from a further distinctive way of being, which belongs per se to external, mind-independent objects« (D. Charles, M. Peramatzis, »Aristotle on Truth-Bearers«, 6). 121 „Eine außerhalb bestehende Natur des Seienden zu offenbaren“ ist in dem Sinne zu verstehen, (a) dass das „…ist …“ ein gegebenes reales Subjekt noch genauer erklärt, und zwar (b) seiner Natur nach. Dies trifft nämlich weder (a) für das veritative (Met. VI, 4) noch (b) für das akzidentelle „sein“ (Met. VI, 2-3) zu, wie Aristoteles hier erklärt: (a) Das veritative „ist“ erklärt überhaupt kein reales Subjekt, sondern qualifiziert ein Urteil (welches als solches im urteilenden Verstand und nicht in den Dingen ist). (b) Das akzidentelle „ist“ erklärt zwar generell ein reales Subjekt (z. B. ein Kleeblatt), offenbart aber nichts, was streng genommen zu seiner Natur gehörte, (sondern beispielsweise nur, dass es [gelegentlich und zufällig] vierblättrig ist). 122 „Verbindung“ bzw. „Verbundenheit“ als Eigenschaft von Urteilen kann bei Aristoteles zweierlei heißen: einerseits (a) die Verbindung von Subjekt und Prädikat vermittels der Kopula und andererseits (b) die Verbundenheit des Urteils als Ganzem mit der Realität: Sofern der Gedanke die Realität trifft, ist er mit ihr verbunden; trifft er sie nicht, ist er von ihr getrennt. In letzterem Sinne werden σύγκειμαι und συντίθημι beispielsweise in Met. IV, 7, 1012a1-5, V, 29, 1024b17 und XI, 8 1065a21-23 verwandt. Dies ist aber hier meines Erachtens nicht der Fall, genauso wenig wie in Met. IX, 10, 1051b3-5 (»…so daß der die Wahrheit sagt, der vom Getrennten urteilt, es sei getrennt, von dem Zusammengesetzten, es sei zusammengesetzt, der dagegen im Irrtum ist, welcher anders denkt, als die Dinge sich verhalten«), weil hier wie dort ein klarer Parallelismus gezeichnet wird zwischen einer gedanklichen Verbindung (S-P) und einer entsprechenden realen Verbindung: Wahr ist die gedankliche Verbindung des in der Realität Verbundenen sowie die gedankliche Trennung des in der Realität Getrennten, falsch ist die gedankliche Verbindung des in der Realität Getrennten sowie die gedankliche Trennung des in der Realität Verbundenen. 120 470 Albert Gutberlet, L.C. [β] Das Ganze aus veritativem „sein“ und entsprechendem „nichtsein“ („es ist [wahr] bzw. nicht [wahr], dass …“) betrifft ein Paar kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile, beispielsweise das Urteilspaar: „Sokrates ist gebildet“ ↔ „Sokrates ist nicht gebildet“. [βˈ] Das veritative „ist“ bezieht sich auf wahre Urteile (solche, die gedanklich verbinden, was in der Realität verbunden ist, bzw. solche, die gedanklich trennen, was in der Realität getrennt ist). Das entsprechende „ist nicht“ bezieht sich auf die entgegengesetzten falschen Urteile. Der Bezug des veritativen Seins auf wahre Urteile (Verbindungen und Trennungen) nun ist der unmittelbare Grund, warum es nicht das eigentliche Sein ist, welches in der Metaphysik behandelt werden soll: [a2] Die Verbindungen und Trennungen, auf welche es sich bezieht, sind keine äußeren Gegenstände, sondern etwas dem dianoetischen Denken Immanentes. Der komplexe Denkakt: „Es ist: ‚Sokrates ist gebildet‘“ geht nämlich nicht nach außen, sondern ist reflexiv; er geht auf ein in ihm selbst enthaltenes Objekt, auf den ihm untergeordneten Gedanken: „Sokrates ist gebildet“, und bezieht sich unmittelbar nur darauf, und nicht auf etwas, was außer ihm läge123. Das hier formgebende veritative „ist“ offenbart also nichts außerhalb des Denkaktes Bestehendes, sondern lediglich eine Eigenschaft des Denkaktes selbst und wird deshalb von der metaphysischen Betrachtung ausgeschlossen. Diese Schlussfolgerung setzt ihrerseits eine ungesagte Prämisse voraus: nämlich dass im Gegensatz hierzu das „‚seiend‘ im eigentlichen Sinne“, welches in der Metaphysik behandelt werden soll, stets etwas Extramental-Reales behaupten, ausdrücken, offenbaren muss. Dieses Ungesagte ist die eigentliche These des Stagiriten, und sie erlaubt uns nun, in seinem Sinne auf die Ausgangsfrage zu antworten: Ist das eigentlich-metaphysische „sein“ (1) hauptsächlich oder gar ausschließlich das Existenzverb, oder (2) ist es auch – vielleicht sogar in erster Linie – die Kopula? 123 Natürlich bezieht sich das veritative „ist“ indirekt auch auf die Realität, denn es behauptet ja, dass ein bestimmtes Urteil der Realität gleichförmig ist. Sein direkter Gegenstand aber, von dem es unmittelbar behauptet, dass er wahr ist, ist dieses Urteil selbst. L. de Rijk (Aristotle: Semantics…, Bd. II, 144) trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn er von einem »coincidental link« des veritativen Seins mit der Realität spricht. Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 471 (1) Zunächst fragt sich ganz generell: Was drücken denn das Existenzverb und die Kopula dem aristotelischen Sprachempfinden nach aus: Realität oder bloße Gedankendinge? (a) Das schlichte existentiale „…ist“ bedeutet zweifellos eine vom Denkakt verschiedene Realität, denn wenn Aristoteles einfachhin sagt: „Sokrates ist [= existiert]“, dann meint er nicht, dass Sokrates lediglich in und für sein Denken ist, sondern dass er auch außerhalb desselben tatsächlich existiert. (b) Doch ebendies gilt genauso auch für das kopulative „…ist …“ („…ist ein Mensch“, „…ist gebildet“, „…ist drei Ellen lang“ usw.). Auch die Kopulativsätze: „Sokrates ist ein Mensch“, „Sokrates ist gebildet“ etc. behaupten eine Realität, die außerhalb des entsprechenden Denkaktes tatsächlich besteht. Wenn der Stagirit einfachhin sagt: „Sokrates ist gebildet“, dann meint er nicht, dass Sokrates nur innerhalb des Denkens gebildet ist, sondern dass er dies schlechthin, d. h.: auch außerhalb des entsprechenden Denkaktes ist. Für ihn drückt die Kopula – wenn sie richtig verwendet wird – aus, wie „die Dinge sich verhalten“ (so die Bonitz-Seidl Übersetzung von Met. IX, 10, 1051b5124), mit anderen Worten: es behauptet Tatsachen, es offenbart die Realität als solche. Nicht nur das Existenzverb also, sondern gerade auch die Kopula drückt Realität aus125. Was in Met. VI, 4 von der metaphysiS. o. n122. In der Tat, das aristotelische „πρᾶγμα“, welches im Lateinischen als „res“ übersetzt wird, von welchem sich dann die mittelalterlich-neuzeitlichen Begriffe realis und realitas herleiten, ist keineswegs immer als „existierendes Ding“ zu verstehen. Im Zusammenhang mit den Begriffen „wahr“ und „falsch“ und als Gegenstand der διάνοια (des urteilenden Denkens ) wird es heute zurecht mehr und mehr als „Sachverhalt“ interpretiert (so in Kat. 5, 4b8-10; 10, 12b1216; 12, 14b, 18-22; Peri Herm. 3, 16b19-23; 12, 21b19-32; An. Pr. II 27, 70a32; Phys. VIII, 8, 263a17; De Gen. et Corr. 8, 325a18; Met. I, 3, 984a18-19; IV, 4, 1006b20-22; V, 29, 1024b1621; IX, 10, 1051b1-5; Rhet. I, 1, 1354a22), also als das Verhältnis zwischen einem realen Subjekt und seinem realen Prädikat, welches eben durch die Kopula zum Ausdruck gebracht wird (s. hierzu generell: L. de Rijk, »The Anatomy of the Proposition…«, 33-36; »On Aristotle’s Semantics in De interpretatione 1-4«, in: K. Algra, P. van der Horst, D. Runia, (Hrsg.), Polyhistor, Studies in the History and Historiography of Ancient Philosophy, Brill, Leiden 1996, 119; K. Pritzl, »Being True…«, 184, Weidemann, Aristoteles, Peri Hermeneias, 138, P. Crivelli, Aristotle on Truth, 45-46; und zu einigen Stellen im Besonderen: G. Nuchelmans, Theories of the Proposition. Ancient and Medieval Conceptions of the Bearers of Truth and Falsity, North Holland Linguistic Series, Bd. VIII, Brill, Amsterdam 1973, 33-36; C. Whitaker, Aristotle’s De Interpretatione…, 30; F. Wolff, »Proposition, être et vérité: Aristote ou Antisthène? A propos de Aristote, Métaphysique Δ, 29«, in: Ph. Büttgen, St. Diebler, M. Rashed (Hrsg.), Théories de la phrase et de la proposition de Platon à Averroès, Presses de l’École Normale 124 125 472 Albert Gutberlet, L.C. schen Betrachtung ausgeschlossen wird, ist daher, wie es im Text heißt, das veritative „sein“ und es allein: nicht das existenziale und ebenso wenig das kopulative. (2) Mehr noch: das kopulative „sein“ wird nicht nur nicht ausgeschlossen, es wird sogar in erster Linie behandelt; es ist der Fokus der metaphysischen Untersuchung. Das „‚sein‘ im eigentlichen Sinne“, welches Aristoteles dem uneigentlichen „‚sein‘ im Sinne von ‚wahrsein‘“ entgegensetzt, wird von ihm nämlich keineswegs als Da-sein beschrieben, sondern als die Gesamtheit der kategorialen Weisen des Soseins, die einem gegebenen Subjekt zukommen: „was etwas ist“, „wie es ist“, „wie groß es ist“ usw. (1027b31-33126). Es ist das Mensch-sein, das Gebildet-sein, das drei-Ellen-lang-sein etc., wobei „-sein“ jeweils als bestimmbares Prädikat, d.h. als Kopula, und nicht als Existenzverb fungiert127. Dieser Fokus auf dem „sein“ als Kopula wird v. a. (α) in Met. V, 7 und (β) in Met. VIII, 2 noch eingehender entwickelt: Supérieure, Paris 1998, 51; D. Modrak, Aristotle’s Theory of Language and Meaning, Cambridge University Press 2001, 57). 