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Kontexte der Vernunft
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eBook269 Seiten3 Stunden

Kontexte der Vernunft

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Über dieses E-Book

Wenn wir die Vernunft mit einer Wurzel vergleichen, dann sind die Kontexte der Vernunft das Erdreich, in das sie eingebettet ist. Sachlicher Mittelpunkt des Bandes ist ein Text zur Religionsphilosophie Kants. Die Wurzel der Vernunft ist eingebettet in das Erdreich des im Neuen Testament niedergelegten historischen Offenbarungsglaubens, der dem Vernunftglauben Fasslichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit gibt. Der Prozess der Aneignung der Offenbarung durch die Vernunft ist nicht abgeschlossen; wie die Pflanze auf das Erdreich, so ist der Vernunftglaube auf den Kontext des historischen Offenbarungsglaubens angewiesen. Was Kant für die Religionsphilosophie ausführt, wird durch die anderen Texte in einen größeren Zusammenhang gestellt. Um das Erdreich zu durchdringen, entfaltet die Wurzel sich in vielen Fasern; entsprechend wird der Begriff der Vernunft durch seine verschiedenen Kontexte in vielfacher Weise differenziert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juli 2015
ISBN9783170289390
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    Buchvorschau

    Kontexte der Vernunft - Friedo Ricken

    Einleitung

    Wenn wir die Vernunft mit einer Wurzel vergleichen, dann sind die Kontexte der Vernunft das Erdreich, in das sie eingebettet ist. Sachlicher Mittelpunkt des Bandes, dessen Texte nach der Geschichte der Philosophie angeordnet sind, ist ein Aufsatz über die Religionsphilosophie Kants (X). Der Vernunftglaube kann von dem im Neuen Testament niedergelegten Offenbarungsglauben nicht getrennt werden. Das Christentum ist die natürliche oder Vernunftreligion; es enthält aber zugleich ein Mittel, um sie einzuführen und ihr Fasslichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben. Der Prozess der Aneignung der Offenbarung durch die Vernunft ist nicht abgeschlossen; die Bibel ist auf unabsehbare Zeiten Organ der allgemeinen Vernunftreligion. Was Kant für die Religionsphilosophie ausführt, soll durch die anderen Aufsätze in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

    Alasdair C. MacIntyre unterscheidet in der Geschichte der Moralphilosophie drei Perioden. Der Blüte (Thomas von Aquin) folgt die Katastrophe (die Aufklärung) und der Katastrophe der misslungene Versuch, aus den Bruchstücken das Ganze wiederherzustellen (unsere Gegenwart). Dem wird die These entgegengestellt: Die Aufklärung ist nicht mit einer Katastrophe, sondern mit einem Paradigmenwechsel zu vergleichen; an die Stelle der Nikomachischen Ethik des Aristoteles tritt Ciceros De officiis. Aber dieses Paradigma ist verarmt, weil es die Beziehung zu seinen Grundlagen verloren hat. Die Aufgabe ist, das unverminderte Ganze wieder in den Blick zu bekommen (XII).

    Für den Sokrates von Platons Apologie ist die göttliche Stimme der über die Vernunft hinausreichende Grund der Hoffnung; nach Thomas von Aquin berührt die Hoffnung, die Voraussetzung jedes sinnvollen vernünftigen Handelns ist, Gott (VII). Das Gespräch zwischen dem Fremden aus Elea und dem Jüngeren Sokrates in Platons Politikos (I) hat die Aufgabe, den Begriff des Staatsmanns zu erarbeiten. Zweimal stellt der Jüngere Sokrates fest, das Ziel des Gesprächs sei erreicht, aber jedes Mal setzt der Fremde sofort mit seiner Kritik ein. Charakteristisch für den Politikos ist dabei der Wechsel in der Methode. Die erste Begriffsbestimmung wird mittels einer Dihairese erreicht, d.h. dadurch, dass die Gattung Wissenschaft in Arten unterteilt wird. Die Kritik gebraucht als Methode den Mythos; für die Kritik an der mit Hilfe des Mythos korrigierten Definition benutzt der Fremde die Methode des Beispiels. Das Werkzeug des Begriffs bedarf der Ergänzung durch literarische Mittel.

