Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Fakultät IV: Human- und Gesellschaftswissenschaften
Institut für Philosophie
Die „Physis“ bei Aristoteles und Heidegger
Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades
Master of Arts
Erstgutachterin: apl. Prof. Dr. Susanne Möbuß
Zweitgutachterin: Dr. Christine Zunke
Vorgelegt von: Bengt Früchtenicht
Matrikelnummer:
Adresse:
E-Mail:
Studienfach: Philosophie M. A.
Sommersemester 2020
Oldenburg, 26.09.2020
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.......................................................................................................................2
2. Geschichtliche Vorbemerkungen...................................................................................4
2.1 Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Physik..........................................4
2.2 Die vor-philosophische Bedeutung von φύσις........................................................7
3. Die φύσις bei Aristoteles..............................................................................................11
3.1 Hinführung zur Frage nach der φύσις...................................................................11
3.2 Definition des Physischen.....................................................................................14
3.3 Φύσις, Technik und das Problem der Form..........................................................18
4. Die φύσις bei Heidegger..............................................................................................32
4.1 Φύσις als Entbergung............................................................................................33
4.2 Sein als φύσις........................................................................................................36
4.3 Kritik an Heideggers Physiskonzeption................................................................39
5. Bewegtheit und Ort......................................................................................................44
5.1 Die Hierarchie der Bewegungsarten.....................................................................45
5.2 Topologie..............................................................................................................50
5.3 Bewegung zwischen Raum und Zeit.....................................................................56
6. Fazit.............................................................................................................................60
Literaturverzeichnis.........................................................................................................62
Eidesstattliche Erklärung.................................................................................................66
1
1. Einleitung
Wer sich heute philosophisch über die Natur äußert, erregt leicht den Verdacht, dieselbe zur
Rationalisierung der eigenen Weltanschauung zu benutzen – sei es, indem er sie zur
neutralen Materie entwertet, in romantischer Schwärmerei überhöht oder im Rahmen von
Gegensatzpaaren wie „Natur und Kultur“, „Natur und Mensch“ oder „Natur und Technik“
konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt die Natur als Namensgeberin der „Naturwissenschaft“
unmittelbar mit einer gemeinhin anerkannten Erkenntnisautorität verbunden, was auch die
Möglichkeit einer philosophischen Betrachtung nahelegt. Obschon sie hier in anderen
Sprachen als der deutschen nicht ganz so präsent sein mag, trägt eine der international
renommiertesten Fachzeitschriften – Nature – ihren Namen. Der Name „Physik“ – wie
auch „Physiologie“ – ist überdies abgeleitet vom älteren griechischen Begriff der φύσις,
welcher im Lateinischen dann durch natura ersetzt wurde1.
Dabei fällt auf, dass die Natur (oder φύσις) als solche nie Forschungsgegenstand der
Naturwissenschaft (oder Physik) wird. Unter der Prämisse, dass es sich hierbei dennoch
um mehr handle als eine bloße historische Konvention, dass die „Natur“ hier also nicht nur
als Namenspatin diene, sondern auch einem Mindestmaß an thematischer Eingrenzung
durch das Gemeinte, scheint jedoch auch der Naturwissenschaft ein Vorverständnis davon,
was Natur sei, zu eignen. Die Frage nach diesem Vorverständnis führt sodann über den
naturwissenschaftlichen Fragehorizont hinaus: Naturwissenschaft ist, zumindest bisher,
Wissenschaft von natürlich Seiendem, also „von Natürlichem“, aber nicht „vom
Natürlichen“, von der Natur als solcher, welche demnach erst von einer Naturphilosophie
thematisiert werden dürfte. Diese Differenzierung ermöglicht es anscheinend – in diesem
ersten Näherungsversuch –, die Natur als „Seinsweise“ des natürlich Seienden direkt
anzusprechen, ohne Aussagen über empirische Zusammenhänge treffen zu müssen.
Ausführliche Überlegungen zu dieser Thematik stellte Aristoteles an, wobei seine Physik in
dieser Hinsicht als zentrales Werk gelten kann. Das physisch Seiende ist für Aristoteles
dabei das, welches einen Anfang (ἀρχή) seiner Bewegung in sich selbst hat. Diese
Selbstbewegung lässt sich der Bewegung durch ein Anderes gegenüberstellen, welche
unter anderem für die Technik kennzeichnend ist. Unter den genannten Gegensatzpaaren
ist es also das von Natur und Technik, welches sich mit Aristoteles beleuchten lässt. Dies
ist gerade vor dem Hintergrund der „mechanistischen“ Denkweise interessant, welche der
1
Vgl. Alfred Dunshirn (2019): „Physis“. In: Online Lexikon Naturphilosophie [doi:
10.11588/oepn.2019.0.65543]
2
Naturwissenschaft, insbesondere der Physik, über die Jahrhunderte hinweg vielfach
zugeschrieben wurde und sich auch heute noch im Kausalitätskonzept des „Mechanismus“
unmittelbar wiederzufinden scheint (wie auch in ihm gemäßen Titeln wie „Mechanik“ oder
„Quantenmechanik“). Während die aristotelische Physik sich in ihrem Ansatz als
Komplement zur neuzeitlichen Physik verstehen lässt, existieren dadurch auch deutliche
Reibungsflächen – dies umso mehr, je „mechanistischer“ die Physik sich zeigt.
Andererseits entspricht die Unterscheidung zwischen dem „Seienden“ und dem „Sein“
dieses Seienden der „ontologischen Differenz“ Martin Heideggers. Heidegger bezieht sich
vielfach auf Aristoteles und versteht auch dessen Physik als explizit ontologisches Projekt:
„Die Untersuchung [in der Physik] ist περὶ φύσεως, nicht περὶ τῶν φύσει ὄντων, ,über
diejenigen Seienden, die durch das Sein der φύσις bestimmt sindʻ, sondern über die φύσις
selbst, über das Sein dieses Seienden“2. Die φύσις spielt zudem in Heideggers eigener
Konzeption des Seins und der Wahrheit (als „Unverborgenheit“) eine entscheidende Rolle.
Nicht zuletzt ist Heidegger auch Technikphilosoph: Das Wesen der Technik verbirgt sich
seines Erachtens nicht nur in der Denkweise der Naturwissenschaft und etwa im
Materialismus3, sondern in der gesamten Metaphysik und ihrer Geschichte4.
In der Hoffnung, hierdurch einem philosophischen Verständnis von Natur näher zu
kommen, vergleicht die vorliegende Arbeit die Physiskonzeptionen von Heidegger und
Aristoteles. Für Heidegger ist es das „Entbergen“, welches die φύσις ausmacht. Bei
Aristoteles will er Spuren dieses seines Erachtens „anfänglichen“ Gedankens noch
ausfindig machen können, wenn der Stagirit das physisch Seiende als das „Selbstbewegte“
und die φύσις wiederum als eine Art οὐσία sowie als μορφή charakterisiert. Da Aristoteles
für Heidegger bereits der Geschichte der Metaphysik angehört, muss aber auch seine
Unterscheidung von Natur und Technik schon die Verfallenheit an die Technik in sich
tragen. Aus Heideggers Sicht besteht Aristoteles' Irrtum unter anderem in der Suggestion,
der Mensch könne frei über die Technik verfügen.
Das für diese Arbeit zentrale Textstück Heideggers ist sein Aufsatz Vom Wesen und Begriff
der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1 (1939), auf den ich mich der Kürze wegen mit „PhysisSchrift“ beziehen werde. Thematisiert wird dort hauptsächlich ein kurzes Kapitel aus der
2
3
4
Martin Heidegger (1924): „Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie“. In: Martin Heidegger:
Gesamtausgabe. Bd. 18. Klostermann, Frankfurt a. M. 2002, S. 284
Vgl. Martin Heidegger (1946): „Brief über den Humanismus“. In: Ders. Wegmarken. Klostermann, 4.
Aufl., Frankfurt a. M. 2013, 313-364, S. 340
Vgl. Martin Heidegger (1956/57): „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“. In: FriedrichWilhelm von Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 11. Klostermann, Frankfurt a.
M. 2006, 51-79, S. 61
3
Physik – die Definition von φύσις –, doch bietet dieses bereits viele Möglichkeiten, die
skizzierte
Fragestellung
anzugehen.
Außerdem
macht
Heidegger
dort
einen
bemerkenswerten Fehler: Heidegger schreibt über Aristoteles, als ob dieser alle von ihm
eingeführten Bewegungsarten als gleichrangig einstuft, während Aristoteles tatsächlich
aber ein Primat der Ortsbewegung vertritt. Neben der Grundlegung und dem Vergleich der
Physiskonzeptionen von Aristoteles und Heidegger wird daher auch zu untersuchen sein,
wie diese Fehldarstellung zu bewerten ist.
2. Geschichtliche Vorbemerkungen
Abgesehen davon, dass die beiden Philosophen über zwei Jahrtausende trennen, war
Heidegger selbst ein in höchstem Maße „geschichtlicher“ Denker, darum bemüht, einer
„ursprünglichen“ Weise des Philosophierens nahezukommen, um seiner Zeit einen
Neuanfang bieten zu können. Bevor wir detailliert auf Aristoteles' Physiskonzeption
eingehen, seien daher einige geschichtliche Vorbemerkungen unternommen. Diese sollen
zunächst dazu dienen, die zeitliche Kluft zu Heidegger zu überbrücken und den
Fragehorizont zu entwickeln. Ferner sollen im Rahmen einer Etymologie von φύσις bereits
einige zielgerichtete Denkanstöße erfolgen.
2.1 Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Physik
Aristoteles' Physik ist für Heidegger „[d]ie erste […] zusammenhängende denkerische
Erörterung über das Wesen der φύσις“5, zugleich jedoch „auch […] der letzte Nachklang
des anfänglichen und daher höchsten denkerischen Entwurfs des Wesens der φύσις, wie er
uns in den Sprüchen von Anaximander, Heraklit und Parmenides noch aufbewahrt ist“ 6.
Als diese philosophiegeschichtliche Singularität stelle sie sodann „das verborgene und
deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie“7 dar.
Philosophiehistorisch lässt sich immerhin feststellen, dass die aristotelische Physik die
erste derartige Abhandlung ist, welche uns vorliegt – denn von Platon ist nichts derartiges
bekannt, von den „Naturphilosophen“ nur Fragmente, auch bei den Sophisten ist die Lage
nicht besser. Gleichzeitig wird durch Aristoteles' häufige doxographische Bemerkungen,
5
6
7
Martin Heidegger (1939): „Vom Wesen und Begriff der Φύσις: Aristoteles, Physik B, 1“. In: Ders.
Wegmarken. Klostermann, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, 239-302, S. 242
Ebd.
Ebd.
4
die nicht nur in einem historischen Interesse erfolgen, sondern auch thematisch relevant
sind, deutlich, dass er das Rad nicht neu erfindet, sondern sich bereits mitten im Diskurs
befindet. Dadurch ist auch die Kontinuität gesichert, welche Heidegger suggeriert, wenn er
Aristoteles zu „den Sprüchen von Anaximander, Heraklit und Parmenides“ in Beziehung
setzt – wobei diese Auslese aus der Gesamtheit der φυσικοί durchaus selektiv anmuten
kann.
Erstaunen muss aber zumindest Heideggers vollmundige Äußerung, es handle sich bei der
Physik um das „verborgene Grundbuch der abendländischen Philosophie“. Fragen ließe
sich zudem, ob Heidegger damit etwa auch noch die Philosophie vor Aristoteles meinen
könne, als ob die aristotelische Physik in ihrem Wesen ein vorherbestimmtes,
„schicksalhaftes“ Resultat aus dieser wäre. Hierauf wird nach Darlegung von Heideggers
„seinsgeschichtlicher“ Physiskonzeption näher einzugehen sein. Zunächst seien nur wenige
ausgewählte Aspekte aus der Rezeptionsgeschichte der Physik genannt.
Für die neuzeitliche Physik wurde die Physik zunehmend irrelevant, weil es sich um eine
primär naturphilosophische Schrift handelt, aus welcher sich höchstens sekundär
empirische Prognosen ableiten lassen. Aristoteles' Beharren auf der ontologischen
Unterscheidbarkeit von Natur und Technik birgt für die technisch-experimentelle
Naturerforschung zudem eher Konfliktpotenzial, als dass sie ihrem Vorhaben dienlich sein
könnte. Darüber hinaus wurde der historische Aristoteles überschattet vom Dogmatismus
des scholastischen Aristotelismus, wenngleich etwa Galileo Galilei hier noch zu
differenzieren wusste8.
In der Philosophie erfuhr die Physik oft eine Unterordnung als „zweite Philosophie“ unter
die „erste“, die Metaphysik. Dabei, so Wieland (1962), muss es jedoch „auffallen […], daß
es keine der Physik parallele ,dritteʻ oder ,vierteʻ Philosophie gibt“9, was ein komplexeres
Verhältnis als das einer simplen Rangordnung nahelegt. Immerhin sei ja auch „die
Metaphysik selbst […] nicht nur hinsichtlich ihres erst in nacharistotelischer Zeit
entstandenen Namens, sondern vor allem auch der Sache nach in bewußter und
ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber der Physik konzipiert und bleibt dadurch von ihr
abhängig“10. Ähnlich ist auch für Heidegger die Metaphysik „in einem ganz wesentlichen
8
Vgl. Thomas Ricklin (2011): „Renaissance“. In: Christof Rapp (Hrsg.), Klaus Corcilius (Hrsg.).
Aristoteles: Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar 437-443, S. 437
9 Wolfgang Wieland (1962). Die aristotelische Physik: Untersuchungen über die Grundlegung der
Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 13
10 Ebd.
5
Sinne ,Physikʻ – d. h. ein Wissen von der φύσις“11.
Die Wende von der „klassischen“ zur „modernen“ Physik brachte in der Naturwissenschaft
eine neue Offenheit für die aristotelische Physik hervor, wobei Zekl (1990) aus gegebenem
Anlass davor warnt, aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten nun vorschnell Parallelen zur
Relativitätstheorie und ähnlichem zu ziehen12, als ob Aristoteles diese prophezeit hätte und
sein Denken überhaupt mit experimenteller Methodik kompatibel sei. Relevant ist die
Physik jedoch durchaus hinsichtlich der metaphysischen Vorurteile, welche sich in der
modernen Physik verbergen.
In entsprechenden Kreisen der Philosophie hat sich im 20. Jahrhundert auch eine
„phänomenologische“ Lesart der Physik herausgebildet. Mit seiner Physis-Schrift gehört
Heidegger selbst hier zu den Vorreitern; Heideggers Inspiration zur Beschäftigung mit
Aristoteles rührt unter anderem von den Auseinandersetzungen durch Franz Brentano 13, der
seinem
Schüler
Edmund
Husserl
zentrale
Impulse
für
die
Entwicklung
der
Phänomenologie gab. A. Miller (1969), ein Schüler Carl Friedrich von Weizsäckers, sieht
in der Physik eine „deskriptive Phänomenologie der Natur“14. Die zuvor genannten
Autoren Wieland und Zekl fallen zumindest teilweise unter das Prädikat 15. Mithin macht
man für Aristoteles' Naturverständnis auch den Husserlschen Begriff der „Lebenswelt“
urbar16. Während sich vielleicht einwenden ließe, dass das Wort „phänomenologisch“ hier
aufgrund seiner Vieldeutigkeit weitgehend sinnentleert sei, kommt dieses Verständnis der
Absicht der vorliegenden Arbeit durchaus nahe: Wenn „Phänomenologie“ den Versuch
bedeutet, eine vor-empirische, für alle Empirie „transzendentale“ Erfahrung – ein „immer
schon“ Anerkanntes – auf Begriffe zu bringen, ähnelt das Verhältnis von Empirie und
Phänomenologie dem in der Einleitung skizzierten von Naturwissenschaft und
Naturphilosophie (als Frage nach der Natur selbst, dem „Sinn von Natur“).
11 Heidegger (1939), S. 241
12 Vgl. Hans Günter Zekl (1990). Topos: Die aristotelische Lehre vom Raum. Eine Interpretation von
Physik, Δ 1-5. Meiner, Hamburg, S. 17
13 Vgl. Michael Allen Gillespie (2000): „Martin Heidegger's Aristotelian National Socialism“. In: Political
Theory 28(2), 140-166, S. 145
14 Vgl. Alfred Eric Miller (1969). Physis and Physics: Aristotle's Descriptive Phenomenology of Nature as
the Metaphysical Foundation and Critique of Modern Science. Unv. Diss., Universität Hamburg
15 Vgl. Wieland (1962), S. 335 f., Zekl (1990), S. 269
16 Vgl. Gregor Schiemann (2005). Natur, Technik, Geist: Kontexte der Natur nach Aristoteles und
Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung. De Gruyter, Berlin/New York; Barry Smith
(1992): „Zum Wesen des Common sense: Aristoteles und die naive Physik“. In: Zeitschrift für
philosophische Forschung 46(4), 508-525
6
2.2 Die vor-philosophische Bedeutung von φύσις
Weil schon Aristoteles sich aus einem Diskurs heraus auf die φύσις bezieht, also ein
gewisses historisches Bewusstsein mit sich bringt, soll hier noch vor seiner Analyse die
komplexe Bedeutungsvielfalt des Wortes dargelegt werden, wie sie etymologische und
philologische Studien offengelegt haben. Zwar interessiert sich Aristoteles selbst nicht für
eine solche Begriffsgeschichte beziehungsweise verfügt über kein so geartetes
Sprachbewusstsein17. Heute kann sie jedoch dabei helfen, zu verstehen, welcher
Bedeutungsgehalt für die alten Griechen mit dem Wort verbunden war. Ganz abgesehen
davon lassen sich in Heideggers Texten Aspekte von φύσις und verwandten Begriffen
ausmachen, deren Existenz sich rein analytisch kaum belegen lässt und damit eines
etymologischen Nachweises bedarf. Bei der Gelegenheit soll auch ein erster Vergleich
zwischen φύσις und natura erarbeitet werden.
Bevor in der überlieferten Literatur das Wort φύσις – und außerdem φυέ – gebräuchlich
wird, treten mit dem Präfix φυ- gebildete Termini vor allem in Form der Verben φύειν und
φύεσθαι (sowie φῦναι) auf18. Beide bezeichnen ein „Hervortreiben“, unterscheiden sich
jedoch hinsichtlich ihrer Diathese: φύειν ist ein aktives Hervortreiben, also das von dem
prädizierten Subjekt vollzogene Hervortreiben eines Anderen; φύεσθαι hingegen ist ein
mediales Hervortreiben, eines, welches das Subjekt selbst affiziert, ein „Wachsen“ also.
Laut Patzer (1993) bleibt φυ- zunächst auf das pflanzliche Wachstum beschränkt, belegbar
dadurch, dass „Homer, die Hymnen, Hesiod und die ältere Elegie die Wurzeln φυ- und γενbzw. τεκ- streng auseinanderhalten“19. Um die Bedeutung genauer herauszuarbeiten,
versucht er, neben philologischen Analysen auf phänomenologische Weise das pflanzliche
Hervortreiben oder Wachsen vom tierischen zu unterscheiden.
Das pflanzliche Wachstum charakterisiert zunächst, dass es von keiner Geburt, keinem
Schlupf oder ähnlichem unterbrochen wird. Einmal begonnen, verläuft es vom Samen bis
zur ausgewachsenen Pflanze kontinuierlich. Patzer behauptet sodann, dass das Wachsen
der Pflanze nicht nur zukommt, „indem es als Art einer Bewegung ausschließlich und
17 Vgl. Borislav Mikulić (1987). Sein, Physis, Aletheia: Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im
„ursprünglichen“ Seinsdenken Martin Heideggers. Könighausen & Neumann, Würzburg, S. 116; Harald
Patzer (1993). Physis: Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes. Steiner, Stuttgart, S. 40
18 Dunshirn (2019) nennt hier die letzteren beiden, Patzer (1993), S. 11 f. die ersteren, Dieter Bremer
(1989): „Von der Physis zur Natur. Eine griechische Konzeption und ihr Schicksal“. In: Zeitschrift für
philosophische Forschung 43(2), 241-264, S. 242 f. ebenfalls, Elmar Seebold (Bearb.) (2011). Kluge:
Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. De Gruyter, 25., durchges. und erw. Aufl.,
Berlin/Boston, S. 704 das erstere.
19 Patzer (1993), S. 18
7
daher am reinsten an der Pflanze vorkommt, sondern es füllt zugleich ihr Sein vollständig
aus“20. Auch, wenn die Pflanze hier lediglich als Gattung gemeint ist, handelt es sich dabei
um eine starke Behauptung. Patzer untermauert sie erstens, indem er darauf hinweist, dass
allein die Pflanze als φυτόν angesprochen wird, als „Gewächs“ also – ein Wort, welches
auch Heidegger als Umschreibung für sämtliches „physisch Seiende“ bei Aristoteles
gebrauchen wird21. Zweitens versteht Patzer das Wachsen hier mitsamt all seiner
Voraussetzungen und Nebenbedingungen: so beinhaltet Wachstum stets die Ausbildung der
Gestalt, die das Wachsende zu entfalten sucht; dabei ist diese Gestalt nie in Gänze neu oder
einzigartig, sondern stets auch Wiederholung einer vorherigen 22. Ergänzt werden kann hier
noch, dass wir auch die „Fortpflanzung“ offenbar von einem pflanzlichen Motiv her
verstehen.
Fraglich bleibt, ob der Begriff des Wachsens hinreichend die Eigenschaft der Pflanze
berücksichtigt, zu wurzeln. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund der
Übertragung von „Gewächs“ auf anderes physisch Seiende, welche neben Heidegger auch
Patzer selbst vornimmt: „Das Tier ist ja auch ,Gewächsʻ, wenn auch nicht eigentümlich“ 23.
Patzer löst diese Schwierigkeit mit einer Deutung der wurzelnden Ortsgebundenheit als
reflexive Wendung auf sich selbst: „In dieser eigentümlichen Starre würde sie [die Pflanze]
das Leblose noch zu überbieten scheinen, wäre nicht das Festhalten an sich selber die erste
Spur des ,selbstʻ und somit des Lebens“24.
Φύειν, das Hervortreiben der Pflanze durch ein anderes als sie selbst, bezieht Patzer sodann
auf die Erde, in der sie wurzelt. Die Erde ist dabei kein toter Stoff, sondern fruchtbarer
Grund; sie „haßt das Tote und drängt sich zu beleben“ 25. Mitunter, so Patzer, weist die
griechische Vorstellung die Erde selbst als „pflanzenhaft“ aus. Beispielsweise heißt es in
der Theogonie über den Tartaros, über ihm wachsen die Wurzeln der Erde. Patzer sieht
hierin ein alternatives Bild zur ebenfalls geläufigen „Mutter Erde“, welche er aufgrund der
stärkeren Personifikation und der früheren Vergöttlichung von Γαῖα als älter erachtet. Die
Alternativen sind dabei jedoch nicht binär, sondern können sich auch gegenseitig
durchdringen26.
Während Patzer bei seinen Überlegungen von einer eindeutigen (nicht weiter
20
21
22
23
24
25
26
Ebd., S. 13
Vgl. Heidegger (1939), S. 250
Vgl. Patzer (1993), S. 15 f.
Ebd., S. 19
Ebd., S. 14
Ebd., S. 20
Ebd., S. 20 f.
8
reduzierbaren) Zuordnung der Silbe φυ- zum Pflanzlichen ausgeht, fragt Mannsperger
(1969) noch weiter in die Vergangenheit, nämlich in die Etymologie des Präfixes selbst.