126 „[…] ἢ γὰρ τὸ τί ἐστιν ἢ ὅτι ποιὸν ἢ ὅτι ποσὸν ἤ τι ἄλλο συνάπτει ἢ ἀφαιρεῖ ἡ διάνοια“; „[…] denn entweder was [etwas] ist, oder wie [es ist] oder wie groß [es ist] oder sonst etwas [Derartiges], dieses verbindet oder trennt das dianoetische Denken [mit oder von einem gegebenen Subjekt]*“ (m. Ü.). *Ich folge mit letzterer Ergänzung der Auslegung von W.D. Ross, Aristotle’s Metaphysics: a revised text / with introduction and commentary, Clarendon, Oxford 19584, Bd. I, 365366: »Thought is always assigning or else denying to a given subject a certain essential nature, a certain quality, quantiy &c.« (mein Kursivdruck). Manche Autoren verstehen den aristotelischen Satz in dem Sinne, dass die Kategorien dasjenige sind, was miteinander verbunden oder voneinander getrennt wird. Mit dieser Interpretation stimmt jedoch das „ἢ … ἢ … ἢ … ἢ …“ („entweder … oder … oder … oder …“) nicht organisch überein: Das „entweder–oder“ setzt alle genannten Kategorien auf die gleiche Ebene als etwas, das verbunden oder getrennt wird, ohne dass ausdrücklich gesagt wird, womit oder wovon. Hätte Aristoteles die gegenseitige Verbindung oder Trennung gemeint, so hätte er wohl eher ein einfaches „… καὶ … καὶ … καὶ …“ („… und … und … und …“) verwendet. A und B zu verbinden hat nämlich den Sinn des miteinander Verbindens; entweder A oder B zu verbinden hat diesen Sinn nicht. 127 Crivelli hat diesbezüglich eine abweichende Position bezogen: Er erkennt einerseits an, dass Aristoteles sich in Met. VI, 4 ganz auf das kopulative Sein beschränkt. Andererseits glaubt er jedoch, er habe in Met. IX, 10 den metaphysischen Diskurs bewusst auf Existenzialurteile ausgeweitet und dies bereits in VI, 4 angekündigt (P. Crivelli, Aristotle on Truth, 67, 99-116). Er beruft sich hierbei auf 1027b27-29, wo es heißt: »Bei den einfachen Dingen (τὰ ἁπλᾶ) und dem Was [sind Wahrheit und Falschheit] aber auch nicht im [dianoetischen] Denken. Was nun also über das in diesem Sinne Seiende und Nichtseiende zu untersuchen ist, das wollen wir später erwägen«. Crivelli irrt sich aber: Der Denkakt, welcher die einfachen Dinge betrifft, ist für Aristoteles überhaupt kein Urteil, weder das kopulative noch das existenziale, sondern die einfache Verstandesauffassung, das schlichte νοεῖν (1052a1). Dies wird klar, wenn Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 473 (α) Die für uns entscheidende Stelle aus Met. V, 7, der Passus 1017a23-30, steht unter dem Titel: »καθ᾽ αὑτὰ εἶναι«, hier am besten übersetzt als »„sein“ für sich selbst genommen«128, also buchstäblich »„sein“ im eigent-lichen Sinne«. Aristoteles schreibt: man bedenkt, dass auch in Existenzurteilen der Irrtum möglich ist; hinsichtlich der einfachen Dinge ist dagegen für Aristoteles der Irrtum nicht möglich, sondern nur Kenntnis (νοεῖν) und Unkenntnis (ἄγνοια) (ebd. 1-2). Das Denken der einfachen Dinge kann also kein Existenzurteil sein. Seidl hat entsprechend in seiner Bonitz-Überarbeitung den obigen Satz (1027b27-28) folgendermaßen ergänzt: »Bei den einfachen Dingen und dem Was [sind Wahrheit und Falschheit] aber auch nicht im [dianoetischen] Denken (sondern in einem intuitiven Erfassen)«. De Rijk erklärt den Satz in eben demselben Sinne: »As far as the mental act of simple apprehension is concerned, which admittedly precedes any act of combining or separating, truth and falsity are not even in discursive thought (διάνοια), but, as we will be taught later, in intuitive thinking only (νους)« (L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. II, 146). 128 Diese Übersetzung wurde mir von Dr. Andreas Kramarz suggeriert und von Dr. Charles Mercier bestätigt. Auch A. Bäck (Aristotle’s Theory of Predication, Brill, Leiden-Boston-Köln 2000, 65) benutzt sie ganz bewusst, und schon F. Brentano in seiner Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung…, 86, verwendet den ganz ähnlichen Ausdruck »[Sein] als solches«. Das »καθ᾽ αὑτὰ εἶναι« kann hier nämlich nicht, wie oft angenommen wird, im direkten und ausschließlichen Gegensatz zum »ὂν […] κατὰ συμβεβηκὸς« (»seiend per accidens«) aus 1017a7 stehen, (wie z. B. W. D. Ross, Aristotle’s Metaphysics…, 307, C. Shields, Order in Multiplicity…, 244, J. Yu, The Structure of Being in Aristotle’s Metaphysics, Kluwer, Dordrecht 2003, 12, L. de Rijk, Aristotle: Semantics…, Bd. II, 110 und J. Brakas, »Saying, Meaning and Signifying: Aristotle’s λέγεται πολλαχῶς«, in The Society for Ancient Greek Philosophy Newsletter, 328 [2003], 14 vorschlagen), denn bei genauerer