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Die "Physis" bei Aristoteles und Heidegger

2020

Die Naturphilosophie, welche Aristoteles in der "Physik" entwirft, lässt sich als Frage nach dem "Sinn von Natur" und darin zunächst als Komplement zur neuzeitlichen Naturwissenschaft lesen, welche die Natur stets als etwas Verstandenes voraussetzt. Nichtsdestotrotz gibt es deutliche Reibungsflächen, da Aristoteles im Gegensatz zu mechanistischem Denken auf der Unterscheidbarkeit von Natur und Technik beharrt. Martin Heidegger fragt nicht nur in eine ähnliche Richtung wie Aristoteles, sondern bezieht sich vielfach auch explizit auf ihn. Auf die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Technik bietet er eine Antwort, die Aristoteles' Kozeption übersteigt: Für Heidegger ist die Technik die Natur, insofern diese sich vor dem Menschen verbirgt. Während Aristoteles dem Menschen noch Verfügungsgewalt über die Technik zugesteht, ist es für Heidegger nicht der Mensch, der mittels Technik die Natur beherrscht, sondern in Wahrheit die Natur, die in der Technik den Menschen beherrscht. Was sich hierbei verbirgt, sei nichts anderes als die Entbergung selbst.

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Fakultät IV: Human- und Gesellschaftswissenschaften Institut für Philosophie Die „Physis“ bei Aristoteles und Heidegger Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades Master of Arts Erstgutachterin: apl. Prof. Dr. Susanne Möbuß Zweitgutachterin: Dr. Christine Zunke Vorgelegt von: Bengt Früchtenicht Matrikelnummer: Adresse: E-Mail: Studienfach: Philosophie M. A. Sommersemester 2020 Oldenburg, 26.09.2020 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.......................................................................................................................2 2. Geschichtliche Vorbemerkungen...................................................................................4 2.1 Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Physik..........................................4 2.2 Die vor-philosophische Bedeutung von φύσις........................................................7 3. Die φύσις bei Aristoteles..............................................................................................11 3.1 Hinführung zur Frage nach der φύσις...................................................................11 3.2 Definition des Physischen.....................................................................................14 3.3 Φύσις, Technik und das Problem der Form..........................................................18 4. Die φύσις bei Heidegger..............................................................................................32 4.1 Φύσις als Entbergung............................................................................................33 4.2 Sein als φύσις........................................................................................................36 4.3 Kritik an Heideggers Physiskonzeption................................................................39 5. Bewegtheit und Ort......................................................................................................44 5.1 Die Hierarchie der Bewegungsarten.....................................................................45 5.2 Topologie..............................................................................................................50 5.3 Bewegung zwischen Raum und Zeit.....................................................................56 6. Fazit.............................................................................................................................60 Literaturverzeichnis.........................................................................................................62 Eidesstattliche Erklärung.................................................................................................66 1 1. Einleitung Wer sich heute philosophisch über die Natur äußert, erregt leicht den Verdacht, dieselbe zur Rationalisierung der eigenen Weltanschauung zu benutzen – sei es, indem er sie zur neutralen Materie entwertet, in romantischer Schwärmerei überhöht oder im Rahmen von Gegensatzpaaren wie „Natur und Kultur“, „Natur und Mensch“ oder „Natur und Technik“ konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt die Natur als Namensgeberin der „Naturwissenschaft“ unmittelbar mit einer gemeinhin anerkannten Erkenntnisautorität verbunden, was auch die Möglichkeit einer philosophischen Betrachtung nahelegt. Obschon sie hier in anderen Sprachen als der deutschen nicht ganz so präsent sein mag, trägt eine der international renommiertesten Fachzeitschriften – Nature – ihren Namen. Der Name „Physik“ – wie auch „Physiologie“ – ist überdies abgeleitet vom älteren griechischen Begriff der φύσις, welcher im Lateinischen dann durch natura ersetzt wurde1. Dabei fällt auf, dass die Natur (oder φύσις) als solche nie Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft (oder Physik) wird. Unter der Prämisse, dass es sich hierbei dennoch um mehr handle als eine bloße historische Konvention, dass die „Natur“ hier also nicht nur als Namenspatin diene, sondern auch einem Mindestmaß an thematischer Eingrenzung durch das Gemeinte, scheint jedoch auch der Naturwissenschaft ein Vorverständnis davon, was Natur sei, zu eignen. Die Frage nach diesem Vorverständnis führt sodann über den naturwissenschaftlichen Fragehorizont hinaus: Naturwissenschaft ist, zumindest bisher, Wissenschaft von natürlich Seiendem, also „von Natürlichem“, aber nicht „vom Natürlichen“, von der Natur als solcher, welche demnach erst von einer Naturphilosophie thematisiert werden dürfte. Diese Differenzierung ermöglicht es anscheinend – in diesem ersten Näherungsversuch –, die Natur als „Seinsweise“ des natürlich Seienden direkt anzusprechen, ohne Aussagen über empirische Zusammenhänge treffen zu müssen. Ausführliche Überlegungen zu dieser Thematik stellte Aristoteles an, wobei seine Physik in dieser Hinsicht als zentrales Werk gelten kann. Das physisch Seiende ist für Aristoteles dabei das, welches einen Anfang (ἀρχή) seiner Bewegung in sich selbst hat. Diese Selbstbewegung lässt sich der Bewegung durch ein Anderes gegenüberstellen, welche unter anderem für die Technik kennzeichnend ist. Unter den genannten Gegensatzpaaren ist es also das von Natur und Technik, welches sich mit Aristoteles beleuchten lässt. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der „mechanistischen“ Denkweise interessant, welche der 1 Vgl. Alfred Dunshirn (2019): „Physis“. In: Online Lexikon Naturphilosophie [doi: 10.11588/oepn.2019.0.65543] 2 Naturwissenschaft, insbesondere der Physik, über die Jahrhunderte hinweg vielfach zugeschrieben wurde und sich auch heute noch im Kausalitätskonzept des „Mechanismus“ unmittelbar wiederzufinden scheint (wie auch in ihm gemäßen Titeln wie „Mechanik“ oder „Quantenmechanik“). Während die aristotelische Physik sich in ihrem Ansatz als Komplement zur neuzeitlichen Physik verstehen lässt, existieren dadurch auch deutliche Reibungsflächen – dies umso mehr, je „mechanistischer“ die Physik sich zeigt. Andererseits entspricht die Unterscheidung zwischen dem „Seienden“ und dem „Sein“ dieses Seienden der „ontologischen Differenz“ Martin Heideggers. Heidegger bezieht sich vielfach auf Aristoteles und versteht auch dessen Physik als explizit ontologisches Projekt: „Die Untersuchung [in der Physik] ist περὶ φύσεως, nicht περὶ τῶν φύσει ὄντων, ,über diejenigen Seienden, die durch das Sein der φύσις bestimmt sindʻ, sondern über die φύσις selbst, über das Sein dieses Seienden“2. Die φύσις spielt zudem in Heideggers eigener Konzeption des Seins und der Wahrheit (als „Unverborgenheit“) eine entscheidende Rolle. Nicht zuletzt ist Heidegger auch Technikphilosoph: Das Wesen der Technik verbirgt sich seines Erachtens nicht nur in der Denkweise der Naturwissenschaft und etwa im Materialismus3, sondern in der gesamten Metaphysik und ihrer Geschichte4. In der Hoffnung, hierdurch einem philosophischen Verständnis von Natur näher zu kommen, vergleicht die vorliegende Arbeit die Physiskonzeptionen von Heidegger und Aristoteles. Für Heidegger ist es das „Entbergen“, welches die φύσις ausmacht. Bei Aristoteles will er Spuren dieses seines Erachtens „anfänglichen“ Gedankens noch ausfindig machen können, wenn der Stagirit das physisch Seiende als das „Selbstbewegte“ und die φύσις wiederum als eine Art οὐσία sowie als μορφή charakterisiert. Da Aristoteles für Heidegger bereits der Geschichte der Metaphysik angehört, muss aber auch seine Unterscheidung von Natur und Technik schon die Verfallenheit an die Technik in sich tragen. Aus Heideggers Sicht besteht Aristoteles' Irrtum unter anderem in der Suggestion, der Mensch könne frei über die Technik verfügen. Das für diese Arbeit zentrale Textstück Heideggers ist sein Aufsatz Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1 (1939), auf den ich mich der Kürze wegen mit „PhysisSchrift“ beziehen werde. Thematisiert wird dort hauptsächlich ein kurzes Kapitel aus der 2 3 4 Martin Heidegger (1924): „Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie“. In: Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 18. Klostermann, Frankfurt a. M. 2002, S. 284 Vgl. Martin Heidegger (1946): „Brief über den Humanismus“. In: Ders. Wegmarken. Klostermann, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, 313-364, S. 340 Vgl. Martin Heidegger (1956/57): „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“. In: FriedrichWilhelm von Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 11. Klostermann, Frankfurt a. M. 2006, 51-79, S. 61 3 Physik – die Definition von φύσις –, doch bietet dieses bereits viele Möglichkeiten, die skizzierte Fragestellung anzugehen. Außerdem macht Heidegger dort einen bemerkenswerten Fehler: Heidegger schreibt über Aristoteles, als ob dieser alle von ihm eingeführten Bewegungsarten als gleichrangig einstuft, während Aristoteles tatsächlich aber ein Primat der Ortsbewegung vertritt. Neben der Grundlegung und dem Vergleich der Physiskonzeptionen von Aristoteles und Heidegger wird daher auch zu untersuchen sein, wie diese Fehldarstellung zu bewerten ist. 2. Geschichtliche Vorbemerkungen Abgesehen davon, dass die beiden Philosophen über zwei Jahrtausende trennen, war Heidegger selbst ein in höchstem Maße „geschichtlicher“ Denker, darum bemüht, einer „ursprünglichen“ Weise des Philosophierens nahezukommen, um seiner Zeit einen Neuanfang bieten zu können. Bevor wir detailliert auf Aristoteles' Physiskonzeption eingehen, seien daher einige geschichtliche Vorbemerkungen unternommen. Diese sollen zunächst dazu dienen, die zeitliche Kluft zu Heidegger zu überbrücken und den Fragehorizont zu entwickeln. Ferner sollen im Rahmen einer Etymologie von φύσις bereits einige zielgerichtete Denkanstöße erfolgen. 2.1 Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Physik Aristoteles' Physik ist für Heidegger „[d]ie erste […] zusammenhängende denkerische Erörterung über das Wesen der φύσις“5, zugleich jedoch „auch […] der letzte Nachklang des anfänglichen und daher höchsten denkerischen Entwurfs des Wesens der φύσις, wie er uns in den Sprüchen von Anaximander, Heraklit und Parmenides noch aufbewahrt ist“ 6. Als diese philosophiegeschichtliche Singularität stelle sie sodann „das verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie“7 dar. Philosophiehistorisch lässt sich immerhin feststellen, dass die aristotelische Physik die erste derartige Abhandlung ist, welche uns vorliegt – denn von Platon ist nichts derartiges bekannt, von den „Naturphilosophen“ nur Fragmente, auch bei den Sophisten ist die Lage nicht besser. Gleichzeitig wird durch Aristoteles' häufige doxographische Bemerkungen, 5 6 7 Martin Heidegger (1939): „Vom Wesen und Begriff der Φύσις: Aristoteles, Physik B, 1“. In: Ders. Wegmarken. Klostermann, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, 239-302, S. 242 Ebd. Ebd. 4 die nicht nur in einem historischen Interesse erfolgen, sondern auch thematisch relevant sind, deutlich, dass er das Rad nicht neu erfindet, sondern sich bereits mitten im Diskurs befindet. Dadurch ist auch die Kontinuität gesichert, welche Heidegger suggeriert, wenn er Aristoteles zu „den Sprüchen von Anaximander, Heraklit und Parmenides“ in Beziehung setzt – wobei diese Auslese aus der Gesamtheit der φυσικοί durchaus selektiv anmuten kann. Erstaunen muss aber zumindest Heideggers vollmundige Äußerung, es handle sich bei der Physik um das „verborgene Grundbuch der abendländischen Philosophie“. Fragen ließe sich zudem, ob Heidegger damit etwa auch noch die Philosophie vor Aristoteles meinen könne, als ob die aristotelische Physik in ihrem Wesen ein vorherbestimmtes, „schicksalhaftes“ Resultat aus dieser wäre. Hierauf wird nach Darlegung von Heideggers „seinsgeschichtlicher“ Physiskonzeption näher einzugehen sein. Zunächst seien nur wenige ausgewählte Aspekte aus der Rezeptionsgeschichte der Physik genannt. Für die neuzeitliche Physik wurde die Physik zunehmend irrelevant, weil es sich um eine primär naturphilosophische Schrift handelt, aus welcher sich höchstens sekundär empirische Prognosen ableiten lassen. Aristoteles' Beharren auf der ontologischen Unterscheidbarkeit von Natur und Technik birgt für die technisch-experimentelle Naturerforschung zudem eher Konfliktpotenzial, als dass sie ihrem Vorhaben dienlich sein könnte. Darüber hinaus wurde der historische Aristoteles überschattet vom Dogmatismus des scholastischen Aristotelismus, wenngleich etwa Galileo Galilei hier noch zu differenzieren wusste8. In der Philosophie erfuhr die Physik oft eine Unterordnung als „zweite Philosophie“ unter die „erste“, die Metaphysik. Dabei, so Wieland (1962), muss es jedoch „auffallen […], daß es keine der Physik parallele ,dritteʻ oder ,vierteʻ Philosophie gibt“9, was ein komplexeres Verhältnis als das einer simplen Rangordnung nahelegt. Immerhin sei ja auch „die Metaphysik selbst […] nicht nur hinsichtlich ihres erst in nacharistotelischer Zeit entstandenen Namens, sondern vor allem auch der Sache nach in bewußter und ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber der Physik konzipiert und bleibt dadurch von ihr abhängig“10. Ähnlich ist auch für Heidegger die Metaphysik „in einem ganz wesentlichen 8 Vgl. Thomas Ricklin (2011): „Renaissance“. In: Christof Rapp (Hrsg.), Klaus Corcilius (Hrsg.). Aristoteles: Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar 437-443, S. 437 9 Wolfgang Wieland (1962). Die aristotelische Physik: Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 13 10 Ebd. 5 Sinne ,Physikʻ – d. h. ein Wissen von der φύσις“11. Die Wende von der „klassischen“ zur „modernen“ Physik brachte in der Naturwissenschaft eine neue Offenheit für die aristotelische Physik hervor, wobei Zekl (1990) aus gegebenem Anlass davor warnt, aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten nun vorschnell Parallelen zur Relativitätstheorie und ähnlichem zu ziehen12, als ob Aristoteles diese prophezeit hätte und sein Denken überhaupt mit experimenteller Methodik kompatibel sei. Relevant ist die Physik jedoch durchaus hinsichtlich der metaphysischen Vorurteile, welche sich in der modernen Physik verbergen. In entsprechenden Kreisen der Philosophie hat sich im 20. Jahrhundert auch eine „phänomenologische“ Lesart der Physik herausgebildet. Mit seiner Physis-Schrift gehört Heidegger selbst hier zu den Vorreitern; Heideggers Inspiration zur Beschäftigung mit Aristoteles rührt unter anderem von den Auseinandersetzungen durch Franz Brentano 13, der seinem Schüler Edmund Husserl zentrale Impulse für die Entwicklung der Phänomenologie gab. A. Miller (1969), ein Schüler Carl Friedrich von Weizsäckers, sieht in der Physik eine „deskriptive Phänomenologie der Natur“14. Die zuvor genannten Autoren Wieland und Zekl fallen zumindest teilweise unter das Prädikat 15. Mithin macht man für Aristoteles' Naturverständnis auch den Husserlschen Begriff der „Lebenswelt“ urbar16. Während sich vielleicht einwenden ließe, dass das Wort „phänomenologisch“ hier aufgrund seiner Vieldeutigkeit weitgehend sinnentleert sei, kommt dieses Verständnis der Absicht der vorliegenden Arbeit durchaus nahe: Wenn „Phänomenologie“ den Versuch bedeutet, eine vor-empirische, für alle Empirie „transzendentale“ Erfahrung – ein „immer schon“ Anerkanntes – auf Begriffe zu bringen, ähnelt das Verhältnis von Empirie und Phänomenologie dem in der Einleitung skizzierten von Naturwissenschaft und Naturphilosophie (als Frage nach der Natur selbst, dem „Sinn von Natur“). 11 Heidegger (1939), S. 241 12 Vgl. Hans Günter Zekl (1990). Topos: Die aristotelische Lehre vom Raum. Eine Interpretation von Physik, Δ 1-5. Meiner, Hamburg, S. 17 13 Vgl. Michael Allen Gillespie (2000): „Martin Heidegger's Aristotelian National Socialism“. In: Political Theory 28(2), 140-166, S. 145 14 Vgl. Alfred Eric Miller (1969). Physis and Physics: Aristotle's Descriptive Phenomenology of Nature as the Metaphysical Foundation and Critique of Modern Science. Unv. Diss., Universität Hamburg 15 Vgl. Wieland (1962), S. 335 f., Zekl (1990), S. 269 16 Vgl. Gregor Schiemann (2005). Natur, Technik, Geist: Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung. De Gruyter, Berlin/New York; Barry Smith (1992): „Zum Wesen des Common sense: Aristoteles und die naive Physik“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46(4), 508-525 6 2.2 Die vor-philosophische Bedeutung von φύσις Weil schon Aristoteles sich aus einem Diskurs heraus auf die φύσις bezieht, also ein gewisses historisches Bewusstsein mit sich bringt, soll hier noch vor seiner Analyse die komplexe Bedeutungsvielfalt des Wortes dargelegt werden, wie sie etymologische und philologische Studien offengelegt haben. Zwar interessiert sich Aristoteles selbst nicht für eine solche Begriffsgeschichte beziehungsweise verfügt über kein so geartetes Sprachbewusstsein17. Heute kann sie jedoch dabei helfen, zu verstehen, welcher Bedeutungsgehalt für die alten Griechen mit dem Wort verbunden war. Ganz abgesehen davon lassen sich in Heideggers Texten Aspekte von φύσις und verwandten Begriffen ausmachen, deren Existenz sich rein analytisch kaum belegen lässt und damit eines etymologischen Nachweises bedarf. Bei der Gelegenheit soll auch ein erster Vergleich zwischen φύσις und natura erarbeitet werden. Bevor in der überlieferten Literatur das Wort φύσις – und außerdem φυέ – gebräuchlich wird, treten mit dem Präfix φυ- gebildete Termini vor allem in Form der Verben φύειν und φύεσθαι (sowie φῦναι) auf18. Beide bezeichnen ein „Hervortreiben“, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Diathese: φύειν ist ein aktives Hervortreiben, also das von dem prädizierten Subjekt vollzogene Hervortreiben eines Anderen; φύεσθαι hingegen ist ein mediales Hervortreiben, eines, welches das Subjekt selbst affiziert, ein „Wachsen“ also. Laut Patzer (1993) bleibt φυ- zunächst auf das pflanzliche Wachstum beschränkt, belegbar dadurch, dass „Homer, die Hymnen, Hesiod und die ältere Elegie die Wurzeln φυ- und γενbzw. τεκ- streng auseinanderhalten“19. Um die Bedeutung genauer herauszuarbeiten, versucht er, neben philologischen Analysen auf phänomenologische Weise das pflanzliche Hervortreiben oder Wachsen vom tierischen zu unterscheiden. Das pflanzliche Wachstum charakterisiert zunächst, dass es von keiner Geburt, keinem Schlupf oder ähnlichem unterbrochen wird. Einmal begonnen, verläuft es vom Samen bis zur ausgewachsenen Pflanze kontinuierlich. Patzer behauptet sodann, dass das Wachsen der Pflanze nicht nur zukommt, „indem es als Art einer Bewegung ausschließlich und 17 Vgl. Borislav Mikulić (1987). Sein, Physis, Aletheia: Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im „ursprünglichen“ Seinsdenken Martin Heideggers. Könighausen & Neumann, Würzburg, S. 116; Harald Patzer (1993). Physis: Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes. Steiner, Stuttgart, S. 40 18 Dunshirn (2019) nennt hier die letzteren beiden, Patzer (1993), S. 11 f. die ersteren, Dieter Bremer (1989): „Von der Physis zur Natur. Eine griechische Konzeption und ihr Schicksal“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43(2), 241-264, S. 242 f. ebenfalls, Elmar Seebold (Bearb.) (2011). Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. De Gruyter, 25., durchges. und erw. Aufl., Berlin/Boston, S. 704 das erstere. 