Hatte Patzer seine teils philologische, teils phänomenologische Analyse mit der Annahme
gerechtfertigt, dass „alle Benennungen an der Anschauung erwachsen sind, weil die erste
benannte Welt vorzüglich die sichtbare war“27 – also am „Konkreten“ – übersteigt
Mannsperger den so gesetzten Denkhorizont, wenn er erklärt, „daß ein ,konkretesʻ Wort
[nicht nur] ,abstraktʻ, ein ,abstraktesʻ, [sondern auch] […] dasselbe Wort wieder
,konkretʻ“28 werden kann. Durch weiteren Rückgang erweist sich die genannte konkrete
Bedeutung dann nicht nur als Ursprung der „einen“ abstrakten, sondern zugleich als
Übergangsstadium zwischen zwei abstrakten Bedeutungen – gesetzt, dass hier überhaupt
eine solch kohärente Entwicklung stattfindet, was keineswegs der Fall sein muss.
Die griechische Wortwurzel φυ- lässt sich auf die indogermanische Wurzel *bheu
zurückführen29. Laut Mannsperger trägt diese bereits Motive in sich, welche jenen ähneln,
die Patzer phänomenologisch am „Wortbild“ der Pflanze erarbeitet hatte: „Diesem *bheu
wird die ursprüngliche Bedeutung ,wachsenʻ, ,schwellenʻ zugesprochen, woraus sich die
weiteren Bedeutungen ,entstehenʻ, ,werdenʻ, ,seinʻ und ,gewohnheitsmäßig wo seinʻ, ,sich
aufhaltenʻ, ,wohnenʻ entwickelt hätten“30. Eine Anknüpfung an *bheu, ohne den Umweg
über φυ- zu nehmen, nimmt auch Heidegger vor, wenn er den Bedeutungsgehalt des
althochdeutschen buan hinsichtlich des Bauens, Wohnens und Seins auslegt31.
Doch wie steht es nun um die φύσις selbst? Die erste bekannte Verwendung des Wortes
findet sich in der Odyssee:
Also sagte der Schimmernde [Hermes], zog aus dem Boden ein Giftkraut
[φάρμακον], gab es und zeigte mir auch, wie es war und wie es gewachsen
[φύσιν]. Schwarz war die Wurzel, weiß wie Milch war die Blüte, die Götter
nennen es Moly.32
Φύσις verweist hier laut Patzer auf die sichtbare Gestalt einer Pflanze, welche durch deren
artspezifische Gliederung in Wurzel und Blume (Blüte) gekennzeichnet ist 33. (Nicht
27 Ebd., S. 10
28 Dietrich Mannsperger (1969). Physis bei Platon. De Gruyter, Berlin, S. 44
29 Vgl. Walde [1927] (1973): Alois Walde, Julius Pokorny (Hrsg.). Vergleichendes Wörterbuch der
indogermanischen Sprachen: II. Band. De Gruyter, Berlin/Leipzig, S. 140 ff.
30 Mannsperger (1969), S. 38
31 Vgl. Martin Heidegger (1951): „Bauen Wohnen Denken“. In: Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.).
Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 7. Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, 145-164, S. 148 f. Dass
die entsprechende Verbindung zu *bheu besteht, belegen Walde [1927] (1973), S. 142, Elmar Seebold
(1970). Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Mouton, Den
Haag/Paris, S. 128 und ansatzweise Seebold (2011), S. 97.
32 Homer, Odyssee 10, 302-305, zit. n. Weiher (2013)
33 Vgl. Patzer (1993), S. 42
9
übersehen werden sollte, dass außerdem noch der Name des Krautes genannt wird.)
Dunshirn (2019) erläutert, dass φύσις von Homer „in bewusster Abgrenzung vom
gebräuchlicheren φυέ, das vornehmlich die menschliche Konstitution bezeichnet, gesetzt
wurde“34. Zu beachten ist, dass sich damit der für uns interessante Begriff der φύσις zwar
wieder auf das Pflanzenreich bezieht. Er tut dies nun jedoch nicht mehr aufgrund des
Präfixes φυ- (im Gegensatz zu γεν-), welches diese Beschränkung bereits zugunsten einer
allgemeinen „Gestalt“ verlassen hat, sondern in diesem Fall durch sein Suffix.
Patzer muss aufgrund seines Festhaltens an der konkreten Urbedeutung beziehungsweise
dem anschaulichen Wortbild, welches φυ- vermeintlich ausdrückt, davon ausgehen, dass
φύσις und φυέ von den Verben φύειν und φύεσθαι abgeleitete Abstrakta sind35, was er aber
auch in plausibler Weise an Textnachweisen bestätigt findet. Mannsperger glaubt
nichtsdestotrotz, dass φύσις „selbständig und früh aus der doppelaspektigen Wurzel [von
Sein und Werden] erwachsen sein muß, ohne Beeinflussung durch das Verb φύειν, das
eindeutig den dynamischen [Werdens-]Aspekt vertritt“36. Er sieht seine These belegt durch
die Feststellung, dass sich mit *bhutis ein indogermanischer Vorgänger von φύσις
erschließen lässt, bei welchem neben Bedeutungsgehalt und Bildungsart auch das Suffix
hinreichend übereinstimmt37. Demnach wäre φύσις zwar ein „abstrakter“ Terminus, aber
nicht notwendig von den genannten Verben abgeleitet.
Ohne das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen der ursprünglich „konkreten“
Bedeutung bei Patzer und der ursprünglich „abstrakten“ bei Mannsperger neutralisieren zu
wollen, lässt sich als Arbeitshypothese anführen, dass die vorphilosophische φύσις in ihrem
Bedeutungsgehalt irgendwo zwischen „Wuchs“, „Wachstum“, „Sein“ und „Werden“
anzusiedeln ist, bei Homer dann bereits „Gestalt“, „Wesen“. Bemerkenswert hierbei ist,
dass „wachsen“ als Medium eine Form von Kausalität repräsentiert – nämlich die der
causa sui –, welche der neuzeitlichen Physik schlechthin unbekannt ist. Zwar deckt sich
dies mit der geläufigen Vorstellung, dass jede Metaphysik ein erstes, nicht weiter
reduzierbares Seiendes schlichtweg voraussetzen müsse, als welches der Naturalismus
eben die Natur setze. Nichtsdestotrotz beinhaltet die aristotelische Metaphysik nicht nur
die Frage nach jenem „ersten Seienden“, sondern vor allem die ontologisch frühere nach
dem „Seienden als Seienden“38, und Heideggers Fundamentalontologie die noch
34
35
36
37
38
Dunshirn (2019), S. 2
Vgl. Patzer (1993), S. 39
Mannsperger (1969), S. 46
Vgl. ebd., S. 45
Vgl. Metaphysik IV 1, 1003a 21-32
10
grundlegendere nach dem „Sinn von Sein“39.
Lateinisch natura bezeichnet hingegen ursprünglich die Geburt (den Geburtsvorgang),
wenngleich die Extension des Verbs nasci nicht nur „entstehen“ und „geboren werden“
einschließt40, sondern auch wieder „wachsen“ und vergleichbare Ausdrücke. Auch hier
sollte eine vorschnelle Vereindeutigung des Begriffs vermieden werden. Dennoch fällt auf,
dass bei einer Geburt die Mutter das Kind zwar hervorbringt, dieser Akt aber zugleich
einen Moment der Loslösung zugunsten einer Teilautonomie des Kindes markiert.
Überhaupt ist die Geburt ein rein tierisches, kein pflanzliches Ereignis mehr. Zumal vor
dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung lässt sich daher annehmen, dass der
Wechsel von φύσις zu „Natur“ im Lichte der fortschreitenden Entwicklung der SubjektObjekt-Teilung gesehen werden kann. Um zu vermeiden, diese reaktionär zu bejubeln oder
zu verdammen, kann mit Patzer erinnert werden, dass auch zum bloßen Wachsen nicht nur
das wachsende Seiende hinreicht, sondern es ebenso der nährenden Erde bedarf, die in
diesem Kontext dann gewissermaßen als natura naturans auftritt.
3. Die φύσις bei Aristoteles
Die für uns zentrale Auseinandersetzung des Stagiriten mit der φύσις findet sich vor allem
in der Physik. Deren erstes Buch schließt Aristoteles mit den Worten: „Und nun beginnen
wir an anderer Stelle nochmal und wollen von Anfang an vortragen“ 41. Der im zweiten
Buch vorgenommene Neuanfang ist zugleich geeignet, um an den vorherigen Abschnitt
anzuknüpfen. Außerdem bezieht sich Heideggers Physis-Schrift erklärtermaßen auf Kapitel
1 des Buches42. Aus diesen Gründen wollen auch wir – nach einer kurzen „Einführung“ in
das erste Buch, die zugleich eine „Hinführung“ zum zweiten darstellt – diesem Weg folgen
und später erst dort auf das erste Buch zurückgreifen, wo es für die Forschungsfrage auch
relevant ist.
3.1 Hinführung zur Frage nach der φύσις
Das erste Buch beginnt Aristoteles mit einer thematischen Eingrenzung der Physik als
Wissenschaft von der φύσις (περὶ φύσεως ἐπιστήμη)43. Er geht dabei davon aus, dass dieser
39
40
41
42
43
Vgl. Martin Heidegger [1927] (2006). Sein und Zeit. Niemeyer, 19. Aufl., Tübingen, S. 1
Vgl. Bremer (1989), S. 259
Physik I 9, 192b 2-4, zit. n. Zekl (2012)
Ihr Untertitel lautet schließlich: „Aristoteles Physik B, 1“. Vgl. Heidegger (1939)
Vgl. Physik I 1, 184a 14 f.
11
Wissenschaft, wie anderen auch, „Grund-Sätze [ἀρχαί] oder Ursachen [αἰτίαι] oder
Grundbausteine [στοιχεῖα]“44 eignen, welche es zu entdecken gilt. Bezüglich der ἀρχαί
trifft er sodann zahlreiche Fallunterscheidungen, in welchen eine doxographische Absicht
erkennbar wird. Hier seien nur die ersten beiden genannt: Ist die ἀρχή nicht eine, so gebe
es notwendig mehrere. Gesetzt, dass sie eine ist, könne sie – wie für Parmenides und
Melissos – unbewegt (ἀκίνητον) sein oder – wie für die φυσικοί – ein Bewegtes
(κινυμένον)45. Hierbei fällt auf, dass Aristoteles Parmenides und Melissos offenbar gar
nicht zu den φυσικοί, den Naturphilosophen zählt; Grund hierfür könnte sein, dass die
φύσις für Aristoteles so untrennbar mit Bewegung verbunden ist, dass die Bezeichnung ihm
für den alle Veränderung bestreitenden Parmenides widersinnig erschien.
Mit diesen Unterscheidungen kann Aristoteles jedenfalls zeigen, dass „[d]ie Untersuchung,
ob das Seiende eines und unwandelbar ist, […] keine Untersuchung im Bereich der
Naturforschung“46 darstellen kann. Grund hierfür sei eben, dass physisch Seiendes immer
schon
als
wandelbar
begriffen
wird47.
Die
Frage
danach,
ob
eine
solche
Wandlungsfähigkeit existiert, geht demnach über den Horizont der Physik hinaus und
würde deren Vorhaben bei Verneinung sogar ad absurdum führen. Sie wäre der Ontologie
zuzuweisen („Ontologie“, weil sich ohne „Physik“ auch nicht mehr von „Metaphysik“
sprechen ließe). Die Bewegtheit des Physischen setzt Aristoteles also aus begrifflichen
Gründen voraus: Ohne Bewegung gäbe es auch kein Physisches, sodass Physik einen
performativen Selbstwiderspruch darstellte. In Buch II, 1 ergänzt Aristoteles dies
dahingehend, dass die so geartete Existenz der φύσις und des Physischen zwar nicht
beweisbar sei, vergleicht diejenigen, die sie leugnen – also vermutlich Parmenides und
Melissos – jedoch mit einem Blinden, der über Farben spricht, ohne dabei zu begreifen,
was Farben eigentlich sind48. Über die Behauptung, alles ruhe, schimpft er in VIII, 3 gar als
„Geisteskrankheit“ (ἀρρωστία διανοίας49).
Anschließend – zurück in Buch I – fährt Aristoteles aber fort, weniger nach der φύσις als
nach den ἀρχαί des Werdenden zu fragen. Während sich das erste Buch gewissermaßen als
Frage nach den ἀρχαί der φύσις auffassen lässt, stellt erst das zweite wirklich die nach dem
„Physischen als Physischen“, also danach, was es für das Physische bedeutet, physisch zu
44
45
46
47
48
49
Ebd., 184a 11, zit. n. Zekl (2012)
Vgl. ebd., 184b 15-17
Physik I 2, 184b f. 25-1, zit. n. Zekl (2012)
Vgl. ebd., 185a 1 ff.
Vgl. Physik II 1, 193a 7-9
Vgl. Physik VIII 3, 253a 33 f.
12
sein. „Physisch sein“ heißt für Aristoteles dabei stets, „von der φύσις her“ zu sein, also die
φύσις als eine Art Ursache zu haben: „Im ersten Buch war nach den Prinzipien der Natur
gefragt worden; das zweite Buch fragt dagegen nicht nach den Ursachen der Natur,
sondern nach der Natur als Ursache“50 (Wieland). Hiermit kommt das zweite Buch auch
der in der Einleitung entworfenen Fragestellung nach der φύσις als Seinsweise des
Physischen näher. Auch Heidegger deutet Aristoteles' im ersten Buch vorgenommene
Hinführung zum Neuanfang als Weg von der ontischen zur ontologischen Untersuchung
des physisch Seienden: „zu diesem Seienden und über dieses Seiende weg zu seinem
,Seinʻ“51.
Weil die Übersetzung des Textes für Heidegger bereits eine Auslegung darstellt, gibt er in
seiner Physis-Schrift eine vollständige eigene Übersetzung von Kapitel II, 1 der Physik an.
Nun ist Heidegger zwar für seine eigenwilligen, mithin als „Un-Philologie“ 52 bezeichneten
Übersetzungen berüchtigt, in welchen er regelmäßig nicht nur mit philologischen
Konventionen bricht, sondern Begriffe seinem persönlichen Belieben nach auszulegen
scheint. Doch nicht zuletzt, weil er sich gerade für die – von ihm stets unübersetzt
gelassene – φύσις interessiert, soll seine Übersetzung im Folgenden dort, wo sie für die
Zwecke dieser Arbeit nützlich erscheint, auch verwendet werden.
Insbesondere soll Heidegger bereits in diesem Abschnitt als wertvoller Dialogpartner für
die Auslegung des aristotelischen Textes behandelt werden. Unter Berücksichtigung von
Heideggers Konzeption der „Seinsgeschichte“ und des Seins ergibt sich dabei jedoch
folgende Grenze: Heideggers Suche nach den „ursprünglichen“ Bedeutungen von
Philosophemen geschieht stets in der Auffassung, dass schon mit dem Beginn der
Metaphysik die „Seinsvergessenheit“ und damit ihre Fehlentwicklung eingesetzt habe53,
die er mit seinem vermeintlichen Neubeginn – der Philosophie als „Sage des Seins“ –
überwinden möchte. Deswegen glaubt er, in den Texten der alten Griechen – Aristoteles
eingeschlossen – etwas finden zu können, was von diesen „eigentlich gemeint“, jedoch
„ungesagt“ geblieben sei, nur hie und da aufblitze: „Die ,Lehreʻ eines Denkers ist das in
seinem Sagen Ungesagte“54. Um Heideggers subjektiv gefärbte Auslegung nicht mit
Aristoteles' „Lehre“ gleichzusetzen, widmet sich der aktuelle Abschnitt weitgehend dem
50 Wieland (1962), S. 233
51 Heidegger (1939), S. 243
52 Werner Beierwaltes (1995): „Heideggers Rückgang zu den Griechen“. In: Sitzungsberichte der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 1995(1), 2-30, S. 15
53 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 21 ff.
54 Martin Heidegger (1940): „Platons Lehre von der Wahrheit“. In: Ders. Wegmarken. Klostermann, 4.
Aufl. Frankfurt a. M. 2013, 203-238, S. 203
13
von Aristoteles „Gesagten“, während das nach Heidegger „Ungesagte“ erst im Abschnitt
über diesen zum Thema werden soll.
3.2 Definition des Physischen
Für Aristoteles hat, was „von der φύσις her“55 ist, „in sich selbst einen Anfang (ἀρχή) von
Veränderung und Bestand“56 (Zekl) beziehungsweise „in ihm selbst die ausgängliche
Verfügung (ἀρχή) über die Bewegtheit und den Stillstand“ 57 (Heidegger). Das physisch
Seiende ist in diesem Sinne „selbstbewegt“, wobei der „Stillstand“, die Ruhe, hierin
mitgedacht sei.
Neben der Wortkonstruktion „ausgängliche Verfügung“, die Heidegger hier anführt, birgt
seine Übersetzung einen subtileren, jedoch noch bemerkenswerteren Aspekt: Heidegger
übersetzt nicht, dass das Physische besagte ἀρχή seiner Bewegung „in sich selbst“, sondern
dass es sie „in ihm selbst“ habe, und zwar „um anzudeuten, daß das so geartete Seiende die
ἀρχή nicht ausdrücklich wissend ,für sichʻ hat, weil es ja überhaupt nicht ,sichʻ selbst ,hatʻ
als ein Selbst“58.
Heideggers Variante scheint so eher dem medialen Aspekt physischen Seins Rechnung zu
tragen, wie wir ihn zuvor am Begriff des „Wachsens“ erarbeitet hatten. Für Heidegger
spricht das Reflexivpronomen „sich“ dem Subjekt offenbar bereits eine Art
„Reflexionsvermögen“ zu, wie es erst über den Umweg eines „Selbst-Bewusstseins“ (oder
auch nur „Bewusstsein“, das ja schon ein „Wissen“ enthält) ermöglicht würde. Für
Aristoteles zählen aber auch Steine zum physisch Seienden, denen wohl kaum ein „sich
selbst wissendes Stein-Selbst“ zugeschrieben werden kann.
Heideggers Übersetzung birgt allerdings den Nachteil, dass diese Redeweise nicht nur
unüblich, sondern schwerlich mit den grammatischen Strukturen der deutschen Sprache
vereinbar ist. So erklärt Wieland das Reflexivpronomen der Selbstbewegung gerade mit
alltäglichen Formulierungen wie „Der Stein bewegt sich“59, während man mit Heidegger
wohl etwas sagen müsste wie „Der Stein bewegt ihn“, was aber niemand tun würde. (Als
dritte Alternative ließe sich bei der Übersetzung noch ein Verzicht auf das „selbst“
vorschlagen: „Das Physische hat die ἀρχή seiner Bewegung in sich“ – ohne „selbst“.)
55
56
57
58
59
Physik II 1, 192b 8, zit. n. Heidegger (1939)
Ebd., 192 b 14 zit. n. Zekl (2012)
Ebd., zit. n. Heidegger (1939)
Heidegger (1939), S. 247
Vgl. Wieland (1962), S. 237
14
Bemerkenswerterweise
führen
ihre
augenscheinlichen
Versuche,
durch
eine
Phänomenologie der Bewegung mechanistische Konzeptionen von Kausalität zu
durchbrechen, bei Heidegger und Wieland zu konträren Resultaten. Letztlich lässt sich das
hermeneutische Gewicht, welches beide diesen Pronomina beimessen, aber rasch
entzaubern, indem man die Redeweisen ins Englische übersetzt: Was Heidegger betrifft,
wird aus „in sich selbst“ und „in ihm selbst“ dann gleichermaßen „in itself“ – Heideggers
Unterscheidung ist im Englischen also nicht möglich, außerdem enthält das
Reflexivpronomen „itself“ bereits das im Deutschen separate „selbst“. Was Wieland
betrifft, wird aus „Der Stein bewegt sich“ schlicht „The rock moves“ – „bewegen“ ist hier
also
auch
als
einstelliges
Prädikat
möglich,
und
die
Hinzufügung
eines
Reflexivpronomens, wie sie etwa im Imperativ („Move yourself!“) gebräuchlich ist, würde
wiederum auf die „wissende“, die kontrollierte und planmäßige Bewegung verweisen, um
die es hier ja gerade nicht gehen soll. Während solche Detailarbeit interessante
Perspektiven eröffnen kann, ist also Vorsicht geboten, wenn erstrebt wird, allein über sie
Sprechgewohnheiten zu Denknotwendigkeiten zu erklären.
Festzuhalten bleibt nichtsdestotrotz, dass die Selbstbewegtheit, die Aristoteles hier meint,
keine wissende oder gar mechanische, sondern eben eine mediale ist: Das von der φύσις
her Seiende hat demnach eine ἀρχή seiner Bewegung – oder seiner Ruhe – in sich selbst
auf die Weise, wie ein fallender Stein eine ἀρχή seines Fallens in sich selbst, wie ein von
einer Krankheit Genesender eine ἀρχή seiner Genesung in sich selbst hat.
Ein weiterer Unterschied zwischen den Übersetzungen von Heidegger und Zekl besteht
darin, dass ersterer von „der“ ἀρχή, also „der einen“ ἀρχή, letzterer aber nur von „einer“
ἀρχή, also „mindestens einer“ (von möglicherweise mehreren) spricht. Wenn dieser
Unterschied kein Zufall ist, so hat er vielleicht seine Ursache darin, dass für Heidegger, der
hier Aristoteles äußerst unkonventionell umdeutet, die „Anwesung“ die wesentliche
Seinsweise des Bewegten ist, worauf jedoch erst später eingegangen werden soll.
Andererseits könnte es sich hier aber auch um einen Zufall handeln, da Heideggers
Übersetzung an dieser Stelle keine Besonderheit darstellt, sondern unter das fällt, was
Wieland als übliche – und seines Erachtens verfehlte – Deutung von Aristoteles'
Naturdefinition bezeichnet60.
Immerhin fährt Aristoteles unmittelbar fort, verschiedene Arten der Bewegung zu
unterscheiden: Unterscheiden lassen sich „Bewegtheit und Ruhe das eine Mal hinsichtlich
60 Vgl. Wieland (1962), S. 234
15
des Ortes, das andere Mal hinsichtlich der Mehrung und Minderung, das andere Mal
hinsichtlich der Änderung (Wandlung)“61. Dafür, dass ein Seiendes von der φύσις her ist,
reicht es bereits hin, wenn es die ἀρχή seiner Bewegung in einer von diesen hat. Doch auch
innerhalb der einzelnen Bewegungsformen sind noch Differenzierungen möglich:
Beispielsweise macht ein Stein, der seinen Ort wechselt, dies „von selbst“, sofern und
insofern er aufgrund seiner Schwere irgendwo herabfällt oder einen Abhang hinabrollt; er
bewegt sich jedoch nicht von selbst, sofern er hinaufgehoben oder herabgeschmissen wird,
und zwar unabhängig davon, ob dies durch einen Maurer geschieht (also „gekonnt“ und
planmäßig), durch Naturgewalten wie einen Vulkanausbruch oder durch anderes. Mithin ist
der Drang zur Bewegung in einem Stein auch dann noch vorhanden, wenn er gebremst
wird oder ruht – ob er dabei im Meer versinkt, in einer Hand gehalten wird oder seit
Jahrtausenden in einer Felsspalte klemmt, macht hinsichtlich der im Stein selbst liegenden
ἀρχή seiner Bewegtheit keinen Unterschied. Fraglich – hier jedoch nicht weiter relevant –
bleibt dabei, ob die Schwere als ἀρχή seiner Bewegung auf die beschriebene Tendenz
verweist, zum Mittelpunkt der Erde (dem Zentrum des Kosmos) hin zu streben oder
vielmehr dort zu ruhen, hat er dieses einmal erreicht62.