Betrachtung der von Aristoteles gegebenen Beispiele überschneiden sich diese beiden Seinsarten, wie A. Bäck (Aristotle’s Theory…, 65-71) und S. Weiner (»Aristotle’s Metaphysics V 7 Revisited«, in Apeiron, 48 [2015], 408, 412) deutlich gemacht haben: Mit »seiend per accidens« in Z.7 ist gemeint, dass ein Prädikat seinem Subjekt nicht von Natur aus, sondern bloß gelegentlich und zufällig zukommt, wie das Vierblättrigsein dem Kleeblatt (s. z. B. Thomas v. Aquin, In duodecim libros metaphysicorum Aristotelis expositio, M. Cathala, R. Spiazzi (Hrsg.), Marietti, 1950, Internetversion: https://www.corpusthomisticum.org/cmp00.html., lect. 9, n.1; F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung…, 9-13, R. Dancy, »Aristotle and Existence«, in S. Knuuttila, J. Hintikka, The Logic of Being, 64, A. Llano, »The different meanings…«, 33). Dem direkt und ausschließlich entgegengesetzt wäre, dass ein Prädikat seinem Subjekt von Natur aus und deshalb immer oder meistens zukommt. Doch die von Aristoteles angeführten Beispiele für das »καθ᾽ αὑτὰ εἶναι« aus Z. 23 sind u. a. »ist gesund«, »ist gehend« und »ist schneidend« (Zz. 28-29), und dies kommt keinem Ding von Natur aus zu. Jenes »καθ᾽ αὑτὰ εἶναι« entspricht vielmehr dem »[„seiend“, sofern es] die Aussageformen [bezeichnet]« aus Met. VI, 2, 1026a36, welches sich dann in Met. VI, 4 als das eigentlichmetaphysische Sein herausstellt, denn es zeichnet sich dadurch aus, dass es sich in genauso viele Arten einteilt als es Kategorien gibt. Daher schreibt schon Apelt lapidar: »das ὄν καθ’ αὑτὸ d. i. das ὄν der Kategorieen« (Beiträge…, 118, s. hierzu auch Thomas v. Aquin, In duodecim libros metaphysicorum…, lect.9, n.5; F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung… 86; 474 Albert Gutberlet, L.C. Sein für sich selbst genommen sagt man (λέγεται) auf so vielfältige Weise, wie [das „sein“] die Aussageformen (τὰ σχήματα τῆς κατηγορίας) bezeichnet (σημαίνει)129; denn auf so vielfältige Weise [überhaupt etwas] gesagt wird (λέγεται)130, so vielfältig bezeichnet das [Wort] „sein“ [etwas]. Da nun von den Kategorialprädikaten [κατηγορουμένων]131 einige bezeichnen [σημαίνει] was-[etwas]-ist, einige wie-[es-ist], einige wie-groß-[es-ist], einige woraufhin-[esist], einige [sein] Tun oder Leiden, einige, wo-[es-ist], einige wann[es-ist], so bezeichnet das [Wort] „sein“ [jeweils] dasselbe wie jedes einzelne dieser [Kategorialprädikate] […]“ (1017a22-27, m. Ü.)132. C. Witt, Substance and Essence in Aristotle. An Interpretation of Metaphysics VII-IX, Cornell University Press, Ithaca 1989, 50). Apelt erkennt in ihm das aus dem Urteilszusammenhang herausgetrennte – d. h. für sich genommene – kategorial bestimmte So-sein (»für sich […] aus dem Urteil herausgehoben«, Beiträge…, 117; »aus dem Urteil […] herausgehoben und für sich aufgefaßt«, ebd. 119). 129 Die Ross-Übersetzung: »those things are said […] to be that are indicated by the figures of predication« ist hier meines Erachtens nicht angemessen, weil sie ein Verb im Singular (»σημαίνει«) einem Subjekt im Plural (»τὰ σχήματα τῆς κατηγορίας«) zuordnet. Das Einzige, was als singuläres Subjekt infrage kommt, ist das »εἶναι« aus Z. 22. Bonitz-Seidl vermeiden eine eindeutige Festlegung, wenn sie übersetzen: »Sein an sich sagt man in so vielen Bedeutungen, wie es Formen der Kategorien gibt«. Klar in unserem Sinne übersetzt dagegen Reale: »Essere per sé sono dette, invece, tutte le accezioni che ha l’essere secondo le figure delle categorie« (»Für sich genommen seiend werden dagegen all jene Wortsinne genannt, welche das Sein den Aussageformen nach hat«). 130 Auch das »ὁσαχῶς … λέγεται« aus Zz. 23-24 steht im Singular und kann sich also ebenso wenig auf die Formen der Kategorien beziehen. Es könnte sich selbstverständlich auf dasselbe »εἶναι« aus Z. 22 beziehen (so z. B. F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung…, 194), doch dann wäre der Folgesatz (»τοσαυταχῶς τὸ εἶναι σημαίνει«) weitgehend redundant. Ich lese es daher als ein absolutes λέγειν, als ein nicht weiter bestimmtes Sagen oder Sprechen überhaupt. 131 Ich vermeide hier das schlichte Wort „Kategorien“ und benutze wie Apelt und Ross das entsprechende lateinisch-stämmige Wort „Prädikate“, weil „Kategorien“ leicht als absolute Realitäten missverstanden werden könnten (so z. B. bei C. Shields, Order in Multiplicity…, 244 und J. Yu, The Structure of Being…, 2). Realitäten als solche bezeichnen aber nichts, sondern werden allenfalls bezeichnet. Ein Prädikat (bzw. Kategorialprädikat) ist dagegen eindeutig ein Satzteil, der als solcher etwas bezeichnet. 