Abnett, Dan - Warhammer 40000 Eisenhorn Hereticus
Abnett, Dan - Warhammer 40000 Eisenhorn Hereticus
Abnett, Dan - Warhammer 40000 Eisenhorn Hereticus
DAN ABNETT
Pfad-Details:
Ursprung: Thracian Primaris, Sub Helican 81281
Ursprungsdatum: 142.386.M41
(weitergeleitet: divergent M-12/Ostall VII)
Empfangen: Durer, Sub Ophidian 52981
Empfangsdatum: 144.386.M41
Niederschrift abgeliefert und abgezeichnet laut Kopf
(redundante Kopie abgelegt Puffer 4362 Schlüssel 11)
Rorken
Pfad-Details:
Ursprung: Thracian Primaris, Sub Helican 81281
Ursprungsdatum: 142.386.M41
(weitergeleitet: Schleife Navigatus 351 /Echo Leitstrahl Gernale)
Empfangen: Durer, Sub Ophidian 52981
Empfangsdatum: 144.386.M41
Niederschrift abgeliefert und abgezeichnet laut Kopf
(redundante Kopie abgelegt Puffer 7002 Schlüssel 34)
Pfad-Details:
Ursprung: Durer, Sub Ophidian 52981
Ursprungsdatum: 144.386.M41
(weitergeleitet: divergent B-3/Schleife Leitstrahl Gernale)
Empfangen: Thraciam Primaris, Sub Ophidian 81281
Empfangsdatum: 149.386.M41
Niederschrift abgeliefert und abgezeichnet laut Kopf
(redundante Kopie aus Puffer gelöscht)
Absender: Gregor Eisenhorn, Inquisitor
G.E.
EINS
Als es so weit war, erwies sich Fayde Thuring als nahezu unauf
haltsam.
Ich gebe mir selbst die Schuld dafür. Ich hatte ihn zu lange lau
fen lassen. Fast acht Dekaden war er meiner Aufmerksamkeit
entgangen, und in dieser Zeitspanne hatte er sich von dem unbe
deutenden Warppfuscher, den ich einmal hatte entkommen las
sen, unendlich weit entfernt.
Mein Fehler. Aber nicht ich musste dafür büßen.
ZWEI
Wir gewannen Höhe und stiegen für den Flug nach Norden in die
Stratosphäre. Meine Leute kannten ihre Plätze und Aufgaben,
aber ich nahm Kara Swole auf die Seite und trug ihr auf, dafür zu
sorgen, dass Rassi und Verveuk sich wohlfühlten. »Inquisitor Ras
si verdient jede Höflichkeit, aber geben Sie bei Verveuk keinen
Millimeter nach. Lassen Sie nicht zu, dass er im Weg steht.«
Kara Swole war eine muskulöse Akrobatin von Bonaventura, die
mir vor drei Jahren bei einer meiner Untersuchungen geholfen
hatte. Die ganze Sache hatte ihr so gut gefallen, dass sie mich
gebeten hatte, sich meinem Gefolge dauerhaft anschließen zu
dürfen. Sie war klein und geschmeidig und hatte kurze rote Haa
re, und ihre muskulöse Gestalt ließ sie beinahe untersetzt wirken,
aber sie war flinker und agiler als jeder andere, den ich kannte,
und war ein Naturtalent, was Überwachungen anging. Sie war ein
wertvolles Mitglied meiner Mannschaft geworden und hatte mir
bereits mehr als einmal gesagt, dass ihr die Beschäftigung in
meinen Diensten unendlich viel lieber sei als ihr vorheriges Leben
in den Zirkusarenen ihrer Heimatwelt.
Kara schaute in Verveuks Richtung. »Der sieht für mich wie ein
Ninker aus«, murmelte sie. »Ninker« war ihre Lieblingsbeleidi
gung, ein Slangausdruck aus der Zirkuswelt. Ich hatte bisher
noch nicht den Mut gefunden, sie nach der Bedeutung zu fragen.