Wenn hier, der Kürze wegen, das „Physische“ mithin als das „Selbstbewegte“ bezeichnet
wird, soll das also keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass die Strukturen der Bewegung
beliebig komplex werden können, nicht anders, als es in der neuzeitlichen Physik mit
ihrem Wechselspiel der Kräfte der Fall ist – oder gar noch komplexer, weil Aristoteles
nicht glaubt, alle Bewegungsformen auf Ortsbewegung reduzieren zu können. Wieland
nennt die Bewegtheit des Physischen auch ein „bewegtes Sich-bewegen“63, um zu
kennzeichnen, dass es seine Bewegung selten oder niemals ganz aus sich selbst heraus
ausführt.
Bewegung ist für Aristoteles jede Form von κίνησις („Veränderung“) oder μεταβολή
(„Umschlag“). Veränderung ist wiederum „[d]as endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen
[ἐντελέχεια] eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches
ist“64, konziser: das „Zur-Wirklichkeit-Kommen des Möglichen, insofern es möglich ist“ 65:
das Wirklich-werden des Möglichen. Heidegger übersetzt stattdessen: „Das Sich-im-EndeHaben des Geeigneten als eines Geeigneten (d. h. in seiner Eignung) ist offenkundig (das
61
62
63
64
65
Physik II, 1 192b 14 f., zit. n. Heidegger (1939)
Vgl. Sheldon M. Cohen (1994): „Aristotle on Elemental Motion“. In: Phronesis 39(2), 150-159
Wieland (1962), S. 234
Physik III 1, 201a 10 f., zit. n. Zekl (2012)
Ebd., 201b 4 f., zit. n. Zekl (2012)
16
Wesen der) Bewegtheit“66. Auf Heideggers Übersetzung werden wir später eingehen.
Für gewöhnlich gilt das „Aktuale“, das Wirkliche, als Teilmenge des „Potenziellen“, des
Möglichen; hier ist die Alternative jedoch exklusiv gemeint: Veränderung geschieht nur,
wenn das Mögliche, das zur Wirklichkeit kommt, nicht schon wirklich ist. Denn
andernfalls bliebe ja alles, wie es schon ist.
Dem vorherigen Beispiel mit dem Stein, der zweifelsohne auch, wenn er gerade ruht, noch
von der φύσις her ist, mag das auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Doch das
physisch Seiende ist nicht darüber definiert, dass es sich aktual bewegt, sondern nur
darüber, dass es das Vermögen hat, sich aus sich selbst heraus zu bewegen (oder zu ruhen).
Denn die ἀρχή dieser Bewegung liegt auch dann noch in dem Ding, wenn es gegenwärtig
ruht: Der in der Hand gehaltene Stein hört schließlich nicht auf, schwer zu sein, nur, weil
er gehalten wird. Das „Zur-Wirklichkeit-kommen des Möglichen“ kann selbst noch, als
Ereignis, ein bloß Mögliches sein. Wenn hier von „Selbstbewegung“ als „bewegtem Sichbewegen“ die Rede ist, bezieht sich dies deswegen nicht unbedingt auf die tatsächlich
ausgeführte Bewegung, sondern auf alle möglichen Bewegungen (von denen das
Tatsächliche hier – anders als eben – dann wiederum eine Teilmenge darstellt, insofern
alles Wirkliche auch möglich ist). „Ruhe“ ist mithin ein Ausdruck für ein der Möglichkeit,
nicht jedoch der Wirklichkeit nach Bewegtes. Darüber hinaus kann Ruhe auch als Beharren
gegen eine äußere Bewegungsursache auftreten: Der Busch lässt sich nicht nur nicht
hochheben, weil er schwer ist, sondern auch, weil er in der Erde wurzelt, und Lebewesen
können sich auch willentlich gegen äußere Kräfte stemmen.
Bei alledem stellt sich nun die Frage, was überhaupt noch als nicht von der φύσις her
Seiendes übrig bleiben könnte: Sind nicht so ziemlich alle Dinge, alle „Wesen“ (οὐσίαι)
zumindest schwer oder haben vergleichbare Bewegungsursprünge? Müsste die
aristotelische Naturdefinition nicht größtenteils in einen Naturalismus münden, außerhalb
dessen allenfalls noch Gott als „unbewegter Beweger“ steht? Wie soll so noch die
Unterscheidung von Natur und Technik möglich sein, die doch als wesentlich für das
aristotelische Naturverständnis proklamiert wurde? Wird Technisches so nicht auch zu
Physischem gemacht?
Für eine zufriedenstellende Lösung dieser Probleme hilft die Auseinandersetzung mit
Aristoteles' „Denken in Kategorien“: Inwiefern mit diesem die Unterscheidung von φύσις
und Technik möglich bleibt, sei im Folgenden erläutert. Ferner soll Heideggers Aristoteles66 Heidegger (1939), S. 285
17
Interpretation der φύσις als eine Weise unmittelbarer „Anwesung“ nachvollzogen werden,
um schließlich durch eine Integration verschiedener Ansätze eine mögliche Gesamtschau
auf die aristotelische Physiskonzeption zu erlangen.
3.3 Φύσις, Technik und das Problem der Form
Gemäß der aristotelischen Naturdefinition kann „nicht-physisch“ nur sein, was entweder
keine ἀρχή seiner Bewegung (oder Ruhe) in sich selbst hat oder sich gar nicht erst
bewegen kann. Als Beispiel für ein solches Nicht-physisches führt Aristoteles ein
„Bettgestell“ an67. Naiv könnte man zunächst behaupten, dass das Bettgestell sich nicht
von selbst bewege, weil es ja von Menschenhand (oder von menschengemachten
Maschinen) verfertigt wurde und insofern „künstlich“ sei. Aristoteles beruft sich für eine
entsprechende Bemerkung auf Antiphon: „[W]enn einer ein Bettgestell in der Erde
vergräbt und die Fäulnis es so weit bringt, daß ein Keim aufgeht, dann entsteht (aus
diesem) nicht ein Bettgestell, sondern Holz“68 (wobei tatsächlich nicht eigentlich „Holz“,
sondern ein Baum entstünde). Der vorherige Abschnitt hat jedoch gezeigt, wie vielseitig
und grundlegend „Selbstbewegung“ in diesem Zusammenhang gedacht werden muss:
Schrieben wir dem Bettgestell etwa die Eigenschaft der Schwere zu, so würde es schon
deshalb auch als physisch Seiendes gelten müssen. Dass es nichts Derartiges ist, setzt also
voraus, dass ein Bettgestell nicht das Attribut der Schwere hat. Ist das auch nur denkbar,
und wenn ja, wie?
Wenn über ein Bettgestell nachgedacht wird, insofern es eben ein Bettgestell ist, wenn also
nach dem Wesen eines Bettgestells gefragt wird, dann geht es um das, was ein Bettgestell
ausmacht. Bei der Bestimmung dessen kann das aristotelische Definitionsprinzip von
genus proximum et differentia specifica hilfreich sein: Ein Bettgestell ist nicht spezifisch
dadurch ausgezeichnet, dass es, in die Höhe gehoben, herabfällt und kaputt geht – denn
hierbei würde es sich um allgemeine Eigenschaften des Stoffes handeln, aus welchem es
besteht. Doch auch, wenn es etwa aus Holz besteht (also aus Holz geworden ist), ist es
deswegen, so Heidegger, „nicht Holz, sondern nur hölzern, aus Holz; und nur was ein
Anderes ist als Holz kann hölzern sein“69. Das Bettgestell ist nicht sein Stoff; wenn von
einem Bettgestell gesprochen wird, ist damit noch nicht (notwendig) gesetzt, ob es aus
Holz, Eis oder Plastik besteht. Als Bettgestell – als Bettgestell „angesprochen“ – dient es
67 Vgl. Physik II 1, 192b ff.
68 Ebd., 193a 12-15, zit. n. Heidegger (1939)
69 Heidegger (1939), S. 253
18
vielmehr einer bestimmten Funktion und ist durch eine bestimmte Form ausgezeichnet. Es
kann im Alltag durchaus vorkommen, dass über ein Bettgestell gesprochen wird, insofern
es irgendwo herunterfällt. In dieser Hinsicht ist es vielleicht von der φύσις her. Das als
Bettgestell angesprochene Bettgestell ist nichtsdestotrotz nicht selbstbewegt. Als nichtphysisch begreifen wir das Bettgestell also, wenn wir es von seiner Form und
Funktionalität her denken, auf diese hin „ansprechen“.
Die „Ansprechung“, die hier entscheidend ist, ist nun gerade die aristotelische κατηγορία:
Heidegger weist darauf hin, dass κατηγορία von κατὰ-ἀγορεύειν abgeleitet ist, was so viel
bedeute wie „auf der ἀγορά in der öffentlichen Gerichtsverhandlung einem auf den Kopf
zu sagen, daß er ,derjenigeʻ ist, der...“ 70: die „Kategorie“ einer Sache wäre demnach nur im
Rahmen einer „Anklage“ gegeben, welche dem „Urteil“ (auch dem „Urteil“ im Kantschen
Sinne) vorausgeht. Aus dieser Noesis heraus ließe sich vielleicht die „Dopplung“
verstehen, die Aristoteles vornimmt, wenn er vom „Seienden als Seienden“ oder vom
„Bettgestell, insofern es Bettgestell ist“ spricht. Die erste Nennung führte hier
gewissermaßen nur die Nennung des „Angeklagten“ an und erst die zweite das Was, also
das, dessen das Angeklagte „angeklagt“ wird und worum es in der „Verhandlung“
eigentlich geht.
Allein, diese bloß etymologische Rechtfertigung dürfte kaum schon als zufriedenstellende
Begründung gelten, da sie ohne verbindlichere Belege einem genetischen Fehlschluss
unterliegen könnte: einer Bewertung von Sachverhalten aufgrund ihrer echten oder
vermeintlichen Ursprünge. Was Aristoteles selbst betrifft, führt dieser die Dopplung in den
Kategorien ein, wo er erklärt, „daß bei solchem, was von einem Subjekt ausgesagt wird,
der Name und der Begriff gleichmäßig von dem Subjekt ausgesagt werden muß“ 71.
Wieland erläutert hierzu:
[Es] gehört […] zur Eigenart der Aussage, wie sie Aristoteles versteht, daß sie
nicht eine bloße „Verknüpfung“ eines Subjektbegriffs mit einem
Prädikatbegriff ist, sondern eine kompliziertere Struktur aufweist: in ihr wird
nämlich ein Prädikat von einem Subjekt, dessen Prädikat es ist, ausgesagt […]
Man kann ein Prädikat von einem Subjekt nur aussagen, weil es eigentlich
schon in irgendeiner Weise in ihm enthalten ist. Jede gewöhnliche Aussage
bringt daher nur aus einem ungeschiedenen Ganzen etwas Bestimmtes zur
Abhebung; sie verknüpft nicht einfach zwei vorgegebene wohlbestimmte
Elemente.72
70 Ebd., S. 252
71 Kategorien 5, 2a 19-21, zit. n. Rolfes (2012)
72 Wieland (1962), S. 120 f.
19
Die fundamentalen Subjekte sind für Aristoteles aber die οὐσίαι, die Sachen selbst, da diese
im eigentlichen Sinn als „seiend“ aufgefasst werden. Andererseits kann οὐσία jedoch auch,
neben dem vorliegenden „Wesen“ selbst, „sein“ Wesen bezeichnen73. Wieland sieht in
dieser Doppeldeutigkeit gerade keinen Widerspruch, sondern eine logische Konsequenz
der genannten Aussagestruktur:
Wenn also οὐσία sowohl das Ding selbst meint als auch das, was es zu dem
macht, was es ist (nämlich sein Wesen), so handelt es sich dabei nicht um ein
metaphysisches Problem, sondern allein um die sprachliche Eigentümlichkeit,
daß wir von dem Ding selbst nie anders sprechen können als dadurch, daß wir
seinen in der Definition auslegbaren Wesensbegriff angeben.74
Die hermeneutische Verdopplung durch die κατηγορία entspricht demnach der
Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Wesen“, wenn dieses einmal die „Essenz“ einer
Sache meint und ein anderes mal die „Entität“, also die Sache selbst. Auf griffige Weise
spiegelt sich das wohl auch im Titel von Thomas von Aquins De ente et essentia wider75,
wo Thomas sich größtenteils auf Aristoteles bezieht. „Wesen“ kann deswegen wohl auch
als eine geeignetere Übersetzung von οὐσία angesehen werden als „Substanz“, welche
dieser Doppelbedeutung ermangelt. (Heidegger übersetzt οὐσία teils möglichst wörtlich als
„Seiendheit“76.)
Heidegger meint zudem, dass diese intuitive, aber dennoch logisch verbindliche
Berücksichtigung
der
Kategorie
als
„Ansprechung“
bei
Aristoteles
von
der
„Kategorienlehre“, das heißt vom ausdrücklichen Denken der κατηγορίαι des Seienden
(also: den Kategorien des „Seienden als Seienden“), wie es zum Beispiel in der
Kategorienschrift vorliegt, sorgsam unterschieden werden muss 77. Immerhin lässt sich nun
sehen, dass Aristoteles' „Denken in Kategorien“, welches sich häufig als Denken über die
Dinge „als etwas“ oder „insofern sie etwas sind“ äußert, von einem etwaigen
„Schubladendenken“ gerade insofern unterschieden werden kann, als dieses die Dinge aus
ihrem Kontext reißt, während jenes den jeweiligen Kontext gerade berücksichtigt. (Dass
Aristoteles die Kategorien dennoch auf eine bestimmte, wenn auch variierende Zahl
festsetzen will, bemängelt Heidegger konsequenterweise78.)
Dem Bettgestell muss die Eigenschaft der Schwere und Stofflichkeit deswegen nicht
73 Vgl. Kategorien 5, 2a 19-34, Metaphysik V 8, 1017b 10-26
74 Wieland (1962), S. 121
75 Vgl. Thomas von Aquin, Franz Leo Beeretz (Hrsg.) (1979). De ente et essentia: Das Seiende und das
Wesen. Reclam, Stuttgart
76 Vgl. Heidegger (1939), S. 259 f.
77 Vgl. ebd. (1939), S. 252 f., Heidegger (1924), S. 302 f.
78 Vgl. Heidegger (1924), S. 303
20
plump abgesprochen werden. Vielmehr besteht die Lösung gerade darin, die jeweilige
„Ansprechung“ angemessen zu berücksichtigen: Das Bettgestell, insofern es als Bettgestell
dient, ist zweifelsohne ein technisch Verfertigtes und hat keine ἀρχή seiner Bewegung in
sich selbst, das heißt: es hat nicht von selbst diese Funktion entwickelt, die ja sein Wesen,
sein „Bettgestell-sein“ ausmacht.
Dafür, dass etwas „physisch“ ist, reicht es demnach zwar bereits hin, dass es eine ἀρχή
seiner Bewegung in sich selbst hat. Diese ἀρχή muss ihm nichtsdestotrotz als Ganzes, das
heißt seinem Wesen nach zukommen. Was das Bettgestell angeht, trifft diese Bestimmung
nur auf einen Teil von ihm zu, nämlich auf seinen Stoff. Denn wie gesagt ist das Bettgestell
nicht einfach sein Stoff. Wären alle Dinge identisch mit ihrem Stoff, wären auch alle
Dinge, die aus demselben Stoff sind, untereinander identisch, ungeachtet ihrer Form: Ein
hölzernes Bettgestell wäre dann dasselbe wie eine hölzerne Suppenkelle – oder hätte mit
dieser zumindest mehr gemeinsam als ein metallisches Bettgestell. Mehr noch: Wenn die
Form keine buchstäblich „wesentliche“ Rolle spielen würde, dann wäre „Bettgestell“ allein
ein leerer Begriff. Inwiefern man die aristotelische Unterscheidung von Natur und Technik
anerkennt, hängt deswegen auch von dem ontologischen Status ab, welchen man der Form
zuzuschreiben bereit ist.
Form eignet jedoch auch Physischem, welches wir bisher ausschließlich von seiner
Stofflichkeit her gedacht haben. Aristoteles will über die Berücksichtigung von dessen
Form beziehungsweise Gestalt gerade über das Denken der Naturphilosophen hinausgehen,
haben diese das Natürliche doch vornehmlich von den „Elementen“ her verstanden79.
Die Form eines Seienden wird dann physischer Art sein, wenn dieses sie „von selbst“
verwirklicht – im Gegensatz zum technisch Verfertigten, bei welchem das nicht der Fall ist.
Gemäß der φύσις vollzogene Bewegungen sind auch das „Entstehen“, der Schritt vom
Nichtsein zum Sein, sofern das Entstehende eine ἀρχή seiner Entstehung in sich selbst hat,
und das „Wachsen“ als gestalthaftes Werden eines bereits Seienden. Für die intuitiv
vielleicht weniger einsichtige „Entstehung“ argumentiert Aristoteles hier, indem er
Antiphons Argument, aus einem (hölzernen) Bettgestell erwachse kein Bettgestell, sondern
Holz, auf das gesamte Wesen überträgt:
Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege. Deswegen
sagen sie ja auch, nicht das äußere Aussehen sei die Naturanlage, sondern (in
diesem Fall) das Holz, weil daraus, wenn es sproßte, nicht eine Liege würde,
sondern Holz. Wenn das also Naturbeschaffenheit sein soll, dann ist es auch die
79 Vgl. Physik II 1, 193a 21-28
21
Gestalt; denn aus einem Menschen entsteht ein Mensch.80
Was als gestalthaftes Wesen „von der φύσις her“ ist, entwickelt sich, sofern es entsteht oder
wächst, zur Ausprägung seiner Gestalt hin. Die Form – sicher nicht alles an ihr, da der
„Wuchs“ auch von der Interaktion mit der übrigen Welt abhängt, zumindest aber ein
Aspekt an ihr – ist im Physischen bereits als τέλος angelegt: „Naturanlage, aufgefaßt als
Werdevorgang, ist ein Weg hin zum (vollendeten) Wesen“81.
Was Aristoteles hier allerdings nicht thematisiert, sind Alter, Tod und Verfall. Wie
Heidegger in Sein und Zeit (SuZ) bei seiner Auslegung des Seins als „Sein zum Tode“
bemerkt, ist der Tod keineswegs als Vollendung des Daseins zu verstehen, weil Seiendes,
das – und zwar im Rahmen eines sogenannten natürlichen Todes – ablebt, die Blüte seiner
Existenz schon längst hinter sich gelassen hat, sofern es überhaupt je zu solcher Blüte
gelangt ist82. Wird das Wesen mit dem Wachstum verwirklicht, kommt es spätestens mit
dem „Ver-wesen“ zur Auflösung seiner Form zurück in die Stofflichkeit (nach christlichem
Verständnis mithin zur Ablösung der Form, der Seele, vom Körper). Heidegger geht dabei
– nicht nur in SuZ, sondern auch in der Physis-Schrift – so weit, Leben schlechthin als
Sterben zu begreifen: „Jedes Lebendige fängt mit seinem Leben auch schon an zu sterben
und umgekehrt: das Sterben ist noch ein Leben, da nur Lebendiges zu sterben vermag“83.
Nichtsdestotrotz widerlegt das Aristoteles' Konzeption noch nicht, sondern schränkt sie
zunächst allenfalls ein auf Wachsendes, insofern es (noch) wächst.
Aristoteles erklärt jedoch auch, dass Form „in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der
Stoff“84 ist mit der Begründung, dass eben erst mit dieser das Wesen verwirklicht sei.
Immerhin trat φύσις auch bei Homer zunächst in der Bedeutung von „Gestalt“ auf. Das
wirft aber die Frage auf, ob demnach Lebendiges, in polarem Gegensatz zur neuzeitlichen
Physik, in höherem Maße als „physisch“ verstanden werden muss als Unbelebtes, oder ob
alternativ die Verwirklichung der Form und auch das Wachsen weiter oder anders gedacht
werden müssen, als es neuzeitliche Denkgewohnheiten nahelegen mögen. In letzterem Fall
ließe sich Aristoteles' Naturphilosophie vielleicht noch dem „Hylozoismus“ zuordnen, in
welchem Lebendes und Unbelebtes noch nicht so arg voneinander getrennt sind, wie es
später zur Norm wurde.
Immerhin wies Patzer das „Wurzeln“ der Pflanzen, an denen sich wiederum das Phänomen
80
81
82
83
84
Physik II 1, 193b 8-12, zit. n. Zekl (2012)
Ebd., 193b 12 f., zit. n. Zekl (2012)
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 244
Heidegger (1939), S. 297 f.
Physik II 1, 193b 6 f., zit. n. Zekl (2012)
22
des Wachsens am deutlichsten zeige, als „erste Spur des ,selbstʻ“ aus. Passend hierzu
spricht Heidegger in der Physis-Schrift anstelle von „physisch Seiendem“ von den
„Gewächsen“ (von denen die „Pflanzen“ – φυτά – nur eine Teilmenge darstellen), welchen
er das technisch Verfertigte als die „Gemächte“, also die „gemachten Dinge“,
gegenüberstellt85. Nun fällt es nicht schwer, einen Felsbrocken insofern als „natürlich“ zu
begreifen, als er nicht „gemacht“ ist, und ihn im Rahmen der angeführten binären
Alternative dann den „Gewächsen“ zuzurechnen. Inwiefern kann er aber nicht nur negativ,
sondern positiv als „Gewächs“ gelten?
Für die Beantwortung dieser Frage gilt es mit Heidegger zunächst, die Begriffe „Form“
und „Stoff“ zu überdenken: „Warum also ist die μορφή [Form] nicht nur ebenso wie die
ὕλη [Stoff], sondern ,mehrʻ φύσις?“86 Anstelle der üblichen Ausdrucksweise spricht
Heidegger von der μορφή als „Gestellung (in das Aussehen)“ und von der ὕλη als das
„(eignungshaft) Verfügliche“87. Die letztere Wortkonstruktion, welche er darüber motiviert,
dass Aristoteles „die ὕλη als τὸ δυνάμει“88 kennzeichne, also als das Vermögende
(„Geeignete“), ist dabei nicht völlig abwegig: Zunächst einmal entspricht sie Heideggers
eigener Unterscheidung zwischen „Vorhandenem“ und „Zuhandenem“ 89, die sich mithin
auch als Unterscheidung zwischen „Materie“ und „Material“ niederschlägt. So attestiert
Heidegger etwa dem Materialismus Zweideutigkeit, wenn er im Humanismusbrief erklärt:
„Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff,
vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als das Material
der Arbeit erscheint“90. Während die Materie, das Vorhandene, der „bloße Stoff“ ist, ist das
Material als Zuhandenes der Stoff, insofern er „Stoff für etwas“ ist, also eine teleologische
Bestimmtheit birgt. Eine entsprechende Doppelbedeutung könnte schon bei Aristoteles
selbst vorliegen: Wieland weist darauf hin, dass ὕλη bei der ersten Verwendung in Buch I
der Physik eindeutig im Sinne von „Material“ für etwas Bestimmtes angeführt wird und
erst später – jedoch noch im selben Buch – als „allgemeine[r] Begriff des stofflichen
Prinzips“91, zu welchem es dann verallgemeinert werde.
Heideggers Übersetzung von ὕλη als das „(eignungshaft) Verfügliche“ gesellt sich dabei zu
seiner Übersetzung von ἀρχή als „(ausgängliche) Verfügung“. Damit erscheint es aber
85
86
87
88
89
90
91
Vgl. Heidegger (1939), S. 250
Vgl. Heidegger (1939), S. 275 f.
Vgl. ebd., S. 280 f.
Ebd., S. 280
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 69 ff.