132 Hier der griechische Text in seiner Gesamtheit: »καθ᾽ αὑτὰ δὲ εἶναι λέγεται ὅσαπερ σημαίνει τὰ σχήματα τῆς κατηγορίας: ὁσαχῶς γὰρ λέγεται, τοσαυταχῶς τὸ εἶναι σημαίνει. ἐπεὶ οὖν τῶν κατηγορουμένων τὰ μὲν τί ἐστι σημαίνει, τὰ δὲ ποιόν, τὰ δὲ ποσόν, τὰ δὲ πρός τι, τὰ δὲ ποιεῖν ἢ πάσχειν, τὰ δὲ πού, τὰ δὲ ποτέ ἑκάστῳ τούτων τὸ εἶναι ταὐτὸ σημαίνει.« Ganz Ähnliches lesen wir auch in den Analytica Priora, I, 37, 49a6-8: »Dass aber dieses jenem zukommt (ὑπάρχειν τόδε τῷδε) und von ihm wahr ist (ἀληθεύεσθαι), das ist auf so vielfache Weise zu nehmen (τοσαυταχῶς ληπτέον), wie die Kategorien eingeteilt sind (ὁσαχῶς αἱ Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 475 Dieser Passus ist – so hat bereits Otto Apelt herausgestellt – der klarste Beleg dafür, dass Aristoteles das den Kategorien gemäß aufgeteilte metaphysische Sein wesentlich kopulativ denkt133. Selbst Ross hat mit einer gewissen Verwunderung zugestanden, »[...] dass Aristoteles [...hier134] auf die [...] Sinne des kopulativen „ist“ eingeht«135. Enrico Berti drückt es noch deutlicher aus: Hier weist Aristoteles offensichtlich auf den Gebrauch des Verbes „sein“ als Prädikat hin, als Kopula also, der ein Prädikatsnomen folgt, welches ausdrücken soll, was eine Sache ist, d. h.: die Seinsweise, die ihr zukommt136. Mehr noch: Aristoteles denkt das metaphysische „sein“ als Universalprädikat, oder, wie es Berti formuliert, als „allgemeinen Stellvertreter“ („vicario universale“137) für alle denkbaren Verben, sofern man mit seiner Hilfe jeden beliebigen Sachverhalt ausdrücken kann. Der Stagirit führt nämlich den von uns zitierten Abschnitt folgendermaßen fort: …denn es ist kein Unterschied, ob man sagt „der Mensch ist gesund“ oder „der Mensch befindet sich wohl“, „der Mensch ist gehend κατηγορίαι διήρηνται)« (m. Ü. nach der Ausgabe von W. D. Ross, Analytica priora et posteriora, Clarendon, Oxford 1964). 133 »Diese Worte […] geben […] auf das bestimmteste und unzweideutigste das ἐστι der Kopula als das ὄν der Kategorieen zu erkennen« (O. Apelt, Beiträge…, 126). 134 Ross spricht nicht nur über die von uns angeführten Zeilen (23-30), sondern über die gesamte erste Hälfte des Kapitels über die Seinssinne (Met. V, 7, 1017a7-30). Und wir dürfen hinzufügen, dass der Stagirit, nachdem er in den folgenden Zeilen (Zz. 31-35) ausschließlich das veritative „sein“ bespricht, schließlich das „sein“ im Sinne des Vermögens und der Wirklichkeit (Zz. 1017a35-b8) wieder ganz im kopulativen und nicht im existenzialen Sinne denkt: als „sehend sein“ (b2), „im Steine sein“ (7) usw. 135 »…that Aristotle […] dwell[s] on […] senses of the copulative “is”« (W. D. Ross, Aristotle’s Metaphysics, Bd. I, 308). 136 »Qui evidentemente Aristotele allude all’uso del verbo “essere” come predicato, ovvero come copula seguita da un predicato nominale, mirante a dire ciò che una cosa è, ossia a indicare il modo di essere che le appartiene« (E. Berti, »Essere«, 46). Ganz ausdrücklich in diesem Sinne auch C. Kahn, »The Greek Verb ‘to Be’…«, 249 und S. Fazzo, »“Being” (τὸ ὄν) as Said of Predicates in the Critical Text of Aristotle, Metaphysics Lambda«, in Proceedings of the World Congress: Aristotle 2400 Years, Ziti Publications, Aristotle University of Thessaloniki 2019, 417. 137 E. Berti, »Essere«, 46. S. auch ebd. 34; vgl. n73. 476 Albert Gutberlet, L.C. oder schneidend“ oder „der Mensch geht oder schneidet“, und ähnlicher Weise [ist es] auch bei den übrigen [Kategorialprädikaten] (1017a28-30, Bonitz-Seidl, leicht überarbeitet)138. (β) In Met. VIII, 2 spricht Aristoteles über die Gattungs- und Artunterschiede der sinnfälligen Substanzen und erklärt, dass Erstere das Sein der Letzteren ausmachen: Offenbar wird daher auch das „ist“ in ebenso vielen Bedeutungen ausgesagt, [wie etwas durch seine Gattungs- und Artunterschiede bestimmt wird] (1042b25-26). Geht es beispielsweise um eine Unterschwelle (im Gegensatz zu einer Oberschwelle), »dann bedeutet „sein“, „so und so zu liegen“« (Z. 27). Geht es um Eis, dann bedeutet „sein“, »so und so verdichtet zu sein« (Z. 29). Geht es um ein Bündel, dann bedeutet „sein“, „so und so gebunden zu sein“ (vgl. Z. 17). Geht es um ein Frühstück (im Gegensatz zu einem Abendessen), dann bedeutet „sein“, „zu einer bestimmten Zeit zu sein“ (vgl. Zz. 20-21). Geht es um den Ostwind (im Gegensatz zum Westwind), dann bedeutet „sein“, „aus einer bestimmten Himmelsrichtung zu sein“ (vgl. Z. 21). (Ganz in diesem Sinne auch De Anima II, 4, 415b13139: »Für ein Lebewesen bedeutet „sein“, „lebendig zu sein“«, m. Ü.)140. In all diesen Fällen ist das Sein auch wieKahn erläutert diese Stelle folgendermaßen: »The verb to be in Greek, and notably its participle ὄν, can express any form of reality and any type of sentential truth-claim« (»Questions and Categories, Aristotle’s doctrine of categories in the light of modern research«, in H. Hiz [Hrsg.], Questions, Reidel, Dordrecht 1978, 256. Ganz ähnlich auch E. Berti, »Essere«, 34. 