»Ich glaube, Sie haben recht«, flüsterte ich zurück. »Behalten
Sie ihn im Auge … und sorgen Sie dafür, dass Rassi zufrieden ist.
Wenn wir unseren Zielort erreichen, will ich, dass Sie und Haar
sie mit Ihrem Leben beschützen.«
»Verstanden.«
Ich versammelte Fischig, Bequin, Aemos, Haar und Begundi zur
Besprechung um den Kartentisch und rief auch Dahault hinzu,
meinen Astropathen.
»In Ordnung … wie hast du ihn gefunden?«
Fischig lächelte. Er schien zufrieden mit sich. »Die Revision hat
ihn hochgespült. Zumindest hat sie ein paar appetitanregende
Hinweise zutage gefördert, die mich dazu veranlasst haben, ge
nauer hinzuschauen und ihn aufzuspüren. Er war in dreien der
Häfen im Norden aktiv und außerdem in der Hauptstadt. Zuerst
konnte ich es nicht glauben. Ich meine, wir haben ihn für tot ge
halten. Aber er ist es.«
Eine Revision gehörte zu meiner üblichen Verfahrensweise, und
ich hatte in dem Moment eine in Gang gesetzt, als Lord Rorken
mir vier Monate zuvor die Leitung der Untersuchung übertragen
hatte. Unter Fischigs Führung war ein großer Teil meines Stabs -
über dreißig Spezialisten - nach Durer vorausgeflogen, um sie
durchzuführen. Die Revision verfolgte einen doppelten Zweck.
Erstens, die zur Untersuchung anstehenden Fälle zu überprüfen,
um sicherzugehen, dass wir nicht unsere Zeit verschwendeten
und in Besitz aller relevanten Daten waren. Es war keineswegs
so, dass ich kein Vertrauen in Lord Rorkens Vorbereitungen hatte,
ich bin mir nur gern der Fakten sicher. Zweitens, um der mögli
chen Existenz ketzerischer Fälle auf den Grund zu gehen, die bei
der Untersuchung vielleicht übersehen worden waren. Ich würde
eine Menge Zeit und Ressourcen in diese Säuberung Durers in
vestieren, und ich wollte sicher sein, dass sie gründlich verlief.
Wenn es hier noch andere Rückfälle gab, wollte ich sie ebenfalls
ausmerzen.
Fischig und die Revisionsmannschaft hatten sich die Archive des
Planeten vorgenommen und auch geringfügige Anomalien mit
meiner Datenbank abgeglichen. Es hatte sich herausgestellt, dass
Rorkens vorbereitende Arbeit in der Tat hervorragend gewesen
war, denn es war nur wenig ans Licht gekommen.
Bis auf Fayde Thuring. Fischig war zuerst einigen finanziellen
Transaktionen mit Fremdwelten nachgegangen, die ihm aufgefal
len waren, weil sie zu Geschäftskonten auf Thracian Primaris
führten, die zwanzig Jahre zuvor mit Thuring in Verbindung ge
standen hatten. Fischig hatte sich mit akribischer Sorgfalt durch
Frachtlisten gearbeitet und war durch Zufall auf Material aus den
Sicherheitsbildaufzeichnern einer Handelsgesellschaft gestoßen.
Der Mann, der von den Bildaufzeichnern erfasst worden war, sah
Fayde Thuring auffallend ähnlich.
»Soweit wir wissen«, sagte Fischig, »hält sich Thuring seit etwa
einem Jahr auf Durer auf. Er ist letzten Sommer mit einem Frei
händler angekommen und hat sich mit einem achtzehnmonatigen
Handelsvisum in Haynstown niedergelassen. Er benutzt den Na
men Illiam Vowis und gibt sich als Großhändler für aeronautische
Gerätschaften aus. Ist weder arm an Geld noch an Verbindungen.