    Aristoteles nennt die praktische Urteilskraft das „Auge" der Seele. Es bedarf der Übung, und die besteht in der Erfahrung. Das Auge ist vom Gedächtnis zu unterscheiden; die Erfahrung dient hier nicht dazu, Wissen zu sammeln; vielmehr zeichnet ein gutes Auge sich dadurch aus, dass es viele Unterschiede wahrnimmt. Die praktische Urteilskraft entfaltet sich dadurch, dass sie anhand der Erfahrung lernt, Unterschiede zu sehen (III).

    Der anthropologische Kontext der Vernunft wird von der Tradition durch den Begriff der Seele erfasst. Aristoteles unterscheidet das in sich vernünftige Seelenvermögen von dem Strebevermögen, das der Vernunft gehorchen, sich ihr aber auch widersetzen kann und das durch Gewöhnung geprägt wird. Nur durch ihre Beziehung zum Streben kann die Vernunft praktisch werden; die natürlichen Neigungen sind für sie Erkenntnisgrund des Guten. Das Urteil der Vernunft ist durch die Affekte dem Einfluss des Nichtvernünftigen ausgesetzt. Damit ist auf den Kontext der notwendigen ethischen Voraussetzungen für das Urteil der Vernunft verwiesen. Durch den Begriff der Gewöhnung wird der ethische Kontext wiederum in den sozialen eingebunden; Gewöhnung geschieht in einer Gemeinschaft durch Erziehung und Gesetz (IV, VIII, XI). Nur in der Gemeinschaft kann der Mensch kann seine Anlagen vollkommen entwickeln; eine gerechte bürgerliche Verfassung ist daher die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung; sie ist ein Zweck, der an sich selbst Pflicht ist. Diese Pflicht kann selbst nicht wiederum Gegenstand einer Rechtsordnung sein; sie kann nur durch Religion gesichert werden (IX).

    Schließlich steht der Mensch im alles umfassenden Kontext der Gesamtheit des Seienden, der Gegenstand der ersten Philosophie oder Metaphysik ist (V). Kann er sich in diesem Kontext als ein Wesen verstehen, dass sich durch seine Vernunft zum Handeln bestimmt, oder wird er durch einen geschlossenen Kausalzusammenhang determiniert?

    Das Wurzelwerk einer Pflanze ist in einem Geflecht miteinander verbunden. Einen Kontext bilden auch die verschiedenen Formen der Vernunft. Eine von der Philosophie entworfene Utopie kann praktische Bedeutung haben (II); das Beispiel der ärztlichen Entscheidung zeigt den Kontext von technischem Können und praktischer Urteilskraft (VI).

    I           Dihairese Mythos Beispiel Literarische Werkzeuge der philosophischen Argumentation in Platons Politikos

    Das Gespräch zwischen dem Fremden aus Elea und dem Jüngeren Sokrates im Politikos hat die Aufgabe, den Begriff des Staatsmanns zu erarbeiten. Zweimal stellt der Jüngere Sokrates fest, das Ziel des Gesprächs sei erreicht (267c3; 277a1f.), aber jedes Mal setzt der Fremde sofort mit seiner Kritik ein. Charakteristisch für den Politikos ist dabei der Wechsel in der Methode. Die erste Begriffsbestimmung wird mittels einer Dihairese erreicht; die Kritik gebraucht als Methode den Mythos; für die Kritik an der mit Hilfe des Mythos korrigierten Definition benutzt der Fremde die Methode des Beispiels. Die Dihairese ist ein von der Philosophie zum Zweck der Begriffsbestimmung und Folgerung entwickeltes Werkzeug; Mythos und Beispiel sind Mittel, deren die Dichtung und die Rhetorik sich bedienen. Wenn wir in einer groben Zuordnung die Dihairese zum Argument und den Mythos und das Beispiel zur literarischen Form rechnen, dann lautet die These des Politikos: Das Argument bedarf der Ergänzung durch die literarische Form; um die ihr gestellte Aufgabe lösen zu können, muss die Philosophie auf literarische Mittel zurückgreifen.