139 Für den griechischen Text folge ich E. Wallace, Aristotle’s Psychology, in Greek and English with Introduction and Notes, Cambridge University Press, 1882. 140 G. Matthews (»Aristotle on Existence«, 233-235) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Met. VIII, 2 eine »unbestimmt große Anzahl von Weisen«, das „sein“ zu sagen, postuliert. Er nennt dies eine »beunruhigende Behauptung« (»unsettling claim«). Beunruhigend wäre dies jedoch nur, wenn „sein“ eine ganz bestimmte Eigenbedeutung hätte, welche in jedem Satz eine andere wäre. Doch bedeutet „sein“ ja für sich genommen gar nichts, wie Aristoteles bereits in Peri Herm. 3 grundgelegt hat, sondern es hat überhaupt nur gemeinsam mit Anderem eine Bedeutung: Gemeinsam mit einer jeweiligen Kategorialbestimmung („verdichtet“, „verbunden“…) bedeutet es (προσ-σημαίνει) ein kategoriales Sein („verdichtet-sein“, „verbunden-sein“ usw.). Die gelungenste Erläuterung der mit-bedeutenden Funktion der Kopula bleibt meines Erachtens auch heute noch die Apelts: »In der Kopula liegt die Anweisung zur näheren 138 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 477 der kein Da-sein, sondern ein ganz bestimmtes, durch Gattungs- und Artunterschiede definiertes So-sein141. Für das metaphysische Sein gilt also, was Owen schon in den Sechzigerjahren schrieb, und was seitdem in der Aristotelesforschung zum geflügelten Wort geworden ist: »To be, then, is always to be something or other«142. Er brachte hiermit auf den Punkt, was sogar Ross schon einmal vorsichtig suggeriert hatte: »To be is either to be a substance, or to be a quality, or to be in some other of the categories, for nothing can be without being of some kind«143. Zusammenfassend können wir festhalten: nicht das Da-sein, sondern das So-sein des Seienden ist der Fokus der aristotelischen Metaphysik, und im entsprechenden Sprachzusammenhang fungiert das Verb „-sein“ nicht als alleinstehendes Existenzverb, sondern als Kopula. Hierzu jedoch auch wieder eine klärende Anmerkung: Dass das metaphysische „sein“ bei Aristoteles durch und durch kopulativ ist, bedeutet nicht, dass es rein kopulativ sei, als bringe es lediglich das logische Verhältnis zwischen zwei Begriffen zum Ausdruck. In diesem Sinne unterscheidet der Stagirit sich ganz wesentlich von Kant, für den der Kopulativsatz: „Gott ist allmächtig“ bloß hypothetische Aussagekraft besitzt: Indem er nur anzeige, dass der Gottesbegriff den Allmächtigkeitsbegriff impliziert, sage er nicht mehr als dass, wenn ein Gott ist, er dann allmächtig sei144. Dass der aristotelische Kopulativsatz dagegen im Normalfall zugleich eine existenziale Aussagekraft besitzt, findet heute unter den Forschern immer klarere Anerkennung. Bereits Bestimmung des Subjekts für die gedachte Erkenntnis: das Prädikat bringt die Erfüllung derselben; beide aber, Kopula und Prädikat, fließen zur Einheit zusammen« (Beiträge…, 127). 141 Auf den kopulativen Charakter des Seins in dieser Passage wies ebenfalls bereits Apelt hin: »Denn auch hier zeigt sich deutlich das ὄν als das ἐστι der Kopula« (Beiträge…, 115); besonders besteht darauf A. Gómez-Lobo, »Aristotle, Metaphysics H 2«, in Diálogos 38 (1981), 9-11. Auch Bäck beschreibt das „εἶναι“ klar als ein durch die Differenzen bestimmbares Prädikat (Aristotle’s Theory…, 74). 142 G. E. L., Owen, »Aristotle on the Snares…«, 76. 143 W. D. ROSS, Aristotle’s Metaphysics…, Bd. I, 308. Sebastian Weiner paraphrasiert sowohl Ross als auch Owen mit den Worten: »According to Aristotle, “to be” always means to be something, that is, to be of a quality, to be in a relation or to be of a certain substance« (S. Weiner, »Aristotle’s Metaphysics V 7…«, 414). 144 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 626-627, A 598-599, S. 533. 