Ein Großteil seiner Geschäfte scheint legal zu sein. Er hat eine
Menge Maschinenteile und Fertigungseinheiten gekauft und eine
ganze Reihe von Tech-Adepten angeworben. Auf den ersten Blick
sieht es so aus, als baue er sich ein Reparatur- und Wartungsun
ternehmen auf. Was er tatsächlich vorhat, ist noch nicht klar.«
»Hat er Arbeitsräume gekauft oder gemietet?«, fragte Begundi.
»Nein. Das ist eine der Diskrepanzen.« Fischig sah mich an. »Er
ist ständig unterwegs. Schwer ausfindig zu machen. Aber vor vier
Tagen habe ich einen Hinweis erhalten, dass er sich in einem der
Häfen im Norden, in Finyard, aufhält. Also habe ich Nayl hinge
schickt, damit er sich dort umsieht.«
Harlon Nayl, ein ehemaliger Kopfgeldjäger, gehörte schon sehr
lange zu meiner Mannschaft und zu den Besten. »Was hat er he
rausgefunden?«
»Er ist zu spät gekommen, um Thuring zu erwischen. Er war be
reits wieder weg, aber Nayl war in seiner Hotelsuite, bevor das
Personal sie reinigen konnte, und hat genug Haare und Gewebe
fasern gesammelt, um einen Gentest zu machen und ihn mit den
Daten in unseren Unterlagen zu vergleichen. Perfekte Übereins
timmung. Illiam Vowis ist Fayde Thuring.«
»Und jetzt ist er auf einer Polarinsel?«
Fischig nickte. »Nayl ist Thuring gefolgt und hat herausgefun
den, dass er einen Flug nach Miquol gechartert hat. Vor Jahren
war da mal eine Horchstation der PAS, aber jetzt ist sie unbe
wohnt. Wir wissen nicht, was er dort will oder ob er schon mal
dort war. Nayl müsste mittlerweile selbst auf der Insel angekom
men sein. Er hat sich noch nicht gemeldet, aber die Magnetos
phäre spielt in der Nähe des Pols verrückt, also funktionieren die
Koms nicht. Jedenfalls nicht über größere Entfernung.«
»Ausgezeichnete Arbeit, alter Freund«, sagte ich zu Fischig, der
dankbar lächelte. Godwyn Fischig, ehemals Züchtiger bei den Ar
bites auf Hubris und Gesetzeshüter mit beträchtlichen Fähigkei
ten, war einer meiner echten Veteranen. Er diente jetzt seit fünf
zehn Dekaden an meiner Seite, ebenso lange wie Alizebeth Be
quin. Nur Aemos war noch länger bei mir. Die drei waren mein
Fels, mein Fundament, die Eckpfeiler meiner gesamten Unter
nehmungen. Und sie waren meine Freunde.
Aemos steuerte Weisheit bei und war ein unerschöpflicher Quell
des Wissens. Bequin war eine Unberührbare und führte eine Aka
demie für gleichermaßen begabte Individuen, die sie das Femini
num nannte. Sie waren meine besten Waffen, ein Korps psionisch
leerer Individuen, die auch die mächtigsten Psioniker blockieren
konnten. Bequin war außerdem mein emotionales Steuerruder.
Ich vertraute ihr mehr an als den anderen und wandte mich an
sie, wenn ich bekümmert war.
Fischig war mein Gewissen. Er war ein imposanter Mann mit ei
nem altersgrauen Gesicht, das mittlerweile etwas fülliger war. Ein
dünner Flaum grauer Haare bedeckte seine Kopfhaut, wo er frü
her blond gewesen war. Die Narbe unter seinem milchigen Auge
war mit der Zeit rosa und glänzend geworden. Fischig war ein
formidabler Krieger und hatte einige der schlimmsten Dinge ne
ben mir durchgestanden. Doch es gab niemanden, der zielstrebi
ger war als er, niemanden, der so pur war … puritanisch, wenn
man so will. Gut und Böse, Ordnung und Chaos. Menschheit und
Warp … für ihn waren das alles simple Unterscheidungen wie
schwarz und weiß. Das bewunderte ich ungemein. Zeit, Erfahrung
und Geschehnisse hatten meine Einstellung ein wenig grau wer
den lassen. Ich verließ mich auf Fischig als meinen moralischen
Kompass.