    Im Verlauf des Dialogs fragt der Fremde, ob die Länge des Gesprächs der ihm gestellten Aufgabe angemessen ist (283b1-5). Auch hier ist das philosophische Argument auf die literarische Form angewiesen. Das philosophische Argument kann nicht selbst beurteilen, welche Schritte notwendig und welche überflüssig sind; das ist Aufgabe des Lesers. Mit der Reflexion über die angemessene Länge wird die Ebene des Argumentierens verlassen und die Metaebene der Bewertung des Arguments betreten. Sie kann nur dadurch dargestellt werden, dass der Leser in der Gestalt eines Gesprächspartners in die Darstellung einbezogen wird. Die Reflexion auf die richtige Länge des Arguments ist also nur durch ein literarisches Mittel, die Form des Dialogs, möglich.

    In ihrer allgemeinsten Form lautet die Frage nach dem Verhältnis von Argument und literarischer Form im Politikos: Warum hat Platon die Form des Dialogs und nicht die einer Abhandlung gewählt? Was wäre verloren gegangen, wenn Platon statt eines Dialogs eine Abhandlung geschrieben hätte? In der Literatur finden sich zwei Antworten. (a) „Plato still seems to think that to write a treatise is to claim to speak from a position of authority, and he does not have this authority"¹. (b) „Plato in fact values the freedom inherent in the dialogue form rather highly: that he finds the possibility of moving between different forms of discourse […] just too valuable to give up". Die Position des Fremden, so wendet Rowe gegen Frede ein, dominiere derart, dass der ergebnisoffene Charakter der Dialogform verloren gehe.² Wie ist diese Kontroverse zu entscheiden?

    1.         Dihairese

    Der Staatsmann ist ein Wissender, und um den Begriff des Staatsmanns zu bestimmen müssen wir die Wissenschaften oder Künste einteilen. Der Gesichtspunkt, nach dem das geschieht, ist die Frage, was sie „liefern (258d6). Die Arithmetik liefert ausschließlich Erkenntnisse; dagegen bringen die handwerklichen Künste ein materielles Produkt hervor. Bei den erkennenden Künsten beschränkt der Mathematiker sich darauf, ein Urteil zu fällen, während der Architekt aufgrund seiner Berechnungen Anweisungen an die Bauleute gibt; sie unterscheiden sich also „durch Urteil und Anordnung (260a10-b1) voneinander. Wer etwas anordnet, tut das entweder, wie ein Herrscher, aus eigener Autorität, oder er gibt, wie etwa ein Herold, lediglich den Befehl eines anderen weiter. Die Herrschenden geben ihre Anordnungen um eines Entstehens willen, und das Entstehende ist einzuteilen in Unbeseeltes und Beseeltes. Die Erzeugung und Aufzucht des Beseelten ist entweder Einzelzucht oder Aufzucht in einer Herde. Die folgenden Schritte unterscheiden die Tiere, die in einer Herde gezüchtet werden, in Wassertiere und Landtiere, geflügelte und zu Fuß gehende, gehörnte und ungehörnte usw. Die Staatskunst, so das Ergebnis, ist die Hirtenwissenschaft der auf diesem Weg bestimmten Art von Lebewesen; sie ist die „Wissenschaft von der Gemeinschaftszucht von Menschen" (267d12f.).

    Die Dihairese geht aus von einer Aussage, an der während des gesamten Dialogs festgehalten wird: dass der Staatsmann ein Wissender und die Staatskunst folglich eine Wissenschaft ist; sie ist einer Begründung weder fähig noch bedürftig und Grundlage des gesamten Gesprächs. Aufgabe der Untersuchung ist es zu bestimmen, um was für eine Wissenschaft es sich handelt, und sie soll mit der Methode der Dihairese gelöst werden. Aber wie werden die Gesichtspunkte gewonnen und gerechtfertigt, anhand derer die Wissenschaft unterteilt wird? Der leitende Gesichtspunkt der Dihairese ist der des Produkts; eine Wissenschaft bringt entweder nur Wissen hervor oder sie lässt etwas entstehen, ein lebloses Ding oder ein Lebewesen. Aber ist das der einzig mögliche Gesichtspunkt, nach dem Wissenschaften unterschieden werden können, und weshalb wird er hier gewählt? Die ersten Unterscheidungen (bis 261a1) werden später für die Bestimmung der Staatskunst aufgegriffen (vgl. 305c10-e7); die letzten Schritte können jedoch keinen Zweifel daran lassen, dass hier eine Methode parodiert wird; sie zeigen die Willkür, mit der die Differenzen gewählt werden.