478 Albert Gutberlet, L.C. Ross macht dahingehend eine erste Andeutung145; ganz ausdrücklich in diesem Sinne dann Autoren wie Furth146, Hintikka147, Bäck148, Kahn149, Villko150, Weiner151 et al.). Aristoteles selbst erklärt unmissverständlich: Der Satz: Sokrates ist gesund, ist ja doch dem Satz: Sokrates ist krank, konträr. […] Wenn Sokrates ist, ja dann muss der eine Satz wahr und der andere falsch sein, wenn er aber nicht ist, sind beide falsch. Denn es ist weder wahr, dass Sokrates krank, noch dass er gesund ist, wenn Sokrates überhaupt nicht ist. (Kat. 11, 13b14-19, mein Kursivdruck)152. Kopulativsätze setzen für den Stagiriten also in der Regel die Existenz ihres Subjekts voraus. Dass diese Regel zwar auch ihre Wir erwähnten bereits, dass Ross ein gewisses Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, dass Aristoteles in Met. V, 7, 1017a7-30 kopulative Seinsweisen behandelt (s. o. n135). Dazu fügt er folgenden Gedanken: »The reason is that, though logically the existential “is” may be distinguished from the copulative, metaphysically it is not.« (W. D. Ross, Aristotle’s Metaphysics…, Bd. I, 308). 146 M. Furth, »Elements of Eleatic Ontology«, in A. Mourelatos, The Pre-Socratics: A Collection of Critical Essays, Doubleday Anchor, Garden City, N.Y. 1974, 243. 145 »On Aristotle’s Notion of Existence«, 782-784. Aristotle’s Theory…, 2-3, 84. 149 »A Return to the Theory…«, 386, 392. 150 J. Hintikka, R. Vilkko »Existence and Predication…«, 362. 151 »Aristotle’s Metaphysics V 7…«, 414. 152 Hiergegen wird bisweilen folgende Stelle aus dem Peri Hermeneias angeführt: »Homer beispielsweise ist ja irgend etwas, z. B. ein Dichter. Folgt daraus etwa, daß er auch (schlechthin) ist, oder nicht? (Doch wohl nicht); denn nur akzidentell wird das Wort „ist“ hier von Homer prädiziert. Weil er nämlich ein Dichter ist, nicht aber an sich wird hier von Homer das Wort „ist“ prädiziert« (Peri Herm. 11, 21a25-29). Widerspricht sich hier der Stagirit? Spricht er hier von einem inexistenten Subjekt der Kopulation? Dieses Scheinproblem löst sich sofort, wenn wir erneut die griechische Mentalität bedenken, nach der die Toten sich nicht in nichts auflösen, sondern als Schatten im Hades weiterexistieren. Da Aristoteles die historische Existenz des Homer als Verfasser von Ilias und Odyssee nicht grundlegend in Zweifel zog, kann das „ist“ nicht im strengen Sinne existenzial gemeint sein, sondern muss die oben beschriebene vitale Bedeutung tragen (n55). „Homer ist nicht mehr“ bedeutet also nicht, dass er nicht mehr existiert, sondern dass er nicht mehr lebt, nicht mehr unter uns anwesend ist (s. C. Kahn, »Why Existence Does Not Emerge…«, 326; S. Weiner, »Aristotle’s Metaphysics V 7…«, 418-419). Dass dagegen in Kat. 11 nicht das vitale, sondern das existenziale Sein gemeint ist, geht aus dem Nachsatz hervor: »Bei Beraubung und Habitus ist, wenn ihr Subjekt überhaupt nicht existiert (μὴ ὄντος), keins von beiden wahr« (Zz. 20-21). Es geht hier um Subjekte im Allgemeinen – ob sie existieren oder nicht existieren – und nicht um Menschen – ob sie leben oder tot sind und im Hades fortbestehen. 147 148 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 479 Ausnahmen hat, war ihm durchaus bewusst, wie beispielsweise aus De Soph. El. 5, 166b37-167a2 und Met. VII, 4, 1030a25-26 hervorgeht: Einem rein negativen Subjekt nämlich (wie dem „Nicht-seienden“) entspricht als solchem keine positive Existenz, und deshalb setzt ein entsprechender Kopulativsatz (wie: „das Nichtseiende ist nichtseiend“) eine solche Existenz auch nicht voraus. Da aber die Metaphysik – wie jede Wissenschaft – die Existenz ihres Eigensubjektes als gegeben voraussetzt (s. An. Post. I, 10, 76b3-5153), kann das Nichtseiende im Sinne des Nicht-existierenden nicht unter dieses Subjekt fallen, und somit tragen alle metaphysischen Sätze (nach dem Muster: „Das Seiende als solches ist so und so“) ein existenziales Gewicht154. Von der Form her bleibt das metaphysische Sein demnach zwar durch und durch kopulativ, schließt aber die Existenz seines Subjekts keineswegs aus, sondern vielmehr ein. Konklusion und Ausblick Abschließend möchte ich noch einmal zur eingangs zitierten Millschen Kritik zurückkehren, um von dort aus den nächsten Schritt unserer Untersuchungen klarer in den Blick zu rücken. Mill geht davon aus, dass man letztlich keine Grundidee des Seins finden kann, unter welche Existenz und Kopulation gleichermaßen fallen. So hat das Wörtchen „ist“ für ihn zwei radikal missverständliche, nicht aufeinander rückführbare Grundbedeutungen, die nicht vermischt, nicht verwechselt werden dürfen. Dies lässt im Letzten nur zwei ganz und gar getrennte Wege für