Heidegger (1946), S. 340
Wieland (1962), S. 125
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plausibel, ὕλη selbst schon als teleologischen Begriff aufzufassen, was uns vielleicht noch
nicht einer Beantwortung, jedoch zumindest einem angemessenen Verständnis der Frage,
inwiefern μορφή in höherem Maße φύσις sei als ὕλη, einen Schritt näher bringt.
Der nächste Schritt besteht sodann in der stringenten Auseinanderhaltung von φύσις und
Physischem, von Natur und Natürlichem: Aristoteles spricht an der betreffenden Stelle –
„Form ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff“ – nicht mehr vom physisch
Seienden, sondern von der φύσις selbst. Diesen Übergang vom Natürlichen als solchem,
wie es zuvor diskutiert wurde, zur Natur selbst, leitet er bei seiner Hinwendung zur
natürlichen Form durchaus explizit ein: Als „die eine Weise, in der man von
,Naturbeschaffenheitʻ [φύσις] spricht“92, bezeichnet er zunächst den Stoff des physisch
Seienden. Er fährt – nach einigen Erläuterungen – fort:
Auf andere Weise wäre also die Naturbeschaffenheit der Dinge, die Anfang von
Veränderlichkeit in sich selbst haben, dies: Die Gestaltung, die Form, welche
sich (von dem Ding) nicht abtrennen läßt, außer nur in Gedanken. – Das „aus
diesen“ (scil. Stoff und Form) ist nicht Naturbeschaffenheit, wohl aber „von
Natur aus“, z. B. so etwas wie „Mensch“.93
Aristoteles weist hier zunächst darauf hin, dass die Form von Natürlichem eine Abstraktion
sei, insofern sie (mit Zekl) „nur in Gedanken“ abtrennbar ist – wenngleich Heidegger hier
vorsichtiger ist und sie stattdessen als nur „in der Ansprechung aufweisbar“ 94
charakterisiert. So oder so ist die Form aber kein eigentlich Seiendes, kein Wesen, sondern
stets Form von Seiendem. Anschließend vollzieht der Stagirit aber den bemerkenswerten
Schritt, die „Eigenschaft“ des Physischen, „aus“ Stoff und Form zu sein, als Aspekt seiner
„Eigenschaft“, „von Natur aus“ zu sein zu begreifen. Tatsächlich handelt es sich hierbei
aber weniger um Eigenschaften als um „Seinsweisen“, also um das „Aus-Stoff-und-Formsein“ und das „Von-Natur-aus-sein“ als solche: Denn Seiendes hat nicht etwa die
Eigenschaft, von Natur aus zu sein oder nicht, sondern es ist von Natur aus oder nicht. Es
hat vielleicht von Natur aus bestimmte Eigenschaften oder nicht, aber das Von-Natur-aussein ist nicht selbst noch eine Eigenschaft.
Aristoteles' Betrachtung geht hier also auch von der des Physischen (als solchem) zur
Betrachtung der φύσις selbst über, analog dem Übergang vom Seienden (als solchem) zum
Sein dieses Seienden, wie Heidegger ihn prominent machte. Wenn danach gefragt wird,
inwiefern die Form „mehr φύσις“ sei als der Stoff, dann geht es deswegen nicht darum,
92 Physik II 1, 193a 28, zit. n. Zekl (2012)
93 Ebd., 193b 3-6, zit. n. Zekl (2012)
94 Ebd., 193b 5, zit. n. Heidegger (1939)
24
inwiefern die Form „physischer“ ist, womit die Form selbst als ein physisch Seiendes
ausgezeichnet wäre (das sie jedoch nicht ist, weil sie nur als Form eines physisch Seienden
sich zeigt). Besonders deutlich wird dies an dem Satz: „Die (erreichte) Form ist also das
natürliche Wesen [φύσις]“95. Gemeint ist hier nicht das Wesen des Physischen oder die
Form als ein Wesen neben anderen (etwa dem Stoff), sondern als das natürliche Wesen, als
die Natur, die φύσις selbst.
Was bedeutet das für den als „Gewächs“ gedeuteten Stein? Es bedeutet, dass die Form und
der Stoff, um die es hier geht, nicht notwendig die spezifische Form und der Stoff des
Steins sein müssen, um diese schließlich als selbstbewegt oder nicht auszuweisen, sondern
dass es zunächst allein die φύσις selbst ist, welche Aristoteles als Form, als μορφή versteht.
Wie ist das aber zu verstehen? Wie lässt sich hier konsistent die φύσις als μορφή denken?
Hierbei wäre die Frage zu klären, inwiefern die φύσις, auf welche wir verweisen, wenn wir
einen Stein als physisch Seiendes ansprechen, ein übergeordnetes Prinzip darstellt – wie
wir es eben meinen, wenn wir von „der“ Natur reden oder etwas als „von Natur aus
seiend“ ansprechen – und inwiefern es auch um die partikuläre φύσις des Steins geht, um
die „Natur“ des Steins im Sinne seines Wesens also. Ferner ließe sich fragen, ob sich diese
beiden Alternativen nicht gerade gegenseitig bedingen und ergänzen, wie es unsere
doppeldeutige Redeweise von „Natur“ mithin nahezulegen scheint.
Die Möglichkeit der Physik als Wissenschaft setzt die „Ansprechbarkeit“ des Physischen
oder der φύσις als solche voraus. Doch bekanntlich hat das aristotelische Denken immer
schon die einzelnen οὐσίαι „im Blick“, und in diesem Sinne werden allgemeine und
abstrakte Bestimmungen immer nur an als partikulär und konkret Gedachtem
vorgenommen. Wie mit Wieland gezeigt dürfte es sich bei dieser Dopplung im Rahmen
aristotelischen Denkens gerade nicht um eine Unzulänglichkeit, sondern um eine
transzendentale Notwendigkeit handeln: um einen Denkhorizont, hinter den sich nicht
mehr weiter zurückgehen lässt, weil er dem Wesen der „Sprache“ – dem λόγος – selbst
entspricht. Darüber hinaus unterscheidet Aristoteles, wie eben erörtert, an der fraglichen
Stelle gerade zwei Weisen, von der φύσις zu reden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint
es zumindest äußerst naheliegend, dass die Doppelbedeutung, welche der φύσις zukommt,
auch tatsächlich mit der Doppeldeutigkeit unseres heutigen Naturbegriffs korrespondiert.
Für den als „Gewächs“ gedachten Stein, der seine Form nicht aus sich selbst heraus erlangt
hat und damit keinen „Wuchs“ im engeren Sinne aufweist, eröffnet das folgende
95 Ebd., 193b 18, zit. n. Zekl (2012)
25
Denkmöglichkeit: Zum Wesen – und in diesem Sinne zur „Natur“ – eines als konkret
gedachten Steins gehöre zweifelsohne auch seine mehr oder minder einzigartige Form, mit
der er „anwest“, insofern diese seine Form seinen gesamten Wiedererkennungswert
ausmacht und er ohne sie auch sein Wesen verlöre – „ver-wesen“ würde –, also nicht mehr
dieser (und als dieser) eine, bestimmte Stein wäre. Die als Form gedachte φύσις wäre hier
die partikuläre φύσις eines bereits angesprochenen Seienden, in diesem Fall des Steins.
Zugleich habe der Stein seine Form aber auch „von Natur aus“ erlangt, womit hier aber
nicht seine besagte partikuläre Natur gemeint wäre, sondern diejenige Art der Bewegtheit,
die nicht auf absichtsvolle Planung und Herstellung von außerhalb zurückführbar ist und
die in diesem Sinne das Gewordene und Wirkliche „von selbst“ hat werden und sich
verwirklichen lassen.
Allein, mit dieser Herangehensweise liefen wir Gefahr, eher unser heutiges
Naturverständnis auf Aristoteles zu projizieren als diesen von ihm selbst her zu verstehen.
Eine andere – durchaus auch ergänzende – Möglichkeit wäre die schon genannte, doch
noch die Lebewesen als „physischer“ als die unbelebten Wesen zu erachten, weil sie im
eigentlichen Sinn wachsen, und so die Idee, dass bei Aristoteles noch Überbleibsel eines
Hylozoismus zu finden seien, abzuschütteln.
Eine weitere Möglichkeit bietet uns jedoch Heidegger, der hier noch deutlich weiter geht.
Wie bereits gesagt übersetzt er μορφή nicht als „Form“, sondern als „Gestellung (in das
Aussehen)“, ὕλη hingegen als das „(eignungshaft) Verfügliche“. „Gestellung“ unterscheidet
sich von „Gestalt“ dahingehend, dass sie nicht nur das Resultat (die fertige Gestalt),
sondern auch den Vorgang meinen kann (die „Gestaltung“ oder „Gestalt-werdung“ dieser
Gestalt), sodass μορφή nicht nur die verwirklichte Form, sondern auch die Verwirklichung
dieser Form bedeuten würde. Die Antwort auf die Frage, inwiefern die μορφή „mehr
φύσις“ sei als die ὕλη, sucht Heidegger dann in dem von Arisoteles selbst eingeführten
Begriff der ἐντελέχεια, welcher in der Physik vor allem in der Bewegungsdefinition
vorkommt.
Weil das Physische schließlich über seine Bewegtheit definiert ist, wird sich auch unsere
Frage nach der φύσις-Beschaffenheit der Form über diese Definition beantworten lassen
müssen. Im vorherigen Abschnitt hatten wir diese bereits anhand von Zekls
konventioneller Übersetzung besprochen und auf Heideggers nur nebenbei hingewiesen –
deren Auslegung soll hier nun nachgeholt werden. Während Zekl die Bewegungsdefinition
als „Zur-Wirklichkeit-kommen des Möglichen“ übersetzte, sprach Heidegger vom „Sich26
im-Ende-haben [ἐντελέχεια] des Geeigneten [δυνατοῦ]“. Es sei daran erinnert, dass es in
diesem Zusammenhang nicht nur um die Selbstbewegung als spezifische Bewegungsweise
des Physischen geht, sondern um Bewegung im Allgemeinen. (Der frühe Heidegger hatte
noch etwas anders übersetzt: „Die Bewegung ist die ἐντελέχεια, Gegenwart des
Daseienden, als des Daseinkönnenden, und zwar die Gegenwart, sofern es sein kann“96.)
Heideggers Übersetzung verlässt – wozu sie auch konzipiert ist – den vertrauten und
konventionellen Rahmen von „Aktualität“ und „Potentialität“, das heißt von den
modallogisch auslegbaren Kategorien der „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ bei
Aristoteles. Sie könnte jedoch durchaus näher an der „eigentlichen“ Bedeutung von
ἐντελέχεια liegen, insofern diese offenkundig vom τέλος, also vom Ziel und Ende (statt von
der „Wirklichkeit“) her gedacht wird. Während, da es ja um Bewegung und Veränderung
geht, zweifelsohne auch eine Verwirklichung des τέλος gemeint ist, ist damit noch nicht
gesagt, dass es sich bei dieser um einen diskreten Schritt von der Möglichkeit zur
Wirklichkeit handeln müsse. Außerdem muss es sich nicht um einen Übergang von
„vorher“ zu „nachher“ handeln. Denn Bewegung geschieht für Aristoteles nicht etwa „in
der Zeit“ (wie sie auch nicht „im Raum“ ist, was beides später noch thematisiert werden
soll), sondern Zeit ist mithin abgeleitet von Bewegung, ist Bewegung, insofern sie zählbar
ist.
Dafür, „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ hier nicht nur zeitlich zu denken, spricht zudem,
dass auch mit dieser Auslegung Veränderung in letzter Instanz immer noch vom „Werden“
her verstanden würde, wodurch die Berufung auf Möglichkeit und Wirklichkeit redundant
wirkt: Sagt die Aussage, dass Veränderung das Wirklich-werden des Möglichen sei,
überhaupt mehr als die, dass Veränderung Werden schlechthin sei? Wäre der Übergang
vom Möglichen zum Wirklichen nicht schon im Begriff des Werdens enthalten? Würde es
hier noch einen Unterschied machen, anstelle vom „Wirklich-werden“ vom „ZurWirklichkeit-kommen“ des nur Möglichen zu sprechen, quasi vom „Zu-kommen“ des
Zukünftigen?
Veränderung ist laut Heidegger die ἐντελέχεια, die dem „Geeigneten“ zukommt. Im
Gegensatz zur üblichen Übersetzung muss dafür nicht vorausgesetzt werden, dass das
Geeignete (das Mögliche) früher sei als das Wirkliche. Deswegen sieht Heidegger in seiner
Variante auch eine Lösung des in der üblichen Übersetzung rätselhaften Ausspruches aus
der Metaphysik, Buch IX, 8: „[…] daß die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die
96 Heidegger (1924), S. 313
27
Möglichkeit)“97, der ja der modallogischen Auffassung, dass die Extension des Wirklichen
in der des Möglichen enthalten sei, widerspricht. An der betreffenden Stelle spricht
Aristoteles zwar nicht von ἐντελέχεια, sondern von ἐνέργεια, die Heidegger in diesem
Zusammenhang jedoch als Synonyme erachtet. Er erläutert:
Δύναμις ist eine Weise der Anwesung; die ἐνέργεια (ἐντελέχεια) aber, sagt
Aristoteles, sei πρότερον, „früher“, als die δύναμις; „früher“ nämlich
hinsichtlich der οὐσία […] Die ἐνέργεια erfüllt das Wesen der reinen Anwesung
ursprünglicher, sofern sie besagt: das Sich-im-Werk-und-Ende-Haben, was
jegliches „Noch nicht“ der Eignung zu... hinter sich gelassen, ja besser, gerade
mit vor in die Erfüllung des voll-„endeten“ Aussehens gebracht hat. Den
angeführten Grundsatz des A. über das Rangverhältnis von ἐντελέχεια und
δύναμις können wir auch kurz so fassen: die ἐντελέχεια ist „mehr“ οὐσία als die
δύναμις; jene erfüllt das Wesen der in sich ständigen Anwesung wesentlicher
als diese.98
Heidegger vollzieht nun den Denkschritt, das in Frage stehende Verhältnis von μορφή und
ὕλη mit dem von ἐντελέχεια und dem Geeigneten zu identifizieren. Während das auf den
ersten Blick willkürlich erscheinen mag, muss hierbei erinnert werden, dass er schon zuvor
auf Aristoteles' Charakterisierung der ὕλη durch das δυνατοῦ hingewiesen hatte. Zur μορφή
als „Gestellung“ passt die ἐντελέχεια wiederum insofern, als das „Sich-im-Ende-haben“
auch eine „Gestalt-Werdung“ zu implizieren scheint. Dass die ἐντελέχεια „mehr“ οὐσία sei
als die δύναμις stimmt außerdem damit überein, dass die μορφή mehr φύσις sei als die ὕλη.
Oὐσία hatten wir bisher vor allem in zwei Bedeutungen als „Wesen“ übersetzt – als „Sache
selbst“ und als „das, was die Sache ausmacht“ –, es ließe sich nun jedoch noch eine dritte
Bedeutung von „Wesen“ als substantiviertes Verb vermuten, die zumindest der
„Anwesung“, von der Heidegger hier spricht, am nächsten liegen dürfte (zuvor nannte er
allerdings noch „,Seiendheitʻ […] die allein gemäße Übersetzung von οὐσία“99).
Darüber hinaus – was Heidegger in der Physis-Schrift gar nicht thematisiert – weist
Aristoteles schon in Buch I ὕλη und μορφή als zwei von drei ἀρχαί des Werdenden aus:
Das zugrundeliegende Naturding wird der Erkenntnis zugänglich mittels einer
Entsprechung: Wie sich zum Standbild das Erz, zur Liege das Holz oder zu
anderen Dingen, die Gestaltung (erfahren) haben, das Ungestaltete verhält,
bevor es die Gestaltung an sich genommen hat, genauso verhält sich dies (der
Grund-Stoff) zum bestimmten Dasein, zum Dieses-da, zum Seienden [οὐσία].
Ein Anfang [der im Werden befindlichen Naturdinge] ist also dies [der Stoff] –
allerdings ist es nicht in dem Sinne eins und seiend wie das Dieses-da –,
(ebenfalls) einer die (Form), auf die der Begriff zielt, und schließlich das
97 Metaphysik IX 8, 1049b 5, zit. n. Bonitz (2012)
98 Heidegger (1939), S. 287
99 Ebd., S. 260
28
diesem Entgegengesetzte, das Fehlen-der-Bestimmtheit [στέρησις].100
Ὕλη und μορφή sind also nicht einfach zwei Abstrakta von Seiendem oder gar Teile, aus
denen dieses sich zusammensetzen lasse, sondern bilden aus sich heraus schon eine
„Dynamik“, welche Heidegger dann mit Bewegung schlechthin verbindet. Auf die dritte
im obigen Zitat genannte ἀρχή – στέρησις – werden wir gleich noch zu sprechen kommen.
Die Lösung, die Heidegger für die Problematik anbietet, besteht darin, μορφή, die
„Gestellung“, nicht nur als sich an Seiendem vollziehender Vorgang – oder als Resultat
desselben – zu denken, sondern direkt als gestalthafte „Anwesung“. Näher an der üblichen
Übersetzung wäre die μορφή dann nicht nur die Form oder Formung, sondern auch – so
ließe sich zunächst formulieren – das „Sich-zeigen“ der Form, ihr „Erscheinen“ im Sinne
des Husserlschen Phänomens. Das „Wachsen“ (die φύσις), von welchem her das
„Gewächs“ (das Physische) seine Bedeutung erlangt – oder vielmehr ist – wäre hier kein
empirischer,
jedoch
phänomenologischer
Vorgang:
sein
Sich-zeigen
in
seiner
eigentümlichen Gestalt, welches zwar nicht notwendig „in der Zeit“ geschieht, aber
nichtsdestotrotz „zeitlich“ und insofern eine Bewegung sein kann (wie Heidegger zum
Schluss von SuZ das Sein selbst in Verbindung mit der Zeit bringt101).
Heidegger geht das „Sich-zeigen“ – sein Husserlscher Charakter wurde eben betont – aber
gerade noch nicht weit genug. „Zeigen“ stellt mithin ein Verweisen dar und hält so Zeichen
und Bezeichnetes auseinander. Auch ein „sich als es selbst Zeigendes“ entspräche
demgemäß noch eher einem „sich selbst machenden Gemächte“, welches auf einen
Zusammenhang oder eine Funktion verweist, anstatt als „Gewächs“ auch wirklich dem
spezifisch medialen Charakter des Wachsens zu entsprechen. Hatte Heidegger in SuZ noch
das „Phänomen“ als „das, was sich zeigt“ charakterisiert 102, ist „physisch Seiendes“
zumindest kein „Naturphänomen“ in diesem Sinne, sondern muss noch unmittelbarer
gedacht werden. Deswegen spricht Heidegger gerade von „Gestellung“:
Das Sichzeigen ist bereits eine Art von Anwesung und doch nicht die einzige.
Das Aussehen kann aber auch, ohne sich […] in und für eine τέχνη zu zeigen,
unmittelbar sich stellen als das, was das Stellen in es selbst übernimmt; das
Aussehen stellt sich selbst; hier ist Gestellung eines Aussehens; und so sich
stellend, stellt es sich in es selbst, d. h. stellt selbst ein So-Aussehendes her –
μορφή als φύσις. Und wir sehen leicht, daß ein ζῷον (Tier) nicht sich selbst und
seinesgleichen „macht“, weil sein Aussehen nicht und nie bloß Maß und
Vorbild ist, demgemäß aus einem Verfüglichen etwas hergestellt wird, sondern
100 Physik I 8, 7-14, zit. n. Zekl (2012)
101 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 437
102 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 28
29
das Aussehen ist das An-wesende selbst, das sich stellende Aussehen, das sich
erst je das Verfügliche bestellt und als Geeignetes in die Eignung stellt.103
Nicht empirisch-ontisch, sondern phänomenologisch-ontologisch gedacht gälte dann
dasselbe für einen Stein, sodass die Problematik von μορφή und φύσις sowie von dem Stein
als „Gewächs“ als gelöst gelten könnte. Zugleich wird hier der Begriff des Gewächses nun
endlich wirklich positiv gedacht: nicht nur in Abgrenzung zum „Gemachten“, sondern über
den „Wuchs“ im Sinne einer grammatikalisch zwar „medialen“, phänomenologisch gerade
deshalb aber unmittelbaren Anwesung.
Diese Auslegung bleibt freilich spekulativ, insofern sie auf wenige Sätze des Aristoteles ein
enormes Gewicht legt. Zu ihren Prämissen gehört, dass Bewegung für Aristoteles durchaus
mehr sei als ein sich an Seiendem vollziehender Übergang von Möglichkeit zu
Wirklichkeit und, problematischer – was noch nicht genannt wurde –, dass die Auflistung
von Bewegungsarten in der Physik (Ortsbewegung, Zu- und Abnahme etc.) gewissermaßen
unvollständig sei und diese ontischen Arten um eine ontologische ergänzt werden müssen.
Damit geht diese an Heidegger orientierte Auslegung letztlich doch über das von
Aristoteles Gesagte hinweg zu einem mutmaßlich „Ungesagten“. Insbesondere darf nicht
vergessen werden, dass Aristoteles dort, wo er die μορφή als in höherem Maße φύσις
kennzeichnet als ὕλη, sich explizit nur auf Lebendiges bezieht.
Soll das Wagnis von Heideggers Interpretation trotzdem fortgeführt werden, bietet die
στέρησις, die neben ὕλη und μορφή dritte ἀρχή des Werdenden, einen nächsten
Anhaltspunkt: Bemerkenswert an ihr ist, dass Aristoteles στέρησις, das „Fehlen-derBestimmtheit“, nicht als Privation der μορφή auffasst, sondern – sie als eigene ἀρχή
identifizierend – selbst als positiv Bestimmbares. Eine vergleichbare Auslegung eines im
Werden erscheinenden Mangels findet sich in SuZ als „Noch-nicht“, wie Heidegger es an
einer reifenden Frucht illustriert: „[R]eifend ist sie die Unreife. Das Noch-nicht ist schon in
ihr eigenes Sein einbezogen“104. Auch das „Fehlen“ als „Bruch“ in der Umwelt deutet in
diese Richtung105. Und schon der frühe Heidegger versteht dieses seiende Nichtsein bei
Aristoteles „im Sinne eines bestimmten Da, des Da der Abwesenheit“106.
In der Physis-Schrift wiederholt Heidegger diese Motive, indem er eine modifizierte
Metapher der Blüte und Frucht anführt und στέρησις als „Abwesung“ übersetzt107, womit
103
104
105
106
107
Heidegger (1939), S. 290
Heidegger [1927] (2006), S. 244
Vgl. ebd., S. 75
Heidegger (1924), S. 298
Vgl. Heidegger (1939), S. 296 ff.
30
jedoch „nicht einfach Abwesenheit [gemeint ist], sondern Anwesung, diejenige nämlich, in
der gerade die Abwesung – nicht etwa das Abwesende – anwest“ 108. Die weitere
Auseinandersetzung hiermit würde jedoch endgültig von Aristoteles' „Gesagtem“ zu
seinem vermeintlich Ungesagten führen: von Heideggers Aristoteles-Interpretation zu
Heidegger selbst.
Fazit: Drei Lösungsvorschläge wurden für das „Problem der Form“ angeführt, welches
sich als naheliegende Verständnisfrage von Aristoteles' in Physik II, 1 entworfener
Physiskonzeption ergibt. Der erste besteht darin, die Form eines (unbearbeiteten) Steines
als durch die allgemeine, nicht jedoch seine partikuläre Natur verursacht zu sehen; der
zweite schlägt vor, das Lebendige als „physischer“ zu erachten als das Unbelebte; der dritte
sucht (mit Heidegger) bei Aristoteles nach einer verborgenen Lehre zwischen den Zeilen.