19 Patzer (1993), S. 18 7 daher am reinsten an der Pflanze vorkommt, sondern es füllt zugleich ihr Sein vollständig aus“20. Auch, wenn die Pflanze hier lediglich als Gattung gemeint ist, handelt es sich dabei um eine starke Behauptung. Patzer untermauert sie erstens, indem er darauf hinweist, dass allein die Pflanze als φυτόν angesprochen wird, als „Gewächs“ also – ein Wort, welches auch Heidegger als Umschreibung für sämtliches „physisch Seiende“ bei Aristoteles gebrauchen wird21. Zweitens versteht Patzer das Wachsen hier mitsamt all seiner Voraussetzungen und Nebenbedingungen: so beinhaltet Wachstum stets die Ausbildung der Gestalt, die das Wachsende zu entfalten sucht; dabei ist diese Gestalt nie in Gänze neu oder einzigartig, sondern stets auch Wiederholung einer vorherigen 22. Ergänzt werden kann hier noch, dass wir auch die „Fortpflanzung“ offenbar von einem pflanzlichen Motiv her verstehen. Fraglich bleibt, ob der Begriff des Wachsens hinreichend die Eigenschaft der Pflanze berücksichtigt, zu wurzeln. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund der Übertragung von „Gewächs“ auf anderes physisch Seiende, welche neben Heidegger auch Patzer selbst vornimmt: „Das Tier ist ja auch ,Gewächsʻ, wenn auch nicht eigentümlich“ 23. Patzer löst diese Schwierigkeit mit einer Deutung der wurzelnden Ortsgebundenheit als reflexive Wendung auf sich selbst: „In dieser eigentümlichen Starre würde sie [die Pflanze] das Leblose noch zu überbieten scheinen, wäre nicht das Festhalten an sich selber die erste Spur des ,selbstʻ und somit des Lebens“24. Φύειν, das Hervortreiben der Pflanze durch ein anderes als sie selbst, bezieht Patzer sodann auf die Erde, in der sie wurzelt. Die Erde ist dabei kein toter Stoff, sondern fruchtbarer Grund; sie „haßt das Tote und drängt sich zu beleben“ 25. Mitunter, so Patzer, weist die griechische Vorstellung die Erde selbst als „pflanzenhaft“ aus. Beispielsweise heißt es in der Theogonie über den Tartaros, über ihm wachsen die Wurzeln der Erde. Patzer sieht hierin ein alternatives Bild zur ebenfalls geläufigen „Mutter Erde“, welche er aufgrund der stärkeren Personifikation und der früheren Vergöttlichung von Γαῖα als älter erachtet. Die Alternativen sind dabei jedoch nicht binär, sondern können sich auch gegenseitig durchdringen26. Während Patzer bei seinen Überlegungen von einer eindeutigen (nicht weiter 20 21 22 23 24 25 26 Ebd., S. 13 Vgl. Heidegger (1939), S. 250 Vgl. Patzer (1993), S. 15 f. Ebd., S. 19 Ebd., S. 14 Ebd., S. 20 Ebd., S. 20 f. 8 reduzierbaren) Zuordnung der Silbe φυ- zum Pflanzlichen ausgeht, fragt Mannsperger (1969) noch weiter in die Vergangenheit, nämlich in die Etymologie des Präfixes selbst. Hatte Patzer seine teils philologische, teils phänomenologische Analyse mit der Annahme gerechtfertigt, dass „alle Benennungen an der Anschauung erwachsen sind, weil die erste benannte Welt vorzüglich die sichtbare war“27 – also am „Konkreten“ – übersteigt Mannsperger den so gesetzten Denkhorizont, wenn er erklärt, „daß ein ,konkretesʻ Wort [nicht nur] ,abstraktʻ, ein ,abstraktesʻ, [sondern auch] […] dasselbe Wort wieder ,konkretʻ“28 werden kann. Durch weiteren Rückgang erweist sich die genannte konkrete Bedeutung dann nicht nur als Ursprung der „einen“ abstrakten, sondern zugleich als Übergangsstadium zwischen zwei abstrakten Bedeutungen – gesetzt, dass hier überhaupt eine solch kohärente Entwicklung stattfindet, was keineswegs der Fall sein muss. Die griechische Wortwurzel φυ- lässt sich auf die indogermanische Wurzel *bheu zurückführen29. Laut Mannsperger trägt diese bereits Motive in sich, welche jenen ähneln, die Patzer phänomenologisch am „Wortbild“ der Pflanze erarbeitet hatte: „Diesem *bheu wird die ursprüngliche Bedeutung ,wachsenʻ, ,schwellenʻ zugesprochen, woraus sich die weiteren Bedeutungen ,entstehenʻ, ,werdenʻ, ,seinʻ und ,gewohnheitsmäßig wo seinʻ, ,sich aufhaltenʻ, ,wohnenʻ entwickelt hätten“30. Eine Anknüpfung an *bheu, ohne den Umweg über φυ- zu nehmen, nimmt auch Heidegger vor, wenn er den Bedeutungsgehalt des althochdeutschen buan hinsichtlich des Bauens, Wohnens und Seins auslegt31. Doch wie steht es nun um die φύσις selbst? Die erste bekannte Verwendung des Wortes findet sich in der Odyssee: Also sagte der Schimmernde [Hermes], zog aus dem Boden ein Giftkraut [φάρμακον], gab es und zeigte mir auch, wie es war und wie es gewachsen [φύσιν]. Schwarz war die Wurzel, weiß wie Milch war die Blüte, die Götter nennen es Moly.32 Φύσις verweist hier laut Patzer auf die sichtbare Gestalt einer Pflanze, welche durch deren artspezifische Gliederung in Wurzel und Blume (Blüte) gekennzeichnet ist 33. (Nicht 27 Ebd., S. 10 28 Dietrich Mannsperger (1969). Physis bei Platon. De Gruyter, Berlin, S. 44 29 Vgl. Walde [1927] (1973): Alois Walde, Julius Pokorny (Hrsg.). Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen: II. Band. De Gruyter, Berlin/Leipzig, S. 140 ff. 30 Mannsperger (1969), S. 38 31 Vgl. Martin Heidegger (1951): „Bauen Wohnen Denken“. In: Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 7. Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, 145-164, S. 148 f. Dass die entsprechende Verbindung zu *bheu besteht, belegen Walde [1927] (1973), S. 142, Elmar Seebold (1970). Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Mouton, Den Haag/Paris, S. 128 und ansatzweise Seebold (2011), S. 97. 32 Homer, Odyssee 10, 302-305, zit. n. Weiher (2013) 33 Vgl. Patzer (1993), S. 42 9 übersehen werden sollte, dass außerdem noch der Name des Krautes genannt wird.) Dunshirn (2019) erläutert, dass φύσις von Homer „in bewusster Abgrenzung vom gebräuchlicheren φυέ, das vornehmlich die menschliche Konstitution bezeichnet, gesetzt wurde“34. Zu beachten ist, dass sich damit der für uns interessante Begriff der φύσις zwar wieder auf das Pflanzenreich bezieht. Er tut dies nun jedoch nicht mehr aufgrund des Präfixes φυ- (im Gegensatz zu γεν-), welches diese Beschränkung bereits zugunsten einer allgemeinen „Gestalt“ verlassen hat, sondern in diesem Fall durch sein Suffix. Patzer muss aufgrund seines Festhaltens an der konkreten Urbedeutung beziehungsweise dem anschaulichen Wortbild, welches φυ- vermeintlich ausdrückt, davon ausgehen, dass φύσις und φυέ von den Verben φύειν und φύεσθαι abgeleitete Abstrakta sind35, was er aber auch in plausibler Weise an Textnachweisen bestätigt findet. Mannsperger glaubt nichtsdestotrotz, dass φύσις „selbständig und früh aus der doppelaspektigen Wurzel [von Sein und Werden] erwachsen sein muß, ohne Beeinflussung durch das Verb φύειν, das eindeutig den dynamischen [Werdens-]Aspekt vertritt“36. Er sieht seine These belegt durch die Feststellung, dass sich mit *bhutis ein indogermanischer Vorgänger von φύσις erschließen lässt, bei welchem neben Bedeutungsgehalt und Bildungsart auch das Suffix hinreichend übereinstimmt37. Demnach wäre φύσις zwar ein „abstrakter“ Terminus, aber nicht notwendig von den genannten Verben abgeleitet. Ohne das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen der ursprünglich „konkreten“ Bedeutung bei Patzer und der ursprünglich „abstrakten“ bei Mannsperger neutralisieren zu wollen, lässt sich als Arbeitshypothese anführen, dass die vorphilosophische φύσις in ihrem Bedeutungsgehalt irgendwo zwischen „Wuchs“, „Wachstum“, „Sein“ und „Werden“ anzusiedeln ist, bei Homer dann bereits „Gestalt“, „Wesen“. Bemerkenswert hierbei ist, dass „wachsen“ als Medium eine Form von Kausalität repräsentiert – nämlich die der causa sui –, welche der neuzeitlichen Physik schlechthin unbekannt ist. Zwar deckt sich dies mit der geläufigen Vorstellung, dass jede Metaphysik ein erstes, nicht weiter reduzierbares Seiendes schlichtweg voraussetzen müsse, als welches der Naturalismus eben die Natur setze. Nichtsdestotrotz beinhaltet die aristotelische Metaphysik nicht nur die Frage nach jenem „ersten Seienden“, sondern vor allem die ontologisch frühere nach dem „Seienden als Seienden“38, und Heideggers Fundamentalontologie die noch 34 35 36 37 38 Dunshirn (2019), S. 2 Vgl. Patzer (1993), S. 39 Mannsperger (1969), S. 46 Vgl. ebd., S. 45 Vgl. Metaphysik IV 1, 1003a 21-32 10 grundlegendere nach dem „Sinn von Sein“39. Lateinisch natura bezeichnet hingegen ursprünglich die Geburt (den Geburtsvorgang), wenngleich die Extension des Verbs nasci nicht nur „entstehen“ und „geboren werden“ einschließt40, sondern auch wieder „wachsen“ und vergleichbare Ausdrücke. Auch hier sollte eine vorschnelle Vereindeutigung des Begriffs vermieden werden. Dennoch fällt auf, dass bei einer Geburt die Mutter das Kind zwar hervorbringt, dieser Akt aber zugleich einen Moment der Loslösung zugunsten einer Teilautonomie des Kindes markiert. Überhaupt ist die Geburt ein rein tierisches, kein pflanzliches Ereignis mehr. Zumal vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung lässt sich daher annehmen, dass der Wechsel von φύσις zu „Natur“ im Lichte der fortschreitenden Entwicklung der SubjektObjekt-Teilung gesehen werden kann. Um zu vermeiden, diese reaktionär zu bejubeln oder zu verdammen, kann mit Patzer erinnert werden, dass auch zum bloßen Wachsen nicht nur das wachsende Seiende hinreicht, sondern es ebenso der nährenden Erde bedarf, die in diesem Kontext dann gewissermaßen als natura naturans auftritt. 3. Die φύσις bei Aristoteles Die für uns zentrale Auseinandersetzung des Stagiriten mit der φύσις findet sich vor allem in der Physik. Deren erstes Buch schließt Aristoteles mit den Worten: „Und nun beginnen wir an anderer Stelle nochmal und wollen von Anfang an vortragen“ 41. Der im zweiten Buch vorgenommene Neuanfang ist zugleich geeignet, um an den vorherigen Abschnitt anzuknüpfen. Außerdem bezieht sich Heideggers Physis-Schrift erklärtermaßen auf Kapitel 1 des Buches42. Aus diesen Gründen wollen auch wir – nach einer kurzen „Einführung“ in das erste Buch, die zugleich eine „Hinführung“ zum zweiten darstellt – diesem Weg folgen und später erst dort auf das erste Buch zurückgreifen, wo es für die Forschungsfrage auch relevant ist. 3.1 Hinführung zur Frage nach der φύσις Das erste Buch beginnt Aristoteles mit einer thematischen Eingrenzung der Physik als Wissenschaft von der φύσις (περὶ φύσεως ἐπιστήμη)43. Er geht dabei davon aus, dass dieser 39 40 41 42 43 Vgl. Martin Heidegger [1927] (2006). Sein und Zeit. Niemeyer, 19. Aufl., Tübingen, S. 1 Vgl. Bremer (1989), S. 259 Physik I 9, 192b 2-4, zit. n. Zekl (2012) Ihr Untertitel lautet schließlich: „Aristoteles Physik B, 1“. Vgl. Heidegger (1939) Vgl. Physik I 1, 184a 14 f. 11 Wissenschaft, wie anderen auch, „Grund-Sätze [ἀρχαί] oder Ursachen [αἰτίαι] oder Grundbausteine [στοιχεῖα]“44 eignen, welche es zu entdecken gilt. Bezüglich der ἀρχαί trifft er sodann zahlreiche Fallunterscheidungen, in welchen eine doxographische Absicht erkennbar wird. Hier seien nur die ersten beiden genannt: Ist die ἀρχή nicht eine, so gebe es notwendig mehrere. Gesetzt, dass sie eine ist, könne sie – wie für Parmenides und Melissos – unbewegt (ἀκίνητον) sein oder – wie für die φυσικοί – ein Bewegtes (κινυμένον)45. Hierbei fällt auf, dass Aristoteles Parmenides und Melissos offenbar gar nicht zu den φυσικοί, den Naturphilosophen zählt; Grund hierfür könnte sein, dass die φύσις für Aristoteles so untrennbar mit Bewegung verbunden ist, dass die Bezeichnung ihm für den alle Veränderung bestreitenden Parmenides widersinnig erschien. Mit diesen Unterscheidungen kann Aristoteles jedenfalls zeigen, dass „[d]ie Untersuchung, ob das Seiende eines und unwandelbar ist, […] keine Untersuchung im Bereich der Naturforschung“46 darstellen kann. Grund hierfür sei eben, dass physisch Seiendes immer schon als wandelbar begriffen wird47. Die Frage danach, ob eine solche Wandlungsfähigkeit existiert, geht demnach über den Horizont der Physik hinaus und würde deren Vorhaben bei Verneinung sogar ad absurdum führen. Sie wäre der Ontologie zuzuweisen („Ontologie“, weil sich ohne „Physik“ auch nicht mehr von „Metaphysik“ sprechen ließe). Die Bewegtheit des Physischen setzt Aristoteles also aus begrifflichen Gründen voraus: Ohne Bewegung gäbe es auch kein Physisches, sodass Physik einen performativen Selbstwiderspruch darstellte. In Buch II, 1 ergänzt Aristoteles dies dahingehend, dass die so geartete Existenz der φύσις und des Physischen zwar nicht beweisbar sei, vergleicht diejenigen, die sie leugnen – also vermutlich Parmenides und Melissos – jedoch mit einem Blinden, der über Farben spricht, ohne dabei zu begreifen, was Farben eigentlich sind48. Über die Behauptung, alles ruhe, schimpft er in VIII, 3 gar als „Geisteskrankheit“ (ἀρρωστία διανοίας49). Anschließend – zurück in Buch I – fährt Aristoteles aber fort, weniger nach der φύσις als nach den ἀρχαί des Werdenden zu fragen. Während sich das erste Buch gewissermaßen als Frage nach den ἀρχαί der φύσις auffassen lässt, stellt erst das zweite wirklich die nach dem „Physischen als Physischen“, also danach, was es für das Physische bedeutet, physisch zu 44 45 46 47 48 49 Ebd., 184a 11, zit. n. Zekl (2012) Vgl. ebd., 184b 15-17 Physik I 2, 184b f. 25-1, zit. n. Zekl (2012) Vgl. ebd., 185a 1 ff. Vgl. Physik II 1, 193a 7-9 Vgl. Physik VIII 3, 253a 33 f. 12 sein. „Physisch sein“ heißt für Aristoteles dabei stets, „von der φύσις her“ zu sein, also die φύσις als eine Art Ursache zu haben: „Im ersten Buch war nach den Prinzipien der Natur gefragt worden; das zweite Buch fragt dagegen nicht nach den Ursachen der Natur, sondern nach der Natur als Ursache“50 (Wieland). Hiermit kommt das zweite Buch auch der in der Einleitung entworfenen Fragestellung nach der φύσις als Seinsweise des Physischen näher. Auch Heidegger deutet Aristoteles' im ersten Buch vorgenommene Hinführung zum Neuanfang als Weg von der ontischen zur ontologischen Untersuchung des physisch Seienden: „zu diesem Seienden und über dieses Seiende weg zu seinem ,Seinʻ“51. Weil die Übersetzung des Textes für Heidegger bereits eine Auslegung darstellt, gibt er in seiner Physis-Schrift eine vollständige eigene Übersetzung von Kapitel II, 1 der Physik an. Nun ist Heidegger zwar für seine eigenwilligen, mithin als „Un-Philologie“ 52 bezeichneten Übersetzungen berüchtigt, in welchen er regelmäßig nicht nur mit philologischen Konventionen bricht, sondern Begriffe seinem persönlichen Belieben nach auszulegen scheint. Doch nicht zuletzt, weil er sich gerade für die – von ihm stets unübersetzt gelassene – φύσις interessiert, soll seine Übersetzung im Folgenden dort, wo sie für die Zwecke dieser Arbeit nützlich erscheint, auch verwendet werden. Insbesondere soll Heidegger bereits in diesem Abschnitt als wertvoller Dialogpartner für die Auslegung des aristotelischen Textes behandelt werden. Unter Berücksichtigung von Heideggers Konzeption der „Seinsgeschichte“ und des Seins ergibt sich dabei jedoch folgende Grenze: Heideggers Suche nach den „ursprünglichen“ Bedeutungen von Philosophemen geschieht stets in der Auffassung, dass schon mit dem Beginn der Metaphysik die „Seinsvergessenheit“ und damit ihre Fehlentwicklung eingesetzt habe53, die er mit seinem vermeintlichen Neubeginn – der Philosophie als „Sage des Seins“ – überwinden möchte. Deswegen glaubt er, in den Texten der alten Griechen – Aristoteles eingeschlossen – etwas finden zu können, was von diesen „eigentlich gemeint“, jedoch „ungesagt“ geblieben sei, nur hie und da aufblitze: „Die ,Lehreʻ eines Denkers ist das in seinem Sagen Ungesagte“54. Um Heideggers subjektiv gefärbte Auslegung nicht mit Aristoteles' „Lehre“ gleichzusetzen, widmet sich der aktuelle Abschnitt weitgehend dem 50 Wieland (1962), S. 233 51 Heidegger (1939), S. 243 52 Werner Beierwaltes (1995): „Heideggers Rückgang zu den Griechen“. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 1995(1), 2-30, S. 15 53 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 21 ff. 54 Martin Heidegger (1940): „Platons Lehre von der Wahrheit“. In: Ders. Wegmarken. Klostermann, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, 203-238, S. 203 13 von Aristoteles „Gesagten“, während das nach Heidegger „Ungesagte“ erst im Abschnitt über diesen zum Thema werden soll. 3.2 Definition des Physischen Für Aristoteles hat, was „von der φύσις her“55 ist, „in sich selbst einen Anfang (ἀρχή) von Veränderung und Bestand“56 (Zekl) beziehungsweise „in ihm selbst die ausgängliche Verfügung (ἀρχή) über die Bewegtheit und den Stillstand“ 57 (Heidegger). Das physisch Seiende ist in diesem Sinne „selbstbewegt“, wobei der „Stillstand“, die Ruhe, hierin mitgedacht sei. Neben der Wortkonstruktion „ausgängliche Verfügung“, die Heidegger hier anführt, birgt seine Übersetzung einen subtileren, jedoch noch bemerkenswerteren Aspekt: Heidegger übersetzt nicht, dass das Physische besagte ἀρχή seiner Bewegung „in sich selbst“, sondern dass es sie „in ihm selbst“ habe, und zwar „um anzudeuten, daß das so geartete Seiende die ἀρχή nicht ausdrücklich wissend ,für sichʻ hat, weil es ja überhaupt nicht ,sichʻ selbst ,hatʻ als ein Selbst“58. Heideggers Variante scheint so eher dem medialen Aspekt physischen Seins Rechnung zu tragen, wie wir ihn zuvor am Begriff des „Wachsens“ erarbeitet hatten. Für Heidegger spricht das Reflexivpronomen „sich“ dem Subjekt offenbar bereits eine Art „Reflexionsvermögen“ zu, wie es erst über den Umweg eines „Selbst-Bewusstseins“ (oder auch nur „Bewusstsein“, das ja schon ein „Wissen“ enthält) ermöglicht würde. Für Aristoteles zählen aber auch Steine zum physisch Seienden, denen wohl kaum ein „sich selbst wissendes Stein-Selbst“ zugeschrieben werden kann. Heideggers Übersetzung birgt allerdings den Nachteil, dass diese Redeweise nicht nur unüblich, sondern schwerlich mit den grammatischen Strukturen der deutschen Sprache vereinbar ist. So erklärt Wieland das Reflexivpronomen der Selbstbewegung gerade mit alltäglichen Formulierungen wie „Der Stein bewegt sich“59, während man mit Heidegger wohl etwas sagen müsste wie „Der Stein bewegt ihn“, was aber niemand tun würde. (Als dritte Alternative ließe sich bei der Übersetzung noch ein Verzicht auf das „selbst“ vorschlagen: „Das Physische hat die ἀρχή seiner Bewegung in sich“ – ohne „selbst“.) 55 56 57 58 59 Physik II 1, 192b 8, zit. n. Heidegger (1939) Ebd., 192 b 14 zit. n. Zekl (2012) Ebd., zit. n. Heidegger (1939) Heidegger (1939), S. 247 Vgl. Wieland (1962), S. 237 14 Bemerkenswerterweise führen ihre augenscheinlichen Versuche, durch eine Phänomenologie der Bewegung mechanistische Konzeptionen von Kausalität zu durchbrechen, bei Heidegger und Wieland zu konträren Resultaten. Letztlich lässt sich das hermeneutische Gewicht, welches beide diesen Pronomina beimessen, aber rasch entzaubern, indem man die Redeweisen ins Englische übersetzt: Was Heidegger betrifft, wird aus „in sich selbst“ und „in ihm selbst“ dann gleichermaßen „in itself“ – Heideggers Unterscheidung ist im Englischen also nicht möglich, außerdem enthält das Reflexivpronomen „itself“ bereits das im Deutschen separate „selbst“. Was Wieland betrifft, wird aus „Der Stein bewegt sich“ schlicht „The rock moves“ – „bewegen“ ist hier also auch als einstelliges Prädikat möglich, und die Hinzufügung eines Reflexivpronomens, wie sie etwa im Imperativ („Move yourself!