    Die Staatskunst, so fasst der Fremde zusammen, ist die Hirtenkunst für eine bestimmte Art von Lebewesen (vgl. 267d7-9). Damit sei, so bewertet er dieses Ergebnis, der Begriff zwar „irgendwie formuliert, jedoch „keineswegs vollkommen ausgearbeitet (267d1f.), denn die Bestimmung übersehe den Unterschied zwischen einem Hirten und einem Staatsmann. Während der Hirt allein für alle Bedürfnisse seiner Herde aufkommt, also allein Züchter seiner Herde ist und ihm niemand diesen Anspruch streitig macht, kümmern sich außer dem Staatsmann viele andere um die Aufzucht der menschlichen Herde, etwa die Kaufleute, Bauern, Bäcker, Ärzte; sie erheben gegenüber dem Staatsmann zu Recht den Anspruch, Mitzüchter der Herde zu sein. Der Begriff des Staatsmanns ist also erst dann bestimmt, wenn wir ihn von den vielen anderen unterscheiden, die ebenfalls den Anspruch erheben, Züchter der menschlichen Herde zu sein.

    Diese Aufgabe kann die Methode der Dihairese, wie sie bisher gehandhabt wurde, nicht lösen. Die Dihairese hat die verschiedenen Künste anhand ihres Produkts unterschieden. Jetzt geht es darum, verschiedene Künste voneinander zu unterscheiden, die dasselbe Produkt haben; die Aufzucht der menschlichen Herde ist nicht nur das Werk des Staatsmann, sondern ebenso vieler anderer Künste. Wie können sie von der Kunst des Staatsmanns unterschieden werden?

    2.         Mythos

    Mit der Methode der Dihairese kann diese Aufgabe nicht gelöst werden; deshalb müssen wir, so folgert der Fremde, „von einem anderen Anfang aus einen anderen Weg gehen (268d5f.). Am Anfang des anderen Weges steht nicht, wie bei der Dihairese, eine generische Begriffsbestimmung – dass der Staatmann ein Wissender ist –, sondern eine Schilderung, die Beschreibung der Situation, in der die Staatskunst ausgeübt wird. Der andere Weg, der jetzt nach der gescheiterten Dihairese eingeschlagen wird, ist die Erzählung. Der Fremde erzählt dem Jüngeren Sokrates die Geschichte von den zwei miteinander abwechselnden Weltperioden, in denen die Sonne einmal im Westen und das andere Mal im Osten aufgeht. Die Erzählung übernimmt, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, Elemente des überlieferten Mythos; als Ganzes ist sie jedoch ein vom Fremden erdichtetes Märchen, dem der Jüngere Sokrates „wie die Kinder (268e5) seine ungeteilte, unkritische Aufmerksamkeit schenken soll.

    Die Erzählung verfolgt, wie der Fremde ausdrücklich hervorhebt, einen Zweck (274b1); sie soll die gegenwärtige Situation der Menschen schildern, um so zu zeigen, dass es ein großer Fehler war, den Staatsmann als Hirten der menschlichen Herde zu definieren. Sie arbeitet mit dem Mittel des Kontrasts; im Anschluss an Hesiod (Erga 109-201) werden das Zeitalter des Kronos und das des Zeus einander gegenübergestellt. In der einen Periode dreht ein Gott die Welt; in der entgegengesetzten, in der wir leben, ist die Welt sich selbst überlassen. Wenn ein Gott die Welt dreht, sorgt ein göttlicher Hirt für alle Bedürfnisse der Menschen; alles kommt den Menschen „von selbst (271d1) zu. In dieser Periode werden die Menschen nicht gezeugt; es gibt „keine Verfassungen, noch Besitz von Frauen und Kindern, denn alle kamen aus der Erde wieder zum Leben (271e8-272a1). Wenn der Gott die Welt nicht mehr dreht und sie ihre Richtung ändert, geraten die Menschen in Not, weil sie nicht imstande sind, sich selbst zu helfen. In dieser Situation geben die Götter ihnen die Künste, damit sie sich das zum Leben Notwendige selbst verschaffen können.