Als eine vierte Möglichkeit bietet sich allerdings eine Kombination der vorherigen drei an:
Tatsächlich stellt sich auch Heidegger in diesem Zusammenhang gar nicht der
Herausforderung, explizit über die μορφή eines bloßen Steins nachzudenken, sondern
verbleibt im Bereich des Lebendigen – oder zumindest der chemischen Vorgänge (wie dem
Wandel von Wein zu Essig109).
Eine solche Synthese der verschiedenen Auslegungen könnte etwa folgendermaßen
aussehen: Dass ein Stein, ein Unbelebtes, durchaus „weniger φύσις“ sei als ein Belebtes,
muss im aristotelischen Kosmos nicht überraschen. Aristoteles' Seelenlehre, gemäß derer
der Mensch die verschiedenen, ineinander verschachtelten Naturreiche als ζῷον in sich
integriert, jedoch um seine Vernunfttätigkeit übertrifft110, ist im Rahmen seiner
Naturteleologie nicht nur deskriptiv, sondern auch als Hierarchie zu verstehen: Der Mensch
ist „physischer“ als das Tier, dieses als die Pflanze, diese als das Unbelebte, weil in ihm der
Kosmos zu höherer Selbstverwirklichung – zu „mehr φύσις“ – gelangt. Nichtsdestotrotz ist
der Mensch – zumindest als einzelnes Lebewesen, nicht als Gattung – noch vergänglich,
und in höchstem Maße physisch oder φύσις ist schließlich das Immerwährende, das gerade,
weil es als solches keiner Veränderung mehr unterliegt, seine partikuläre und damit auch
die allgemeine Natur vervollkommnet hat und dadurch am mächtigsten „anwest“ (im
Heideggerschen Sinne). Ein Stein hat zwar auch Bestand, bleibt jedoch völlig den
Wechselfällen der sublunaren Welt unterworfen, während der von Aristoteles als
108 Ebd., S. 296 f.
109 Vgl. ebd., S. 297
110 Vgl. Eth Nic I 6, 1097b f. 33-7, De anima II 3, 414a f. 29-19
31
immerwährend vorgestellte Himmel111, zumindest jedoch Gott als das unbewegt
Bewegende112, dem Vergänglichen enthoben bleibt.
Nun ist der Fixsternhimmel, wie heute bekannt ist, aber keineswegs „fix“ und
immerwährend, Aristoteles' unbewegter Beweger ist zweifelsohne ein „Gott in der
Philosophie“, wie Heidegger ihn als pathologischen Ausdruck von „Onto-Theo-Logik“
ablehnte113, und überhaupt scheint die neuzeitliche Empirie eher in Richtung πάντα ῥεῖ zu
deuten, jedenfalls, wenn man eine Setzung von immerwährenden „Naturgesetzen“
abzulehnen geneigt ist. Allerdings muss dies die genannte Verschachtelung von
Naturreichen noch nicht undenkbar machen. Zweifelsohne (fünftens) erscheint es aber
ebenso denkbar, dass Aristoteles' Konzeption letztlich inkonsistent bleiben könnte – oder
(sechstens) dass womöglich schon die φύσις und damit auch die Natur selbst ein
heterogenes, nicht mit sich selbst in Übereinstimmung zu bringendes Konzept darstellt.
4. Die φύσις bei Heidegger
Im Folgenden soll nun weiter Heideggers eigener Physiskonzeption – nach wie vor mit
Fokus auf Aristoteles und die Physis-Schrift – nachgegangen werden. Die Grenze zwischen
Aristoteles-Interpretation und Heideggers eigenem Denken wird von diesem kaum explizit
gezogen und ist daher nicht ohne intensive Textkritik auszumachen. Diesbezüglich zeigte
sich der vorherige Abschnitt Heidegger gegenüber durchaus „kulant“, insofern seine
alternativen Übersetzungen noch weitgehend als genuine Interpretation verstanden und am
Originaltext gerechtfertigt wurden. Erst bei der στέρησις als „Anwesung der Abwesung“
wurde der Schlussstrich gezogen – was auch dort nicht bedeuten sollte, dass Heidegger
etwas verfälschen würde, sondern in erster Linie geschah, weil weitere Erläuterungen eher
in „Heidegger-typische“ als in „Aristoteles-typische“ Gedankengänge gemündet hätten.
Um Heidegger nicht misszuverstehen, sei noch einmal betont, worauf er eigentlich abzielt:
Die freimütige Art und Weise, wie Heidegger mit den alten Griechen umgeht, ist nicht als
Philologie zu verstehen, insofern diese bemüht wäre, sich auf das „Gesagte“ zu
beschränken, sondern sie sucht die „eigentliche“ Lehre als etwas „Ungesagtes“ zwischen
den Zeilen auf. Da die griechische Philosophie für Heidegger gewissermaßen der „Anfang
vom Ende“ ist, muss er dasjenige Anfängliche, nach dem er eigentlich sucht, letztlich noch
vor ihrem Beginn vermuten. Heidegger will deswegen nicht einfach wiederholen, was die
111 Vgl. De caelo I 9, 277b 27-29
112 Vgl. Metaphysik XII 7, 1072b 28-30
113 Vgl. Heidegger (1956/57), S. 77
32
Griechen gedacht haben, sondern im Gestus der Wiederholung gewissermaßen „durch sie
hindurch“ sehen.
4.1 Φύσις als Entbergung
Aristoteles kennzeichnet die φύσις zum einen als ἀρχή des Selbstbewegten, insofern es
bewegt ist, zum anderen als dessen Form, μορφή, welche Heidegger mit „Gestellung“
übersetzt. Die „Gestellung“ mag an das „Gestell“ erinnern, als welches Heidegger später
den „herausfordernden Anspruch“ der modernen Technik an den Menschen bezeichnet 114.
Dies mag insofern überraschen, als man von der (laut Heidegger) ursprünglichen
Bedeutung von φύσις als Seinsweise des Physischen eher eine Antithese zu jenem Gestell
vermuten würde, zumal im Rahmen der aristotelischen Abgrenzung von Natur und
Technik. Nichtsdestotrotz fragt sich Heidegger auch in der Physis-Schrift, ob nicht „die
einzig mögliche Auslegung der φύσις [die] als einer Art von τέχνη“115 sei, wenngleich er
dies anschließend gerade verneint. τέχνη ist bei Heidegger zudem für gewöhnlich nicht als
„Technik“ zu verstehen, sondern eher als „Kunst“ im weitesten Sinne, wobei er sie
allerdings verstanden wissen will als „das Sichauskennen in dem, worauf jede Anfertigung
und Herstellung gründet“116, also eine Art von Wissen – als „Kunde“. Schließlich meint er
jedoch, dass das „Machen“ und „Wachsen“ je zwei verschiedene Weisen des Herstellens
seien117. Wie bereits gesagt dient das „Stellen“ in diesem Zusammenhang unter anderem
dazu, den Charakter der „Anwesung“ stärker zu betonen als es das bloße „Zeigen“ könnte.
Letztlich geht Heidegger am Ende jedoch noch dazu über, die φύσις als „Entbergung“ zu
verstehen118, welche als Übersetzung von ἀλήθεια – anstelle von beziehungsweise
zusätzlich zu „Wahrheit“ – in seinem Gesamtwerk weitaus typischer ist. Anstatt schon hier
die irritierende Ähnlichkeit zwischen Gestellung und Gestell zu vertiefen, soll daher
zunächst der Weg verfolgt werden, auf welchem Heidegger von der „Gestellung“ zur
„Entbergung“ gelangt.
Erst, nachdem Aristoteles die φύσις als ἀρχή des Selbstbewegten als solchen sowie als
μορφή, „Gestellung“, charakterisiert hatte, beendete er das Kapitel II, 1 mit einem Verweis
114 Vgl. Martin Heidegger (1953): „Die Frage nach der Technik“. In: Friedrich-Wilhelm von Herrmann
(Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 7. Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, 5-36, S. 20
115 Heidegger (1939), S. 289
116 Ebd., S. 251
117 Ebd., S. 289
118 Ebd., S. 301
33
darauf, dass „auch die ,Beraubungʻ [στέρησις] […] so etwas wie Aussehen“119 sei.
Heideggers Anliegen ist es nun, die daraus resultierenden offenen Fragen, wie diese
Doppeldeutigkeit zu verstehen sei und welche Rolle die στέρησις dabei spiele, zu
beantworten.
Die στέρησις wurde mit Heidegger zuvor als „Abwesung“ und gleich darauf als
„Anwesung der Abwesung“ gekennzeichnet. Diese Paradoxie rechtfertigt er damit, dass es
nicht das Abwesende ist, was anwest – dieses ist ja gerade nicht da –, sondern eben dessen
Abwesung: Die „Abwesung“ ist selbst kein Seiendes, sondern als Fehlen eines Seienden
ein Nichtsein und damit die Seinsweise des Fehlenden beziehungsweise Abwesenden
(insofern es fehlt):
Wenn etwas fehlt, dann ist das Fehlende zwar weg, aber das Weg selbst, das
Fehlen bringt uns gerade auf und beunruhigt uns deshalb, was alles das
„Fehlen“ nur kann, wenn es selbst „da“ ist, d. h. ist, d. h. ein Sein ausmacht.120
Dass Aristoteles die στέρησις selbst als ein Aussehen kennzeichnet, verleitet Heidegger zu
der Frage, wie sie sich zur μορφή verhalte. Hierauf aufbauend beschreibt er den Werdegang
der Gewächse als Wechselspiel von Sein und Nichtsein, genauer: als „Unterwegs von
einem ,Noch nichtʻ zum ,Nicht mehrʻ“121, wobei er, motiviert von einer durch Aristoteles
vorgenommenen Beschreibung der φύσις als Weg (ὁδός), die „Be-weg-ung“ auch von
diesem her denkt122:
Die φύσις […] ist die aus sich selbst her und auf sich selbst zu unterwegige
Anwesung der Abwesung ihrer selbst. Als solche Abwesung bleibt sie ein Insich-zurück-Gehen, welches Gehen jedoch nur der Gang ist eines Aufgehens.123
„Aus sich selbst her“ (und wohl auch „Abwesung“) verweist hier auf das Denken der φύσις
von der ὕλη her, „auf sich selbst zu“ (und „Anwesung“) hingegen auf die μορφή. Was
Heidegger hier behauptet, lässt sich zweifelsohne im „Gesagten“ Aristoteles' nicht mehr
ausmachen; es stellt eine Deutung dar im Versuch, die explizite Doppelbedeutung bei
Aristoteles wesensmäßig zusammenzudenken – φύσις als „Aufgehen“.
Das Begriffspaar Anwesung/Abwesung enthält bereits semantische Parallelen zur
Entbergung/Verbergung. „Unverborgenheit“ (teils auch „Entdecktheit“) ist Heideggers
wortgetreue Übersetzung von ἀλήθεια, die konventionell als „Wahrheit“ übersetzt und
119
120
121
122
123
Physik II 1, 193b 19 f., zit. n. Heidegger (1939)
Heidegger (1939), S. 296
Ebd., S. 297
Vgl. ebd., S. 291 ff.
Ebd., S. 299
34
verstanden wird124. Der logische Wahrheitswert einer Aussage – schon die Entsprechung
von Aussage und Wirklichkeit – ist für Heidegger nur möglich aufgrund einer vorgängigen,
in die Unverborgenheit führenden Entbergung, die wir unter Berufung auf das zuvor
Gesagte auch mit der aristotelischen κατηγορία in Verbindung bringen können, der vorterminologischen „Ansprechung“ („Anklage“), welche dem sprachlich ausdifferenzierten
„Urteil“ vorausgeht.
Zum Ende der Physis-Schrift weist Heidegger noch einmal darauf hin, dass Aristoteles'
Physiskonzeption letztlich aber nur „ein Nachklang des großen Anfangs der griechischen
und des ersten Anfangs der abendländischen Philosophie“125 sei und greift – im Versuch,
φύσις noch „anfänglicher“ zu denken – auf Heraklits bekanntes Fragment 123 zurück:
„Φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ“126 – „Die φύσις ,liebtʻ (oder pflegt oder neigt dazu), sich zu
verbergen“. (In der Physis-Schrift spricht auch Heidegger vom „Lieben“; an anderer Stelle
bezeichnet er diese Übersetzung als „reichlich tantenhafte Vorstellung von der φύσις“127.)
Als „Entbergung“ kann Heidegger die sich verbergende φύσις hier aus demselben Grund
verstehen, aus welchem er auch von der „Anwesung der Abwesung“ sprechen kann: Die
φύσις ist kein Seiendes, sondern das Sein eines – und zwar des physisch – Seienden,
welches sie als Entbergung „entbirgt“. Steht das physisch Seiende aber selbst in der
Unverborgenheit da, kann der Vorgang, wie es dazu kam und fortlaufend kommt, aber allzu
leicht „in Vergessenheit“128 geraten. Während die Rede von dieser „Seinsvergessenheit“ das
Vergessen allerdings noch dem Menschen (in SuZ: dem „Dasein“129) überantwortet, äußert
der Heidegger nach der „Kehre“ hingegen, dass es das Sein selbst sei, welches sich
verberge: Wie auch Heraklit spricht, ist es die φύσις, die (von sich aus) pflegt, sich zu
verbergen – nicht der Mensch, der sie dann vergisst, sondern den sie verlässt, indem sie ihn
der Verfallenheit130 an das Seiende überlässt. Auf diese Weise kann sich die Entbergung
zunächst verbergen – ob sie es tatsächlich tut, ob sie dazu gar neigt oder es liebt, liegt nicht
im Ermessen des Menschen, sondern ist für Heidegger „Seinsgeschick“ 131. Nichtsdestotrotz
formuliert Heidegger in der Physis-Schrift noch einen normativen Appell, wie er in seinem
Gesamtwerk in dieser Deutlichkeit wohl Seltenheitswert hat. Dabei handelt es sich um eine
124
125
126
127
128
129
130
131
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 219
Heidegger (1939), S. 300
Vgl. DK 22 B 123
Martin Heidegger (1943): „Der Anfang des abendländischen Denkens“. In: Manfred S. Frings (Hrsg.).
Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 55. Klostermann, Frankfurt a. M., 1979, 1-181, S. 127
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 2
Vgl. ebd., S. 7
Vgl. ebd., S. 175
Vgl. Heidegger (1946), S. 327 ff.
35
Antithese zum Vorhaben, „die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln“, wie man sie
von der modernen Kosmologie nur allzu gewohnt ist:
Und daher gilt es nicht, das κρύπτεσθαι der φύσις zu überwinden und ihr zu
entreißen, sondern das weit Schwerere ist aufgegeben, das κρύπτεσθαι, als der
φύσις gehörend, ihr in aller Wesensreinheit zu lassen.132
4.2 Sein als φύσις
Die φύσις wurde bis jetzt – mit Heidegger, teils auch allein mit Aristoteles – vielfach als
„Seinsweise“ oder gar „Sein“ des physisch Seienden ausgewiesen und dabei durch
Begrifflichkeiten wie „Bewegtheit“, „Form“, „Gestellung“, „Anwesung“, „Aufgang“ und
schließlich „Entbergung“ näher zu bestimmen versucht. Diese bunte Vielheit mag in der
Rückschau schnell etwas willkürlich anmuten – und das vor einem Hintergrund, der
durchaus triviale Züge trägt: Denn dass das Natürliche – im alltäglichen Sprachgebrauch
mithin auch „die Natur“ als Gesamtheit, „Universum“ des Natürlichen – einen
beträchtlichen Teil der Welt ausmache, würde wohl kaum jemand bestreiten, der nicht auch
den Naturbegriff selbst bestreitet. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei dieser
Vorgehensweise um das, was von einer Hermeneutik der Natur gerade zu erwarten wäre.
Heideggers eigentliche, weitaus stärkere These wurde bisher jedoch noch gar nicht
thematisiert: Sie besteht nicht in seiner Auslegung der φύσις als Sein, als „eine Art der
οὐσία“133, sondern in einer umgekehrten Auslegung von Sein als φύσις. Heidegger geht
davon aus, dass in der φύσις beschlossen liegt, was für die Griechen das Sein schlechthin
war oder zumindest wurde, prägnanter: dass das Sein der φύσις (als Entbergung in die
Wahrheit) gewissermaßen entstamme. Was Aristoteles betrifft, verweist er hierfür auf Buch
IV (Г) der Metaphysik, in welchem dieser ausnahmsweise – entgegen der bei ihm üblichen
Hierarchie – die οὐσία der φύσις nachordnet, insofern die höchsten Ursachen „notwendig
Ursachen [αἰτίας] einer gewissen Natur [φύσεός] an sich sein müssen“134.
Heidegger-Kommentatoren haben vielfach die historische Richtigkeit dieser Einschätzung
bezweifelt und vermutet, dass auch die aristotelische οὐσία135 oder allgemein das
„griechisch gedachte“ Sein136 nicht so einseitig durch die φύσις bestimmt ist, wie
132
133
134
135
136
Heidegger (1939), S. 301
Ebd., S. 299
Metaphysik IV 1, 1003a 26-28, zit. n. Bonitz (2012); vgl. Heidegger (1939), S. 299
Vgl. Mikulić (1987), S. 95 ff.
Vgl. Beierwaltes (1995), Christian Martin (2009): „Heideggers Physis-Denken“. In: Phil. Jahrbuch
116(1), 90-114
36
Heidegger es sich vorstellt. Mithin wird sogar erwogen, dass bei Aristoteles (und Platon)
nicht nur jener von Heidegger vermutete „Nachklang“ des als φύσις aufgegangenen Seins
zu hören sei, sondern dass umgekehrt „φύσις zu seiner großen Bedeutung erst um die
Wende zum 4. Jahrhundert gelangt ist“ 137, und dass daher bereits Aristoteles hier eine
philosophiegeschichtliche Rückprojektion eigenen Denkens vornehme, wenn er die
Vorsokratiker φυσιολόγοι nennt. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch, dass
Heidegger, indem er Sein – freilich auf seine Weise – auf φύσις reduziert, selbst eine Art
„ontologischen
Physikalismus“
zu
vertreten
scheint:
Während
der
„ontische“
Physikalismus alles Seiende auf physikalische „Objekte“ oder ähnliches reduzieren will,
führt Heidegger stattdessen das Sein auf die φύσις zurück. (Falls „Physikalismus“ hierfür
unpassend erscheint, weil er weniger die φύσις als das Physikalische meint, ließe sich
hierfür auch ein Neologismus wie etwa „Physizismus“ einführen.) Hierauf aufbauend ließe
sich etwa fragen, wo verborgene Entsprechungen zwischen Heideggers Denken und dem
naturwissenschaftlichen Physikalismus liegen könnten, sofern diese gerade aufgrund
gegenseitiger Abgrenzung und Abneigung vermutet werden dürfen. Nichtsdestotrotz sollen
weiterhin Aristoteles und Heidegger von ihnen selbst her verstanden und einander
gegenübergestellt werden, um die spezifischen Kontraste zwischen ihnen kenntlich zu
machen.
Wie stellt sich also das aristotelische Projekt von Heideggers Warte – in dem hier
angeführten Schema – aus dar? Dass Heidegger die Physik als „verborgenes Grundbuch
der abendländischen Philosophie“ bezeichnen kann, wird nun nachvollziehbar: Die Physik
handelt, insofern sie von der φύσις handelt, von jener Entbergung, auf deren Grundlage die
Metaphysik erst möglich wird. Weil eine solche Abhandlung im Anschluss nicht mehr
vorgenommen wurde, bleibt die Physik philosophiegeschichtlich „verborgen“ auf dieselbe
Weise, wie sich auch die φύσις verbirgt. Aristoteles markiert dabei selbst jedoch nur den
endgültigen Übergang vom „Denken des Seins“ zur Metaphysik, denn von „Entbergung“
ist schon bei ihm keine Rede mehr. Insbesondere ist schon Aristoteles „Wissenschaftler“,
insofern er mit Sicherheit kein „Dichter“ ist („Viel lügen die Dichter“138) und entspricht
damit dem Geschick, welches in der abendländischen Philosophie bereits vor ihm angelegt
war.
Doch was kann „Technik“ oder „das Gemachte“ noch bedeuten, wenn Sein (erstens) φύσις
ist, Gemachtes (zweitens) aber doch sicher Seiendes, andererseits aber (drittens) nicht von
137 Karl-Heinz Ilting (1962): „Sein als Bewegtheit“. In: Philosophische Rundschau 10(1), 31-49, S. 46
138 Metaphysik I 2, 983a 3-4, zit. n. Bonitz (2012)
37
der φύσις her sein soll? Indem Heidegger das Sein der Ermächtigung durch den Menschen
entzieht, ergibt sich eine Art Determinismus, in welchem auch der Mensch, sein Tun und
sein Denken, vom Sein her bestimmt ist – darauf verweist ja gerade das „Schicksal“, von
welchem Heidegger in verschiedenen Variationen spricht. Sogar von dem militärischen
Begriff des „Gehorsams“ (gegenüber dem Sein) ist Heidegger nur einen winzigen Schritt
entfernt, wenn er im Humanismusbrief das Denken des Seins als „das hörend dem Sein
Gehörende“139 bezeichnet. Tatsächlich ist diese Formulierung jedoch bereits über den
Gehorsam hinaus geschritten: Von „Gehorsam“ wäre im Rahmen der Erwartung die Rede,
dass dieser auch geleistet werde, was die Möglichkeit des Nicht-gehorchens einschließt;
doch so, wie Heidegger das Denken des Seins charakterisiert, schließt er diese Möglichkeit
gerade aus. Als Karikatur ließe sich deswegen formulieren, dass Heidegger offenbar (auf)
den „Anspruch“ des Seins höre wie ein Schizophrener (auf) Stimmen in seinem Geist.
Akzeptiert man all dies aber dennoch, ergibt sich, dass die Abgrenzbarkeit „der Technik“
gegenüber „der Natur“ eine aus der Seinsverlassenheit resultierende Täuschung darstellt,
welcher auch Aristoteles bereits unterliegen könnte. Denn in Wirklichkeit „gehört“ auch
das Tun des Menschen der φύσις. Ob sie sich diesem Tun verbirgt oder nicht, bleibt dabei
ihr überlassen. Diesbezüglich wäre also entscheidend, inwiefern Aristoteles auch
menschliches Tun als „von der φύσις her“ anerkennt. Seine prominente Unterscheidung in
der Physik legt dies zunächst nicht nahe. Andererseits postuliert Aristoteles keine
Willensfreiheit im neuzeitlichen Sinn oder ähnliches. Schon in II, 3 setzt er die
(„objektive“) Kunst des Hausbaus als das dem („subjektiven“) Tun des Baumeisters
Vorrangige140 und bettet gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik sämtliche τέχνη in
eine kosmische Teleologie ein141, die von der natürlichen nicht so verschieden zu sein
scheint. Allerdings wäre hier hinsichtlich der Baukunst wieder zu berücksichtigen, dass
τέχνη und Technik keineswegs identisch sind, sodass hier lediglich gemeint sein dürfte,
dass ein Baumeister die Baukunst beherrschen muss, um sie anwenden zu können. Gesetzt
also, dass Aristoteles für Heidegger an der definitorischen Unterscheidung dennoch
festhält, verweist die „Gestellung“ aus der Physis-Schrift vielleicht tatsächlich bereits auf
das spätere „Gestell“.