“) gebräuchlich ist, würde wiederum auf die „wissende“, die kontrollierte und planmäßige Bewegung verweisen, um die es hier ja gerade nicht gehen soll. Während solche Detailarbeit interessante Perspektiven eröffnen kann, ist also Vorsicht geboten, wenn erstrebt wird, allein über sie Sprechgewohnheiten zu Denknotwendigkeiten zu erklären. Festzuhalten bleibt nichtsdestotrotz, dass die Selbstbewegtheit, die Aristoteles hier meint, keine wissende oder gar mechanische, sondern eben eine mediale ist: Das von der φύσις her Seiende hat demnach eine ἀρχή seiner Bewegung – oder seiner Ruhe – in sich selbst auf die Weise, wie ein fallender Stein eine ἀρχή seines Fallens in sich selbst, wie ein von einer Krankheit Genesender eine ἀρχή seiner Genesung in sich selbst hat. Ein weiterer Unterschied zwischen den Übersetzungen von Heidegger und Zekl besteht darin, dass ersterer von „der“ ἀρχή, also „der einen“ ἀρχή, letzterer aber nur von „einer“ ἀρχή, also „mindestens einer“ (von möglicherweise mehreren) spricht. Wenn dieser Unterschied kein Zufall ist, so hat er vielleicht seine Ursache darin, dass für Heidegger, der hier Aristoteles äußerst unkonventionell umdeutet, die „Anwesung“ die wesentliche Seinsweise des Bewegten ist, worauf jedoch erst später eingegangen werden soll. Andererseits könnte es sich hier aber auch um einen Zufall handeln, da Heideggers Übersetzung an dieser Stelle keine Besonderheit darstellt, sondern unter das fällt, was Wieland als übliche – und seines Erachtens verfehlte – Deutung von Aristoteles' Naturdefinition bezeichnet60. Immerhin fährt Aristoteles unmittelbar fort, verschiedene Arten der Bewegung zu unterscheiden: Unterscheiden lassen sich „Bewegtheit und Ruhe das eine Mal hinsichtlich 60 Vgl. Wieland (1962), S. 234 15 des Ortes, das andere Mal hinsichtlich der Mehrung und Minderung, das andere Mal hinsichtlich der Änderung (Wandlung)“61. Dafür, dass ein Seiendes von der φύσις her ist, reicht es bereits hin, wenn es die ἀρχή seiner Bewegung in einer von diesen hat. Doch auch innerhalb der einzelnen Bewegungsformen sind noch Differenzierungen möglich: Beispielsweise macht ein Stein, der seinen Ort wechselt, dies „von selbst“, sofern und insofern er aufgrund seiner Schwere irgendwo herabfällt oder einen Abhang hinabrollt; er bewegt sich jedoch nicht von selbst, sofern er hinaufgehoben oder herabgeschmissen wird, und zwar unabhängig davon, ob dies durch einen Maurer geschieht (also „gekonnt“ und planmäßig), durch Naturgewalten wie einen Vulkanausbruch oder durch anderes. Mithin ist der Drang zur Bewegung in einem Stein auch dann noch vorhanden, wenn er gebremst wird oder ruht – ob er dabei im Meer versinkt, in einer Hand gehalten wird oder seit Jahrtausenden in einer Felsspalte klemmt, macht hinsichtlich der im Stein selbst liegenden ἀρχή seiner Bewegtheit keinen Unterschied. Fraglich – hier jedoch nicht weiter relevant – bleibt dabei, ob die Schwere als ἀρχή seiner Bewegung auf die beschriebene Tendenz verweist, zum Mittelpunkt der Erde (dem Zentrum des Kosmos) hin zu streben oder vielmehr dort zu ruhen, hat er dieses einmal erreicht62. Wenn hier, der Kürze wegen, das „Physische“ mithin als das „Selbstbewegte“ bezeichnet wird, soll das also keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass die Strukturen der Bewegung beliebig komplex werden können, nicht anders, als es in der neuzeitlichen Physik mit ihrem Wechselspiel der Kräfte der Fall ist – oder gar noch komplexer, weil Aristoteles nicht glaubt, alle Bewegungsformen auf Ortsbewegung reduzieren zu können. Wieland nennt die Bewegtheit des Physischen auch ein „bewegtes Sich-bewegen“63, um zu kennzeichnen, dass es seine Bewegung selten oder niemals ganz aus sich selbst heraus ausführt. Bewegung ist für Aristoteles jede Form von κίνησις („Veränderung“) oder μεταβολή („Umschlag“). Veränderung ist wiederum „[d]as endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen [ἐντελέχεια] eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist“64, konziser: das „Zur-Wirklichkeit-Kommen des Möglichen, insofern es möglich ist“ 65: das Wirklich-werden des Möglichen. Heidegger übersetzt stattdessen: „Das Sich-im-EndeHaben des Geeigneten als eines Geeigneten (d. h. in seiner Eignung) ist offenkundig (das 61 62 63 64 65 Physik II, 1 192b 14 f., zit. n. Heidegger (1939) Vgl. Sheldon M. Cohen (1994): „Aristotle on Elemental Motion“. In: Phronesis 39(2), 150-159 Wieland (1962), S. 234 Physik III 1, 201a 10 f., zit. n. Zekl (2012) Ebd., 201b 4 f., zit. n. Zekl (2012) 16 Wesen der) Bewegtheit“66. Auf Heideggers Übersetzung werden wir später eingehen. Für gewöhnlich gilt das „Aktuale“, das Wirkliche, als Teilmenge des „Potenziellen“, des Möglichen; hier ist die Alternative jedoch exklusiv gemeint: Veränderung geschieht nur, wenn das Mögliche, das zur Wirklichkeit kommt, nicht schon wirklich ist. Denn andernfalls bliebe ja alles, wie es schon ist. Dem vorherigen Beispiel mit dem Stein, der zweifelsohne auch, wenn er gerade ruht, noch von der φύσις her ist, mag das auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Doch das physisch Seiende ist nicht darüber definiert, dass es sich aktual bewegt, sondern nur darüber, dass es das Vermögen hat, sich aus sich selbst heraus zu bewegen (oder zu ruhen). Denn die ἀρχή dieser Bewegung liegt auch dann noch in dem Ding, wenn es gegenwärtig ruht: Der in der Hand gehaltene Stein hört schließlich nicht auf, schwer zu sein, nur, weil er gehalten wird. Das „Zur-Wirklichkeit-kommen des Möglichen“ kann selbst noch, als Ereignis, ein bloß Mögliches sein. Wenn hier von „Selbstbewegung“ als „bewegtem Sichbewegen“ die Rede ist, bezieht sich dies deswegen nicht unbedingt auf die tatsächlich ausgeführte Bewegung, sondern auf alle möglichen Bewegungen (von denen das Tatsächliche hier – anders als eben – dann wiederum eine Teilmenge darstellt, insofern alles Wirkliche auch möglich ist). „Ruhe“ ist mithin ein Ausdruck für ein der Möglichkeit, nicht jedoch der Wirklichkeit nach Bewegtes. Darüber hinaus kann Ruhe auch als Beharren gegen eine äußere Bewegungsursache auftreten: Der Busch lässt sich nicht nur nicht hochheben, weil er schwer ist, sondern auch, weil er in der Erde wurzelt, und Lebewesen können sich auch willentlich gegen äußere Kräfte stemmen. Bei alledem stellt sich nun die Frage, was überhaupt noch als nicht von der φύσις her Seiendes übrig bleiben könnte: Sind nicht so ziemlich alle Dinge, alle „Wesen“ (οὐσίαι) zumindest schwer oder haben vergleichbare Bewegungsursprünge? Müsste die aristotelische Naturdefinition nicht größtenteils in einen Naturalismus münden, außerhalb dessen allenfalls noch Gott als „unbewegter Beweger“ steht? Wie soll so noch die Unterscheidung von Natur und Technik möglich sein, die doch als wesentlich für das aristotelische Naturverständnis proklamiert wurde? Wird Technisches so nicht auch zu Physischem gemacht? Für eine zufriedenstellende Lösung dieser Probleme hilft die Auseinandersetzung mit Aristoteles' „Denken in Kategorien“: Inwiefern mit diesem die Unterscheidung von φύσις und Technik möglich bleibt, sei im Folgenden erläutert. Ferner soll Heideggers Aristoteles66 Heidegger (1939), S. 285 17 Interpretation der φύσις als eine Weise unmittelbarer „Anwesung“ nachvollzogen werden, um schließlich durch eine Integration verschiedener Ansätze eine mögliche Gesamtschau auf die aristotelische Physiskonzeption zu erlangen. 3.3 Φύσις, Technik und das Problem der Form Gemäß der aristotelischen Naturdefinition kann „nicht-physisch“ nur sein, was entweder keine ἀρχή seiner Bewegung (oder Ruhe) in sich selbst hat oder sich gar nicht erst bewegen kann. Als Beispiel für ein solches Nicht-physisches führt Aristoteles ein „Bettgestell“ an67. Naiv könnte man zunächst behaupten, dass das Bettgestell sich nicht von selbst bewege, weil es ja von Menschenhand (oder von menschengemachten Maschinen) verfertigt wurde und insofern „künstlich“ sei. Aristoteles beruft sich für eine entsprechende Bemerkung auf Antiphon: „[W]enn einer ein Bettgestell in der Erde vergräbt und die Fäulnis es so weit bringt, daß ein Keim aufgeht, dann entsteht (aus diesem) nicht ein Bettgestell, sondern Holz“68 (wobei tatsächlich nicht eigentlich „Holz“, sondern ein Baum entstünde). Der vorherige Abschnitt hat jedoch gezeigt, wie vielseitig und grundlegend „Selbstbewegung“ in diesem Zusammenhang gedacht werden muss: Schrieben wir dem Bettgestell etwa die Eigenschaft der Schwere zu, so würde es schon deshalb auch als physisch Seiendes gelten müssen. Dass es nichts Derartiges ist, setzt also voraus, dass ein Bettgestell nicht das Attribut der Schwere hat. Ist das auch nur denkbar, und wenn ja, wie? Wenn über ein Bettgestell nachgedacht wird, insofern es eben ein Bettgestell ist, wenn also nach dem Wesen eines Bettgestells gefragt wird, dann geht es um das, was ein Bettgestell ausmacht. Bei der Bestimmung dessen kann das aristotelische Definitionsprinzip von genus proximum et differentia specifica hilfreich sein: Ein Bettgestell ist nicht spezifisch dadurch ausgezeichnet, dass es, in die Höhe gehoben, herabfällt und kaputt geht – denn hierbei würde es sich um allgemeine Eigenschaften des Stoffes handeln, aus welchem es besteht. Doch auch, wenn es etwa aus Holz besteht (also aus Holz geworden ist), ist es deswegen, so Heidegger, „nicht Holz, sondern nur hölzern, aus Holz; und nur was ein Anderes ist als Holz kann hölzern sein“69. Das Bettgestell ist nicht sein Stoff; wenn von einem Bettgestell gesprochen wird, ist damit noch nicht (notwendig) gesetzt, ob es aus Holz, Eis oder Plastik besteht. Als Bettgestell – als Bettgestell „angesprochen“ – dient es 67 Vgl. Physik II 1, 192b ff. 68 Ebd., 193a 12-15, zit. n. Heidegger (1939) 69 Heidegger (1939), S. 253 18 vielmehr einer bestimmten Funktion und ist durch eine bestimmte Form ausgezeichnet. Es kann im Alltag durchaus vorkommen, dass über ein Bettgestell gesprochen wird, insofern es irgendwo herunterfällt. In dieser Hinsicht ist es vielleicht von der φύσις her. Das als Bettgestell angesprochene Bettgestell ist nichtsdestotrotz nicht selbstbewegt. Als nichtphysisch begreifen wir das Bettgestell also, wenn wir es von seiner Form und Funktionalität her denken, auf diese hin „ansprechen“. Die „Ansprechung“, die hier entscheidend ist, ist nun gerade die aristotelische κατηγορία: Heidegger weist darauf hin, dass κατηγορία von κατὰ-ἀγορεύειν abgeleitet ist, was so viel bedeute wie „auf der ἀγορά in der öffentlichen Gerichtsverhandlung einem auf den Kopf zu sagen, daß er ,derjenigeʻ ist, der...“ 70: die „Kategorie“ einer Sache wäre demnach nur im Rahmen einer „Anklage“ gegeben, welche dem „Urteil“ (auch dem „Urteil“ im Kantschen Sinne) vorausgeht. Aus dieser Noesis heraus ließe sich vielleicht die „Dopplung“ verstehen, die Aristoteles vornimmt, wenn er vom „Seienden als Seienden“ oder vom „Bettgestell, insofern es Bettgestell ist“ spricht. Die erste Nennung führte hier gewissermaßen nur die Nennung des „Angeklagten“ an und erst die zweite das Was, also das, dessen das Angeklagte „angeklagt“ wird und worum es in der „Verhandlung“ eigentlich geht. Allein, diese bloß etymologische Rechtfertigung dürfte kaum schon als zufriedenstellende Begründung gelten, da sie ohne verbindlichere Belege einem genetischen Fehlschluss unterliegen könnte: einer Bewertung von Sachverhalten aufgrund ihrer echten oder vermeintlichen Ursprünge. Was Aristoteles selbst betrifft, führt dieser die Dopplung in den Kategorien ein, wo er erklärt, „daß bei solchem, was von einem Subjekt ausgesagt wird, der Name und der Begriff gleichmäßig von dem Subjekt ausgesagt werden muß“ 71. Wieland erläutert hierzu: [Es] gehört […] zur Eigenart der Aussage, wie sie Aristoteles versteht, daß sie nicht eine bloße „Verknüpfung“ eines Subjektbegriffs mit einem Prädikatbegriff ist, sondern eine kompliziertere Struktur aufweist: in ihr wird nämlich ein Prädikat von einem Subjekt, dessen Prädikat es ist, ausgesagt […] Man kann ein Prädikat von einem Subjekt nur aussagen, weil es eigentlich schon in irgendeiner Weise in ihm enthalten ist. Jede gewöhnliche Aussage bringt daher nur aus einem ungeschiedenen Ganzen etwas Bestimmtes zur Abhebung; sie verknüpft nicht einfach zwei vorgegebene wohlbestimmte Elemente.72 70 Ebd., S. 252 71 Kategorien 5, 2a 19-21, zit. n. Rolfes (2012) 72 Wieland (1962), S. 120 f. 19 Die fundamentalen Subjekte sind für Aristoteles aber die οὐσίαι, die Sachen selbst, da diese im eigentlichen Sinn als „seiend“ aufgefasst werden. Andererseits kann οὐσία jedoch auch, neben dem vorliegenden „Wesen“ selbst, „sein“ Wesen bezeichnen73. Wieland sieht in dieser Doppeldeutigkeit gerade keinen Widerspruch, sondern eine logische Konsequenz der genannten Aussagestruktur: Wenn also οὐσία sowohl das Ding selbst meint als auch das, was es zu dem macht, was es ist (nämlich sein Wesen), so handelt es sich dabei nicht um ein metaphysisches Problem, sondern allein um die sprachliche Eigentümlichkeit, daß wir von dem Ding selbst nie anders sprechen können als dadurch, daß wir seinen in der Definition auslegbaren Wesensbegriff angeben.74 Die hermeneutische Verdopplung durch die κατηγορία entspricht demnach der Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Wesen“, wenn dieses einmal die „Essenz“ einer Sache meint und ein anderes mal die „Entität“, also die Sache selbst. Auf griffige Weise spiegelt sich das wohl auch im Titel von Thomas von Aquins De ente et essentia wider75, wo Thomas sich größtenteils auf Aristoteles bezieht. „Wesen“ kann deswegen wohl auch als eine geeignetere Übersetzung von οὐσία angesehen werden als „Substanz“, welche dieser Doppelbedeutung ermangelt. (Heidegger übersetzt οὐσία teils möglichst wörtlich als „Seiendheit“76.) Heidegger meint zudem, dass diese intuitive, aber dennoch logisch verbindliche Berücksichtigung der Kategorie als „Ansprechung“ bei Aristoteles von der „Kategorienlehre“, das heißt vom ausdrücklichen Denken der κατηγορίαι des Seienden (also: den Kategorien des „Seienden als Seienden“), wie es zum Beispiel in der Kategorienschrift vorliegt, sorgsam unterschieden werden muss 77. Immerhin lässt sich nun sehen, dass Aristoteles' „Denken in Kategorien“, welches sich häufig als Denken über die Dinge „als etwas“ oder „insofern sie etwas sind“ äußert, von einem etwaigen „Schubladendenken“ gerade insofern unterschieden werden kann, als dieses die Dinge aus ihrem Kontext reißt, während jenes den jeweiligen Kontext gerade berücksichtigt. (Dass Aristoteles die Kategorien dennoch auf eine bestimmte, wenn auch variierende Zahl festsetzen will, bemängelt Heidegger konsequenterweise78.) Dem Bettgestell muss die Eigenschaft der Schwere und Stofflichkeit deswegen nicht 73 Vgl. Kategorien 5, 2a 19-34, Metaphysik V 8, 1017b 10-26 74 Wieland (1962), S. 121 75 Vgl. Thomas von Aquin, Franz Leo Beeretz (Hrsg.) (1979). De ente et essentia: Das Seiende und das Wesen. Reclam, Stuttgart 76 Vgl. Heidegger (1939), S. 259 f. 77 Vgl. ebd. (1939), S. 252 f., Heidegger (1924), S. 302 f. 78 Vgl. Heidegger (1924), S. 303 20 plump abgesprochen werden. Vielmehr besteht die Lösung gerade darin, die jeweilige „Ansprechung“ angemessen zu berücksichtigen: Das Bettgestell, insofern es als Bettgestell dient, ist zweifelsohne ein technisch Verfertigtes und hat keine ἀρχή seiner Bewegung in sich selbst, das heißt: es hat nicht von selbst diese Funktion entwickelt, die ja sein Wesen, sein „Bettgestell-sein“ ausmacht. Dafür, dass etwas „physisch“ ist, reicht es demnach zwar bereits hin, dass es eine ἀρχή seiner Bewegung in sich selbst hat. Diese ἀρχή muss ihm nichtsdestotrotz als Ganzes, das heißt seinem Wesen nach zukommen. Was das Bettgestell angeht, trifft diese Bestimmung nur auf einen Teil von ihm zu, nämlich auf seinen Stoff. Denn wie gesagt ist das Bettgestell nicht einfach sein Stoff. Wären alle Dinge identisch mit ihrem Stoff, wären auch alle Dinge, die aus demselben Stoff sind, untereinander identisch, ungeachtet ihrer Form: Ein hölzernes Bettgestell wäre dann dasselbe wie eine hölzerne Suppenkelle – oder hätte mit dieser zumindest mehr gemeinsam als ein metallisches Bettgestell. Mehr noch: Wenn die Form keine buchstäblich „wesentliche“ Rolle spielen würde, dann wäre „Bettgestell“ allein ein leerer Begriff. Inwiefern man die aristotelische Unterscheidung von Natur und Technik anerkennt, hängt deswegen auch von dem ontologischen Status ab, welchen man der Form zuzuschreiben bereit ist. Form eignet jedoch auch Physischem, welches wir bisher ausschließlich von seiner Stofflichkeit her gedacht haben. Aristoteles will über die Berücksichtigung von dessen Form beziehungsweise Gestalt gerade über das Denken der Naturphilosophen hinausgehen, haben diese das Natürliche doch vornehmlich von den „Elementen“ her verstanden79. Die Form eines Seienden wird dann physischer Art sein, wenn dieses sie „von selbst“ verwirklicht – im Gegensatz zum technisch Verfertigten, bei welchem das nicht der Fall ist. Gemäß der φύσις vollzogene Bewegungen sind auch das „Entstehen“, der Schritt vom Nichtsein zum Sein, sofern das Entstehende eine ἀρχή seiner Entstehung in sich selbst hat, und das „Wachsen“ als gestalthaftes Werden eines bereits Seienden. Für die intuitiv vielleicht weniger einsichtige „Entstehung“ argumentiert Aristoteles hier, indem er Antiphons Argument, aus einem (hölzernen) Bettgestell erwachse kein Bettgestell, sondern Holz, auf das gesamte Wesen überträgt: Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege. Deswegen sagen sie ja auch, nicht das äußere Aussehen sei die Naturanlage, sondern (in diesem Fall) das Holz, weil daraus, wenn es sproßte, nicht eine Liege würde, sondern Holz. Wenn das also Naturbeschaffenheit sein soll, dann ist es auch die 79 Vgl. Physik II 1, 193a 21-28 21 Gestalt; denn aus einem Menschen entsteht ein Mensch.80 Was als gestalthaftes Wesen „von der φύσις her“ ist, entwickelt sich, sofern es entsteht oder wächst, zur Ausprägung seiner Gestalt hin. Die Form – sicher nicht alles an ihr, da der „Wuchs“ auch von der Interaktion mit der übrigen Welt abhängt, zumindest aber ein Aspekt an ihr – ist im Physischen bereits als τέλος angelegt: „Naturanlage, aufgefaßt als Werdevorgang, ist ein Weg hin zum (vollendeten) Wesen“81. Was Aristoteles hier allerdings nicht thematisiert, sind Alter, Tod und Verfall. Wie Heidegger in Sein und Zeit (SuZ) bei seiner Auslegung des Seins als „Sein zum Tode“ bemerkt, ist der Tod keineswegs als Vollendung des Daseins zu verstehen, weil Seiendes, das – und zwar im Rahmen eines sogenannten natürlichen Todes – ablebt, die Blüte seiner Existenz schon längst hinter sich gelassen hat, sofern es überhaupt je zu solcher Blüte gelangt ist82. Wird das Wesen mit dem Wachstum verwirklicht, kommt es spätestens mit dem „Ver-wesen“ zur Auflösung seiner Form zurück in die Stofflichkeit (nach christlichem Verständnis mithin zur Ablösung der Form, der Seele, vom Körper). Heidegger geht dabei – nicht nur in SuZ, sondern auch in der Physis-Schrift – so weit, Leben schlechthin als Sterben zu begreifen: „Jedes Lebendige fängt mit seinem Leben auch schon an zu sterben und umgekehrt: das Sterben ist noch ein Leben, da nur Lebendiges zu sterben vermag“83. Nichtsdestotrotz widerlegt das Aristoteles' Konzeption noch nicht, sondern schränkt sie zunächst allenfalls ein auf Wachsendes, insofern es (noch) wächst. Aristoteles erklärt jedoch auch, dass Form „in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff“84 ist mit der Begründung, dass eben erst mit dieser das Wesen verwirklicht sei. Immerhin trat φύσις auch bei Homer zunächst in der Bedeutung von „Gestalt“ auf. Das wirft aber die Frage auf, ob demnach Lebendiges, in polarem Gegensatz zur neuzeitlichen Physik, in höherem Maße als „physisch“ verstanden werden muss als Unbelebtes, oder ob alternativ die Verwirklichung der Form und auch das Wachsen weiter oder anders gedacht werden müssen, als es neuzeitliche Denkgewohnheiten nahelegen mögen. In letzterem Fall ließe sich Aristoteles' Naturphilosophie vielleicht noch dem „Hylozoismus“ zuordnen, in welchem Lebendes und Unbelebtes noch nicht so arg voneinander getrennt sind, wie es später zur Norm wurde. Immerhin wies Patzer das „Wurzeln“ der Pflanzen, an denen sich wiederum das Phänomen 80 81 82 83 84 Physik II 1, 193b 8-12, zit. n. Zekl (2012) Ebd., 193b 12 f., zit. n. Zekl (2012) Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 244 Heidegger (1939), S. 297 f. Physik II 1, 193b 6 f., zit. n. Zekl (2012) 22 des Wachsens am deutlichsten zeige, als „erste Spur des ,selbstʻ“ aus. Passend hierzu spricht Heidegger in der Physis-Schrift anstelle von „physisch Seiendem“ von den „Gewächsen“ (von denen die „Pflanzen“ – φυτά – nur eine Teilmenge darstellen), welchen er das technisch Verfertigte als die „Gemächte“, also die „gemachten Dinge“, gegenüberstellt85. Nun fällt es nicht schwer, einen Felsbrocken insofern als „natürlich“ zu begreifen, als er nicht „gemacht“ ist, und ihn im Rahmen der angeführten binären Alternative dann den „Gewächsen“ zuzurechnen. Inwiefern kann er aber nicht nur negativ, sondern positiv als „Gewächs“ gelten? Für die Beantwortung dieser Frage gilt es mit Heidegger zunächst, die Begriffe „Form“ und „Stoff“ zu überdenken: „Warum also ist die μορφή [Form] nicht nur ebenso wie die ὕλη [Stoff], sondern ,mehrʻ φύσις?