eine „Wissenschaft von der Natur des Seins“ »Spezifisch eigene sind für jede Wissenschaft auch ihre Subjekte (Gegenstände), deren Sein (- Dasein) angenommen wird, und von denen die Wissenschaft die ihnen an sich zukommenden Eigenschaften betrachtet, z. B. die Arithmetik Einheiten, die Geometrie aber Punkte und Linien. Von diesen (Subjekten) nehmen sie (sc. die Wissenschaften) das Sein (- Dasein) und Dieses-Sein (- Wassein) an«. S. hierzu beispielsweise J. Hintikka, »The Varieties of Being…«, 88ff. und P. Biondi, Aristotle, Posterior Analytics II.19, Introduction, Greek Text, Translation and Commentary, accompanied by a critical analysis, Les Presses de l’Université Laval, Saint Nicolás (Québec) 2004, 91ff. 154 Hier unterscheidet sich Aristoteles scharf von der bereits oben (n5) angesprochenen Wesensmetaphysik, für welche der Begriff des Seienden von der realen Existenz abstrahiert und nur dessen Möglichkeit beinhaltet. 153 480 Albert Gutberlet, L.C. offen: (1) eine rein-existenziale Ontologie, die das „sein“ eben als reine Existenz deutet; (2) eine rein-formale Logik, welche es als reine Kopula betrachtet. Aristoteles beschritt hingegen einen dritten Weg: Für ihn besaß das metaphysische Sein eine ursprüngliche, grundlegende Einheit, in welcher Da-sein und So-sein gleichermaßen enthalten sind. Er prätendierte eine Wissenschaft, die vom Seienden nicht nur sagen kann, dass es ist, sondern auch was und wie es ist; eine Metaphysik, die ohne Bruch vom existenzialen zum kopulativen Sein übergreift. Er setzte an ihren Anfang ein Erstes, dessen Existenz er als schlechthin gegeben voraussetzte, und von dem er erklärte, dass alles, was sonst noch „seiend“ genannt wird, im Hinblick auf jenes Erste so genannt wird: die Substanz („οὐσία“, s. Met. IV, 2, 1003a34-b16). Von der οὐσία wird nicht gefragt, ob sie ist (das wird ja vorausgesetzt), sondern was sie ist (Met. VII, 1, 1028b4). Diesen „dritten Weg“ beabsichtige ich, in einem noch konkret auszuarbeitenden Aufsatz darzustellen und auf seine Gangbarkeit zu untersuchen155. Summary: This article aims at further understanding the meaning and function of the verb “to be” in Aristotle’s Metaphysics: does it express mainly or even exclusively existence or is it used as a copula, linking a subject and predicate? Since the birth of Greek literature, the copula-use has been by far the more common, and so it is also with Aristotle. He even provides us with the nucleus of a theory of the copula, which is not the case with existence in the strict philosophical sense. Analyzing Met. V, 7, VI, 4 and VIII, 2, I conclude that wherever Aristotle tries to determine, what, for being as being, it means “to be”, he refers not to existence, but to some concrete being-such, where the verb “being” functions as a copula. So while metaphysical being does also consistently carry an existential force, regarding its syntactic function it is nonetheless copulative through and through. Key Words: metaphysics, being, Aristotle, copula, existence, nothing, being as truth, affirmation, negation, categories, thought, reality. Sommario: Questo articolo pretende cogliere meglio il significato e la funzione del verbo “essere” nella Metafisica di Aristotele: Esso esprime principalmente o perfino esclusivamente Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Andreas Kramarz (Cheshire, CT., USA) für seine aufmerksame Überprüfung meiner Übersetzungen und textlichen Analysen und für manchen richtungsweisenden philosophischen Anstoß. 155 Das metaphysische „sein“ bei Aristoteles: Kopula oder Existenzverb? 481 l’esistenza, oppure si usa come copula, legando un predicato a un soggetto? Sin dalla nascita della letteratura greca, l’uso copulativo è di gran lunga più comune; e così è pure presso Aristotele. Lui addirittura ci fornisce il nucleo d’una teoria sulla copula, il che non è il caso con l’esistenza nel senso strettamente filosofico. Analizzando Met. V, 8, VI, 4 e VIII, 2, concludo che, ogni qualvolta che Aristotele cerca di determinare, che cosa significa “essere” per l’ente in quanto ente, egli non si riferisce all’esistenza, ma a qualche essere-tale concreto, dove il verbo “essere” funge da copula. Mentre dunque l’essere metafisico possiede pur sempre una certa valenza esistenziale, riguardo la sua funzione sintattica, esso è comunque del tutto copulativo. Parole chiave: metafisica, essere, ente, Aristotele, copula, esistenza, nulla, essere come vero, affermazione, negazione, categorie, pensiero, realtà.