Anders als für den naturwissenschaftlichen Physikalismus, der die Natur als qua
„Naturgesetze“ aus „Elementarteilchen“ zusammengefügtes Uhr- oder Kraftwerk auslegt,
139 Heidegger (1946), S. 316
140 Vgl. Physik II 3, 195b 21-25
141 Vgl. Eth Nic I 1, 1094a 1-3
38
um sie als solches zu behandeln, geschieht Heideggers Charakterisierung der Technik als
Natur freilich nicht, um diese technisch zu beherrschen, was er ja gerade kritisiert.
Vielmehr ist die Technik umgekehrt die Natur, die hinter- und untergründig den Menschen
beherrscht, indem sie „in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung durch den
Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt“142: Die Technik ist die sich dem Menschen
verbergende Natur.
In seinem Spätwerk denkt Heidegger über die φύσις mithin anders, als es die vorherige
Analyse nahelegen mag. Als deren Kulminationspunkt kann der eben geäußerte Gedanke
gelten, dass die φύσις jene sich in der Technik verbergende Entbergung sei. Martin (2009)
rekonstruiert Heideggers diesbezügliche Entwicklung und weist darauf hin, dass Heidegger
zeitweise nur noch von „Bergung“ ohne Präfix gesprochen habe, dass er andererseits im
Gestell bereits den Ursprung der φύσις ausmachen wollte (das Gestell seinsgeschichtlich
also
schon
vor
der
φύσις
ansetzt),
um
schließlich
aber
derart
einseitige
Interpretationsversuche aufzugeben und sich zunehmend an Hölderlin zu orientieren143. Die
detaillierte Auseinandersetzung hiermit wäre jedoch Aufgabe reiner Heidegger-Forschung.
Um uns die Möglichkeit eines klaren, diskursiven Vergleichs von Aristoteles und
Heideggers Physiskonzeption nicht zu verschließen, soll daher auch die weitere Analyse im
Wesentlichen auf der bisherigen aufbauen.
4.3 Kritik an Heideggers Physiskonzeption
Die Frage, die bei der Auseinandersetzung mit Heidegger immer mit im Raum steht, ist die
nach seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus. Zwar ist der „Fall Heidegger“ nicht
erklärtes Thema dieser Arbeit. Nichtsdestotrotz kann und sollte er dort thematisiert werden,
wo seine Physiskonzeption – und seine Aristoteles-Interpretation – darauf hindeutet. In
diesem Sinne wurde auch bereits Heideggers „Hörigkeit“ gegenüber dem Sein beargwöhnt.
Darüber hinaus lassen sich aber auch ohne dieses auf Heidegger gerichtete
Damoklesschwert Zweifel an der von ihm erzählten Seinsgeschichte anmelden: Heideggers
Suche nach dem „anfänglichen“ Denken „der Griechen“ scheint der Suche nach einem
vermeintlichen „Urzustand“ der Welt zu entsprechen. Insofern die Geschichte der
Metaphysik die der Seinsvergessenheit ist, scheint es sich dabei geradezu um das
„verlorene Paradies“ zu handeln, welches es durch eine „Destruktion“ dieser Geschichte
142 Heidegger (1946), S. 324
143 Martin (2009), S. 107 ff.
39
beziehungsweise durch eine „Wiederholung“ dieses Anfangs wieder herzustellen gelte.
Zwar beginnt die Philosophie für Heidegger erst mit oder gar nach dem „Sündenfall“, doch
daran, dass mit diesem Narrativ grundsätzlich eine Paradiesvorstellung verbunden bleibt,
ändert das ja nichts. Das ist freilich noch kein Beweis dafür, dass Heidegger diesbezüglich
Unwahres sagt: Schließlich könnte er mit dieser Einschätzung auch völlig recht haben.
Fragen lässt sich jedoch, inwiefern Heidegger in seinem Bemühen, sie sich zu eigen zu
machen, die griechische Vergangenheit gerade verfälschen könnte. In der Physis-Schrift
unterscheidet er an vielen Stellen allzu deutlich zwischen „den Griechen“ und „uns
Heutigen“, als wäre er selbst nicht nur neuzeitlicher Deutscher, sondern zugleich antiker
Grieche. Auf diese Weise inszeniert er sich als Sprachrohr der – oder „seiner“ – Griechen.
Während seine Lektüre der Griechen durchaus innovativ und inspirierend sein kann,
kommen dabei teils übermäßig komplizierte Äußerungen heraus, wie etwa: „Wir Heutigen
müssen […] sehen lernen, wie für die Griechen die Bewegung als eine Weise des Seins den
Charakter des Herkommens in die Anwesung hat“144. (Anhand der vorherige Analyse ist
dieser Satz sogar verständlich, dürfte in dieser Komplexität aber kaum wahr sein.) Weil
Heidegger in der Physis-Schrift stets in kritischer Distanz zu Aristoteles bleibt, ist diese
Problematik dort jedoch nicht so stark ausgeprägt wie anderswo. Wie gesagt verweist er
dort nur am Ende kurz auf Heraklit und seine Deutung der φύσις als Entbergung.
Umso deutlicher ist sie dafür jedoch im Heraklit-Buch. Beierwaltes (1995) analysiert
hinsichtlich Heideggers dortigem Umgang mit Fragment 123 – φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ –,
inwiefern Heidegger in seinem Vorhaben, die Griechen griechischer zu denken als die
Zunft der Philologen, selber Assoziationsketten innerhalb der deutschen Sprache nutzt. So
übersetzt Heidegger das φιλεῖν dort als „die Gunst schenken“, um es schließlich als
„Vergönnen“ mit dem „Gewähren“ und darüber wieder mit der „Wahrheit“ in Verbindung
bringen zu können145. Als sei dieser Schritt vom „Gönnen“ zur „Wahrheit“ nicht schon
problematisch genug, will Heidegger im φιλεῖν dann auch noch ein „Verbürgen“
heraushören, welches Beierwaltes nur noch durch die phonetische, keineswegs mehr
semantische Ähnlichkeit zum „Verbergen“ motiviert sieht146. (Hinsichtlich der μορφή aus
der Physis-Schrift ließe sich fragen, ob Heideggers Übersetzung als „Gestellung“ nicht
ähnlich phonetisch abgeleitet von „Gestalt“ sein dürfte: allerdings liegt hier tatsächlich
144 Heidegger (1939), S. 249
145 Vgl. Heidegger (1943), S. 131 ff.
146 Vgl. Beierwaltes (1995), S. 16
40
eine etymologische Verwandtschaft vor147.)
Seinen Rückgang zu den Griechen vollzieht Heidegger bewusst als Deutscher. Als das Volk
der Dichter und Denker stehen die Deutschen den Griechen am nächsten. „[D]ie
Reinerhaltung des rassischen Erbgutes des großen griechischen Wesens werde vom
deutschen Wesen veranstaltet“148, kommentiert hierzu der langjährige Heidegger-Schüler
Rainer Marten (1988). Anlässlich der vielen Verfälschungen und Auslassungen, die
Heidegger seines Erachtens vornimmt, fügt Marten hinzu: „Wie Heidegger den
griechischen Geist nimmt, ist es der deutsche, genauer: sein eigener“ 149. Die einzige
Möglichkeit, wirklich „griechisch zu denken“, dürfte letztlich darin bestehen, auf
griechisch zu denken, also das Griechische dabei unübersetzt zu lassen.
Aus einer archäologischen Perspektive – die Heidegger aufgrund ihres Zeitbegriffs
entschieden ablehnte150 – bietet die griechische, zumal überlieferte Kultur natürlich
keinerlei absoluten Anfang, sondern ist selbst bereits in vielerlei Hinsicht geworden.
Dessen ist sich freilich auch Heidegger bewusst; immerhin kann er in SuZ selbstkritisch
zugestehen: „Vielleicht vermag auch dieser ontologische Leitfaden […] nichts
auszurichten für eine Interpretation der primitiven Welt“151. Die Geschichte, die Heidegger
meint, ist jedoch ausschließlich Seinsgeschichte und beginnt deswegen erst dort, wo –
zeitlich und räumlich, in Griechenland – auch das Sein gedacht oder im Denken vergessen
wird.
Für gewöhnlich werden zumindest der Heidegger vor und nach seiner „Kehre“
unterschieden. Laut Mikulić (1987) spricht Heidegger von der Kehre explizit zum ersten
Mal im Humanismusbrief von 1946152, wo er ihren Beginn allerdings schon auf das Jahr
1930 datiert153. Damit würde auch die Physis-Schrift – inhaltlich passend – bereits in die
Zeit nach der Kehre beziehungsweise in die „Übergangsphase“ 154 (Mikulić) fallen. Vor der
Kehre betont Heidegger noch die „ontologische Differenz“ als Differenz von Sein und
Seiendem; weil die dortige Existenzialanalyse aber bei dem Menschen als „Dasein“ und
damit bei einem Seienden ansetzt, wird er diesen Ansatz später als Überrest einer
Transzendental- beziehungsweise Subjektphilosophie verwerfen: Nach der Kehre wird die
147
148
149
150
151
152
153
154
Vgl. Seebold (2011), S. 355
Rainer Marten (1988): „Heideggers Geist“. In: Allmende 20, 82-95, S. 84
Ebd., S. 86
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 375 ff.
Heidegger [1927] (2006), S. 82
Vgl. Mikulić (1987), S. 82
Vgl. ebd., S. 57 f., Heidegger (1946), S. 327 f.
Vgl. Mikulić (1987), S. 381
41
Ontologie schließlich zur „Sage des Seins“, in welcher das Seiende nur noch eine
Nebenrolle spielt155.
Mikulić meint dazu jedoch, dass Heidegger gerade, weil er in seinem Spätwerk das
Seiende immer weniger thematisierte, die ontologische Differenz zur metaphysischen
Selbstverständlichkeit werden ließ, wodurch er in Wahrheit sein Lebtag lang von ihr
abhängig blieb156. Insofern sie für die Existenzialanalyse in SuZ noch wesentlich ist,
könnte dem Heidegger von damals noch ein klareres Bewusstsein für die eigenen
Prämissen zugeschrieben werden als dem späteren. Sofern die Unabgeschlossenheit von
SuZ auf die Unausgegorenheit der dortigen Überlegungen hindeutet, liegt die Annahme
nahe, dass Heidegger die intrinsischen Widersprüchlichkeiten seines Denkens damals noch
durch
ein
ausgeprägteres
Sendungsbewusstsein
–
den
Eifer
anfänglichen
Schöpfungswillens und des Hauptwerks – kompensieren konnte. Träfe etwas davon zu, so
wäre Heidegger immer Transzendentalphilosoph geblieben, würde selber der Geschichte
der Metaphysik angehören.
Zwei jüdische Philosophen, die Heidegger kritisch würdigen, sind sein Schüler Emmanuel
Levinas sowie Jacques Derrida; ihre Abstammung sei hier allein als „Ausgleich“ zu
Heideggers Deutschtümelei genannt. Was Levinas und Derrida gemeinsam haben, ist, dass
beide sowohl Heideggers „Sein“ als auch die Absolutsetzung eines vermeintlichen
„Anfangs“ fallen lassen: Bei Levinas wird Heideggers „Frage nach dem Sinn von Sein“
mithin zur Frage nach dem Sinn selbst, welcher nicht nur über das Seiende, sondern auch
über das Sein hinausreicht157; bei Derrida – der seinerseits wieder von Levinas beeinflusst
ist – tritt an die Stelle der ontologischen Differenz die différance als Auseinandertreten von
Zeichen und Bezeichnetem. (Zwar führt Derrida seine différance auch in Abgrenzung zum
Strukturalismus Ferdinand de Saussures ein; nichtsdestotrotz kann er äußern, sie sei „,älterʻ
als die ontologische Differenz oder als die Wahrheit des Seins“158.) Mit diesem Fallenlassen
des Anfangs entfällt auch jegliche Notwendigkeit, einen „heilen“ Urzustand konstruieren
zu müssen. Damit entfiele wiederum die Möglichkeit, abenteuerliche Spekulationen als
etwas anderes als solche präsentieren zu können. Drittens kann es dort, wo es ohnehin
keinen Anfang gab, auch keine trügerische Rückbesinnung und keinen auf ihr aufbauenden
155 Vgl. ebd., S. 57 f.
156 Vgl. ebd., S. 118
157 Vgl. Emmanuel Levinas (1964): „Die Bedeutung und der Sinn“. In: Ders. Humanismus des anderen
Menschen. Meiner, Hamburg 1989, 9-59
158 Jacques Derrida, Peter Engelmann (Hrsg.) (1999). Randgänge der Philosophie. Passagen, 2., überarb.
Aufl., Wien, S. 51
42
Neuanfang
geben.
Hiermit
Rechtfertigungsmöglichkeit
entfiele
für einen
schließlich
vor Neologismen
auch
eine
triefenden
wesentliche
„Jargon
der
Eigentlichkeit“ (Adorno). Dies dürfte zumindest manchen der nationalsozialistischen
Tendenzen im Denken Heideggers den Wind aus den Segeln nehmen.
Auf eine ähnliche Weise lässt sich auch Heideggers Physiskonzeption kritisch würdigen,
ohne sie pauschal verwerfen zu müssen: Sowohl die φύσις als auch das Sein sind
tendenziell älter als die Philosophie oder, Heidegger-orthodox gesprochen, das „Denken
des Seins“; wenn nicht in ihrer bei Heidegger gemeinten Gestalt, so sind sie es doch
zumindest insofern, als ihr etymologischer Ursprung in das Dunkel der „Vorzeit“ (auch:
„Vorgeschichte“) hinabreicht. Heidegger selbst greift in diese Fundgrube fortlaufend hinab,
wenn er sich etymologischen Wissens bedient. In Umkehrung zu Heidegger ließe sich
formulieren, dass das – von ihm als Gegenstand der Geschichtswissenschaft abgelehnte –
„Historische“ in Wahrheit doch älter sein müsse als die „Geschichte“, dass der „vulgäre
Zeitbegriff“ also auch einen Aspekt habe, welcher sich durch kein Seinsdenken
wegdiskutieren („wegdenken“) lässt.
Doch was das Diesseits der Überlieferung betrifft, hat Heraklit nichtsdestotrotz wirklich
von der sich verbergenden φύσις gesprochen, Aristoteles hat sie wirklich als μορφή
kategorisiert, Bewegung zudem als eine Art von ἐντελέχεια, und ἀλήθεια bedeutet wirklich
so viel wie „Unverborgenheit“. Die Zusammenhänge, welche Heidegger nennt, können
daher durchaus wahre Aspekte enthalten. Dass Heidegger meint, die verschiedenen
Begriffe an einem bestimmten geschichtlichen Moment zusammenführen zu müssen, als
mündeten sie dort alle in denselben Fluss, ist es, was einen wesentlichen Teil der
Problematik ausmachen könnte. Wenn die Mehrdeutigkeit in Heideggers Philosophie auch
einen festen Platz einnimmt, so stellt es doch gerade eine Relativierung ihrer dar, sie auf
ein anfänglich Einfaches zurückführen zu wollen. In diesem Sinne vermutet auch Mikulić,
dass die φύσις nicht nur bei Aristoteles, sondern auch bei Heraklit bereits als mehrdeutig zu
verstehen sei159.
Was Heideggers generelles Verhältnis zu Aristoteles betrifft, stellt sich vor diesem
Hintergrund die Frage, inwiefern er selbst möglicherweise stets Aristoteliker geblieben ist.
Sofern die genannte Einschätzung von Mikulić zutreffend ist und Heidegger stets von der
ontologischen Differenz abhängig blieb, ließe sich erwägen, ob die Differenz nicht gerade
der von Physik (als Wissenschaft vom als φύσις gedachten Sein) und Metaphysik (als
159 Vgl. Mikulić (1987), S. 104
43
Wissenschaft vom Seienden) irgendwie entspreche. Es wäre dann Heideggers Glaube,
Aristoteles und die Metaphysik zugunsten eines anfänglichen Seinsdenkens „verwinden“
zu können, in welchem er sich getäuscht hätte.
Diese Fragen können im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nur als mögliche
Perspektiven aufgeworfen werden; in ihrer Allgemeinheit verweisen sie auf sein gesamtes
Lebenswerk und sind hier naturgemäß leichter zu fragen als zu beantworten. Überdies fällt
es schwer, Heidegger aus aristotelischer Perspektive zu kritisieren, da jener diesen besser
kennt als umgekehrt. Mikulić will Aristoteles' Physisdenken von Heideggers zwar
dahingehend abheben, dass „[d]ie Ousia […] nie die Oberhand über die Physis [gewinnt],
obwohl die letztere ohne die erstere nie thematisch werden kann“160, doch scheint dies mit
Heideggers Konzeption völlig kompatibel zu sein: Die οὐσία ist als bereits entborgene
„Seiendheit“ epistemologisch früher (oder scheint für Aristoteles, dessen Denken kein
Seinsdenken ist, zumindest so), ontologisch jedoch später als die φύσις. Die φύσις aber
verbirgt sich.
In einem abschließenden Kapitel soll stattdessen noch ein spezifischeres, bislang noch
nicht thematisiertes Problem der Physis-Schrift aufgegriffen werden: Heideggers Umgang
mit dem aristotelischen Primat der Ortsbewegung.
5. Bewegtheit und Ort
Heideggers Physis-Schrift weist eine Schwachstelle auf, deren kritische Diskussion ich
noch in keinem Heidegger-Kommentar ausfindig machen konnte: Weil Aristoteles in der
Physik die verschiedenen (ontischen) Bewegungsweisen zunächst gleichberechtigt
nebeneinander stellt, behauptet Heidegger irrtümlich: „Bewegtheit hinsichtlich des Ortes
und Platzes […] ist für Aristoteles nur eine unter anderen und in keiner Weise als die
Bewegung schlechthin ausgezeichnet.“161 An dieser exklusiven Alternative – Ortsbewegung
als einzige Bewegungsweise oder als eine unter anderen – hält Heidegger die gesamte
Schrift hindurch fest. Die tatsächlichen Verhältnisse erweisen sich jedoch als komplexer:
Zwar hat Heidegger Recht damit, dass Aristoteles im Gegensatz zur neuzeitlichen Physik
die anderen Bewegungsformen als irreduzibel erachtet. Nichtsdestotrotz erklärt Aristoteles
an verschiedenen Stellen der Physik deutlich ein Primat der Ortsbewegung162, wonach
160 Mikulić (1987), S. 117
161 Heidegger (1939), S. 248
162 Vgl. Physik IV 1, 208a 31 f., Physik IV 14, 223b 12 f.
44
„Ortsbewegung die ursprüngliche“163 Bewegungsform sei, „die erste unter den
Veränderungsformen“164. Vergleichbare Äußerungen finden sich in der Metaphysik sowie in
De caelo165.
Dieser Irrtum ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Zum einen lässt sich
erwägen,
dass
Heidegger
die
ontologische
Gleichwertigkeit
aller
ontischen
Bewegungsformen voraussetzen muss, um ihnen gegenüber die „Gestellung in das
Aussehen“
beziehungsweise
den
„Aufgang“
noch
als
ihren
gemeinsamen
phänomenologischen Ursprung abheben zu können, was er konsequenterweise auch
Aristoteles unterstellt166. Zum anderen erwähnt Heidegger in der Physis-Schrift zwar, dass
der „Ort“ für Aristoteles etwas anderes sei als für die neuzeitliche Wissenschaft, verfolgt
diesen Gedanken jedoch nicht weiter, wobei gerade zwischen Aristoteles' und Heideggers
Philosophie des Ortes deutliche Parallelen auszumachen wären. Im Folgenden soll dieses
Problemfeld analysiert werden und versucht werden, hieraus weitere Erkenntnisse
hinsichtlich des Verhältnisses von Heidegger und Aristoteles in Bezug auf die φύσις zu
ziehen.
5.1 Die Hierarchie der Bewegungsarten
Aristoteles' in der Physik vorgenommene Umgangsweise mit dem Primat der
Ortsbewegung ist bereits von sich aus verwunderlich: In Buch II kommt er – was
Heidegger zugute gehalten werden kann – zunächst noch gar nicht darauf zu sprechen. Wo
er in Buch III vom ἄπειρον handelt, erklärt er zwar, „[a]lles Wahrnehmbare [αἰσθητόν] ist
von Natur aus mit der Eigenschaft ausgestattet, irgendwo zu sein, und es gibt einen
bestimmten Ort eines jeden“167, aber erstens muss physisch Seiendes nicht notwendig
wahrnehmbar sein (wobei ein endgültiges Urteil hierüber auch von dem zugrunde gelegten
Verständnis von „Wahrnehmung“ – αἴσθησις – abhinge) und zweitens ist dies noch keine
Aussage über Bewegung. Erst, wo er in Buch IV den „Ort“ selbst zum Thema macht,
erklärt er auch das Primat der Ortsbewegung, und zwar gleich zu Beginn: Dort behauptet
er nun, alles Seiende (also nicht nur alles „Wahrnehmbare“) sei auch irgendwo, an einem
Ort. Zu der Auffassung, dass „von den Veränderungsformen […] die allgemeinste und die
163
164
165
166
Physik VIII 7, 260b 15 f., zit. n. Zekl (2012)
Physik VII 2, 243a 10 f., zit. n. Zekl (2012)
Vgl. Metaphysik XII 6, 1071b 10 f., De caelo, I 2-3, 269a ff.
Vgl. Heidegger (1939), S. 288, Trish Glazebrook (2000): „From φύσις to Nature, τέχνη to Technology:
Heidegger on Aristotle, Galileo and Newton“. In: The Southern Journal of Philosophy 38, 95-118, S. 102
167 Physik III 5, 205a 10 f., zit. n. Zekl (2012)
45
im eigentlichen Sinn die Ortsveränderung“168 sei, gelangt er dann jedoch ohne weiteren
Begründungsschritt.
Aus der Allgemeinheit des Ortes ließe sich vielleicht auf die Allgemeinheit der
Ortsbewegung schließen – aber um zu beweisen, dass diese „allgemeiner“ ist als die
anderen,
müsste Aristoteles
zunächst
noch
zeigen,
dass
keine
der
anderen
Bewegungsformen als allgemein gelten kann. Dies tut er hier nicht. Darüber hinaus wird er
gegen Ende des Buches noch behaupten, dass unter den Ortsbewegungen wiederum die
Kreisbewegung die ursprüngliche sei169, was er dort nicht als Konklusion, sondern
eindeutig als Prämisse anführt. Hierauf aufbauend ließe sich erwägen, dass Aristoteles das
Primat der Kreisbewegung gar nicht weiter begründen wolle, weil sie für ihn, als
kreisförmige Bewegung des Himmels (im geozentrischen Weltbild), von vornherein als die
höchste ausgezeichnet ist, oder weil sie ihm phänomenologisch irgendwie als erste gilt.
Nichtsdestotrotz führt der Stagirit gegen Ende der Physik, in VIII 7, doch noch eine
stringente Begründung für das Primat der Ortsbewegung an, im darauffolgenden Kapitel
dann auch für das des Kreises. Aristoteles erklärt dort zunächst, dass Wachstum
Eigenschaftsveränderung voraussetze, insofern es mit einem Stoffwechsel einhergehe, dass
es aber im Rahmen des Stoffwechsels auch stets zu einer Annäherung und Entfernung –
also zu einer Ortsbewegung – der sich wandelnden Stoffe in Bezug auf das sie Wandelnde
komme. Hieraus folgert er, dass Ortsbewegung die ursprüngliche Bewegungsart sei 170.