“86 Anstelle der üblichen Ausdrucksweise spricht Heidegger von der μορφή als „Gestellung (in das Aussehen)“ und von der ὕλη als das „(eignungshaft) Verfügliche“87. Die letztere Wortkonstruktion, welche er darüber motiviert, dass Aristoteles „die ὕλη als τὸ δυνάμει“88 kennzeichne, also als das Vermögende („Geeignete“), ist dabei nicht völlig abwegig: Zunächst einmal entspricht sie Heideggers eigener Unterscheidung zwischen „Vorhandenem“ und „Zuhandenem“ 89, die sich mithin auch als Unterscheidung zwischen „Materie“ und „Material“ niederschlägt. So attestiert Heidegger etwa dem Materialismus Zweideutigkeit, wenn er im Humanismusbrief erklärt: „Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint“90. Während die Materie, das Vorhandene, der „bloße Stoff“ ist, ist das Material als Zuhandenes der Stoff, insofern er „Stoff für etwas“ ist, also eine teleologische Bestimmtheit birgt. Eine entsprechende Doppelbedeutung könnte schon bei Aristoteles selbst vorliegen: Wieland weist darauf hin, dass ὕλη bei der ersten Verwendung in Buch I der Physik eindeutig im Sinne von „Material“ für etwas Bestimmtes angeführt wird und erst später – jedoch noch im selben Buch – als „allgemeine[r] Begriff des stofflichen Prinzips“91, zu welchem es dann verallgemeinert werde. Heideggers Übersetzung von ὕλη als das „(eignungshaft) Verfügliche“ gesellt sich dabei zu seiner Übersetzung von ἀρχή als „(ausgängliche) Verfügung“. Damit erscheint es aber 85 86 87 88 89 90 91 Vgl. Heidegger (1939), S. 250 Vgl. Heidegger (1939), S. 275 f. Vgl. ebd., S. 280 f. Ebd., S. 280 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 69 ff. Heidegger (1946), S. 340 Wieland (1962), S. 125 23 plausibel, ὕλη selbst schon als teleologischen Begriff aufzufassen, was uns vielleicht noch nicht einer Beantwortung, jedoch zumindest einem angemessenen Verständnis der Frage, inwiefern μορφή in höherem Maße φύσις sei als ὕλη, einen Schritt näher bringt. Der nächste Schritt besteht sodann in der stringenten Auseinanderhaltung von φύσις und Physischem, von Natur und Natürlichem: Aristoteles spricht an der betreffenden Stelle – „Form ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff“ – nicht mehr vom physisch Seienden, sondern von der φύσις selbst. Diesen Übergang vom Natürlichen als solchem, wie es zuvor diskutiert wurde, zur Natur selbst, leitet er bei seiner Hinwendung zur natürlichen Form durchaus explizit ein: Als „die eine Weise, in der man von ,Naturbeschaffenheitʻ [φύσις] spricht“92, bezeichnet er zunächst den Stoff des physisch Seienden. Er fährt – nach einigen Erläuterungen – fort: Auf andere Weise wäre also die Naturbeschaffenheit der Dinge, die Anfang von Veränderlichkeit in sich selbst haben, dies: Die Gestaltung, die Form, welche sich (von dem Ding) nicht abtrennen läßt, außer nur in Gedanken. – Das „aus diesen“ (scil. Stoff und Form) ist nicht Naturbeschaffenheit, wohl aber „von Natur aus“, z. B. so etwas wie „Mensch“.93 Aristoteles weist hier zunächst darauf hin, dass die Form von Natürlichem eine Abstraktion sei, insofern sie (mit Zekl) „nur in Gedanken“ abtrennbar ist – wenngleich Heidegger hier vorsichtiger ist und sie stattdessen als nur „in der Ansprechung aufweisbar“ 94 charakterisiert. So oder so ist die Form aber kein eigentlich Seiendes, kein Wesen, sondern stets Form von Seiendem. Anschließend vollzieht der Stagirit aber den bemerkenswerten Schritt, die „Eigenschaft“ des Physischen, „aus“ Stoff und Form zu sein, als Aspekt seiner „Eigenschaft“, „von Natur aus“ zu sein zu begreifen. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber weniger um Eigenschaften als um „Seinsweisen“, also um das „Aus-Stoff-und-Formsein“ und das „Von-Natur-aus-sein“ als solche: Denn Seiendes hat nicht etwa die Eigenschaft, von Natur aus zu sein oder nicht, sondern es ist von Natur aus oder nicht. Es hat vielleicht von Natur aus bestimmte Eigenschaften oder nicht, aber das Von-Natur-aussein ist nicht selbst noch eine Eigenschaft. Aristoteles' Betrachtung geht hier also auch von der des Physischen (als solchem) zur Betrachtung der φύσις selbst über, analog dem Übergang vom Seienden (als solchem) zum Sein dieses Seienden, wie Heidegger ihn prominent machte. Wenn danach gefragt wird, inwiefern die Form „mehr φύσις“ sei als der Stoff, dann geht es deswegen nicht darum, 92 Physik II 1, 193a 28, zit. n. Zekl (2012) 93 Ebd., 193b 3-6, zit. n. Zekl (2012) 94 Ebd., 193b 5, zit. n. Heidegger (1939) 24 inwiefern die Form „physischer“ ist, womit die Form selbst als ein physisch Seiendes ausgezeichnet wäre (das sie jedoch nicht ist, weil sie nur als Form eines physisch Seienden sich zeigt). Besonders deutlich wird dies an dem Satz: „Die (erreichte) Form ist also das natürliche Wesen [φύσις]“95. Gemeint ist hier nicht das Wesen des Physischen oder die Form als ein Wesen neben anderen (etwa dem Stoff), sondern als das natürliche Wesen, als die Natur, die φύσις selbst. Was bedeutet das für den als „Gewächs“ gedeuteten Stein? Es bedeutet, dass die Form und der Stoff, um die es hier geht, nicht notwendig die spezifische Form und der Stoff des Steins sein müssen, um diese schließlich als selbstbewegt oder nicht auszuweisen, sondern dass es zunächst allein die φύσις selbst ist, welche Aristoteles als Form, als μορφή versteht. Wie ist das aber zu verstehen? Wie lässt sich hier konsistent die φύσις als μορφή denken? Hierbei wäre die Frage zu klären, inwiefern die φύσις, auf welche wir verweisen, wenn wir einen Stein als physisch Seiendes ansprechen, ein übergeordnetes Prinzip darstellt – wie wir es eben meinen, wenn wir von „der“ Natur reden oder etwas als „von Natur aus seiend“ ansprechen – und inwiefern es auch um die partikuläre φύσις des Steins geht, um die „Natur“ des Steins im Sinne seines Wesens also. Ferner ließe sich fragen, ob sich diese beiden Alternativen nicht gerade gegenseitig bedingen und ergänzen, wie es unsere doppeldeutige Redeweise von „Natur“ mithin nahezulegen scheint. Die Möglichkeit der Physik als Wissenschaft setzt die „Ansprechbarkeit“ des Physischen oder der φύσις als solche voraus. Doch bekanntlich hat das aristotelische Denken immer schon die einzelnen οὐσίαι „im Blick“, und in diesem Sinne werden allgemeine und abstrakte Bestimmungen immer nur an als partikulär und konkret Gedachtem vorgenommen. Wie mit Wieland gezeigt dürfte es sich bei dieser Dopplung im Rahmen aristotelischen Denkens gerade nicht um eine Unzulänglichkeit, sondern um eine transzendentale Notwendigkeit handeln: um einen Denkhorizont, hinter den sich nicht mehr weiter zurückgehen lässt, weil er dem Wesen der „Sprache“ – dem λόγος – selbst entspricht. Darüber hinaus unterscheidet Aristoteles, wie eben erörtert, an der fraglichen Stelle gerade zwei Weisen, von der φύσις zu reden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es zumindest äußerst naheliegend, dass die Doppelbedeutung, welche der φύσις zukommt, auch tatsächlich mit der Doppeldeutigkeit unseres heutigen Naturbegriffs korrespondiert. Für den als „Gewächs“ gedachten Stein, der seine Form nicht aus sich selbst heraus erlangt hat und damit keinen „Wuchs“ im engeren Sinne aufweist, eröffnet das folgende 95 Ebd., 193b 18, zit. n. Zekl (2012) 25 Denkmöglichkeit: Zum Wesen – und in diesem Sinne zur „Natur“ – eines als konkret gedachten Steins gehöre zweifelsohne auch seine mehr oder minder einzigartige Form, mit der er „anwest“, insofern diese seine Form seinen gesamten Wiedererkennungswert ausmacht und er ohne sie auch sein Wesen verlöre – „ver-wesen“ würde –, also nicht mehr dieser (und als dieser) eine, bestimmte Stein wäre. Die als Form gedachte φύσις wäre hier die partikuläre φύσις eines bereits angesprochenen Seienden, in diesem Fall des Steins. Zugleich habe der Stein seine Form aber auch „von Natur aus“ erlangt, womit hier aber nicht seine besagte partikuläre Natur gemeint wäre, sondern diejenige Art der Bewegtheit, die nicht auf absichtsvolle Planung und Herstellung von außerhalb zurückführbar ist und die in diesem Sinne das Gewordene und Wirkliche „von selbst“ hat werden und sich verwirklichen lassen. Allein, mit dieser Herangehensweise liefen wir Gefahr, eher unser heutiges Naturverständnis auf Aristoteles zu projizieren als diesen von ihm selbst her zu verstehen. Eine andere – durchaus auch ergänzende – Möglichkeit wäre die schon genannte, doch noch die Lebewesen als „physischer“ als die unbelebten Wesen zu erachten, weil sie im eigentlichen Sinn wachsen, und so die Idee, dass bei Aristoteles noch Überbleibsel eines Hylozoismus zu finden seien, abzuschütteln. Eine weitere Möglichkeit bietet uns jedoch Heidegger, der hier noch deutlich weiter geht. Wie bereits gesagt übersetzt er μορφή nicht als „Form“, sondern als „Gestellung (in das Aussehen)“, ὕλη hingegen als das „(eignungshaft) Verfügliche“. „Gestellung“ unterscheidet sich von „Gestalt“ dahingehend, dass sie nicht nur das Resultat (die fertige Gestalt), sondern auch den Vorgang meinen kann (die „Gestaltung“ oder „Gestalt-werdung“ dieser Gestalt), sodass μορφή nicht nur die verwirklichte Form, sondern auch die Verwirklichung dieser Form bedeuten würde. Die Antwort auf die Frage, inwiefern die μορφή „mehr φύσις“ sei als die ὕλη, sucht Heidegger dann in dem von Arisoteles selbst eingeführten Begriff der ἐντελέχεια, welcher in der Physik vor allem in der Bewegungsdefinition vorkommt. Weil das Physische schließlich über seine Bewegtheit definiert ist, wird sich auch unsere Frage nach der φύσις-Beschaffenheit der Form über diese Definition beantworten lassen müssen. Im vorherigen Abschnitt hatten wir diese bereits anhand von Zekls konventioneller Übersetzung besprochen und auf Heideggers nur nebenbei hingewiesen – deren Auslegung soll hier nun nachgeholt werden. Während Zekl die Bewegungsdefinition als „Zur-Wirklichkeit-kommen des Möglichen“ übersetzte, sprach Heidegger vom „Sich26 im-Ende-haben [ἐντελέχεια] des Geeigneten [δυνατοῦ]“. Es sei daran erinnert, dass es in diesem Zusammenhang nicht nur um die Selbstbewegung als spezifische Bewegungsweise des Physischen geht, sondern um Bewegung im Allgemeinen. (Der frühe Heidegger hatte noch etwas anders übersetzt: „Die Bewegung ist die ἐντελέχεια, Gegenwart des Daseienden, als des Daseinkönnenden, und zwar die Gegenwart, sofern es sein kann“96.) Heideggers Übersetzung verlässt – wozu sie auch konzipiert ist – den vertrauten und konventionellen Rahmen von „Aktualität“ und „Potentialität“, das heißt von den modallogisch auslegbaren Kategorien der „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ bei Aristoteles. Sie könnte jedoch durchaus näher an der „eigentlichen“ Bedeutung von ἐντελέχεια liegen, insofern diese offenkundig vom τέλος, also vom Ziel und Ende (statt von der „Wirklichkeit“) her gedacht wird. Während, da es ja um Bewegung und Veränderung geht, zweifelsohne auch eine Verwirklichung des τέλος gemeint ist, ist damit noch nicht gesagt, dass es sich bei dieser um einen diskreten Schritt von der Möglichkeit zur Wirklichkeit handeln müsse. Außerdem muss es sich nicht um einen Übergang von „vorher“ zu „nachher“ handeln. Denn Bewegung geschieht für Aristoteles nicht etwa „in der Zeit“ (wie sie auch nicht „im Raum“ ist, was beides später noch thematisiert werden soll), sondern Zeit ist mithin abgeleitet von Bewegung, ist Bewegung, insofern sie zählbar ist. Dafür, „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ hier nicht nur zeitlich zu denken, spricht zudem, dass auch mit dieser Auslegung Veränderung in letzter Instanz immer noch vom „Werden“ her verstanden würde, wodurch die Berufung auf Möglichkeit und Wirklichkeit redundant wirkt: Sagt die Aussage, dass Veränderung das Wirklich-werden des Möglichen sei, überhaupt mehr als die, dass Veränderung Werden schlechthin sei? Wäre der Übergang vom Möglichen zum Wirklichen nicht schon im Begriff des Werdens enthalten? Würde es hier noch einen Unterschied machen, anstelle vom „Wirklich-werden“ vom „ZurWirklichkeit-kommen“ des nur Möglichen zu sprechen, quasi vom „Zu-kommen“ des Zukünftigen? Veränderung ist laut Heidegger die ἐντελέχεια, die dem „Geeigneten“ zukommt. Im Gegensatz zur üblichen Übersetzung muss dafür nicht vorausgesetzt werden, dass das Geeignete (das Mögliche) früher sei als das Wirkliche. Deswegen sieht Heidegger in seiner Variante auch eine Lösung des in der üblichen Übersetzung rätselhaften Ausspruches aus der Metaphysik, Buch IX, 8: „[…] daß die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die 96 Heidegger (1924), S. 313 27 Möglichkeit)“97, der ja der modallogischen Auffassung, dass die Extension des Wirklichen in der des Möglichen enthalten sei, widerspricht. An der betreffenden Stelle spricht Aristoteles zwar nicht von ἐντελέχεια, sondern von ἐνέργεια, die Heidegger in diesem Zusammenhang jedoch als Synonyme erachtet. Er erläutert: Δύναμις ist eine Weise der Anwesung; die ἐνέργεια (ἐντελέχεια) aber, sagt Aristoteles, sei πρότερον, „früher“, als die δύναμις; „früher“ nämlich hinsichtlich der οὐσία […] Die ἐνέργεια erfüllt das Wesen der reinen Anwesung ursprünglicher, sofern sie besagt: das Sich-im-Werk-und-Ende-Haben, was jegliches „Noch nicht“ der Eignung zu... hinter sich gelassen, ja besser, gerade mit vor in die Erfüllung des voll-„endeten“ Aussehens gebracht hat. Den angeführten Grundsatz des A. über das Rangverhältnis von ἐντελέχεια und δύναμις können wir auch kurz so fassen: die ἐντελέχεια ist „mehr“ οὐσία als die δύναμις; jene erfüllt das Wesen der in sich ständigen Anwesung wesentlicher als diese.98 Heidegger vollzieht nun den Denkschritt, das in Frage stehende Verhältnis von μορφή und ὕλη mit dem von ἐντελέχεια und dem Geeigneten zu identifizieren. Während das auf den ersten Blick willkürlich erscheinen mag, muss hierbei erinnert werden, dass er schon zuvor auf Aristoteles' Charakterisierung der ὕλη durch das δυνατοῦ hingewiesen hatte. Zur μορφή als „Gestellung“ passt die ἐντελέχεια wiederum insofern, als das „Sich-im-Ende-haben“ auch eine „Gestalt-Werdung“ zu implizieren scheint. Dass die ἐντελέχεια „mehr“ οὐσία sei als die δύναμις stimmt außerdem damit überein, dass die μορφή mehr φύσις sei als die ὕλη. Oὐσία hatten wir bisher vor allem in zwei Bedeutungen als „Wesen“ übersetzt – als „Sache selbst“ und als „das, was die Sache ausmacht“ –, es ließe sich nun jedoch noch eine dritte Bedeutung von „Wesen“ als substantiviertes Verb vermuten, die zumindest der „Anwesung“, von der Heidegger hier spricht, am nächsten liegen dürfte (zuvor nannte er allerdings noch „,Seiendheitʻ […] die allein gemäße Übersetzung von οὐσία“99). Darüber hinaus – was Heidegger in der Physis-Schrift gar nicht thematisiert – weist Aristoteles schon in Buch I ὕλη und μορφή als zwei von drei ἀρχαί des Werdenden aus: Das zugrundeliegende Naturding wird der Erkenntnis zugänglich mittels einer Entsprechung: Wie sich zum Standbild das Erz, zur Liege das Holz oder zu anderen Dingen, die Gestaltung (erfahren) haben, das Ungestaltete verhält, bevor es die Gestaltung an sich genommen hat, genauso verhält sich dies (der Grund-Stoff) zum bestimmten Dasein, zum Dieses-da, zum Seienden [οὐσία]. Ein Anfang [der im Werden befindlichen Naturdinge] ist also dies [der Stoff] – allerdings ist es nicht in dem Sinne eins und seiend wie das Dieses-da –, (ebenfalls) einer die (Form), auf die der Begriff zielt, und schließlich das 97 Metaphysik IX 8, 1049b 5, zit. n. Bonitz (2012) 98 Heidegger (1939), S. 287 99 Ebd., S. 260 28 diesem Entgegengesetzte, das Fehlen-der-Bestimmtheit [στέρησις].100 Ὕλη und μορφή sind also nicht einfach zwei Abstrakta von Seiendem oder gar Teile, aus denen dieses sich zusammensetzen lasse, sondern bilden aus sich heraus schon eine „Dynamik“, welche Heidegger dann mit Bewegung schlechthin verbindet. Auf die dritte im obigen Zitat genannte ἀρχή – στέρησις – werden wir gleich noch zu sprechen kommen. Die Lösung, die Heidegger für die Problematik anbietet, besteht darin, μορφή, die „Gestellung“, nicht nur als sich an Seiendem vollziehender Vorgang – oder als Resultat desselben – zu denken, sondern direkt als gestalthafte „Anwesung“. Näher an der üblichen Übersetzung wäre die μορφή dann nicht nur die Form oder Formung, sondern auch – so ließe sich zunächst formulieren – das „Sich-zeigen“ der Form, ihr „Erscheinen“ im Sinne des Husserlschen Phänomens. Das „Wachsen“ (die φύσις), von welchem her das „Gewächs“ (das Physische) seine Bedeutung erlangt – oder vielmehr ist – wäre hier kein empirischer, jedoch phänomenologischer Vorgang: sein Sich-zeigen in seiner eigentümlichen Gestalt, welches zwar nicht notwendig „in der Zeit“ geschieht, aber nichtsdestotrotz „zeitlich“ und insofern eine Bewegung sein kann (wie Heidegger zum Schluss von SuZ das Sein selbst in Verbindung mit der Zeit bringt101). Heidegger geht das „Sich-zeigen“ – sein Husserlscher Charakter wurde eben betont – aber gerade noch nicht weit genug. „Zeigen“ stellt mithin ein Verweisen dar und hält so Zeichen und Bezeichnetes auseinander. Auch ein „sich als es selbst Zeigendes“ entspräche demgemäß noch eher einem „sich selbst machenden Gemächte“, welches auf einen Zusammenhang oder eine Funktion verweist, anstatt als „Gewächs“ auch wirklich dem spezifisch medialen Charakter des Wachsens zu entsprechen. Hatte Heidegger in SuZ noch das „Phänomen“ als „das, was sich zeigt“ charakterisiert 102, ist „physisch Seiendes“ zumindest kein „Naturphänomen“ in diesem Sinne, sondern muss noch unmittelbarer gedacht werden. Deswegen spricht Heidegger gerade von „Gestellung“: Das Sichzeigen ist bereits eine Art von Anwesung und doch nicht die einzige. Das Aussehen kann aber auch, ohne sich […] in und für eine τέχνη zu zeigen, unmittelbar sich stellen als das, was das Stellen in es selbst übernimmt; das Aussehen stellt sich selbst; hier ist Gestellung eines Aussehens; und so sich stellend, stellt es sich in es selbst, d. h. stellt selbst ein So-Aussehendes her – μορφή als φύσις. Und wir sehen leicht, daß ein ζῷον (Tier) nicht sich selbst und seinesgleichen „macht“, weil sein Aussehen nicht und nie bloß Maß und Vorbild ist, demgemäß aus einem Verfüglichen etwas hergestellt wird, sondern 100 Physik I 8, 7-14, zit. n. Zekl (2012) 101 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 437 102 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 28 29 das Aussehen ist das An-wesende selbst, das sich stellende Aussehen, das sich erst je das Verfügliche bestellt und als Geeignetes in die Eignung stellt.103 Nicht empirisch-ontisch, sondern phänomenologisch-ontologisch gedacht gälte dann dasselbe für einen Stein, sodass die Problematik von μορφή und φύσις sowie von dem Stein als „Gewächs“ als gelöst gelten könnte. Zugleich wird hier der Begriff des Gewächses nun endlich wirklich positiv gedacht: nicht nur in Abgrenzung zum „Gemachten“, sondern über den „Wuchs“ im Sinne einer grammatikalisch zwar „medialen“, phänomenologisch gerade deshalb aber unmittelbaren Anwesung. Diese Auslegung bleibt freilich spekulativ, insofern sie auf wenige Sätze des Aristoteles ein enormes Gewicht legt. Zu ihren Prämissen gehört, dass Bewegung für Aristoteles durchaus mehr sei als ein sich an Seiendem vollziehender Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit und, problematischer – was noch nicht genannt wurde –, dass die Auflistung von Bewegungsarten in der Physik (Ortsbewegung, Zu- und Abnahme etc.) gewissermaßen unvollständig sei und diese ontischen Arten um eine ontologische ergänzt werden müssen. Damit geht diese an Heidegger orientierte Auslegung letztlich doch über das von Aristoteles Gesagte hinweg zu einem mutmaßlich „Ungesagten“. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass Aristoteles dort, wo er die μορφή als in höherem Maße φύσις kennzeichnet als ὕλη, sich explizit nur auf Lebendiges bezieht. Soll das Wagnis von Heideggers Interpretation trotzdem fortgeführt werden, bietet die στέρησις, die neben ὕλη und μορφή dritte ἀρχή des Werdenden, einen nächsten Anhaltspunkt: Bemerkenswert an ihr ist, dass Aristoteles στέρησις, das „Fehlen-derBestimmtheit“, nicht als Privation der μορφή auffasst, sondern – sie als eigene ἀρχή identifizierend – selbst als positiv Bestimmbares. Eine vergleichbare Auslegung eines im Werden erscheinenden Mangels findet sich in SuZ als „Noch-nicht“, wie Heidegger es an einer reifenden Frucht illustriert: „[R]eifend ist sie die Unreife. Das Noch-nicht ist schon in ihr eigenes Sein einbezogen“104. Auch das „Fehlen“ als „Bruch“ in der Umwelt deutet in diese Richtung105. Und schon der frühe Heidegger versteht dieses seiende Nichtsein bei Aristoteles „im Sinne eines bestimmten Da, des Da der Abwesenheit“106. In der Physis-Schrift wiederholt Heidegger diese Motive, indem er eine modifizierte Metapher der Blüte und Frucht anführt und στέρησις als „Abwesung“ übersetzt107, womit 103 104 105 106 107 Heidegger (1939), S. 290 Heidegger [1927] (2006), S. 244 Vgl. ebd., S. 75 Heidegger (1924), S. 298 Vgl. Heidegger (1939), S. 296 ff. 30 jedoch „nicht einfach Abwesenheit [gemeint ist], sondern Anwesung, diejenige nämlich, in der gerade die Abwesung – nicht etwa das Abwesende – anwest“ 108. Die weitere Auseinandersetzung hiermit würde jedoch endgültig von Aristoteles' „Gesagtem“ zu seinem vermeintlich Ungesagten führen: von Heideggers Aristoteles-Interpretation zu Heidegger selbst. Fazit: Drei Lösungsvorschläge wurden für das „Problem der Form“ angeführt, welches sich als naheliegende Verständnisfrage von Aristoteles' in Physik II, 1 entworfener Physiskonzeption ergibt. Der erste besteht darin, die Form eines (unbearbeiteten) Steines als durch die allgemeine, nicht jedoch seine partikuläre Natur verursacht zu sehen; der zweite schlägt vor, das Lebendige als „physischer“ zu erachten als das Unbelebte; der dritte sucht (mit Heidegger) bei Aristoteles nach einer verborgenen Lehre zwischen den Zeilen. Als eine vierte Möglichkeit bietet sich allerdings eine Kombination der vorherigen drei an: Tatsächlich stellt sich auch Heidegger in diesem Zusammenhang gar nicht der Herausforderung, explizit über die μορφή eines bloßen Steins nachzudenken, sondern verbleibt im Bereich des Lebendigen – oder zumindest der chemischen Vorgänge (wie dem Wandel von Wein zu Essig109). Eine solche Synthese der verschiedenen Auslegungen könnte etwa folgendermaßen aussehen: Dass ein Stein, ein Unbelebtes, durchaus „weniger φύσις“ sei als ein Belebtes, muss im aristotelischen Kosmos nicht überraschen. Aristoteles' Seelenlehre, gemäß derer der Mensch die verschiedenen, ineinander verschachtelten Naturreiche als ζῷον in sich integriert, jedoch um seine Vernunfttätigkeit übertrifft110, ist im Rahmen seiner Naturteleologie nicht nur deskriptiv, sondern auch als Hierarchie zu verstehen: Der Mensch ist „physischer“ als das Tier, dieses als die Pflanze, diese als das Unbelebte, weil in ihm der Kosmos zu höherer Selbstverwirklichung – zu „mehr φύσις“ – gelangt. Nichtsdestotrotz ist der Mensch – zumindest als einzelnes Lebewesen, nicht als Gattung – noch vergänglich, und in höchstem Maße physisch oder φύσις ist schließlich das Immerwährende, das gerade, weil es als solches keiner Veränderung mehr unterliegt, seine partikuläre und damit auch die allgemeine Natur vervollkommnet hat und dadurch am mächtigsten „anwest“ (im Heideggerschen Sinne). Ein Stein hat zwar auch Bestand, bleibt jedoch völlig den Wechselfällen der sublunaren Welt unterworfen, während der von Aristoteles als 108 Ebd., S. 296 f. 109 Vgl. ebd., S. 297 110 Vgl. Eth Nic I 6, 1097b f. 33-7, De anima II 3, 414a f. 29-19 31 immerwährend vorgestellte Himmel111, zumindest jedoch Gott als das unbewegt Bewegende112, dem Vergänglichen enthoben bleibt. Nun ist der Fixsternhimmel, wie heute bekannt ist, aber keineswegs „fix“ und immerwährend, Aristoteles' unbewegter Beweger ist zweifelsohne ein „Gott in der Philosophie“, wie Heidegger ihn als pathologischen Ausdruck von „Onto-Theo-Logik“ ablehnte113, und überhaupt scheint die neuzeitliche Empirie eher in Richtung πάντα ῥεῖ zu deuten, jedenfalls, wenn man eine Setzung von immerwährenden „Naturgesetzen“ abzulehnen geneigt ist. Allerdings muss dies die genannte Verschachtelung von Naturreichen noch nicht undenkbar machen. Zweifelsohne (fünftens) erscheint es aber ebenso denkbar, dass Aristoteles' Konzeption letztlich inkonsistent bleiben könnte – oder (sechstens) dass womöglich schon die φύσις und damit auch die Natur selbst ein heterogenes, nicht mit sich selbst in Übereinstimmung zu bringendes Konzept darstellt. 4. Die φύσις bei Heidegger Im Folgenden soll nun weiter Heideggers eigener Physiskonzeption – nach wie vor mit Fokus auf Aristoteles und die Physis-Schrift – nachgegangen werden. Die Grenze zwischen Aristoteles-Interpretation und Heideggers eigenem Denken wird von diesem kaum explizit gezogen und ist daher nicht ohne intensive Textkritik auszumachen. Diesbezüglich zeigte sich der vorherige Abschnitt Heidegger gegenüber durchaus „kulant“, insofern seine alternativen Übersetzungen noch weitgehend als genuine Interpretation verstanden und am Originaltext gerechtfertigt wurden. Erst bei der στέρησις als „Anwesung der Abwesung“ wurde der Schlussstrich gezogen – was auch dort nicht bedeuten sollte, dass Heidegger etwas verfälschen würde, sondern in erster Linie geschah, weil weitere Erläuterungen eher in „Heidegger-typische“ als in „Aristoteles-typische“ Gedankengänge gemündet hätten. Um Heidegger nicht misszuverstehen, sei noch einmal betont, worauf er eigentlich abzielt: Die freimütige Art und Weise, wie Heidegger mit den alten Griechen umgeht, ist nicht als Philologie zu verstehen, insofern diese bemüht wäre, sich auf das „Gesagte“ zu beschränken, sondern sie sucht die „eigentliche“ Lehre als etwas „Ungesagtes“ zwischen den Zeilen auf. Da die griechische Philosophie für Heidegger gewissermaßen der „Anfang vom Ende“ ist, muss er dasjenige Anfängliche, nach dem er eigentlich sucht, letztlich noch vor ihrem Beginn vermuten. Heidegger will deswegen nicht einfach wiederholen, was die 111 Vgl. De caelo I 9, 277b 27-29 112 Vgl. Metaphysik XII 7, 1072b 28-30 113 Vgl. Heidegger (1956/57), S. 77 32 Griechen gedacht haben, sondern im Gestus der Wiederholung gewissermaßen „durch sie hindurch“ sehen. 4.1 Φύσις als Entbergung Aristoteles kennzeichnet die φύσις zum einen als ἀρχή des Selbstbewegten, insofern es bewegt ist, zum anderen als dessen Form, μορφή, welche Heidegger mit „Gestellung“ übersetzt. Die „Gestellung“ mag an das „Gestell“ erinnern, als welches Heidegger später den „herausfordernden Anspruch“ der modernen Technik an den Menschen bezeichnet 114. Dies mag insofern überraschen, als man von der (laut Heidegger) ursprünglichen Bedeutung von φύσις als Seinsweise des Physischen eher eine Antithese zu jenem Gestell vermuten würde, zumal im Rahmen der aristotelischen Abgrenzung von Natur und Technik. Nichtsdestotrotz fragt sich Heidegger auch in der Physis-Schrift, ob nicht „die einzig mögliche Auslegung der φύσις [die] als einer Art von τέχνη“115 sei, wenngleich er dies anschließend gerade verneint. τέχνη ist bei Heidegger zudem für gewöhnlich nicht als „Technik“ zu verstehen, sondern eher als „Kunst“ im weitesten Sinne, wobei er sie allerdings verstanden wissen will als „das Sichauskennen in dem, worauf jede Anfertigung und Herstellung gründet“116, also eine Art von Wissen – als „Kunde“. Schließlich meint er jedoch, dass das „Machen“ und „Wachsen“ je zwei verschiedene Weisen des Herstellens seien117. Wie bereits gesagt dient das „Stellen“ in diesem Zusammenhang unter anderem dazu, den Charakter der „Anwesung“ stärker zu betonen als es das bloße „Zeigen“ könnte. Letztlich geht Heidegger am Ende jedoch noch dazu über, die φύσις als „Entbergung“ zu verstehen118, welche als Übersetzung von ἀλήθεια – anstelle von beziehungsweise zusätzlich zu „Wahrheit“ – in seinem Gesamtwerk weitaus typischer ist. Anstatt schon hier die irritierende Ähnlichkeit zwischen Gestellung und Gestell zu vertiefen, soll daher zunächst der Weg verfolgt werden, auf welchem Heidegger von der „Gestellung“ zur „Entbergung“ gelangt. Erst, nachdem Aristoteles die φύσις als ἀρχή des Selbstbewegten als solchen sowie als μορφή, „Gestellung“, charakterisiert hatte, beendete er das Kapitel II, 1 mit einem Verweis 114 Vgl. Martin Heidegger (1953): „Die Frage nach der Technik“. In: Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 7. Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, 5-36, S. 20 115 Heidegger (1939), S. 289 116 Ebd., S. 251 117 Ebd., S. 289 118 Ebd., S. 301 33 darauf, dass „auch die ,Beraubungʻ [στέρησις] […] so etwas wie Aussehen“119 sei. Heideggers Anliegen ist es nun, die daraus resultierenden offenen Fragen, wie diese Doppeldeutigkeit zu verstehen sei und welche Rolle die στέρησις dabei spiele, zu beantworten. Die στέρησις wurde mit Heidegger zuvor als „Abwesung“ und gleich darauf als „Anwesung der Abwesung“ gekennzeichnet. Diese Paradoxie rechtfertigt er damit, dass es nicht das Abwesende ist, was anwest – dieses ist ja gerade nicht da –, sondern eben dessen Abwesung: Die „Abwesung“ ist selbst kein Seiendes, sondern als Fehlen eines Seienden ein Nichtsein und damit die Seinsweise des Fehlenden beziehungsweise Abwesenden (insofern es fehlt): Wenn etwas fehlt, dann ist das Fehlende zwar weg, aber das Weg selbst, das Fehlen bringt uns gerade auf und beunruhigt uns deshalb, was alles das „Fehlen“ nur kann, wenn es selbst „da“ ist, d. h. ist, d. h. ein Sein ausmacht.120 Dass Aristoteles die στέρησις selbst als ein Aussehen kennzeichnet, verleitet Heidegger zu der Frage, wie sie sich zur μορφή verhalte. Hierauf aufbauend beschreibt er den Werdegang der Gewächse als Wechselspiel von Sein und Nichtsein, genauer: als „Unterwegs von einem ,Noch nichtʻ zum ,Nicht mehrʻ“121, wobei er, motiviert von einer durch Aristoteles vorgenommenen Beschreibung der φύσις als Weg (ὁδός), die „Be-weg-ung“ auch von diesem her denkt122: Die φύσις […] ist die aus sich selbst her und auf sich selbst zu unterwegige Anwesung der Abwesung ihrer selbst. Als solche Abwesung bleibt sie ein Insich-zurück-Gehen, welches Gehen jedoch nur der Gang ist eines Aufgehens.123 „Aus sich selbst her“ (und wohl auch „Abwesung“) verweist hier auf das Denken der φύσις von der ὕλη her, „auf sich selbst zu“ (und „Anwesung“) hingegen auf die μορφή. Was Heidegger hier behauptet, lässt sich zweifelsohne im „Gesagten“ Aristoteles' nicht mehr ausmachen; es stellt eine Deutung dar im Versuch, die explizite Doppelbedeutung bei Aristoteles wesensmäßig zusammenzudenken – φύσις als „Aufgehen“. Das Begriffspaar Anwesung/Abwesung enthält bereits semantische Parallelen zur Entbergung/Verbergung. „Unverborgenheit“ (teils auch „Entdecktheit“) ist Heideggers wortgetreue Übersetzung von ἀλήθεια, die konventionell als „Wahrheit“ übersetzt und 119 120 121 122 123 Physik II 1, 193b 19 f., zit. n. Heidegger (1939) Heidegger (1939), S. 296 Ebd., S. 297 Vgl. ebd., S. 291 ff. Ebd., S. 299 34 verstanden wird124. Der logische Wahrheitswert einer Aussage – schon die Entsprechung von Aussage und Wirklichkeit – ist für Heidegger nur möglich aufgrund einer vorgängigen, in die Unverborgenheit führenden Entbergung, die wir unter Berufung auf das zuvor Gesagte auch mit der aristotelischen κατηγορία in Verbindung bringen können, der vorterminologischen „Ansprechung“ („Anklage“), welche dem sprachlich ausdifferenzierten „Urteil“ vorausgeht. Zum Ende der Physis-Schrift weist Heidegger noch einmal darauf hin, dass Aristoteles' Physiskonzeption letztlich aber nur „ein Nachklang des großen Anfangs der griechischen und des ersten Anfangs der abendländischen Philosophie“125 sei und greift – im Versuch, φύσις noch „anfänglicher“ zu denken – auf Heraklits bekanntes Fragment 123 zurück: „Φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ“126 – „Die φύσις ,liebtʻ (oder pflegt oder neigt dazu), sich zu verbergen“. (In der Physis-Schrift spricht auch Heidegger vom „Lieben“; an anderer Stelle bezeichnet er diese Übersetzung als „reichlich tantenhafte Vorstellung von der φύσις“127.) Als „Entbergung“ kann Heidegger die sich verbergende φύσις hier aus demselben Grund verstehen, aus welchem er auch von der „Anwesung der Abwesung“ sprechen kann: Die φύσις ist kein Seiendes, sondern das Sein eines – und zwar des physisch – Seienden, welches sie als Entbergung „entbirgt“. Steht das physisch Seiende aber selbst in der Unverborgenheit da, kann der Vorgang, wie es dazu kam und fortlaufend kommt, aber allzu leicht „in Vergessenheit“128 geraten. Während die Rede von dieser „Seinsvergessenheit“ das Vergessen allerdings noch dem Menschen (in SuZ: dem „Dasein“129) überantwortet, äußert der Heidegger nach der „Kehre“ hingegen, dass es das Sein selbst sei, welches sich verberge: Wie auch Heraklit spricht, ist es die φύσις, die (von sich aus) pflegt, sich zu verbergen – nicht der Mensch, der sie dann vergisst, sondern den sie verlässt, indem sie ihn der Verfallenheit130 an das Seiende überlässt. Auf diese Weise kann sich die Entbergung zunächst verbergen – ob sie es tatsächlich tut, ob sie dazu gar neigt oder es liebt, liegt nicht im Ermessen des Menschen, sondern ist für Heidegger „Seinsgeschick“ 131. Nichtsdestotrotz formuliert Heidegger in der Physis-Schrift noch einen normativen Appell, wie er in seinem Gesamtwerk in dieser Deutlichkeit wohl Seltenheitswert hat. Dabei handelt es sich um eine 124 125 126 127 128 129 130 131 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 219 Heidegger (1939), S. 300 Vgl. DK 22 B 123 Martin Heidegger (1943): „Der Anfang des abendländischen Denkens“. In: Manfred S. Frings (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 55. Klostermann, Frankfurt a. M., 1979, 1-181, S. 127 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 2 Vgl. ebd., S. 7 Vgl. ebd., S. 175 Vgl. Heidegger (1946), S. 327 ff. 35 Antithese zum Vorhaben, „die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln“, wie man sie von der modernen Kosmologie nur allzu gewohnt ist: Und daher gilt es nicht, das κρύπτεσθαι der φύσις zu überwinden und ihr zu entreißen, sondern das weit Schwerere ist aufgegeben, das κρύπτεσθαι, als der φύσις gehörend, ihr in aller Wesensreinheit zu lassen.132 4.2 Sein als φύσις Die φύσις wurde bis jetzt – mit Heidegger, teils auch allein mit Aristoteles – vielfach als „Seinsweise“ oder gar „Sein“ des physisch Seienden ausgewiesen und dabei durch Begrifflichkeiten wie „Bewegtheit“, „Form“, „Gestellung“, „Anwesung“, „Aufgang“ und schließlich „Entbergung“ näher zu bestimmen versucht. Diese bunte Vielheit mag in der Rückschau schnell etwas willkürlich anmuten – und das vor einem Hintergrund, der durchaus triviale Züge trägt: Denn dass das Natürliche – im alltäglichen Sprachgebrauch mithin auch „die Natur“ als Gesamtheit, „Universum“ des Natürlichen – einen beträchtlichen Teil der Welt ausmache, würde wohl kaum jemand bestreiten, der nicht auch den Naturbegriff selbst bestreitet. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei dieser Vorgehensweise um das, was von einer Hermeneutik der Natur gerade zu erwarten wäre. Heideggers eigentliche, weitaus stärkere These wurde bisher jedoch noch gar nicht thematisiert: Sie besteht nicht in seiner Auslegung der φύσις als Sein, als „eine Art der οὐσία“133, sondern in einer umgekehrten Auslegung von Sein als φύσις. Heidegger geht davon aus, dass in der φύσις beschlossen liegt, was für die Griechen das Sein schlechthin war oder zumindest wurde, prägnanter: dass das Sein der φύσις (als Entbergung in die Wahrheit) gewissermaßen entstamme. Was Aristoteles betrifft, verweist er hierfür auf Buch IV (Г) der Metaphysik, in welchem dieser ausnahmsweise – entgegen der bei ihm üblichen Hierarchie – die οὐσία der φύσις nachordnet, insofern die höchsten Ursachen „notwendig Ursachen [αἰτίας] einer gewissen Natur [φύσεός] an sich sein müssen“134. Heidegger-Kommentatoren haben vielfach die historische Richtigkeit dieser Einschätzung bezweifelt und vermutet, dass auch die aristotelische οὐσία135 oder allgemein das „griechisch gedachte“ Sein136 nicht so einseitig durch die φύσις bestimmt ist, wie 132 133 134 135 136 Heidegger (1939), S. 301 Ebd., S. 299 Metaphysik IV 1, 1003a 26-28, zit. n. Bonitz (2012); vgl. Heidegger (1939), S. 299 Vgl. Mikulić (1987), S. 95 ff. Vgl. Beierwaltes (1995), Christian Martin (2009): „Heideggers Physis-Denken“. In: Phil. Jahrbuch 116(1), 90-114 36 Heidegger es sich vorstellt. Mithin wird sogar erwogen, dass bei Aristoteles (und Platon) nicht nur jener von Heidegger vermutete „Nachklang“ des als φύσις aufgegangenen Seins zu hören sei, sondern dass umgekehrt „φύσις zu seiner großen Bedeutung erst um die Wende zum 4. Jahrhundert gelangt ist“ 137, und dass daher bereits Aristoteles hier eine philosophiegeschichtliche Rückprojektion eigenen Denkens vornehme, wenn er die Vorsokratiker φυσιολόγοι nennt. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch, dass Heidegger, indem er Sein – freilich auf seine Weise – auf φύσις reduziert, selbst eine Art „ontologischen Physikalismus“ zu vertreten scheint: Während der „ontische“ Physikalismus alles Seiende auf physikalische „Objekte“ oder ähnliches reduzieren will, führt Heidegger stattdessen das Sein auf die φύσις zurück. (Falls „Physikalismus“ hierfür unpassend erscheint, weil er weniger die φύσις als das Physikalische meint, ließe sich hierfür auch ein Neologismus wie etwa „Physizismus“ einführen.) Hierauf aufbauend ließe sich etwa fragen, wo verborgene Entsprechungen zwischen Heideggers Denken und dem naturwissenschaftlichen Physikalismus liegen könnten, sofern diese gerade aufgrund gegenseitiger Abgrenzung und Abneigung vermutet werden dürfen. Nichtsdestotrotz sollen weiterhin Aristoteles und Heidegger von ihnen selbst her verstanden und einander gegenübergestellt werden, um die spezifischen Kontraste zwischen ihnen kenntlich zu machen. Wie stellt sich also das aristotelische Projekt von Heideggers Warte – in dem hier angeführten Schema – aus dar? Dass Heidegger die Physik als „verborgenes Grundbuch der abendländischen Philosophie“ bezeichnen kann, wird nun nachvollziehbar: Die Physik handelt, insofern sie von der φύσις handelt, von jener Entbergung, auf deren Grundlage die Metaphysik erst möglich wird. Weil eine solche Abhandlung im Anschluss nicht mehr vorgenommen wurde, bleibt die Physik philosophiegeschichtlich „verborgen“ auf dieselbe Weise, wie sich auch die φύσις verbirgt. Aristoteles markiert dabei selbst jedoch nur den endgültigen Übergang vom „Denken des Seins“ zur Metaphysik, denn von „Entbergung“ ist schon bei ihm keine Rede mehr. Insbesondere ist schon Aristoteles „Wissenschaftler“, insofern er mit Sicherheit kein „Dichter“ ist („Viel lügen die Dichter“138) und entspricht damit dem Geschick, welches in der abendländischen Philosophie bereits vor ihm angelegt war. Doch was kann „Technik“ oder „das Gemachte“ noch bedeuten, wenn Sein (erstens) φύσις ist, Gemachtes (zweitens) aber doch sicher Seiendes, andererseits aber (drittens) nicht von 137 Karl-Heinz Ilting (1962): „Sein als Bewegtheit“. In: Philosophische Rundschau 10(1), 31-49, S. 46 138 Metaphysik I 2, 983a 3-4, zit. n. Bonitz (2012) 37 der φύσις her sein soll? Indem Heidegger das Sein der Ermächtigung durch den Menschen entzieht, ergibt sich eine Art Determinismus, in welchem auch der Mensch, sein Tun und sein Denken, vom Sein her bestimmt ist – darauf verweist ja gerade das „Schicksal“, von welchem Heidegger in verschiedenen Variationen spricht. Sogar von dem militärischen Begriff des „Gehorsams“ (gegenüber dem Sein) ist Heidegger nur einen winzigen Schritt entfernt, wenn er im Humanismusbrief das Denken des Seins als „das hörend dem Sein Gehörende“139 bezeichnet. Tatsächlich ist diese Formulierung jedoch bereits über den Gehorsam hinaus geschritten: Von „Gehorsam“ wäre im Rahmen der Erwartung die Rede, dass dieser auch geleistet werde, was die Möglichkeit des Nicht-gehorchens einschließt; doch so, wie Heidegger das Denken des Seins charakterisiert, schließt er diese Möglichkeit gerade aus. Als Karikatur ließe sich deswegen formulieren, dass Heidegger offenbar (auf) den „Anspruch“ des Seins höre wie ein Schizophrener (auf) Stimmen in seinem Geist. Akzeptiert man all dies aber dennoch, ergibt sich, dass die Abgrenzbarkeit „der Technik“ gegenüber „der Natur“ eine aus der Seinsverlassenheit resultierende Täuschung darstellt, welcher auch Aristoteles bereits unterliegen könnte. Denn in Wirklichkeit „gehört“ auch das Tun des Menschen der φύσις. Ob sie sich diesem Tun verbirgt oder nicht, bleibt dabei ihr überlassen. Diesbezüglich wäre also entscheidend, inwiefern Aristoteles auch menschliches Tun als „von der φύσις her“ anerkennt. Seine prominente Unterscheidung in der Physik legt dies zunächst nicht nahe. Andererseits postuliert Aristoteles keine Willensfreiheit im neuzeitlichen Sinn oder ähnliches. Schon in II, 3 setzt er die („objektive“) Kunst des Hausbaus als das dem („subjektiven“) Tun des Baumeisters Vorrangige140 und bettet gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik sämtliche τέχνη in eine kosmische Teleologie ein141, die von der natürlichen nicht so verschieden zu sein scheint. Allerdings wäre hier hinsichtlich der Baukunst wieder zu berücksichtigen, dass τέχνη und Technik keineswegs identisch sind, sodass hier lediglich gemeint sein dürfte, dass ein Baumeister die Baukunst beherrschen muss, um sie anwenden zu können. Gesetzt also, dass Aristoteles für Heidegger an der definitorischen Unterscheidung dennoch festhält, verweist die „Gestellung“ aus der Physis-Schrift vielleicht tatsächlich bereits auf das spätere „Gestell“. Anders als für den naturwissenschaftlichen Physikalismus, der die Natur als qua „Naturgesetze“ aus „Elementarteilchen“ zusammengefügtes Uhr- oder Kraftwerk auslegt, 139 Heidegger (1946), S. 316 140 Vgl. Physik II 3, 195b 21-25 141 Vgl. Eth Nic I 1, 1094a 1-3 38 um sie als solches zu behandeln, geschieht Heideggers Charakterisierung der Technik als Natur freilich nicht, um diese technisch zu beherrschen, was er ja gerade kritisiert. Vielmehr ist die Technik umgekehrt die Natur, die hinter- und untergründig den Menschen beherrscht, indem sie „in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt“142: Die Technik ist die sich dem Menschen verbergende Natur. In seinem Spätwerk denkt Heidegger über die φύσις mithin anders, als es die vorherige Analyse nahelegen mag. Als deren Kulminationspunkt kann der eben geäußerte Gedanke gelten, dass die φύσις jene sich in der Technik verbergende Entbergung sei. Martin (2009) rekonstruiert Heideggers diesbezügliche Entwicklung und weist darauf hin, dass Heidegger zeitweise nur noch von „Bergung“ ohne Präfix gesprochen habe, dass er andererseits im Gestell bereits den Ursprung der φύσις ausmachen wollte (das Gestell seinsgeschichtlich also schon vor der φύσις ansetzt), um schließlich aber derart einseitige Interpretationsversuche aufzugeben und sich zunehmend an Hölderlin zu orientieren143. Die detaillierte Auseinandersetzung hiermit wäre jedoch Aufgabe reiner Heidegger-Forschung. Um uns die Möglichkeit eines klaren, diskursiven Vergleichs von Aristoteles und Heideggers Physiskonzeption nicht zu verschließen, soll daher auch die weitere Analyse im Wesentlichen auf der bisherigen aufbauen. 