    Welchen großen Fehler deckt die Erzählung auf? „Dass wir, gefragt nach dem König und Staatsmann des jetzigen Umschwungs und Entstehens, aus dem entgegengesetzten Kreislauf den Hirten der damaligen menschlichen Herde genannt haben und zudem einen Gott anstelle eines Sterblichen" (274e9-275a2). Der Mythos enthüllt den Fehler der Dihairese. Er richtet den Blick auf die Wirklichkeit, in der wir leben, und legt so das Bild des Staatsmanns (vgl. 277b4) offen, das unbewusst den Gang der Dihairese bestimmte. Er zeigt den Lebenszusammenhang, in den die Künste eingebettet sind und den wir im Blick haben müssen, wenn wir nach der Definition des Staatsmanns fragen. Er verweist auf die Vielzahl der Künste, auf die der Mensch angewiesen ist, um leben zu können, und fragt damit, in welchem Verhältnis die Staatskunst zu den anderen lebensnotwendigen Künsten steht. Wenn man den Staatsmann als Hirten versteht, dann sieht man die menschliche Gemeinschaft als Herde, d.h. als unstrukturierte Menge von Lebewesen der gleichen Art. Der Mythos korrigiert diese Sicht, indem er auf die Vielzahl sozialer Beziehungen familiärer und politischer Art hinweist, die zwischen diesen Individuen bestehen.

    3.         Beispiel

    Der große Fehler, den der Mythos aufgedeckt hat, wird korrigiert. Der Begriff der Herdenzucht wird durch den weiteren Begriff der Pflege oder Fürsorge (275c6f.; 276d1) ersetzt, unter den sowohl die Kunst des Hirten wie die des Staatsmanns fallen. Er wird mit der Methode der Dihairese näher bestimmt, indem zwischen dem göttlichen Hirten und dem menschlichen Fürsorger und einer gewaltsamen und freiwilligen Fürsorge durch einen Menschen unterschieden wird. Die Staatskunst, so lautet die korrigierte Definition, ist „die freiwillige Herdenwartung über freiwillige zweifüßige Lebewesen, und der Staatsmann ist der, „der diese Kunst und Fürsorge hat (276e10-14). Damit, so stellt der Jüngere Sokrates fest, „dürfte die Darstellung des Staatsmanns für uns vollendet sein" (277a1f.).

    Wiederholt hatte der Fremde die erste Definition als ungenau kritisiert. Es sei richtig, dass der Staatsmann Herrscher des gesamten Staates ist, aber diese Formulierung lasse offen, auf welche Weise er das sei; das Gesagte sei zwar wahr, „jedoch nicht vollständig und nicht klar ausgeführt" (275a3-5); dass der Staatsmann allein der Hirt der menschlichen Herde ist, sei insofern nicht richtig, als es den Staatsmann nicht von denen unterscheide, die ihm diesen Anspruch streitig machen (268c5-11). Dieser Einwand der fehlenden Genauigkeit und Deutlichkeit wird nun auch gegen die korrigierte Definition erhoben (277a2-c3). Um diesen Mangel zu beheben, greift der Fremde zu einer neuen Methode, dem Beispiel. Worin besteht sie?

    Der Fremde (278e4-11) geht aus von der bisher erreichten Definition; sie ist „Pflege der den Staat betreffenden Dinge (278e10). Die „Natur oder die „Form" der Staatskunst ist die Pflege. Die Staatskunst ist ein „Beispiel für die Pflege; wenn wir gefragt würden, was Pflege ist, könnten wir als Beispiel die Staatskunst nennen. Aber sie ist nicht das einzige Beispiel; dieselbe Form findet sich auch in anderen Beispielen. Der erste Schritt, um die Staatskunst zu erkennen, muss darin bestehen, die Form oder das Wesen der Pflege zu erkennen. Dazu bedienen wir uns eines „kleinen, einfachen, uns aus dem alltäglichen Leben vertrauten Beispiels, der Webekunst. Wenn wir anhand dieses Beispiels das Wesen der Pflege erkannt haben, wenden wir uns wieder der Staatskunst zu und betrachten sie im Licht des „kleinen Beispiels, d.h. wir analysieren die Staatskunst anhand der Strukturen und Unterscheidungen, die wir in dem „kleinen Beispiel gefunden haben.