Auch diese Begründung bleibt hier allerdings noch unvollständig, da Aristoteles für eine
vollständige Deduktion der Konklusion noch zeigen müsste, dass die Ortsbewegung
ihrerseits nicht wieder mit anderen Bewegungsformen einhergeht. Dies ist vor allem unter
dem Aspekt bemerkenswert, dass das Wachstum – hier für Aristoteles die am wenigsten
ursprüngliche Bewegungsform – wie besprochen ein wesentlicher geschichtlicher
Ursprung des Physisbegriffs sein dürfte. Später behauptet er noch, „[e]s besteht ja keinerlei
Notwendigkeit dafür, daß etwas, das den Ort verändert, auch wachsen oder Eigenschaften
ändern oder sogar entstehen oder untergehen müßte“171 – allerdings ließe sich
Ortsbewegung, als raum-zeitliches Ereignis, selbst in einem Lichte des Werdens und damit
eines Wechselspiels von Entstehen und Untergang, von Ent- und Verbergung sehen.
Anschließend erklärt Aristoteles, dass Ortsveränderung nicht nur in dem Sinne
168
169
170
171
Physik IV 1, 208a 31 f., zit. n. Zekl (2012)
Vgl. Physik IV 14, 223b 12 ff.
Vgl. Physik VIII 7, 260a f. 23-7
Physik VIII 7, 260b 16-28
46
ursprünglich sei, dass alle anderen Bewegungsformen sie zur Voraussetzung haben,
sondern auch in zeitlicher Hinsicht: Zwar müssen Lebewesen – gemeint sind wohl Tiere –
zuerst entstehen und wachsen, bevor sie sich bewegen können, jedoch sei ihr Entstehen nur
möglich auf Grundlage eines anderen Wesens, das bereits Ortsbewegung vollziehen konnte
(die „Frage nach der Henne und dem Ei“ stellt er dabei nicht). An dieser späten Stelle der
Physik hat Aristoteles eine differenziertere Auffassung von Selbstbewegung (hinsichtlich
des Ortes) entwickelt, die an diesem spezifischen Punkt eher aktiv als medial zu verstehen
ist172 – etwa als gewollte Bewegung von Gliedmaßen durch die Seele. Was entsteht und
vergeht, entwickelt sich demgemäß zur Ortsbewegung (Fähigkeit zur aktiven
Selbstbewegung hinsichtlich des Ortes) hin. Auf dieser Grundlage verbindet Aristoteles die
reine Ortsbewegung mit den immerwährenden Dingen, die Entwicklung zur Ortsbewegung
hin hingegen mit dem Vergänglichen173. In einem dritten Sinne ursprünglich sei die
Ortsbewegung deswegen auch dem Wesen nach: Da für Aristoteles „das dem Ins-SeinTreten nach Spätere das der Natur nach Frühere“ 174 ist, kennzeichnet das Vermögen zur
Ortsbewegung Wesen, „die in höherem Maße ihre Naturbestimmung ergriffen haben“ 175
als unbewegliche, und außerdem sei die Ortsbewegung die einzige Bewegungsweise,
welche die Wesen nicht zugleich verändere176.
Zu Beginn von Buch II – und damit auch zu Beginn von Heideggers Analyse – hatte
Aristoteles
zunächst
„Mehrung
und
Minderung,
Änderung
und
Forthebung
[Ortsbewegung]“177 unterschieden. Heidegger kommentiert hierzu:
Die Arten werden nur aufgezählt, d. h. nicht nach einer ausdrücklich genannten
Hinsicht unterschieden und in dieser Unterschiedenheit begründet […] Ja die
bloße Aufzählung ist nicht einmal vollständig. Und die nicht genannte Art der
Bewegtheit ist gerade jene, die für die Wesensbestimmung der φύσις
entscheidend wird.178
Die entscheidende Art der Bewegtheit, die Heidegger meint, ist die später diskutierte
μορφή als „Gestellung“ – beziehungsweise die φύσις als „Aufgang“ oder schließlich
„Entbergung“. Von der Sonderrolle der Ortsbewegung bei Aristoteles ist bei Heidegger
hingegen keine Spur. Vielmehr ist dieser in den darauffolgenden Absätzen ganz darum
172 Vgl. Mary Louise Gill (2017): „Aristotle on Self-Motion“. In: Dies. (Hrsg.), James G. Lennox (Hrsg.).
Self-Motion: From Aristotle to Newton. Princeton University, Princeton, 15-34, S. 17
173 Vgl. Physik VIII 7, 260b f. 29-12
174 Ebd., 261a 16, zit. n. Zekl (2012)
175 Ebd., 261a 18 f., zit. n. Zekl (2012)
176 Vgl. ebd., 261a 18-25
177 Heidegger (1939), S. 248
178 Ebd.
47
bemüht, diese Sonderrolle als ein neuzeitliches Vorurteil zu entlarven. Ob es sich hierbei
um ein absichtliches Auslassen von Seiten Heideggers handelt oder ob diese
Fehleinschätzung auf Unkenntnis beruht, lässt sich textimmanent nicht nachprüfen.
Nichtsdestotrotz lässt sich, zumal auf Grundlage von Aristoteles' Begründung für das
Primat, überlegen, was Heidegger zu der Frage hätte äußern können, wenn er sie
thematisiert hätte.
Aristoteles setzt das Primat der Ortsbewegung unter anderem, weil die Wesen, denen sie
eignet, ihr Wesen beziehungsweise die φύσις in höherem Maße verwirklicht haben. Ferner
verändert einzig die Ortsbewegung nicht die Erscheinung der Wesen, die sie ausführen.
Dadurch ist auch sie es, die vor allem dem Immerwährenden – also dem Himmel –
zukommt. In Heideggers Terminologie ließe sich formulieren, dass die Ortsbewegung
diejenigen Wesen kennzeichne, die bereits „entborgen“ sind und daher in der
„Unverborgenheit“ weilen. Das Wechselspiel von An- und Abwesung gehöre der
sublunaren Welt, nicht jedoch dem Himmel an. Und in Heideggers Konzeption der
Seinsgeschichte würde das bedeuten, dass Aristoteles' Setzung dieses Primats dem Schritt
von der Physik in die Metaphysik entspreche, von der Entbergung in die Unverborgenheit,
in welcher sich die Entbergung verbirgt. Dass Aristoteles die Begründung für das Primat
erst am Ende der Physik liefert, wo er zugleich auch von der Analyse des Bewegten (und
der Bewegung) zu der des unbewegten Bewegers übergeht, erhärtet diesen Eindruck.
Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Eine Sonderrolle spielt die Ortsbewegung nicht
nur als erste aller Bewegungsformen, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses von
Natur und Technik. In Buch V behauptet Aristoteles, dass der Ortswechsel die einzige
Bewegungsform sei, welche sowohl gemäß der φύσις als auch gegen sie möglich ist179. Im
Umkehrschluss – vorausgesetzt, dass keine Bewegungsformen denkbar sind, die zwar
technisch, nicht jedoch physisch sein können – ließe sich formulieren, dass die technische
beziehungsweise „Fremd“-Bewegung nur als Ortsbewegung möglich sei.
Gleichwohl stimmt diese Einschätzung nicht mit allem überein, was Aristoteles sonst
behauptet. In der Nikomachischen Ethik erklärt er zum Beispiel, „dass keine der Tugenden
des Charakters in uns von Natur aus (physei) entsteht“180. Die Entstehung unserer
charakterlichen Tugenden ist aber eine Bewegung, die sicherlich keine (bloße)
Ortsbewegung darstellt. Aristoteles meint zwar auch, dass sie ebenso wenig gegen die
Natur entstehen: „Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch
179 Vgl. Physik V 6, 230a 18 ff.
180 Eth Nic II 1, 1103a 18 f., zit. n. Wolf (2018)
48
Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet“181 – es handelt sich um Naturanlagen,
Dispositionen. Das Gewicht der vorherigen Behauptung würde dies aber nur dann
schmälern, wenn die Aufnahme und Gewöhnung unsererseits sich als
bloße
Ortsbewegungen verstehen ließen, was ohne einen entsprechenden Reduktionismus aber
kaum möglich sein dürfte. Auch in der Physik erläutert Aristoteles die Bewegung am
Beispiel eines Kranken, der mit Unterstützung eines Arztes genest 182 sowie eines
Lernenden, der mit Unterstützung eines Lehrers lernt183: in beiden Fällen bietet deren
bewegende Tätigkeit zwar eine Unterstützung oder einen Anstoß, verlässt sich aber
trotzdem auf die Selbstbewegung von Leib beziehungsweise Seele der sie in Anspruch
nehmenden Person, um ihr Werk zu vollenden. Wenigstens die sprachliche Mitteilung der
Lehrerin wird Aristoteles aber kaum als reine Ortsbewegung verstehen wollen oder
können: „Die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton“ 184, äußert er in De anima, und obschon
er Schall zuvor auf Luftbewegung zurückgeführt hatte, dürfte dies für die „Bedeutung“
kaum in überzeugender Weise möglich sein, selbst, wenn Aristoteles Gegenteiliges
behaupten würde. Wieland erklärt diesbezüglich nun schlicht, dass es sich „beim Lernen
nicht um ein Beispiel aus der natürlichen Welt, sondern nur für die natürliche Welt“ 185
handle. Doch Aristoteles kann wohl kaum das Konzept einer „physischen Welt“
zugeschrieben werden, von welcher sich eine „politische“, „seelische“ oder andere dann
abgrenzen ließe – was wohl ein recht „un-aristotelischer“, eher cartesischer Gedanke wäre
–; vielmehr werden φύσις und πόλις sich in ein und derselben Welt zeigen. Hierfür
sprechen auch seine regelmäßigen Rückgriffe auf die φύσις in seinen ethisch-politischen
Schriften.
Wenn die τέχνη also nicht nur „Technik“ im Sinne des Handwerks oder gar der
Maschinentechnik bedeuten soll, sondern auch die Kunstfertigkeit einer Ärztin oder eines
Lehrers einschließt – ersteres Beispiel verwendet Aristoteles bereits in Physik II, 1 –, dann
wird sie kaum auf Ortsbewegungen dessen, woran sie verübt wird, reduzierbar sein. Dass
Aristoteles diesem in Buch V selber widerspricht, macht die Bedeutung der Ortsbewegung
in der Physik noch rätselhafter, als sie auch ohne diesen Widerspruch schon wäre.
Allerdings ließe sich ihr mit Heidegger – wenngleich er in der Physis-Schrift nicht darüber
spricht – ein „seinsgeschichtlicher“ Sinn abgewinnen: Auf subtile Weise würde sich hier
181
182
183
184
185
Ebd., 1103a 24-26, zit. n. Wolf (2018)
Vgl. Physik II 1, 192b 23-27
Vgl. Physik III 3, 202a 31-35
De anima II 9, 420b 32 f., zit. n. Theiler (2012)
Wieland (1962), S. 248
49
zeigen, wie auch die τέχνη bei Aristoteles schon die moderne Technik vorwegnimmt.
Gleichwohl sollte eine entsprechende Deutung nicht vorschnell vorgenommen werden:
Wollte man Aristoteles' Umgang mit der Ortsbewegung allein als Zeichen für das Ende des
– im Heideggerschen Verständnis – anfänglichen φύσις-Denkens verstehen, würde man
sich hiermit die Möglichkeit verbauen, Aristoteles' und Heideggers Philosophie des Ortes
beziehungsweise Raums noch miteinander vergleichen zu können. Immerhin lässt
Heidegger einen Hinweis darauf, dass Aristoteles den Ort selbst anders versteht als
Descartes und die Wissenschaft, auch in der Physis-Schrift kurz aufblitzen:
Überdies gilt es zu beachten, daß der ,Ortswechselʻ in gewissem Sinne etwas
anderes ist als die neuzeitlich gedachte Lageveränderung eines Massenpunktes
im Raume. Τόπος ist das ποῦ, das Wo und Dort der Hingehörigkeit eines
bestimmten Körpers […]186
Die Frage nach dem Ort selbst eröffnet für die nach der Ortsbewegung so noch eine
zusätzliche Ebene. Im folgenden Unterabschnitt soll daher dem Ort selbst nachgegangen
werden.
5.2 Topologie
Ob Aristoteles einen Begriff des „Raums“, gar des „physischen Raums“ hatte, ist
umstritten. Während Heidegger behauptet, dass nicht nur Aristoteles, sondern die Griechen
insgesamt für „das, was wir den ,Raumʻ nennen […] weder ein Wort noch einen Begriff
haben“187, spricht Zekl (1990) freimütig von der „aristotelischen Lehre vom Raum“ 188.
Gemeinhin wird – in Widerspruch zu Heidegger – Platons χώρα als Vorläuferin des Raums
gedeutet189. Nichtsdestotrotz bezieht sich Aristoteles – wie im Folgenden zu erörtern sein
wird – zumindest in Buch IV der Physik eindeutig auf den Ort, nicht auf den Raum. Die
inhaltliche Diskussion von Aristoteles' Ortsbegriff soll sich auf die dortige „Topologie“ (als
„-logie“ des Ortes) konzentrieren.
Für Heidegger gehört „der Raum“ zu den subtilen metaphysischen Konzepten, die sich das
neuzeitliche wissenschaftliche Denken als vermeintliche Selbstverständlichkeiten setzt.
Die „Raumzeit“ (mitsamt der „Krümmung“ und „Expansion“ des Raums) aus der
186
187
188
189
Heidegger (1939), S. 248
Ebd.
Vgl. Zekl (1990)
Vgl. Niko Strobach (2011): „Ort“. In: Christof Rapp (Hrsg.), Klaus Corcilius (Hrsg.). Aristoteles: Leben
– Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar, 292-297, S. 294; Jeff Malpas (2006). Heidegger's
Topology: Being, Place, World. MIT Press, Cambridge, S. 70
50
Relativitätstheorie hat ihn vielleicht weniger relativiert als noch weiter verabsolutiert,
insofern der Raum die Zeit, wie Albert Einstein sagt, „verschlingt“:
Der Raum, ans Licht gebracht durch das körperliche Objekt, zur physikalischen
Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten Jahrzehnten den Äther und
die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch das Feld und die
Korpuskeln zu verschlingen, so daß er als alleiniger Träger der Realität übrig
bleibt.190
Bei aller „Bewährung“ der Relativitätstheorie im positivistischen Sinne scheint eine
derartige Behauptung doch weit über ihre zulässigen Interpretationen hinauszureichen. Die
Vorstellung, allein der Raum – und nicht einmal die Zeit – existiere wirklich, erscheint für
sich genommen schlichtweg unsinnig. Zumal beachtet werden muss, dass „der Raum“ im
Alltag weitgehend bedeutungslos ist: Wegbeschreibungen kommen ohne den Zusatz aus,
dass der Weg „durch den Raum“ führe, und über alles Empirische lässt sich vortrefflich
sprechen, ohne noch betonen zu müssen, dass es sich „im Raum“ ereigne. Während Lagen
und Lagebeziehungen tiefe empirische Bewandtnis haben, weist der Raum selbst allenfalls
als abstrakter Sammelbegriff für erstere noch eine solche auf. Die Auffassung, dass
Ortsbewegung stets im Raum geschehe und dass alles physisch Seiende auch im
physischen Raum sei, setzt mithin voraus, dass auch Ortsbewegung sowie empirische
Phänomene außerhalb von ihm denkbar seien; zumindest wäre dies Voraussetzung dafür,
dass „im Raum“ in diesem Zusammenhang kein gänzlich leeres Prädikat darstellt.
Tatsächlich zeichnet die Präposition „im“ den Raum hier aber bereits selbst als Ort aus,
insofern sie eine Lagebeziehung zum Raum selbst (nicht etwa zu anderem im Raum
Befindlichen) ausdrückt; ähnlich wäre es, wollte man über Seiendes äußern, es befinde sich
„an“ Punkten des Raums.
Es ist dieses Spannungsfeld von Ort und Raum – in SuZ noch „Platz“ und Raum191 –,
welches Heidegger auch in der Physis-Schrift beschäftigt: „Für uns Heutige ist nicht der
Raum durch den Ort, sondern alle Orte als Punktstellen durch den endlosen, überall
gleichartigen, nirgendwo ausgezeichneten Raum bestimmt“192. Heideggers Anliegen ist in
diesem Zusammenhang, den „Raum“ als vom „Ort“ Abgeleitetes zu charakterisieren,
freilich mit der Konsequenz, dass ersterer nicht nur in metaphysischer, sondern auch in
jedweder methodischen Hinsicht nicht mehr als absolut gelten kann: Denn Orte sind
190 Albert Einstein (1930): „Raum, Äther und Feld in der Physik“. In: Jörg Dünne (Hrsg.), Stephan Günzel
(Hrsg.). Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt
a. M., 2018, 94-102, S. 101
191 Vgl. Heidegger (1927), S. 102 ff.
192 Heidegger (1939), S. 248 f.
51
jeweils durch Bestimmtes ausgezeichnet, der (eine) Raum soll es jedoch schon
konzeptionell nicht sein. Mithin lässt sich Raum deswegen auch gar nicht im Singular,
sondern erst im (potenziellen) Plural, das heißt im Neben- und Ineinander wesensmäßig
denken: „Räume [empfangen] ihr Wesen aus Orten und nicht aus ,demʻ Raum“193.
Heidegger führt zur Erläuterung dessen in Bauen Wohnen Denken an:
Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager. Ein Raum ist
etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch πέρας.
Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es
erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt […]
Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene.194
Räume sind also erst aufgrund eines Aktes – oder Ereignisses – des „Einräumens“. Das
anschauliche Bild, auf welches Heidegger hier zurückgreift, ähnelt dem des „Lichtens“ aus
SuZ195 und scheint hinsichtlich der Frage nach der φύσις der „Entbergung“ zu entsprechen.
Insbesondere die zeitgenössische Redeweise vom „physischen Raum“ – man beachte, dass
kaum je von einer „physischen Zeit“ gesprochen wird – ließe sich so bewerten als
Verbergung der φύσις durch Absolutsetzung des Raums: Der physische Raum „verschlingt“
die φύσις wie Einsteins Raumzeit die Zeit. Hierzu sei noch Einsteins physikalischparmenideisches „Glaubensbekenntnis“ ergänzt, das er 1955 angesichts des Todes seines
Freundes Michele Besso äußerte, wenige Wochen vor seinem eigenen: „Für uns gläubige
Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die
Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ 196. Wenn die relativistische Raumzeit
mithin als wundersames, alchemistisches Ineinander von Raum und Zeit vorgestellt wird,
so dürfte dieses in Wahrheit eher dem Heideggerschen Denken entsprechen – gesetzt, dass
Einsteins Aussagen hier als paradigmatisch gelten können. Anderswo führt Heidegger für
die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit zumal den Begriff des „Zeit-Raums“ ein197.
Die Grenze, πέρας, übernimmt Heidegger hier möglicherweise von Aristoteles. Jedenfalls
bestimmt auch dieser den „Ort“ zunächst als „etwas Derartiges […] wie ein Gefäß“ 198, da
der Ort das, was an ihm ist, zwar birgt, zugleich jedoch – anders als dessen Form – von
ihm ablösbar bleibt. Später differenziert er das Verhältnis zwischen der Form und dem Ort
einer Sache deswegen dahingehend, dass „nun wirklich beides Grenzen [sind], nur nicht
193
194
195
196
197
Heidegger (1951), S. 156
Ebd.
Vgl. Theodore R. Schatzki (2007). Martin Heidegger: Theorist of Space. Steiner, Stuttgart, S. 60
Zit. n. Jürgen Neffe (2006). Einstein: Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, S. 443
Vgl. Martin Heidegger (1989): „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“. In: Friedrich-Wilhelm von
Herrmann (Hrsg.). Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 65. Klostermann, Frankfurt a. M., S. 371 ff.
198 Physik IV 2, 209b 28 f., zit. n. Zekl (2012)
52
des gleichen (Dings), sondern die Form (ist Grenze des umfaßten) Gegenstandes, der Ort
die des umfassenden Körpers“199. Noch später verdeutlicht er: „Zugleich mit und bei dem
Ding ist Ort; zugleich mit und bei dem Begrenzten sind die Grenzen“200.
Nun könnte man einwenden, dass die Grenze des umfassenden Körpers doch ebenso auch
die Form dieses Körpers darstelle, womit der Ort ebenfalls eine Form sei. Dieser Einwand
würde den Ort jedoch behandeln, als wäre er eine οὐσία. „Ort“ ist für Aristoteles aber
nichts im eigentlichen Sinn Seiendes, sondern wird nur in Bezug auf bereits in den Blick
genommene οὐσίαι ausgesagt: Ein Ort ist immer Ort eines Seienden. Dabei ist er zwar
ablösbar von diesem Seienden, insofern der Ort auch dann bleibt, wenn dieses Seiende
fortbewegt wird (und ein anderes seinen Platz einnimmt). Jedoch ist es gerade dieser
Umstand, durch welchen der Verweis auf den Ort eines Seienden zugleich auf dasjenige
Seiende verweist, welches diesen Ort ausmacht: Orte sind, als Antworten auf die Frage, wo
etwas ist, so etwas wie „in der Vase“, „auf dem Teller“, „zwischen den Sternen“ – oder
schlicht „dort“, wobei auch hiermit jedoch ein Verweis durch einen Fingerzeig oder
ähnliches verbunden bleibt. Wenn Aristoteles den Ort nicht als Form auffasst – denn er ist
„weder Form noch Stoff noch eine Art Ausdehnung“ 201 –, aber trotzdem sowohl Ort als
auch Form als eine Grenze von Seiendem, dann lässt sich dieses Paradoxon durch die
Berufung auf die Aussagestruktur auflösen: Wenn wir von dem Ort einer Sache sprechen,
sprechen wir sowohl die Grenze dieser Sache als auch die des sie Umfassenden an; doch
letzteres tritt hier nicht als Zugrundeliegendes auf, sondern nur, insofern es den Ort des
Zugrundeliegenden ausmacht. Jener bleibt von diesem ablösbar, die Form ist jedoch nicht
ablösbar.
In der deutschen Sprache stellen die Verben „räumen“ und „evakuieren“ Synonyme dar. Es
ließe sich daher erwägen, ob der „physische Raum“ und das „Vakuum“ ontologisch
gleichursprünglich seien. Mithin wird das Vakuum präsentiert als Gebiet, in dem –
wohlgemerkt abgesehen vom Raum – nichts ist, beziehungsweise als Ort, an dem nichts
ist, dessen Ort er sein könnte. Der Vakuumbegriff setzt in beiden Fällen zumindest voraus,
dass der Raum beziehungsweise Ort als im eigentlichen Sinn Seiendes gedacht werden
kann. Deswegen ist es für Aristoteles nur konsequent, wenn er auf Grundlage seiner
Topologie auch die Denkmöglichkeit des Vakuums verneint:
Diese meinen doch, das Leere müsse […] sein ein für sich selbst abgesondert
199 Physik IV 4, 211b 12-14, zit. n. Zekl (2012)
200 Ebd., 212a 29 f., zit. n. Zekl (2012)
201 Ebd., 212a 3, zit. n. Zekl (2012)
53
Bestehendes. Das ist aber die gleiche Behauptung wie die, Ort sei etwas
eigenständig Bestimmtes; und daß dies unmöglich ist; ist früher schon
gesagt.202
Aus Sicht von Aristoteles' Topologie zeigt sich also die Behauptung, der physische Raum
existiere eigenständig (wenngleich er in der Relativitätstheorie gekrümmt werden mag)
sowie die, ein leerer Raum stelle etwas anderes dar „als eine wahrhaft leere Vorstellung“ 203,
gerade als Verdopplung der Wirklichkeit: In nebenbei zutreffender Bedeutung Seiendes
wird als eigentlich Seiendes fehlgedeutet. Dem physisch Seienden wird der Raum
gewissermaßen noch „übergestülpt“.
Lässt sich von Aristoteles' Topologie nun eine Brücke zu der Heideggers bauen?