4.3 Kritik an Heideggers Physiskonzeption Die Frage, die bei der Auseinandersetzung mit Heidegger immer mit im Raum steht, ist die nach seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus. Zwar ist der „Fall Heidegger“ nicht erklärtes Thema dieser Arbeit. Nichtsdestotrotz kann und sollte er dort thematisiert werden, wo seine Physiskonzeption – und seine Aristoteles-Interpretation – darauf hindeutet. In diesem Sinne wurde auch bereits Heideggers „Hörigkeit“ gegenüber dem Sein beargwöhnt. Darüber hinaus lassen sich aber auch ohne dieses auf Heidegger gerichtete Damoklesschwert Zweifel an der von ihm erzählten Seinsgeschichte anmelden: Heideggers Suche nach dem „anfänglichen“ Denken „der Griechen“ scheint der Suche nach einem vermeintlichen „Urzustand“ der Welt zu entsprechen. Insofern die Geschichte der Metaphysik die der Seinsvergessenheit ist, scheint es sich dabei geradezu um das „verlorene Paradies“ zu handeln, welches es durch eine „Destruktion“ dieser Geschichte 142 Heidegger (1946), S. 324 143 Martin (2009), S. 107 ff. 39 beziehungsweise durch eine „Wiederholung“ dieses Anfangs wieder herzustellen gelte. Zwar beginnt die Philosophie für Heidegger erst mit oder gar nach dem „Sündenfall“, doch daran, dass mit diesem Narrativ grundsätzlich eine Paradiesvorstellung verbunden bleibt, ändert das ja nichts. Das ist freilich noch kein Beweis dafür, dass Heidegger diesbezüglich Unwahres sagt: Schließlich könnte er mit dieser Einschätzung auch völlig recht haben. Fragen lässt sich jedoch, inwiefern Heidegger in seinem Bemühen, sie sich zu eigen zu machen, die griechische Vergangenheit gerade verfälschen könnte. In der Physis-Schrift unterscheidet er an vielen Stellen allzu deutlich zwischen „den Griechen“ und „uns Heutigen“, als wäre er selbst nicht nur neuzeitlicher Deutscher, sondern zugleich antiker Grieche. Auf diese Weise inszeniert er sich als Sprachrohr der – oder „seiner“ – Griechen. Während seine Lektüre der Griechen durchaus innovativ und inspirierend sein kann, kommen dabei teils übermäßig komplizierte Äußerungen heraus, wie etwa: „Wir Heutigen müssen […] sehen lernen, wie für die Griechen die Bewegung als eine Weise des Seins den Charakter des Herkommens in die Anwesung hat“144. (Anhand der vorherige Analyse ist dieser Satz sogar verständlich, dürfte in dieser Komplexität aber kaum wahr sein.) Weil Heidegger in der Physis-Schrift stets in kritischer Distanz zu Aristoteles bleibt, ist diese Problematik dort jedoch nicht so stark ausgeprägt wie anderswo. Wie gesagt verweist er dort nur am Ende kurz auf Heraklit und seine Deutung der φύσις als Entbergung. Umso deutlicher ist sie dafür jedoch im Heraklit-Buch. Beierwaltes (1995) analysiert hinsichtlich Heideggers dortigem Umgang mit Fragment 123 – φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ –, inwiefern Heidegger in seinem Vorhaben, die Griechen griechischer zu denken als die Zunft der Philologen, selber Assoziationsketten innerhalb der deutschen Sprache nutzt. So übersetzt Heidegger das φιλεῖν dort als „die Gunst schenken“, um es schließlich als „Vergönnen“ mit dem „Gewähren“ und darüber wieder mit der „Wahrheit“ in Verbindung bringen zu können145. Als sei dieser Schritt vom „Gönnen“ zur „Wahrheit“ nicht schon problematisch genug, will Heidegger im φιλεῖν dann auch noch ein „Verbürgen“ heraushören, welches Beierwaltes nur noch durch die phonetische, keineswegs mehr semantische Ähnlichkeit zum „Verbergen“ motiviert sieht146. (Hinsichtlich der μορφή aus der Physis-Schrift ließe sich fragen, ob Heideggers Übersetzung als „Gestellung“ nicht ähnlich phonetisch abgeleitet von „Gestalt“ sein dürfte: allerdings liegt hier tatsächlich 144 Heidegger (1939), S. 249 145 Vgl. Heidegger (1943), S. 131 ff. 146 Vgl. Beierwaltes (1995), S. 16 40 eine etymologische Verwandtschaft vor147.) Seinen Rückgang zu den Griechen vollzieht Heidegger bewusst als Deutscher. Als das Volk der Dichter und Denker stehen die Deutschen den Griechen am nächsten. „[D]ie Reinerhaltung des rassischen Erbgutes des großen griechischen Wesens werde vom deutschen Wesen veranstaltet“148, kommentiert hierzu der langjährige Heidegger-Schüler Rainer Marten (1988). Anlässlich der vielen Verfälschungen und Auslassungen, die Heidegger seines Erachtens vornimmt, fügt Marten hinzu: „Wie Heidegger den griechischen Geist nimmt, ist es der deutsche, genauer: sein eigener“ 149. Die einzige Möglichkeit, wirklich „griechisch zu denken“, dürfte letztlich darin bestehen, auf griechisch zu denken, also das Griechische dabei unübersetzt zu lassen. Aus einer archäologischen Perspektive – die Heidegger aufgrund ihres Zeitbegriffs entschieden ablehnte150 – bietet die griechische, zumal überlieferte Kultur natürlich keinerlei absoluten Anfang, sondern ist selbst bereits in vielerlei Hinsicht geworden. Dessen ist sich freilich auch Heidegger bewusst; immerhin kann er in SuZ selbstkritisch zugestehen: „Vielleicht vermag auch dieser ontologische Leitfaden […] nichts auszurichten für eine Interpretation der primitiven Welt“151. Die Geschichte, die Heidegger meint, ist jedoch ausschließlich Seinsgeschichte und beginnt deswegen erst dort, wo – zeitlich und räumlich, in Griechenland – auch das Sein gedacht oder im Denken vergessen wird. Für gewöhnlich werden zumindest der Heidegger vor und nach seiner „Kehre“ unterschieden. Laut Mikulić (1987) spricht Heidegger von der Kehre explizit zum ersten Mal im Humanismusbrief von 1946152, wo er ihren Beginn allerdings schon auf das Jahr 1930 datiert153. Damit würde auch die Physis-Schrift – inhaltlich passend – bereits in die Zeit nach der Kehre beziehungsweise in die „Übergangsphase“ 154 (Mikulić) fallen. Vor der Kehre betont Heidegger noch die „ontologische Differenz“ als Differenz von Sein und Seiendem; weil die dortige Existenzialanalyse aber bei dem Menschen als „Dasein“ und damit bei einem Seienden ansetzt, wird er diesen Ansatz später als Überrest einer Transzendental- beziehungsweise Subjektphilosophie verwerfen: Nach der Kehre wird die 147 148 149 150 151 152 153 154 Vgl. Seebold (2011), S. 355 Rainer Marten (1988): „Heideggers Geist“. In: Allmende 20, 82-95, S. 84 Ebd., S. 86 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 375 ff. Heidegger [1927] (2006), S. 82 Vgl. Mikulić (1987), S. 82 Vgl. ebd., S. 57 f., Heidegger (1946), S. 327 f. Vgl. Mikulić (1987), S. 381 41 Ontologie schließlich zur „Sage des Seins“, in welcher das Seiende nur noch eine Nebenrolle spielt155. Mikulić meint dazu jedoch, dass Heidegger gerade, weil er in seinem Spätwerk das Seiende immer weniger thematisierte, die ontologische Differenz zur metaphysischen Selbstverständlichkeit werden ließ, wodurch er in Wahrheit sein Lebtag lang von ihr abhängig blieb156. Insofern sie für die Existenzialanalyse in SuZ noch wesentlich ist, könnte dem Heidegger von damals noch ein klareres Bewusstsein für die eigenen Prämissen zugeschrieben werden als dem späteren. Sofern die Unabgeschlossenheit von SuZ auf die Unausgegorenheit der dortigen Überlegungen hindeutet, liegt die Annahme nahe, dass Heidegger die intrinsischen Widersprüchlichkeiten seines Denkens damals noch durch ein ausgeprägteres Sendungsbewusstsein – den Eifer anfänglichen Schöpfungswillens und des Hauptwerks – kompensieren konnte. Träfe etwas davon zu, so wäre Heidegger immer Transzendentalphilosoph geblieben, würde selber der Geschichte der Metaphysik angehören. Zwei jüdische Philosophen, die Heidegger kritisch würdigen, sind sein Schüler Emmanuel Levinas sowie Jacques Derrida; ihre Abstammung sei hier allein als „Ausgleich“ zu Heideggers Deutschtümelei genannt. Was Levinas und Derrida gemeinsam haben, ist, dass beide sowohl Heideggers „Sein“ als auch die Absolutsetzung eines vermeintlichen „Anfangs“ fallen lassen: Bei Levinas wird Heideggers „Frage nach dem Sinn von Sein“ mithin zur Frage nach dem Sinn selbst, welcher nicht nur über das Seiende, sondern auch über das Sein hinausreicht157; bei Derrida – der seinerseits wieder von Levinas beeinflusst ist – tritt an die Stelle der ontologischen Differenz die différance als Auseinandertreten von Zeichen und Bezeichnetem. (Zwar führt Derrida seine différance auch in Abgrenzung zum Strukturalismus Ferdinand de Saussures ein; nichtsdestotrotz kann er äußern, sie sei „,älterʻ als die ontologische Differenz oder als die Wahrheit des Seins“158.) Mit diesem Fallenlassen des Anfangs entfällt auch jegliche Notwendigkeit, einen „heilen“ Urzustand konstruieren zu müssen. Damit entfiele wiederum die Möglichkeit, abenteuerliche Spekulationen als etwas anderes als solche präsentieren zu können. Drittens kann es dort, wo es ohnehin keinen Anfang gab, auch keine trügerische Rückbesinnung und keinen auf ihr aufbauenden 155 Vgl. ebd., S. 57 f. 156 Vgl. ebd., S. 118 157 Vgl. Emmanuel Levinas (1964): „Die Bedeutung und der Sinn“. In: Ders. Humanismus des anderen Menschen. Meiner, Hamburg 1989, 9-59 158 Jacques Derrida, Peter Engelmann (Hrsg.) (1999). Randgänge der Philosophie. Passagen, 2., überarb. Aufl., Wien, S. 51 42 Neuanfang geben. Hiermit Rechtfertigungsmöglichkeit entfiele für einen schließlich vor Neologismen auch eine triefenden wesentliche „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno). Dies dürfte zumindest manchen der nationalsozialistischen Tendenzen im Denken Heideggers den Wind aus den Segeln nehmen. Auf eine ähnliche Weise lässt sich auch Heideggers Physiskonzeption kritisch würdigen, ohne sie pauschal verwerfen zu müssen: Sowohl die φύσις als auch das Sein sind tendenziell älter als die Philosophie oder, Heidegger-orthodox gesprochen, das „Denken des Seins“; wenn nicht in ihrer bei Heidegger gemeinten Gestalt, so sind sie es doch zumindest insofern, als ihr etymologischer Ursprung in das Dunkel der „Vorzeit“ (auch: „Vorgeschichte“) hinabreicht. Heidegger selbst greift in diese Fundgrube fortlaufend hinab, wenn er sich etymologischen Wissens bedient. In Umkehrung zu Heidegger ließe sich formulieren, dass das – von ihm als Gegenstand der Geschichtswissenschaft abgelehnte – „Historische“ in Wahrheit doch älter sein müsse als die „Geschichte“, dass der „vulgäre Zeitbegriff“ also auch einen Aspekt habe, welcher sich durch kein Seinsdenken wegdiskutieren („wegdenken“) lässt. Doch was das Diesseits der Überlieferung betrifft, hat Heraklit nichtsdestotrotz wirklich von der sich verbergenden φύσις gesprochen, Aristoteles hat sie wirklich als μορφή kategorisiert, Bewegung zudem als eine Art von ἐντελέχεια, und ἀλήθεια bedeutet wirklich so viel wie „Unverborgenheit“. Die Zusammenhänge, welche Heidegger nennt, können daher durchaus wahre Aspekte enthalten. Dass Heidegger meint, die verschiedenen Begriffe an einem bestimmten geschichtlichen Moment zusammenführen zu müssen, als mündeten sie dort alle in denselben Fluss, ist es, was einen wesentlichen Teil der Problematik ausmachen könnte. Wenn die Mehrdeutigkeit in Heideggers Philosophie auch einen festen Platz einnimmt, so stellt es doch gerade eine Relativierung ihrer dar, sie auf ein anfänglich Einfaches zurückführen zu wollen. In diesem Sinne vermutet auch Mikulić, dass die φύσις nicht nur bei Aristoteles, sondern auch bei Heraklit bereits als mehrdeutig zu verstehen sei159. Was Heideggers generelles Verhältnis zu Aristoteles betrifft, stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, inwiefern er selbst möglicherweise stets Aristoteliker geblieben ist. Sofern die genannte Einschätzung von Mikulić zutreffend ist und Heidegger stets von der ontologischen Differenz abhängig blieb, ließe sich erwägen, ob die Differenz nicht gerade der von Physik (als Wissenschaft vom als φύσις gedachten Sein) und Metaphysik (als 159 Vgl. Mikulić (1987), S. 104 43 Wissenschaft vom Seienden) irgendwie entspreche. Es wäre dann Heideggers Glaube, Aristoteles und die Metaphysik zugunsten eines anfänglichen Seinsdenkens „verwinden“ zu können, in welchem er sich getäuscht hätte. Diese Fragen können im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nur als mögliche Perspektiven aufgeworfen werden; in ihrer Allgemeinheit verweisen sie auf sein gesamtes Lebenswerk und sind hier naturgemäß leichter zu fragen als zu beantworten. Überdies fällt es schwer, Heidegger aus aristotelischer Perspektive zu kritisieren, da jener diesen besser kennt als umgekehrt. Mikulić will Aristoteles' Physisdenken von Heideggers zwar dahingehend abheben, dass „[d]ie Ousia […] nie die Oberhand über die Physis [gewinnt], obwohl die letztere ohne die erstere nie thematisch werden kann“160, doch scheint dies mit Heideggers Konzeption völlig kompatibel zu sein: Die οὐσία ist als bereits entborgene „Seiendheit“ epistemologisch früher (oder scheint für Aristoteles, dessen Denken kein Seinsdenken ist, zumindest so), ontologisch jedoch später als die φύσις. Die φύσις aber verbirgt sich. In einem abschließenden Kapitel soll stattdessen noch ein spezifischeres, bislang noch nicht thematisiertes Problem der Physis-Schrift aufgegriffen werden: Heideggers Umgang mit dem aristotelischen Primat der Ortsbewegung. 5. Bewegtheit und Ort Heideggers Physis-Schrift weist eine Schwachstelle auf, deren kritische Diskussion ich noch in keinem Heidegger-Kommentar ausfindig machen konnte: Weil Aristoteles in der Physik die verschiedenen (ontischen) Bewegungsweisen zunächst gleichberechtigt nebeneinander stellt, behauptet Heidegger irrtümlich: „Bewegtheit hinsichtlich des Ortes und Platzes […] ist für Aristoteles nur eine unter anderen und in keiner Weise als die Bewegung schlechthin ausgezeichnet.“161 An dieser exklusiven Alternative – Ortsbewegung als einzige Bewegungsweise oder als eine unter anderen – hält Heidegger die gesamte Schrift hindurch fest. Die tatsächlichen Verhältnisse erweisen sich jedoch als komplexer: Zwar hat Heidegger Recht damit, dass Aristoteles im Gegensatz zur neuzeitlichen Physik die anderen Bewegungsformen als irreduzibel erachtet. Nichtsdestotrotz erklärt Aristoteles an verschiedenen Stellen der Physik deutlich ein Primat der Ortsbewegung162, wonach 160 Mikulić (1987), S. 117 161 Heidegger (1939), S. 248 162 Vgl. Physik IV 1, 208a 31 f., Physik IV 14, 223b 12 f. 44 „Ortsbewegung die ursprüngliche“163 Bewegungsform sei, „die erste unter den Veränderungsformen“164. Vergleichbare Äußerungen finden sich in der Metaphysik sowie in De caelo165. Dieser Irrtum ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Zum einen lässt sich erwägen, dass Heidegger die ontologische Gleichwertigkeit aller ontischen Bewegungsformen voraussetzen muss, um ihnen gegenüber die „Gestellung in das Aussehen“ beziehungsweise den „Aufgang“ noch als ihren gemeinsamen phänomenologischen Ursprung abheben zu können, was er konsequenterweise auch Aristoteles unterstellt166. Zum anderen erwähnt Heidegger in der Physis-Schrift zwar, dass der „Ort“ für Aristoteles etwas anderes sei als für die neuzeitliche Wissenschaft, verfolgt diesen Gedanken jedoch nicht weiter, wobei gerade zwischen Aristoteles' und Heideggers Philosophie des Ortes deutliche Parallelen auszumachen wären. Im Folgenden soll dieses Problemfeld analysiert werden und versucht werden, hieraus weitere Erkenntnisse hinsichtlich des Verhältnisses von Heidegger und Aristoteles in Bezug auf die φύσις zu ziehen. 5.1 Die Hierarchie der Bewegungsarten Aristoteles' in der Physik vorgenommene Umgangsweise mit dem Primat der Ortsbewegung ist bereits von sich aus verwunderlich: In Buch II kommt er – was Heidegger zugute gehalten werden kann – zunächst noch gar nicht darauf zu sprechen. Wo er in Buch III vom ἄπειρον handelt, erklärt er zwar, „[a]lles Wahrnehmbare [αἰσθητόν] ist von Natur aus mit der Eigenschaft ausgestattet, irgendwo zu sein, und es gibt einen bestimmten Ort eines jeden“167, aber erstens muss physisch Seiendes nicht notwendig wahrnehmbar sein (wobei ein endgültiges Urteil hierüber auch von dem zugrunde gelegten Verständnis von „Wahrnehmung“ – αἴσθησις – abhinge) und zweitens ist dies noch keine Aussage über Bewegung. Erst, wo er in Buch IV den „Ort“ selbst zum Thema macht, erklärt er auch das Primat der Ortsbewegung, und zwar gleich zu Beginn: Dort behauptet er nun, alles Seiende (also nicht nur alles „Wahrnehmbare“) sei auch irgendwo, an einem Ort. Zu der Auffassung, dass „von den Veränderungsformen […] die allgemeinste und die 163 164 165 166 Physik VIII 7, 260b 15 f., zit. n. Zekl (2012) Physik VII 2, 243a 10 f., zit. n. Zekl (2012) Vgl. Metaphysik XII 6, 1071b 10 f., De caelo, I 2-3, 269a ff. Vgl. Heidegger (1939), S. 288, Trish Glazebrook (2000): „From φύσις to Nature, τέχνη to Technology: Heidegger on Aristotle, Galileo and Newton“. In: The Southern Journal of Philosophy 38, 95-118, S. 102 167 Physik III 5, 205a 10 f., zit. n. Zekl (2012) 45 im eigentlichen Sinn die Ortsveränderung“168 sei, gelangt er dann jedoch ohne weiteren Begründungsschritt. Aus der Allgemeinheit des Ortes ließe sich vielleicht auf die Allgemeinheit der Ortsbewegung schließen – aber um zu beweisen, dass diese „allgemeiner“ ist als die anderen, müsste Aristoteles zunächst noch zeigen, dass keine der anderen Bewegungsformen als allgemein gelten kann. Dies tut er hier nicht. Darüber hinaus wird er gegen Ende des Buches noch behaupten, dass unter den Ortsbewegungen wiederum die Kreisbewegung die ursprüngliche sei169, was er dort nicht als Konklusion, sondern eindeutig als Prämisse anführt. Hierauf aufbauend ließe sich erwägen, dass Aristoteles das Primat der Kreisbewegung gar nicht weiter begründen wolle, weil sie für ihn, als kreisförmige Bewegung des Himmels (im geozentrischen Weltbild), von vornherein als die höchste ausgezeichnet ist, oder weil sie ihm phänomenologisch irgendwie als erste gilt. Nichtsdestotrotz führt der Stagirit gegen Ende der Physik, in VIII 7, doch noch eine stringente Begründung für das Primat der Ortsbewegung an, im darauffolgenden Kapitel dann auch für das des Kreises. Aristoteles erklärt dort zunächst, dass Wachstum Eigenschaftsveränderung voraussetze, insofern es mit einem Stoffwechsel einhergehe, dass es aber im Rahmen des Stoffwechsels auch stets zu einer Annäherung und Entfernung – also zu einer Ortsbewegung – der sich wandelnden Stoffe in Bezug auf das sie Wandelnde komme. Hieraus folgert er, dass Ortsbewegung die ursprüngliche Bewegungsart sei 170. Auch diese Begründung bleibt hier allerdings noch unvollständig, da