    Der Terminus Beispiel, so erläutert Aristoteles, bezeichnet eine Beziehung. Das Beispiel „verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie ein Ganzes zum Teil noch wie ein Ganzes zum Ganzen, sondern wie ein Teil zum Teil, wie Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter dieselbe Gattung fällt, wenn aber das eine bekannter ist als das andere, dann ist es ein Beispiel" (Rhet. I 2,1357b27-30). Die Gattung ist die Pflege; die beiden Teile sind die Webekunst und die Staatskunst; die Webekunst ist bekannter als die Staatskunst. Beispiele, so die Topik, dienen der „Klarheit; sie sollen „vertraut sein und aus dem Bereich, den wir kennen, wie bei Homer, nicht wie bei Choirilos (VIII 1,157a14-16).

    Das Beispiel steht in der Tradition des homerischen Gleichnisses. Beide haben die Funktion, etwas zu verdeutlichen oder zu veranschaulichen. Aber der Begriff des Beispiels im Politikos ist enger als der des Gleichnisses. Homer kann z.B. die Schneeschmelze in den Bergen als Gleichnis für die Tränen, den Schmerz und das ganze Schicksal der Penelope gebrauchen (Od.19,205-209); hier gehören das Gleichnis und das, wofür es steht, offensichtlich verschiedenen Wirklichkeitsbereichen an. Dagegen fordert der Begriff des Beispiels, wie ihn der Politikos entwickelt und wie Aristoteles ihn formuliert, dass die beiden Teile dieselbe Form haben bzw. unter dieselbe Gattung fallen. Hier wurde das literarische Mittel des Gleichnisses zu einem Werkzeug der Philosophie für die Begriffsbestimmung präzisiert.

    Mit Hilfe der Methode des Beispiels soll der Staatsmann von all denen unterschieden werden, die ihm den Anspruch auf die Fürsorge für den Staat streitig machen. Der Fremde beschränkt sich auf einen Teil der Webekunst, den, der es mit Geweben aus Wolle zu tun hat. Das Gespräch soll die der Wollwebekunst und der Staatskunst gemeinsame Form oder Struktur zeigen. Es geht aus von einer Definition der Wollwebekunst, die in ihrem geringen Grad an Genauigkeit der bisher erreichten Definition der Staatskunst entspricht. Sie wird gewonnen durch eine Dihairese, die alles, „was wir herstellen und erwerben (279c7f.) nach seiner Funktion, dem Material, aus dem es hergestellt wurde, und dem Herstellungsverfahrens unterscheidet und die damit deutlich werden lässt, nach wie vielen verschiedenen Gesichtspunkten Künste voneinander unterschieden werden können. So wird der Begriff der Bekleidung gewonnen, und die Webekunst wird als die „am meisten für die Kleider sorgende Kunst (279e6) definiert. Der Fremde verweist auf die entsprechende Definition der Staatskunst; sie wurde als „Menschenfürsorge (276e7) oder „Pflege der den Staat betreffenden Dinge (278e10) bestimmt.

    Durch diese Definition wurde, so die grundlegende Unterscheidung, die Wollwebekunst „von vielen anderen verwandten Künsten abgeteilt". Sie wurde jedoch noch nicht „von den nahen Mitarbeiterinnen unterschieden (280b2-4). Die Wollwebekunst stellt ein Schutzmittel, die Bekleidung, her; anhand dieses Produktes kann sie mittels der Dihairese von den „verwandten Künsten, die ebenfalls Schutzmittel herstellen, unterschieden werden. Was die Dihairese nicht leisten kann, ist die Unterscheidung von den „Mitarbeiterinnen", den Künsten, auf die die Wollwebekunst angewiesen ist, um ihr Produkt herstellen zu können oder die das Produkt der Wollwebekunst weiter bearbeiten und die alle wie die Wollwebekunst eine für die Kleider sorgende Kunst sind. Diese Unterscheidung kann nur dadurch gewonnen werden, dass wir die verschiedenen Abschnitte des Herstellungsprozesses betrachten. Der Fremde nennt die Krempelkunst, die Kunst der Verfertigung von Kette und Einschlag, die Walkerkunst, die Künste, die die Werkzeuge herstellen, und er teilt diese Künste ein in Ursachen und Mitursachen. Damit sind die Kategorien gewonnen, mit deren Hilfe die Staatskunst von den Künsten, die ihr den Anspruch auf die Fürsorge für den Staat streitig machen, unterschieden werden kann.

    4.         Die Dialogform

    Die Dialogform erlaubt es, die Ebene des Arguments zu verlassen und

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