Aristoteles' Kritik des Raums und des Vakuums richtet sich natürlich nur gegen die
Vorstellung einer absoluten Leere. Dagegen, dass ein „evakuiertes“ („geräumtes“) Theater
anschließend als „leer“ bezeichnet werden kann, insofern dort keine Besucher mehr
anwesend sind, hätte er nichts einzuwenden gehabt. Ferner ließe sich Heideggers Ansicht,
Räume müssen „eingeräumt“ werden, mit dieser Vorstellung ergänzen zu der, dass das an
Orten geschehende Einräumen von Räumen zugleich das Räumen („Evakuieren“) oder
auch Aufräumen des jeweiligen Ortes bedeuten wird: „Aufräumen“ hier in dem Sinne, dass
der Mensch das am Ort Vorgefundene ordnet und bearbeitet, um sich so einen Raum zu
erschaffen. Dass ein solcher Raum wesensmäßig abhängig bliebe von dem Ort, an dem er
ist – vom genius loci –, wäre dann eine geradezu triviale Feststellung.
Nun ist dies jedoch eine bloß ontische Überlegung. Die entscheidende Schwierigkeit, die
die Verbindung von Heideggers Topologie mit der aristotelischen bietet, ist jedoch die, dass
Heidegger das „Einräumen“ letztlich ontologisch denken wird, sodass Raum, wenngleich
nicht „ablösbar“ oder „absolut“, doch eine größere Bedeutung erhalten muss, als es die
aristotelische Analyse bisher nahegelegt hat. Birgt diese also noch eine „tiefere“
Bedeutungsebene?
Heideggers Topologie impliziert, dass Orte, grob gesprochen, zwar „von Natur aus“
existieren können, Räume jedoch nicht und insofern als „technisch“ aufgefasst werden
müssen (was hier heißt, dass ihre selbstverständliche Setzung das „Einräumen“ – als die sie
in die Unverborgenheit bringende Entbergung – verbirgt). Auf diese Weise kann auch
Einsteins Absolutsetzung des Raums als Verfallenheit an die Technik gewertet werden.
Eine optimale Möglichkeit, das heideggersche „Entbergungsgeschehen“ zu adressieren,
202 Physik IV 8, 216a 23-26, zit. n. Zekl (2012)
203 Ebd., 216a 27, zit. n. Zekl (2012)
54
böte hier der berühmte horror vacui. Von diesem muss hier allerdings im Konjunktiv
gesprochen werden, weil Aristoteles ihn nie selbst der Natur zugeschrieben – und sie auf
diese Weise personifiziert – hat. Laut Grant (1973) tritt er – in verschiedenen Variationen –
ab dem 13. Jahrhundert auf204. Nichtsdestotrotz wird der horror vacui so oft mit Aristoteles
selbst in Verbindung gebracht – mithin zur neurotischen Projektion seinerseits
psychologisiert205 –, dass sich spekulieren lässt, dass Aristoteles' Lehre hier einen
entsprechenden Nerv trifft.
Angenommen also, Aristoteles hätte selbst gesagt, dass die Natur die Leere scheue: Wie
würde sich dieser Gedanke für das heideggersche Denken darstellen? Vorausgesetzt, dass
die Leere als „Eingeräumtes“ ein in die Unverborgenheit Entborgenes sei, die Natur aber
die Entbergung, ließe er sich paraphrasieren zu: „Die Entbergung scheut das Entborgene“.
Weil das „Scheuen“ – womit horror hier freimütig übersetzt sei – seinerseits einer Neigung
zum „Verbergen“ gleichkommt, ließe sich weiter formulieren: „Die Entbergung neigt dazu,
sich (vor) dem Entborgenen zu verbergen“, was – hier natürlich beabsichtigt – wieder eine
starke Ähnlichkeit zu Heraklits Fragment 123 aufweisen würde. Nun handelt es sich
hierbei allerdings um voraussetzungsreiche Spekulation, und wir wollen nicht den Fehler
machen, ihr das übermäßige Gewicht beizumessen, welches Heidegger ihr tendenziell gab.
Was in Aristoteles' Kosmos einen wesentlichen Aspekt ausmacht und auch in seiner
Topologie nicht verschwiegen wird, sind außerdem die natürlichen Körper und ihre
angestammten Orte: „Es bewegt sich nämlich ein jeder an seinen eigenen Ort, wenn man
ihn nicht daran hindert, der eine nach oben, der andere nach unten“206 – Feuer und Luft
nach oben, Erde und Wasser nach unten. Zu beachten ist nach wie vor, dass Heidegger,
wenn er über Derartiges spricht, nie nur Ontisches im Sinn hat, sondern dieses zugleich
immer auch irgendwie ontologisch gedacht werden muss. In Bauen Wohnen Denken nimmt
auch er eine gewisse Unterscheidung von Himmel und sublunarer Welt vor, wenn er sein
„Geviert“ einführt:
„[A]uf der Erde“ heißt schon „unter dem Himmel“. Beides meint mit „Bleiben
vor dem Göttlichen“ und schließt ein „gehörend in das Miteinander der
Menschen“. Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und
Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins […] Diese ihre Einfalt
nennen wir das Geviert.207
204 Vgl. Edward Grant (1973): „Medieval Explanations and Interpretations of the Dictum that Nature
Abhors a Vacuum“. In: Traditio 29, 327-355, S. 327
205 Vgl. John Thorp (1990): „Aristotle's Horror Vacui“. In: Canadian Journal of Philosophy 20(2), 149-166,
S. 149 f.
206 Physik IV 1, 208b 11 f., zit. n. Zekl (2012)
207 Heidegger (1951), S. 151 f.
55
Nun bleibt aber fraglich, wie viel von Aristoteles in derartigen Überlegungen überhaupt
noch stecken kann. Zwar äußert Aristoteles sich viel über das Göttliche des Himmels, was
jedoch kaum für ihn als spezifisch gelten kann, wie er freilich auch selber weiß: „Denn alle
Menschen haben eine Vorstellung von den Göttern, und alle, sowohl Barbaren als auch
Hellenen, die überhaupt nur an Götter glauben, weisen dem Göttlichen den höchsten Ort
zu“208.
Die wesentliche Einsicht dieses Abschnitts bleibt daher, dass auch für Aristoteles
Ortsbewegung nicht „im Raum“ geschieht, weil es den einen physischen Raum, in
welchem sie sich ereignen könnte, nicht gibt – jedenfalls nicht als Substanz und als Form
der Anschauung nur insofern, als er sich mathematisch, nicht jedoch physikalisch
erforschen lässt. Cum grano salis lässt sich Ortsbewegung wohl noch als „räumlich“
einstufen, nicht jedoch als „im Raum“. Im Folgenden sei noch angesprochen, wie es sich
mit der Zeit verhält, um diesen Exkurs über Wesen und Status der Ortsbewegung
schließlich zu einem Abschluss zu bringen.
5.3 Bewegung zwischen Raum und Zeit
Darauf, dass Bewegung für Aristoteles „in der Zeit“ ebenso wenig geschieht wie „im
Raum“, wurde bereits zuvor kurz hingewiesen, die Behauptung jedoch noch nicht
hinreichend begründet. Sie ergibt sich aus seiner Analyse der Zeit, die er in Physik IV, 1014 auf die des Ortes und Vakuums folgen lässt.
Aristoteles stellt dort fest, dass Zeit nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist, weil Bewegung
schneller oder langsamer ablaufen kann, Zeit jedoch nicht, werden „schnell“ und
„langsam“ doch erst über sie bestimmbar209. Andererseits sei Zeit aber auch nicht denkbar,
ohne dass auch Veränderung geschieht210. Diese Veränderung muss nicht immer sichtbar
sein, sondern kann beispielsweise auch die eigene Imagination betreffen211. Das Verhältnis
von Zeit und Bewegung besteht eben nicht einfach darin, dass die Zeit der „Raum“ sei,
„in“ welchem Bewegung dann ihren Platz einnehmen würde, sondern muss anders
beschaffen sein. Hierbei fällt zugleich auf, dass Aristoteles ebenso wie beim Ort
beziehungsweise Raum meidet, alle Phänomene, die mit Zeit verbunden sind, auf sie
reduzieren zu wollen. Bewegung und Zeit bedingen sich zwar gegenseitig, aber weder ist
208
209
210
211
De caelo I 3, 270b 5-8, zit. n. Jori (2009)
Vgl. Physik IV 10, 218b 13-17
Vgl. Physik IV 11, 218b 21
Vgl. ebd., 219a 4-6
56
Zeit deswegen Bewegung noch ist Bewegung Zeit.
Entscheidend für den aristotelischen Zeitbegriff ist das „Jetzt“ (νῦν). Aristoteles betrachtet
das Jetzt als das, was Vergangenheit und Zukunft trennt. Dem Jetzt selbst kann dabei keine
Dauer beigemessen werden, es ist sozusagen infinitesimal kurz. Aus diesem Grund ist die
Zeit auch keine Abfolge von „Jetzten“ 212. Stattdessen erklärt Aristoteles, dass Zeit vielmehr
das sei, was durch Jetzte begrenzt wird:
Wenn wir nämlich die Enden [Anfang und Ende einer Bewegung] als von der
Mitte [der Bewegung selbst] verschieden begreifen und das Bewußtsein zwei
Jetzte anspricht, das eine davor, das andere danach, dann sprechen wir davon,
dies sei Zeit […]213
Zeit ist demnach, was die Seele an der Bewegung zählt: „[d]ie Meßzahl von Bewegung
hinsichtlich des ,davorʻ und ,danachʻ“214. Dabei handelt es sich allerdings um keine
psychologistische Auffassung: Denn gleich im Anschluss verweist Aristoteles ausdrücklich
darauf, dass mit „Zahl“ hier nicht die abstrakte Zahl als Resultat oder Instrument des
Zählens gemeint ist, sondern eben das, was gezählt wird, das Gezählte215. Das Verhältnis
von Zeit und Seele hängt nichtsdestotrotz von dem von Zahl und Seele ab, was Aristoteles
in der Abhandlung noch mehrfach thematisiert216. Demgemäß kann Aristoteles aber äußern,
dass „In-der-Zeit-sein“ so viel bedeute wie „Durch-Zeit-gemessen-Werden“217. Die
alltagspsychologische Vorstellung, Ereignisse geschehen „in“ der Zeit, muss also nicht
verworfen werden, was ebenso wohl für den Raum gelten kann. Vielleicht ließe sich sogar
analog zum Verhältnis von Zeit und Bewegung formulieren, dass der Raum Ort sei,
insofern dieser vermessen wird. Schließlich trägt die „Di-mension“ das „Messen“ bereits in
sich und bezeichnet in der Physik nicht nur räumliche Ausdehnung, sondern ganz
allgemein die bei einer Messung vermessene Eigenschaft einer Sache. Nichtsdestotrotz
sind Raum und Zeit schon im Alltag vieldeutige Konzepte, sodass spätestens ihre
ontologische Fixierung, gar als rein mathematische vierdimensionale Raumzeit, der
Verbergung ihres Wesens gleichkäme.
Wie bereits verdeutlicht würde es daher eine Verkürzung der aristotelischen Philosophie
des Ortes und der Zeit darstellen, die von ihm propagierte Ortsbewegung als „Bewegung in
Raum und Zeit“ aufzufassen, wenngleich sie nichtsdestotrotz als räumlich – unter dem
212
213
214
215
216
217
Vgl. Physik IV 10, 218a 8
Physik IV 11, 219a 26-29, zit. n. Zekl (2012)
Physik IV 11, 219b 2., zit. n. Zekl (2012)
Vgl. ebd., 219b 5-8
Vgl. Wieland (1962), S. 316 ff.
Vgl. Physik IV 12, 221b 22
57
Vorbehalt, dass Aristoteles einen solchen Raumbegriff kaum hat – und zeitlich gelten kann:
„Räumlich“ insofern, als Ortsbewegung natürlich einen Ortswechsel bedeutet; zeitlich
insofern, als sie sich durch Zeit messen lässt.
Die Frage, die diesen Exkurs über Raum und Zeit erst motiviert hatte, war, ob aus
Heideggers Sicht das Primat der Ortsbewegung bei Aristoteles noch etwas anderes
bedeuten könne als in der neuzeitlichen Physik. Motiviert wurde sie von Heideggers
diesbezüglicher Fehldarstellung in der Physis-Schrift, der die Frage dort zwar nicht
thematisiert,
jedoch
suggeriert,
dass
für Aristoteles
zumindest
alle
ontischen
Bewegungsweisen gleichrangig seien.
Spekulativ konnte erwogen werden, dass zumindest Aristoteles' Philosophie des Ortes
„noch“ Spuren von der Heideggers trägt. Es mag hier verfehlt scheinen, mit dem „noch“ so
zu sprechen, als ob nicht Aristoteles, sondern Heidegger der ältere Philosoph wäre; diese
Wortwahl ergibt sich allein aus Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte, in der die
Geschichte der Metaphysik die der Seinsverlassenheit ist und schon bei Aristoteles nur
noch jener Nachklang des anfänglichen Physis-Denkens vernehmbar bleibt.
Über die Zeit äußert sich Heidegger in der Physis-Schrift nicht. Allerdings befasst sich
§ 81 von SuZ mit dem aristotelischen Zeitbegriff. Heidegger nutzt diesen dort gerade als
Inbegriff des „vulgären“ Zeitbegriffs, welchen er insofern kritisiert beziehungsweise
„destruiert“, als er den eigentlichen Ursprung der Zeit verdecke218. Was Heidegger hier an
Aristoteles kritisiert, ähnelt teils dem, was er auch am Begriff des (einen) Raums kritisiert:
nämlich die Neutralisierung und Einebnung des Seienden.
In der vulgären Auslegung der Zeit als Jetztfolge fehlt sowohl die Datierbarkeit
als auch die Bedeutsamkeit. […] Die Jetzt sind gleichsam um diese Bezüge
beschnitten und reihen sich als so beschnittene aneinander lediglich an, um das
Nacheinander auszumachen.219
Hierbei übergeht er freilich, dass die Zeit für Aristoteles nicht einfach eine „Jetztfolge“ ist;
allerdings richtet sich seine Analyse letztlich nicht primär gegen Aristoteles, sondern vor
allem gegen den vulgären Zeitbegriff – für den er Aristoteles hier nur als Kronzeugen
hinzuzieht –, insbesondere auch gegen die ihm zugrundeliegende Intuition. Zutreffen
dürfte nichtsdestotrotz, dass so etwas wie die Bedeutsamkeit geschichtlicher Augenblicke,
etwa der „Kairos“, in Aristoteles' Zeitkonzeption keinen Platz hat. Als Hauptthese der
vulgären Zeitinterpretation zeichnet Heidegger außerdem die Vorstellung aus, dass die Zeit
218 Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 420 f.
219 Ebd., S. 422
58
unendlich sei220, welche auch bei Aristoteles vorherrscht221.
Nichtsdestotrotz bleibt es dabei, dass Heidegger Aristoteles in dem betreffenden Abschnitt
nur nebenbei hinzuzieht. Und so übersieht er dort einen durchaus rätselhaften – im
Gegensatz zum horror vacui tatsächlich geäußerten – Satz des Aristoteles: In existenzieller
Hinsicht dient die vulgäre Zeitauslegung laut Heidegger dazu, das Sein des Menschen
nicht als Sein zum Tode begreifen zu müssen, in diesem Sinne also Tod und
Vergänglichkeit zu verdrängen222. Überhaupt kann es zu Heideggers Anliegen in SuZ
zählen, der Zeit ihre scheinbare „Symmetrie“ von Vergangenheit und Zukunft zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund ist es nun bemerkenswert, dass auch Aristoteles trotz allem, was er
sonst meint, äußert: „Denn an und für sich ist die Zeit Urheberin eher von Verfall“223.
„Rätselhaft“ ist dieser Satz insofern, als er nur wenig begründet wird und keine
Auswirkungen auf die nachfolgende Analyse zu haben scheint, zumal Aristoteles die
Unendlichkeit der Zeit erst später behauptet. Wenn Aristoteles hier von der Zeit als
„Urheberin“ spricht, bezieht er sich darauf, inwiefern die Zeit Ursache ist. Er führt hierfür
jedoch nur einige alltägliche Redeweisen als Beleg an – „,die Zeit läßt es schwindenʻ,
und ,alles altert mit der Zeitʻ und ,man vergißt im Laufe der Zeitʻ“ 224 – und erklärt weiter,
dass Bewegung das Bestehende zum Umbruch bringe.
Welche Bedeutung ist ihm also beizumessen? Von Heideggers Warte aus ließe sich
vielleicht anerkennen, dass in dieser Feststellung durchaus etwas vom existenziellen Wesen
der Zeit nachklinge, dass es sich gerade deswegen hierbei jedoch – wie auch sonst bei
Aristoteles – eben nur um das Verklingen des anfänglichen Klangs handle. Dabei hält der
„Nachklang“ auch heute noch an: Auch in dem genannten Abschnitt in SuZ weist
Heidegger auf die scheinbare Selbstverständlichkeit hin, die in unserer Redeweise vom
„Vergehen“ (statt etwa „Entstehen“) der Zeit liegt und welche er als Ausdruck davon
wertet, dass sich die existenzielle Bedeutsamkeit der Zeit auch in der vulgären Auslegung
nicht gänzlich nivellieren lässt. Heidegger interpretiert sie als unleugbaren Rest jenes
existenzialen Wissens, dass dem Menschen die ihm beschiedene Zeit fortlaufend
entgleite225.
Ähnlich wie Aristoteles' Bestimmung der φύσις als μορφή wird sich aus Sicht Heideggers
220
221
222
223
224
225
Vgl. ebd., S. 424
Vgl. Physik IV 13, 222b
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 424
Physik IV 12, 221b 1 f., zit. n. Zekl (2012)
Ebd., 221a 30-32, zit. n. Zekl (2012)
Vgl. Heidegger [1927] (2006), S. 425
59
also auch seine asymmetrische Charakterisierung der Zeit als bloßen Nachklang
„anfänglichen“ Denkens werten lassen müssen. Geht man davon aus, dass hier ein derart
simples, kohärentes Bild möglich ist, wird sich wohl auch Aristoteles' Topologie diesem
fügen beziehungsweise in dieses einfügen lassen müssen, ob ihm die mutmaßlich
„anfängliche“ Vorstellung von einem horror vacui der Natur nun zugeschrieben werden
kann oder nicht. Und somit bleibt Heideggers Fehldarstellung in der Physis-Schrift
insofern verzeihlich, als sie auf das dort über die φύσις geäußerte keine nennenswerte
Auswirkung hat. Denn das Primat der Ortsbewegung bei Aristoteles zeigt sich schon als
Vorbote des cartesischen Reduktionismus, wie er schließlich in der substantia extensa
vorliegen wird. Zugleich verfestigt sich aber auch der Eindruck, Heidegger nutze „die
Griechen“ mithin als Projektionsfläche für sein eigenes Denken.
6. Fazit
Wie in Abschnitt 3.3 gezeigt werden konnte, sorgt die Form, μορφή, in Aristoteles'
Physiskonzeption für einige Schwierigkeiten, sofern erstrebt wird, auch das Unbelebte
unter das Physische und im übertragenen Sinn „Wachsende“ zu fassen. Erst mit Heideggers
Übersetzung von μορφή als „Gestellung“ ließ sich die Problematik zufriedenstellend lösen.
Hierbei wurde die Betrachtung stringent ontologisch durchgeführt, wobei die φύσις als
„Seinsweise“ des physisch Seienden aufgefasst wurde: Die „Anwesung“ des Physischen ist
gegenüber der des Technischen dann durch ihre herausragende Unmittelbarkeit
gekennzeichnet, welche näher noch als das Husserlsche Phänomen „auf den Leib rückt“.
In seiner eigenen Physiskonzeption kehrt Heidegger das Verhältnis von φύσις und Sein
jedoch um: Seine These ist, dass Sein ursprünglich φύσις ist, wobei er die φύσις zugleich
als „Entbergung“ versteht – und ἀλήθεια, Wahrheit, teils ebenso, teils als resultierende
„Unverborgenheit“. Mit Heraklit pflegt die Entbergung dann, sich zugunsten des
Entborgenen zu verbergen: Allem bloß noch verrechnenden (Nicht-)Denken, welches für
Heidegger in der mathematischen Naturwissenschaft nicht weniger vorherrschend ist als an
der Börse und in der formalen Logik – im „Gestell“ der planetaren Technik – verbirgt sich
die Entbergung und damit die φύσις oder Natur bis zur Unkenntlichkeit. Für den Heidegger
nach der „Kehre“ agieren φύσις, Natur und Sein dabei weitgehend autonom, der Mensch
verkommt zum Zuschauer. Deswegen „gehört“ aber eigentlich auch die Technik der Natur,
was Aristoteles, dem Wesen der Technik bereits verfallen, bei seiner Unterscheidung beider
60
„vergisst“.
Wie in Abschnitt 4.3 besprochen lässt sich Heideggers Physiskonzeption in Verbindung zu
seinen nationalsozialistischen Überzeugungen bringen. Doch bereits ohne diesen Aspekt ist
sie mit Vorsicht zu genießen, bietet sie letztlich doch ein überraschend lineares Narrativ, in
welches sich geschichtliche Ereignisse nunmehr in die zwei Schubladen der „Entbergung“
und „Unverborgenheit“ einteilen lassen. Auf diese Weise wurde zuletzt auch Aristoteles'
„Topologie“ und Philosophie der Zeit behandelt. Trotzdem lässt sich Heideggers Narration
nutzen, um die Dinge unter einem einzigartigen Blickwinkel zu betrachten.
Hinsichtlich der Forschungsfrage liefern Heidegger und Aristoteles also etwas
unterschiedliche Ergebnisse. Vereinigend lässt sich jedoch äußern, dass sie jede
mechanistische Naturbetrachtung gleichermaßen ablehnen würden: Für Aristoteles wird die
Betrachtung der Natur als Technik auf Kategorienfehlern beruhen, bei denen das eigentlich
Seiende mit dem nur in nebenbei zutreffender Bedeutung Seienden verwechselt wird, bei
welcher die Verhältnisse von Stoff und Form nicht richtig gedacht werden und das Wesen
der Bewegung unerkannt bleibt. Für Heidegger resultiert mechanistisches Denken aus der
Verbergung der Entbergung, was für eine scheinbare Umkehrung der eigentlichen
Machtverhältnisse sorgt: Tatsächlich ist es weniger der Mensch, der mittels Technik die
Natur beherrscht, als die Natur, die in der Technik den Menschen beherrscht.
Zu den zentralen mechanistischen Konzepten der zeitgenössischen Physik dürfte die
„Energie“ gehören, zumal sie die aristotelische ἐνέργεια begrifflich „okkupiert“ und mit so
anthropomorphen Konzepten wie „Arbeit“ und „Leistung“ verbunden bleibt. Wenn wir uns
in der heutigen Zeit die „Energiewende“ zur Aufgabe machen, so würde diese für die
beiden Philosophen wohl nicht nur darin bestehen, eine Art von Energie gegen eine andere
(die „erneuerbare“) auszutauschen; vielmehr bestünde sie in der Gewinnung eines
Verhältnisses zur Natur, in welchem diese nicht mehr primär unter dem Aspekt bloß
physikalischer Energie betrachtet und behandelt wird, oder in welchem physische Energie
wieder mehr vom Wesen der ἐνέργεια erlangt.
61
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Eidesstattliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich diese Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Hilfsmittel und Quellen benutzt habe. Außerdem versichere ich, dass ich
die allgemeinen Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit und Veröffentlichung, wie sie in den
Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis der Carl von Ossietzky Universität festgelegt
sind, befolgt habe.
66