Aristoteles für eine vollständige Deduktion der Konklusion noch zeigen müsste, dass die Ortsbewegung ihrerseits nicht wieder mit anderen Bewegungsformen einhergeht. Dies ist vor allem unter dem Aspekt bemerkenswert, dass das Wachstum – hier für Aristoteles die am wenigsten ursprüngliche Bewegungsform – wie besprochen ein wesentlicher geschichtlicher Ursprung des Physisbegriffs sein dürfte. Später behauptet er noch, „[e]s besteht ja keinerlei Notwendigkeit dafür, daß etwas, das den Ort verändert, auch wachsen oder Eigenschaften ändern oder sogar entstehen oder untergehen müßte“171 – allerdings ließe sich Ortsbewegung, als raum-zeitliches Ereignis, selbst in einem Lichte des Werdens und damit eines Wechselspiels von Entstehen und Untergang, von Ent- und Verbergung sehen. Anschließend erklärt Aristoteles, dass Ortsveränderung nicht nur in dem Sinne 168 169 170 171 Physik IV 1, 208a 31 f., zit. n. Zekl (2012) Vgl. Physik IV 14, 223b 12 ff. Vgl. Physik VIII 7, 260a f. 23-7 Physik VIII 7, 260b 16-28 46 ursprünglich sei, dass alle anderen Bewegungsformen sie zur Voraussetzung haben, sondern auch in zeitlicher Hinsicht: Zwar müssen Lebewesen – gemeint sind wohl Tiere – zuerst entstehen und wachsen, bevor sie sich bewegen können, jedoch sei ihr Entstehen nur möglich auf Grundlage eines anderen Wesens, das bereits Ortsbewegung vollziehen konnte (die „Frage nach der Henne und dem Ei“ stellt er dabei nicht). An dieser späten Stelle der Physik hat Aristoteles eine differenziertere Auffassung von Selbstbewegung (hinsichtlich des Ortes) entwickelt, die an diesem spezifischen Punkt eher aktiv als medial zu verstehen ist172 – etwa als gewollte Bewegung von Gliedmaßen durch die Seele. Was entsteht und vergeht, entwickelt sich demgemäß zur Ortsbewegung (Fähigkeit zur aktiven Selbstbewegung hinsichtlich des Ortes) hin. Auf dieser Grundlage verbindet Aristoteles die reine Ortsbewegung mit den immerwährenden Dingen, die Entwicklung zur Ortsbewegung hin hingegen mit dem Vergänglichen173. In einem dritten Sinne ursprünglich sei die Ortsbewegung deswegen auch dem Wesen nach: Da für Aristoteles „das dem Ins-SeinTreten nach Spätere das der Natur nach Frühere“ 174 ist, kennzeichnet das Vermögen zur Ortsbewegung Wesen, „die in höherem Maße ihre Naturbestimmung ergriffen haben“ 175 als unbewegliche, und außerdem sei die Ortsbewegung die einzige Bewegungsweise, welche die Wesen nicht zugleich verändere176. Zu Beginn von Buch II – und damit auch zu Beginn von Heideggers Analyse – hatte Aristoteles zunächst „Mehrung und Minderung, Änderung und Forthebung [Ortsbewegung]“177 unterschieden. Heidegger kommentiert hierzu: Die Arten werden nur aufgezählt, d. h. nicht nach einer ausdrücklich genannten Hinsicht unterschieden und in dieser Unterschiedenheit begründet […] Ja die bloße Aufzählung ist nicht einmal vollständig. Und die nicht genannte Art der Bewegtheit ist gerade jene, die für die Wesensbestimmung der φύσις entscheidend wird.178 Die entscheidende Art der Bewegtheit, die Heidegger meint, ist die später diskutierte μορφή als „Gestellung“ – beziehungsweise die φύσις als „Aufgang“ oder schließlich „Entbergung“. Von der Sonderrolle der Ortsbewegung bei Aristoteles ist bei Heidegger hingegen keine Spur. Vielmehr ist dieser in den darauffolgenden Absätzen ganz darum 172 Vgl. Mary Louise Gill (2017): „Aristotle on Self-Motion“. In: Dies. (Hrsg.), James G. Lennox (Hrsg.). Self-Motion: From Aristotle to Newton. Princeton University, Princeton, 15-34, S. 17 173 Vgl. Physik VIII 7, 260b f. 29-12 174 Ebd., 261a 16, zit. n. Zekl (2012) 175 Ebd., 261a 18 f., zit. n. Zekl (2012) 176 Vgl. ebd., 261a 18-25 177 Heidegger (1939), S. 248 178 Ebd. 47 bemüht, diese Sonderrolle als ein neuzeitliches Vorurteil zu entlarven. Ob es sich hierbei um ein absichtliches Auslassen von Seiten Heideggers handelt oder ob diese Fehleinschätzung auf Unkenntnis beruht, lässt sich textimmanent nicht nachprüfen. Nichtsdestotrotz lässt sich, zumal auf Grundlage von Aristoteles' Begründung für das Primat, überlegen, was Heidegger zu der Frage hätte äußern können, wenn er sie thematisiert hätte. Aristoteles setzt das Primat der Ortsbewegung unter anderem, weil die Wesen, denen sie eignet, ihr Wesen beziehungsweise die φύσις in höherem Maße verwirklicht haben. Ferner verändert einzig die Ortsbewegung nicht die Erscheinung der Wesen, die sie ausführen. Dadurch ist auch sie es, die vor allem dem Immerwährenden – also dem Himmel – zukommt. In Heideggers Terminologie ließe sich formulieren, dass die Ortsbewegung diejenigen Wesen kennzeichne, die bereits „entborgen“ sind und daher in der „Unverborgenheit“ weilen. Das Wechselspiel von An- und Abwesung gehöre der sublunaren Welt, nicht jedoch dem Himmel an. Und in Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte würde das bedeuten, dass Aristoteles' Setzung dieses Primats dem Schritt von der Physik in die Metaphysik entspreche, von der Entbergung in die Unverborgenheit, in welcher sich die Entbergung verbirgt. Dass Aristoteles die Begründung für das Primat erst am Ende der Physik liefert, wo er zugleich auch von der Analyse des Bewegten (und der Bewegung) zu der des unbewegten Bewegers übergeht, erhärtet diesen Eindruck. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Eine Sonderrolle spielt die Ortsbewegung nicht nur als erste aller Bewegungsformen, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses von Natur und Technik. In Buch V behauptet Aristoteles, dass der Ortswechsel die einzige Bewegungsform sei, welche sowohl gemäß der φύσις als auch gegen sie möglich ist179. Im Umkehrschluss – vorausgesetzt, dass keine Bewegungsformen denkbar sind, die zwar technisch, nicht jedoch physisch sein können – ließe sich formulieren, dass die technische beziehungsweise „Fremd“-Bewegung nur als Ortsbewegung möglich sei. Gleichwohl stimmt diese Einschätzung nicht mit allem überein, was Aristoteles sonst behauptet. In der Nikomachischen Ethik erklärt er zum Beispiel, „dass keine der Tugenden des Charakters in uns von Natur aus (physei) entsteht“180. Die Entstehung unserer charakterlichen Tugenden ist aber eine Bewegung, die sicherlich keine (bloße) Ortsbewegung darstellt. Aristoteles meint zwar auch, dass sie ebenso wenig gegen die Natur entstehen: „Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch 179 Vgl. Physik V 6, 230a 18 ff. 180 Eth Nic II 1, 1103a 18 f., zit. n. Wolf (2018) 48 Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet“181 – es handelt sich um Naturanlagen, Dispositionen. Das Gewicht der vorherigen Behauptung würde dies aber nur dann schmälern, wenn die Aufnahme und Gewöhnung unsererseits sich als bloße Ortsbewegungen verstehen ließen, was ohne einen entsprechenden Reduktionismus aber kaum möglich sein dürfte. Auch in der Physik erläutert Aristoteles die Bewegung am Beispiel eines Kranken, der mit Unterstützung eines Arztes genest 182 sowie eines Lernenden, der mit Unterstützung eines Lehrers lernt183: in beiden Fällen bietet deren bewegende Tätigkeit zwar eine Unterstützung oder einen Anstoß, verlässt sich aber trotzdem auf die Selbstbewegung von Leib beziehungsweise Seele der sie in Anspruch nehmenden Person, um ihr Werk zu vollenden. Wenigstens die sprachliche Mitteilung der Lehrerin wird Aristoteles aber kaum als reine Ortsbewegung verstehen wollen oder können: „Die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton“ 184, äußert er in De anima, und obschon er Schall zuvor auf Luftbewegung zurückgeführt hatte, dürfte dies für die „Bedeutung“ kaum in überzeugender Weise möglich sein, selbst, wenn Aristoteles Gegenteiliges behaupten würde. Wieland erklärt diesbezüglich nun schlicht, dass es sich „beim Lernen nicht um ein Beispiel aus der natürlichen Welt, sondern nur für die natürliche Welt“ 185 handle. Doch Aristoteles kann wohl kaum das Konzept einer „physischen Welt“ zugeschrieben werden, von welcher sich eine „politische“, „seelische“ oder andere dann abgrenzen ließe – was wohl ein recht „un-aristotelischer“, eher cartesischer Gedanke wäre –; vielmehr werden φύσις und πόλις sich in ein und derselben Welt zeigen. Hierfür sprechen auch seine regelmäßigen Rückgriffe auf die φύσις in seinen ethisch-politischen Schriften. Wenn die τέχνη also nicht nur „Technik“ im Sinne des Handwerks oder gar der Maschinentechnik bedeuten soll, sondern auch die Kunstfertigkeit einer Ärztin oder eines Lehrers einschließt – ersteres Beispiel verwendet Aristoteles bereits in Physik II, 1 –, dann wird sie kaum auf Ortsbewegungen dessen, woran sie verübt wird, reduzierbar sein. Dass Aristoteles diesem in Buch V selber widerspricht, macht die Bedeutung der Ortsbewegung in der Physik noch rätselhafter, als sie auch ohne diesen Widerspruch schon wäre. Allerdings ließe sich ihr mit Heidegger – wenngleich er in der Physis-Schrift nicht darüber spricht – ein „seinsgeschichtlicher“ Sinn abgewinnen: Auf subtile Weise würde sich hier 181 182 183 184 185 Ebd., 1103a 24-26, zit. n. Wolf (2018) Vgl. Physik II 1, 192b 23-27 Vgl. Physik III 3, 202a 31-35 De anima II 9, 420b 32 f., zit. n. Theiler (2012) Wieland (1962), S. 248 49 zeigen, wie auch die τέχνη bei Aristoteles schon die moderne Technik vorwegnimmt. Gleichwohl sollte eine entsprechende Deutung nicht vorschnell vorgenommen werden: Wollte man Aristoteles' Umgang mit der Ortsbewegung allein als Zeichen für das Ende des – im Heideggerschen Verständnis – anfänglichen φύσις-Denkens verstehen, würde man sich hiermit die Möglichkeit verbauen, Aristoteles' und Heideggers Philosophie des Ortes beziehungsweise Raums noch miteinander vergleichen zu können. Immerhin lässt Heidegger einen Hinweis darauf, dass Aristoteles den Ort selbst anders versteht als Descartes und die Wissenschaft, auch in der Physis-Schrift kurz aufblitzen: Überdies gilt es zu beachten, daß der ,Ortswechselʻ in gewissem Sinne etwas anderes ist als die neuzeitlich gedachte Lageveränderung eines Massenpunktes im Raume. Τόπος ist das ποῦ, das Wo und Dort der Hingehörigkeit eines bestimmten Körpers […]186 Die Frage nach dem Ort selbst eröffnet für die nach der Ortsbewegung so noch eine zusätzliche Ebene. Im folgenden Unterabschnitt soll daher dem Ort selbst nachgegangen werden. 5.2 Topologie Ob Aristoteles einen Begriff des „Raums“, gar des „physischen Raums“ hatte, ist umstritten. Während Heidegger behauptet, dass nicht nur Aristoteles, sondern die Griechen insgesamt für „das, was wir den ,Raumʻ nennen […] weder ein Wort noch einen Begriff haben“187, spricht Zekl (1990) freimütig von der „aristotelischen Lehre vom Raum“ 188. Gemeinhin wird – in Widerspruch zu Heidegger – Platons χώρα als Vorläuferin des Raums gedeutet189. Nichtsdestotrotz bezieht sich Aristoteles – wie im Folgenden zu erörtern sein wird – zumindest in Buch IV der Physik eindeutig auf den Ort, nicht auf den Raum. Die inhaltliche Diskussion von Aristoteles' Ortsbegriff soll sich auf die dortige „Topologie“ (als „-logie“ des Ortes) konzentrieren. Für Heidegger gehört „der Raum“ zu den subtilen metaphysischen Konzepten, die sich das neuzeitliche wissenschaftliche Denken als vermeintliche Selbstverständlichkeiten setzt. Die „Raumzeit“ (mitsamt der „Krümmung“ und „Expansion“ des Raums) aus der 186 187 188 189 Heidegger (1939), S. 248 Ebd. Vgl. Zekl (1990) Vgl. Niko Strobach (2011): „Ort“. In: Christof Rapp (Hrsg.), Klaus Corcilius (Hrsg.). Aristoteles: Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar, 292-297, S. 294; Jeff Malpas (2006). Heidegger's Topology: Being, Place, World. MIT Press, Cambridge, S. 70 50 Relativitätstheorie hat ihn vielleicht weniger relativiert als noch weiter verabsolutiert, insofern der Raum die Zeit, wie Albert Einstein sagt, „verschlingt“: Der Raum, ans Licht gebracht durch das körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so daß er als alleiniger Träger der Realität übrig bleibt.190 Bei aller „Bewährung“ der Relativitätstheorie im positivistischen Sinne scheint eine derartige Behauptung doch weit über ihre zulässigen Interpretationen hinauszureichen. Die Vorstellung, allein der Raum – und nicht einmal die Zeit – existiere wirklich, erscheint für sich genommen schlichtweg unsinnig. Zumal beachtet werden muss, dass „der Raum“ im Alltag weitgehend bedeutungslos ist: Wegbeschreibungen kommen ohne den Zusatz aus, dass der Weg „durch den Raum“ führe, und über alles Empirische lässt sich vortrefflich sprechen, ohne noch betonen zu müssen, dass es sich „im Raum“ ereigne. Während Lagen und Lagebeziehungen tiefe empirische Bewandtnis haben, weist der Raum selbst allenfalls als abstrakter Sammelbegriff für erstere noch eine solche auf. Die Auffassung, dass Ortsbewegung stets im Raum geschehe und dass alles physisch Seiende auch im physischen Raum sei, setzt mithin voraus, dass auch Ortsbewegung sowie empirische Phänomene außerhalb von ihm denkbar seien; zumindest wäre dies Voraussetzung dafür, dass „im Raum“ in diesem Zusammenhang kein gänzlich leeres Prädikat darstellt. Tatsächlich zeichnet die Präposition „im“ den Raum hier aber bereits selbst als Ort aus, insofern sie eine Lagebeziehung zum Raum selbst (nicht etwa zu anderem im Raum Befindlichen) ausdrückt; ähnlich wäre es, wollte man über Seiendes äußern, es befinde sich „an“ Punkten des Raums. Es ist dieses Spannungsfeld von Ort und Raum – in SuZ noch „Platz“ und Raum191 –, welches Heidegger auch in der Physis-Schrift beschäftigt: „Für uns Heutige ist nicht der Raum durch den Ort, sondern alle Orte als Punktstellen durch den endlosen, überall gleichartigen, nirgendwo ausgezeichneten Raum bestimmt“192. Heideggers Anliegen ist in diesem Zusammenhang, den „Raum“ als vom „Ort“ Abgeleitetes zu charakterisieren, freilich mit der Konsequenz, dass ersterer nicht nur in metaphysischer, sondern auch in jedweder methodischen Hinsicht nicht mehr als absolut gelten kann: Denn Orte sind 190 Albert Einstein (1930): „Raum, Äther und Feld in der Physik“. In: Jörg Dünne (Hrsg.), Stephan Günzel (Hrsg.). Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2018, 94-102, S. 101 191 Vgl. Heidegger (1927), S. 102 ff. 192 Heidegger (1939), S. 248 f. 51 jeweils durch Bestimmtes ausgezeichnet, der (eine) Raum soll es jedoch schon konzeptionell nicht sein. Mithin lässt sich Raum deswegen auch gar nicht im Singular, sondern erst im (potenziellen) Plural, das heißt im Neben- und Ineinander wesensmäßig denken: „Räume [empfangen] ihr Wesen aus Orten und nicht aus ,demʻ Raum“193. Heidegger führt zur Erläuterung dessen in Bauen Wohnen Denken an: Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager. Ein Raum ist etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch πέρας. Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt […] Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene.194 Räume sind also erst aufgrund eines Aktes – oder Ereignisses – des „Einräumens“. Das anschauliche Bild, auf welches Heidegger hier zurückgreift, ähnelt dem des „Lichtens“ aus SuZ195 und scheint hinsichtlich der Frage nach der φύσις der „Entbergung“ zu entsprechen. Insbesondere die zeitgenössische Redeweise vom „physischen Raum“ – man beachte, dass kaum je von einer „physischen Zeit“ gesprochen wird – ließe sich so bewerten als Verbergung der φύσις durch Absolutsetzung des Raums: Der physische Raum „verschlingt“ die φύσις wie Einsteins Raumzeit die Zeit. Hierzu sei noch Einsteins physikalischparmenideisches „Glaubensbekenntnis“ ergänzt, das er 1955 angesichts des Todes seines Freundes Michele Besso äußerte, wenige Wochen vor seinem eigenen: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ 196. Wenn die relativistische Raumzeit mithin als wundersames, alchemistisches Ineinander von Raum und Zeit vorgestellt wird, so dürfte dieses in Wahrheit eher dem Heideggerschen Denken entsprechen – gesetzt, dass Einsteins Aussagen hier als paradigmatisch gelten können. Anderswo führt Heidegger für die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit zumal den Begriff des „Zeit-Raums“ ein197. Die Grenze, πέρας, übernimmt Heidegger hier möglicherweise von Aristoteles. Jedenfalls bestimmt auch dieser den „Ort“ zunächst als „etwas Derartiges […] wie ein Gefäß“ 198, da der Ort das, was an ihm ist, zwar birgt, zugleich jedoch – anders als dessen Form – von ihm ablösbar bleibt. Später differenziert er das Verhältnis zwischen der Form und dem Ort einer Sache deswegen dahingehend, dass „nun wirklich beides Grenzen [sind], nur nicht 193 194 195 196 197 Heidegger (1951), S. 156 Ebd. Vgl. Theodore R. Schatzki (2007). Martin Heidegger: Theorist of Space. Steiner, Stuttgart, S. 60 Zit. n. Jürgen Neffe (2006). Einstein: Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, S. 443 Vgl. Martin Heidegger (1989): „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“. In: Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 65. Klostermann, Frankfurt a. M., S. 371 ff. 198 Physik IV 2, 209b 28 f., zit. n. Zekl (2012) 52 des gleichen (Dings), sondern die Form (ist Grenze des umfaßten) Gegenstandes, der Ort die des umfassenden Körpers“199. Noch später verdeutlicht er: „Zugleich mit und bei dem Ding ist Ort; zugleich mit und bei dem Begrenzten sind die Grenzen“200. Nun könnte man einwenden, dass die Grenze des umfassenden Körpers doch ebenso auch die Form dieses Körpers darstelle, womit der Ort ebenfalls eine Form sei. Dieser Einwand würde den Ort jedoch behandeln, als wäre er eine οὐσία. „Ort“ ist für Aristoteles aber nichts im eigentlichen Sinn Seiendes, sondern wird nur in Bezug auf bereits in den Blick genommene οὐσίαι ausgesagt: Ein Ort ist immer Ort eines Seienden. Dabei ist er zwar ablösbar von diesem Seienden, insofern der Ort auch dann bleibt, wenn dieses Seiende fortbewegt wird (und ein anderes seinen Platz einnimmt). Jedoch ist es gerade dieser Umstand, durch welchen der Verweis auf den Ort eines Seienden zugleich auf dasjenige Seiende verweist, welches diesen Ort ausmacht: Orte sind, als Antworten auf die Frage, wo etwas ist, so etwas wie „in der Vase“, „auf dem Teller“, „zwischen den Sternen“ – oder schlicht „dort“, wobei auch hiermit jedoch ein Verweis durch einen Fingerzeig oder ähnliches verbunden bleibt. Wenn Aristoteles den Ort nicht als Form auffasst – denn er ist „weder Form noch Stoff noch eine Art Ausdehnung“ 201 –, aber trotzdem sowohl Ort als auch Form als eine Grenze von Seiendem, dann lässt sich dieses Paradoxon durch die Berufung auf die Aussagestruktur auflösen: Wenn wir von dem Ort einer Sache sprechen, sprechen wir sowohl die Grenze dieser Sache als auch die des sie Umfassenden an; doch letzteres tritt hier nicht als Zugrundeliegendes auf, sondern nur, insofern es den Ort des Zugrundeliegenden ausmacht. Jener bleibt von diesem ablösbar, die Form ist jedoch nicht ablösbar. In der deutschen Sprache stellen die Verben „räumen“ und „evakuieren“ Synonyme dar. Es ließe sich daher erwägen, ob der „physische Raum“ und das „Vakuum“ ontologisch gleichursprünglich seien. Mithin wird das Vakuum präsentiert als Gebiet, in dem – wohlgemerkt abgesehen vom Raum – nichts ist, beziehungsweise als Ort, an dem nichts ist, dessen Ort er sein könnte. Der Vakuumbegriff setzt in beiden Fällen zumindest voraus, dass der Raum beziehungsweise Ort als im eigentlichen Sinn Seiendes gedacht werden kann. Deswegen ist es für Aristoteles nur konsequent, wenn er auf Grundlage seiner Topologie auch die Denkmöglichkeit des Vakuums verneint: Diese meinen doch, das Leere müsse […] sein ein für sich selbst abgesondert 199 Physik IV 4, 211b 12-14, zit. n. Zekl (2012) 200 Ebd., 212a 29 f., zit. n. Zekl (2012) 201 Ebd., 212a 3, zit. n. Zekl (2012) 53 Bestehendes. Das ist aber die gleiche Behauptung wie die, Ort sei etwas eigenständig Bestimmtes; und daß dies unmöglich ist; ist früher schon gesagt.202 Aus Sicht von Aristoteles' Topologie zeigt sich also die Behauptung, der physische Raum existiere eigenständig (wenngleich er in der Relativitätstheorie gekrümmt werden mag) sowie die, ein leerer Raum stelle etwas anderes dar „als eine wahrhaft leere Vorstellung“ 203, gerade als Verdopplung der Wirklichkeit: In nebenbei zutreffender Bedeutung Seiendes wird als eigentlich Seiendes fehlgedeutet. Dem physisch Seienden wird der Raum gewissermaßen noch „übergestülpt“. Lässt sich von Aristoteles' Topologie nun eine Brücke zu der Heideggers bauen? Aristoteles' Kritik des Raums und des Vakuums richtet sich natürlich nur gegen die Vorstellung einer absoluten Leere. Dagegen, dass ein „evakuiertes“ („geräumtes“) Theater anschließend als „leer“ bezeichnet werden kann, insofern dort keine Besucher mehr anwesend sind, hätte er nichts einzuwenden gehabt. Ferner ließe sich Heideggers Ansicht, Räume müssen „eingeräumt“ werden, mit dieser Vorstellung ergänzen zu der, dass das an Orten geschehende Einräumen von Räumen zugleich das Räumen („Evakuieren“) oder auch Aufräumen des jeweiligen Ortes bedeuten wird: „Aufräumen“ hier in dem Sinne, dass der Mensch das am Ort Vorgefundene ordnet und bearbeitet, um sich so einen Raum zu erschaffen. Dass ein solcher Raum wesensmäßig abhängig bliebe von dem Ort, an dem er ist – vom genius loci –, wäre dann eine geradezu triviale Feststellung. Nun ist dies jedoch eine bloß ontische Überlegung. Die entscheidende Schwierigkeit, die die Verbindung von Heideggers Topologie mit der aristotelischen bietet, ist jedoch die, dass Heidegger das „Einräumen“ letztlich ontologisch denken wird, sodass Raum, wenngleich nicht „ablösbar“ oder „absolut“, doch eine größere Bedeutung erhalten muss, als es die aristotelische Analyse bisher nahegelegt hat. Birgt diese also noch eine „tiefere“ Bedeutungsebene? Heideggers Topologie impliziert, dass Orte, grob gesprochen, zwar „von Natur aus“ existieren können, Räume jedoch nicht und insofern als „technisch“ aufgefasst werden müssen (was hier heißt, dass ihre selbstverständliche Setzung das „Einräumen“ – als die sie in die Unverborgenheit bringende Entbergung – verbirgt). Auf diese Weise kann auch Einsteins Absolutsetzung des Raums als Verfallenheit an die Technik gewertet werden. Eine optimale Möglichkeit, das heideggersche „Entbergungsgeschehen“ zu adressieren, 202 Physik IV 8, 216a 23-26, zit. n. Zekl (2012) 203 Ebd., 216a 27, zit. n. Zekl (2012) 54 böte hier der berühmte horror vacui. Von diesem muss hier allerdings im Konjunktiv gesprochen werden, weil Aristoteles ihn nie selbst der Natur zugeschrieben – und sie auf diese Weise personifiziert – hat. Laut Grant (1973) tritt er – in verschiedenen Variationen – ab dem 13. Jahrhundert auf204. Nichtsdestotrotz wird der horror vacui so oft mit Aristoteles selbst in Verbindung gebracht – mithin zur neurotischen Projektion seinerseits psychologisiert205 –, dass sich spekulieren lässt, dass Aristoteles' Lehre hier einen entsprechenden Nerv trifft. Angenommen also, Aristoteles hätte selbst gesagt, dass die Natur die Leere scheue: Wie würde sich dieser Gedanke für das heideggersche Denken darstellen? Vorausgesetzt, dass die Leere als „Eingeräumtes“ ein in die Unverborgenheit Entborgenes sei, die Natur aber die Entbergung, ließe er sich paraphrasieren zu: „Die Entbergung scheut das Entborgene“. Weil das „Scheuen“ – womit horror hier freimütig übersetzt sei – seinerseits einer Neigung zum „Verbergen“ gleichkommt, ließe sich weiter formulieren: „Die Entbergung neigt dazu, sich (vor) dem Entborgenen zu verbergen“, was – hier natürlich beabsichtigt – wieder eine starke Ähnlichkeit zu Heraklits Fragment 123 aufweisen würde. Nun handelt es sich hierbei allerdings um voraussetzungsreiche Spekulation, und wir wollen nicht den Fehler machen, ihr das übermäßige Gewicht beizumessen, welches Heidegger ihr tendenziell gab. Was in Aristoteles' Kosmos einen wesentlichen Aspekt ausmacht und auch in seiner Topologie nicht verschwiegen wird, sind außerdem die natürlichen Körper und ihre angestammten Orte: „Es bewegt sich nämlich ein jeder an seinen eigenen Ort, wenn man ihn nicht daran hindert, der eine nach oben, der andere nach unten“206 – Feuer und Luft nach oben, Erde und Wasser nach unten. Zu beachten ist nach wie vor, dass Heidegger, wenn er über Derartiges spricht, nie nur Ontisches im Sinn hat, sondern dieses zugleich immer auch irgendwie ontologisch gedacht werden muss. In Bauen Wohnen Denken nimmt auch er eine gewisse Unterscheidung von Himmel und sublunarer Welt vor, wenn er sein „Geviert“ einführt: „[A]uf der Erde“ heißt schon „unter dem Himmel“. Beides meint mit „Bleiben vor dem Göttlichen“ und schließt ein „gehörend in das Miteinander der Menschen“. Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins […] Diese ihre Einfalt nennen wir das Geviert.207 204 Vgl. Edward Grant (1973): „Medieval Explanations and Interpretations of the Dictum that Nature Abhors a Vacuum“. In: Traditio 29, 327-355, S. 327 205 Vgl. John Thorp (1990): „Aristotle's Horror Vacui“. In: Canadian Journal of Philosophy 20(2), 149-166, S. 149 f. 206 Physik IV 1, 208b 11 f., zit. n. Zekl (2012) 207 Heidegger (1951), S. 151 f. 55 Nun bleibt aber fraglich, wie viel von Aristoteles in derartigen Überlegungen überhaupt noch stecken kann. Zwar äußert Aristoteles sich viel über das Göttliche des Himmels, was jedoch kaum für ihn als spezifisch gelten kann, wie er freilich auch selber weiß: „Denn alle Menschen haben eine Vorstellung von den Göttern, und alle, sowohl Barbaren als auch Hellenen, die überhaupt nur an Götter glauben, weisen dem Göttlichen den höchsten Ort zu“208. Die wesentliche Einsicht dieses Abschnitts bleibt daher, dass auch für Aristoteles Ortsbewegung nicht „im Raum“ geschieht, weil es den einen physischen Raum, in welchem sie sich ereignen könnte, nicht gibt – jedenfalls nicht als Substanz und als Form der Anschauung nur insofern, als er sich mathematisch, nicht jedoch physikalisch erforschen lässt. Cum grano salis lässt sich Ortsbewegung wohl noch als „räumlich“ einstufen, nicht jedoch als „im Raum“. Im Folgenden sei noch angesprochen, wie es sich mit der Zeit verhält, um diesen Exkurs über Wesen und Status der Ortsbewegung schließlich zu einem Abschluss zu bringen. 5.3 Bewegung zwischen Raum und Zeit Darauf, dass Bewegung für Aristoteles „in der Zeit“ ebenso wenig geschieht wie „im Raum“, wurde bereits zuvor kurz hingewiesen, die Behauptung jedoch noch nicht hinreichend begründet. Sie ergibt sich aus seiner Analyse der Zeit, die er in Physik IV, 1014 auf die des Ortes und Vakuums folgen lässt. Aristoteles stellt dort fest, dass Zeit nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist, weil Bewegung schneller oder langsamer ablaufen kann, Zeit jedoch nicht, werden „schnell“ und „langsam“ doch erst über sie bestimmbar209. Andererseits sei Zeit aber auch nicht denkbar, ohne dass auch Veränderung geschieht210. Diese Veränderung muss nicht immer sichtbar sein, sondern kann beispielsweise auch die eigene Imagination betreffen211. Das Verhältnis von Zeit und Bewegung besteht eben nicht einfach darin, dass die Zeit der „Raum“ sei, „in“ welchem Bewegung dann ihren Platz einnehmen würde, sondern muss anders beschaffen sein. Hierbei fällt zugleich auf, dass Aristoteles ebenso wie beim Ort beziehungsweise Raum meidet, alle Phänomene, die mit Zeit verbunden sind, auf sie reduzieren zu wollen. Bewegung und Zeit bedingen sich zwar gegenseitig, aber weder ist 208 209 210 211 De caelo I 3, 270b 5-8, zit. n. Jori (2009) Vgl. Physik IV 10, 218b 13-17 Vgl. Physik IV 11, 218b 21 Vgl. ebd., 219a 4-6 56 Zeit deswegen Bewegung noch ist Bewegung Zeit. Entscheidend für den aristotelischen Zeitbegriff ist das „Jetzt“ (νῦν). Aristoteles betrachtet das Jetzt als das, was Vergangenheit und Zukunft trennt. Dem Jetzt selbst kann dabei keine Dauer beigemessen werden, es ist sozusagen infinitesimal kurz. Aus diesem Grund ist die Zeit auch keine Abfolge von „Jetzten“ 212. Stattdessen erklärt Aristoteles, dass Zeit vielmehr das sei, was durch Jetzte begrenzt wird: Wenn wir nämlich die Enden [Anfang und Ende einer Bewegung] als von der Mitte [der Bewegung selbst] verschieden begreifen und das Bewußtsein zwei Jetzte anspricht, das eine davor, das andere danach, dann sprechen wir davon, dies sei Zeit […]213 Zeit ist demnach, was die Seele an der Bewegung zählt: „[d]ie Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ,davorʻ und ,danachʻ“214. Dabei handelt es sich allerdings um keine psychologistische Auffassung: Denn gleich im Anschluss verweist Aristoteles ausdrücklich darauf, dass mit „Zahl“ hier nicht die abstrakte Zahl als Resultat oder Instrument des Zählens gemeint ist, sondern eben das, was gezählt wird, das Gezählte215. Das Verhältnis von Zeit und Seele hängt nichtsdestotrotz von dem von Zahl und Seele ab, was Aristoteles in der Abhandlung noch mehrfach thematisiert216. Demgemäß kann Aristoteles aber äußern, dass „In-der-Zeit-sein“ so viel bedeute wie „Durch-Zeit-gemessen-Werden“217. Die alltagspsychologische Vorstellung, Ereignisse geschehen „in“ der Zeit, muss also nicht verworfen werden, was ebenso wohl für den Raum gelten kann. Vielleicht ließe sich sogar analog zum Verhältnis von Zeit und Bewegung formulieren, dass der Raum Ort sei, insofern dieser vermessen wird. Schließlich trägt die „Di-mension“ das „Messen“ bereits in sich und bezeichnet in der Physik nicht nur räumliche Ausdehnung, sondern ganz allgemein die bei einer Messung vermessene Eigenschaft einer Sache. Nichtsdestotrotz sind Raum und Zeit schon im Alltag vieldeutige Konzepte, sodass spätestens ihre ontologische Fixierung, gar als rein mathematische vierdimensionale Raumzeit, der Verbergung ihres Wesens gleichkäme. Wie bereits verdeutlicht würde es daher eine Verkürzung der aristotelischen Philosophie des Ortes und der Zeit darstellen, die von ihm propagierte Ortsbewegung als „Bewegung in Raum und Zeit“ aufzufassen, wenngleich sie nichtsdestotrotz als räumlich – unter dem 212 213 214 215 216 217 Vgl. Physik IV 10, 218a 8 Physik IV 11, 219a 26-29, zit. n. Zekl (2012) Physik IV 11, 219b 2., zit. n. Zekl (2012) Vgl. ebd., 219b 5-8 Vgl. Wieland (1962), S. 316 ff. Vgl. Physik IV 12, 221b 22 57 Vorbehalt, dass Aristoteles einen solchen Raumbegriff kaum hat – und zeitlich gelten kann: „Räumlich“ insofern, als Ortsbewegung natürlich einen Ortswechsel bedeutet; zeitlich insofern, als sie sich durch Zeit messen lässt. Die Frage, die diesen Exkurs über Raum und Zeit erst motiviert hatte, war, ob aus Heideggers Sicht das Primat der Ortsbewegung bei Aristoteles noch etwas anderes bedeuten könne als in der neuzeitlichen Physik. Motiviert wurde sie von Heideggers diesbezüglicher Fehldarstellung in der Physis-Schrift, der die Frage dort zwar nicht thematisiert, jedoch suggeriert, dass für Aristoteles zumindest alle ontischen Bewegungsweisen gleichrangig seien. Spekulativ konnte erwogen werden, dass zumindest Aristoteles' Philosophie des Ortes „noch“ Spuren von der Heideggers trägt. Es mag hier verfehlt scheinen, mit dem „noch“ so zu sprechen, als ob nicht Aristoteles, sondern Heidegger der ältere Philosoph wäre; diese Wortwahl ergibt sich allein aus Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte, in der die Geschichte der Metaphysik die der Seinsverlassenheit ist und schon bei Aristoteles nur noch jener Nachklang des anfänglichen Physis-Denkens vernehmbar bleibt. Über die Zeit äußert sich Heidegger in der Physis-Schrift nicht. Allerdings befasst sich § 81 von SuZ mit dem aristotelischen Zeitbegriff. Heidegger nutzt diesen dort gerade als Inbegriff des „vulgären“ Zeitbegriffs, welchen er insofern kritisiert beziehungsweise „destruiert“, als er den eigentlichen Ursprung der Zeit verdecke218. Was Heidegger hier an Aristoteles kritisiert, ähnelt teils dem, was er auch am Begriff des (einen) Raums kritisiert: nämlich die Neutralisierung und Einebnung des Seienden. In der vulgären Auslegung der Zeit als Jetztfolge fehlt sowohl die Datierbarkeit als auch die Bedeutsamkeit. […] Die Jetzt sind gleichsam um diese Bezüge beschnitten und reihen sich als so beschnittene aneinander lediglich an, um das Nacheinander auszumachen.219 Hierbei übergeht er freilich, dass die Zeit für Aristoteles nicht einfach eine „Jetztfolge“ ist; allerdings richtet sich seine Analyse letztlich nicht primär gegen Aristoteles, sondern vor allem gegen den vulgären Zeitbegriff – für den er Aristoteles hier nur als Kronzeugen hinzuzieht –, insbesondere auch gegen die ihm zugrundeliegende Intuition. Zutreffen dürfte nichtsdestotrotz, dass so etwas wie die Bedeutsamkeit geschichtlicher Augenblicke, etwa der „Kairos“, in Aristoteles' Zeitkonzeption keinen Platz hat. Als Hauptthese der vulgären Zeitinterpretation zeichnet Heidegger außerdem die Vorstellung aus, dass die Zeit 218 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 420 f. 219 Ebd., S. 422 58 unendlich sei220, welche auch bei Aristoteles vorherrscht221. Nichtsdestotrotz bleibt es dabei, dass Heidegger Aristoteles in dem betreffenden Abschnitt nur nebenbei hinzuzieht. Und so übersieht er dort einen durchaus rätselhaften – im Gegensatz zum horror vacui tatsächlich geäußerten – Satz des Aristoteles: In existenzieller Hinsicht dient die vulgäre Zeitauslegung laut Heidegger dazu, das Sein des Menschen nicht als Sein zum Tode begreifen zu müssen, in diesem Sinne also Tod und Vergänglichkeit zu verdrängen222. Überhaupt kann es zu Heideggers Anliegen in SuZ zählen, der Zeit ihre scheinbare „Symmetrie“ von Vergangenheit und Zukunft zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist es nun bemerkenswert, dass auch Aristoteles trotz allem, was er sonst meint, äußert: „Denn an und für sich ist die Zeit Urheberin eher von Verfall“223. „Rätselhaft“ ist dieser Satz insofern, als er nur wenig begründet wird und keine Auswirkungen auf die nachfolgende Analyse zu haben scheint, zumal Aristoteles die Unendlichkeit der Zeit erst später behauptet. Wenn Aristoteles hier von der Zeit als „Urheberin“ spricht, bezieht er sich darauf, inwiefern die Zeit Ursache ist. Er führt hierfür jedoch nur einige alltägliche Redeweisen als Beleg an – „,die Zeit läßt es schwindenʻ, und ,alles altert mit der Zeitʻ und ,man vergißt im Laufe der Zeitʻ“ 224 – und erklärt weiter, dass Bewegung das Bestehende zum Umbruch bringe. Welche Bedeutung ist ihm also beizumessen? Von Heideggers Warte aus ließe sich vielleicht anerkennen, dass in dieser Feststellung durchaus etwas vom existenziellen Wesen der Zeit nachklinge, dass es sich gerade deswegen hierbei jedoch – wie auch sonst bei Aristoteles – eben nur um das Verklingen des anfänglichen Klangs handle. Dabei hält der „Nachklang“ auch heute noch an: Auch in dem genannten Abschnitt in SuZ weist Heidegger auf die scheinbare Selbstverständlichkeit hin, die in unserer Redeweise vom „Vergehen“ (statt etwa „Entstehen“) der Zeit liegt und welche er als Ausdruck davon wertet, dass sich die existenzielle Bedeutsamkeit der Zeit auch in der vulgären Auslegung nicht gänzlich nivellieren lässt. Heidegger interpretiert sie als unleugbaren Rest jenes existenzialen Wissens, dass dem Menschen die ihm beschiedene Zeit fortlaufend entgleite225. Ähnlich wie Aristoteles' Bestimmung der φύσις als μορφή wird sich aus Sicht Heideggers 220 221 222 223 224 225 Vgl. ebd., S. 424 Vgl. Physik IV 13, 222b Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 424 Physik IV 12, 221b 1 f., zit. n. Zekl (2012) Ebd., 221a 30-32, zit. n. Zekl (2012) Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 425 59 also auch seine asymmetrische Charakterisierung der Zeit als bloßen Nachklang „anfänglichen“ Denkens werten lassen müssen. Geht man davon aus, dass hier ein derart simples, kohärentes Bild möglich ist, wird sich wohl auch Aristoteles' Topologie diesem fügen beziehungsweise in dieses einfügen lassen müssen, ob ihm die mutmaßlich „anfängliche“ Vorstellung von einem horror vacui der Natur nun zugeschrieben werden kann oder nicht. Und somit bleibt Heideggers Fehldarstellung in der Physis-Schrift insofern verzeihlich, als sie auf das dort über die φύσις geäußerte keine nennenswerte Auswirkung hat. Denn das Primat der Ortsbewegung bei Aristoteles zeigt sich schon als Vorbote des cartesischen Reduktionismus, wie er schließlich in der substantia extensa vorliegen wird. Zugleich verfestigt sich aber auch der Eindruck, Heidegger nutze „die Griechen“ mithin als Projektionsfläche für sein eigenes Denken. 6. Fazit Wie in Abschnitt 3.3 gezeigt werden konnte, sorgt die Form, μορφή, in Aristoteles' Physiskonzeption für einige Schwierigkeiten, sofern erstrebt wird, auch das Unbelebte unter das Physische und im übertragenen Sinn „Wachsende“ zu fassen. Erst mit Heideggers Übersetzung von μορφή als „Gestellung“ ließ sich die Problematik zufriedenstellend lösen. Hierbei wurde die Betrachtung stringent ontologisch durchgeführt, wobei die φύσις als „Seinsweise“ des physisch Seienden aufgefasst wurde: Die „Anwesung“ des Physischen ist gegenüber der des Technischen dann durch ihre herausragende Unmittelbarkeit gekennzeichnet, welche näher noch als das Husserlsche Phänomen „auf den Leib rückt“. In seiner eigenen Physiskonzeption kehrt Heidegger das Verhältnis von φύσις und Sein jedoch um: Seine These ist, dass Sein ursprünglich φύσις ist, wobei er die φύσις zugleich als „Entbergung“ versteht – und ἀλήθεια, Wahrheit, teils ebenso, teils als resultierende „Unverborgenheit“. Mit Heraklit pflegt die Entbergung dann, sich zugunsten des Entborgenen zu verbergen: Allem bloß noch verrechnenden (Nicht-)Denken, welches für Heidegger in der mathematischen Naturwissenschaft nicht weniger vorherrschend ist als an der Börse und in der formalen Logik – im „Gestell“ der planetaren Technik – verbirgt sich die Entbergung und damit die φύσις oder Natur bis zur Unkenntlichkeit. Für den Heidegger nach der „Kehre“ agieren φύσις, Natur und Sein dabei weitgehend autonom, der Mensch verkommt zum Zuschauer. Deswegen „gehört“ aber eigentlich auch die Technik der Natur, was Aristoteles, dem Wesen der Technik bereits verfallen, bei seiner Unterscheidung beider 60 „vergisst“. Wie in Abschnitt 4.3 besprochen lässt sich Heideggers Physiskonzeption in Verbindung zu seinen nationalsozialistischen Überzeugungen bringen. Doch bereits ohne diesen Aspekt ist sie mit Vorsicht zu genießen, bietet sie letztlich doch ein überraschend lineares Narrativ, in welches sich geschichtliche Ereignisse nunmehr in die zwei Schubladen der „Entbergung“ und „Unverborgenheit“ einteilen lassen. Auf diese Weise wurde zuletzt auch Aristoteles' „Topologie“ und Philosophie der Zeit behandelt. Trotzdem lässt sich Heideggers Narration nutzen, um die Dinge unter einem einzigartigen Blickwinkel zu betrachten. Hinsichtlich der Forschungsfrage liefern Heidegger und Aristoteles also etwas unterschiedliche Ergebnisse. Vereinigend lässt sich jedoch äußern, dass sie jede mechanistische Naturbetrachtung gleichermaßen ablehnen würden: Für Aristoteles wird die Betrachtung der Natur als Technik auf Kategorienfehlern beruhen, bei denen das eigentlich Seiende mit dem nur in nebenbei zutreffender Bedeutung Seienden verwechselt wird, bei welcher die Verhältnisse von Stoff und Form nicht richtig gedacht werden und das Wesen der Bewegung unerkannt bleibt. Für Heidegger resultiert mechanistisches Denken aus der Verbergung der Entbergung, was für eine scheinbare Umkehrung der eigentlichen Machtverhältnisse sorgt: Tatsächlich ist es weniger der Mensch, der mittels Technik die Natur beherrscht, als die Natur, die in der Technik den Menschen beherrscht. Zu den zentralen mechanistischen Konzepten der zeitgenössischen Physik dürfte die „Energie“ gehören, zumal sie die aristotelische ἐνέργεια begrifflich „okkupiert“ und mit so anthropomorphen Konzepten wie „Arbeit“ und „Leistung“ verbunden bleibt. Wenn wir uns in der heutigen Zeit die „Energiewende“ zur Aufgabe machen, so würde diese für die beiden Philosophen wohl nicht nur darin bestehen, eine Art von Energie gegen eine andere (die „erneuerbare“) auszutauschen; vielmehr bestünde sie in der Gewinnung eines Verhältnisses zur Natur, in welchem diese nicht mehr primär unter dem Aspekt bloß physikalischer Energie betrachtet und behandelt wird, oder in welchem physische Energie wieder mehr vom Wesen der ἐνέργεια erlangt. 61 Literaturverzeichnis Aristoteles wird gemäß Bekker-Zählung zitiert. Die Angaben verweisen neben Werk, Buch und Kapitel auf die Paginierung mitsamt Spalte und Zeile in: Immanuel Bekker (Hrsg.). Aristotelis Opera. Bd. 1-2. Berlin 1831. Die Vorsokratiker (namentlich Heraklit) werden mit der dortigen Nummerierung zitiert nach: Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.). Die Fragmente der Vorsokratiker: Griechisch und deutsch. Bd. 1-3. Weidmann, 9. 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Außerdem versichere ich, dass ich die allgemeinen Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit und Veröffentlichung, wie sie in den Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis der Carl von Ossietzky Universität festgelegt sind, befolgt habe. 66