Es war eine Rolle, die er mit Freuden auszufüllen schien. Ich
glaube, dass er aus diesem Grund so lange bei mir geblieben war,
obwohl er Kommissar bei den Arbites, Divisionspräfekt oder viel
leicht sogar planetarer Gouverneur hätte sein können. Das Ge
wissen eines der ältesten Inquisitoren des Subsektors zu sein,
war eine Berufung, die ihn mit Befriedigung erfüllte.
Ich fragte mich manchmal, ob Fischig die Tatsache bereute,
dass ich niemals ein höheres Amt innerhalb der Inquisition an
gestrebt hatte. Ich nehme an, angesichts meiner Verdienste und
Reputation hätte ich mittlerweile Lord eines Ordos sein können
oder zumindest auf dem besten Weg dorthin. Lord Rorken, der so
etwas wie ein Mentor für mich geworden war, hatte oft seiner
Enttäuschung Ausdruck verliehen, dass ich keine der von ihm
angebotenen Gelegenheiten ergriffen hatte, sein Erbe zu werden.
Eine Weile hatte er mich darauf vorzubereiten versucht, sein
Nachfolger als Lord des Ordo Xenos im Helicanischen Subsektor
zu werden. Aber diese Art von Leben hatte mir nie zugesagt. Ich
war glücklicher im Feld, nicht hinter einem Schreibtisch.
Fischig hätte von allen am meisten profitiert, wäre ich diesem
Kurs gefolgt. Ich konnte ihn mir gut als Oberbefehlshaber der
Inquisitionsgarde Helican vorstellen. Aber er hatte diesbezüglich
niemals irgendeiner Unzufriedenheit Ausdruck verliehen. Wie mir
gefiel ihm die Herausforderung der Arbeit im Feld.
Wir waren lange Zeit ein gutes Gespann. Das werde ich nie ver
gessen, und trotz allem, was das Schicksal noch bringen mag,
werde ich dem Gott-Imperator der Menschheit immer für die Ehre
dankbar sein, so lange mit ihm gearbeitet zu haben.
DREI
Miquol.
PAS-Horchstation 272 Durer.
Der Umschwung.
Miquol war eine große vulkanische Platte, die aus dem schwar
zen Wasser des Polarmeers ragte, sechzehn Kilometer lang und
neun breit. Aus der Luft sah die Insel öde und leblos aus. Die
Küste wurde von steilen, hundert Meter hohen Klippen gebildet,
aber das Innere war eine zerklüftete Wüste aus Gesteinstrüm
mern und Felsbrocken.
»Lebenszeichen?«, fragte ich.
Medea zuckte die Achseln. Wir schnappten nichts auf, aber aus
den ruckelnden Bildern ging klar hervor, dass der Magnetismus
unsere Instrumente verrückt spielen ließ.
»Soll ich landen?«, fragte sie.
»Vielleicht«, sagte ich. »Aber zuerst wenden wir und überfliegen
noch einmal den Süden.«
Wir legten uns in eine Kurve. Die Wolken hingen tief, und die
düstere Inselfläche war in kalte Nebelbänke gehüllt.
Fischig gesellte sich zu uns in die Kanzel.
»Du hast eine alte Anlage erwähnt?«, fragte ich.
Er nickte. »Eine Horchstation, die in den ersten Jahren nach der
Befreiung von den Planetaren Abwehrstreitkräften eingerichtet
wurde. Seit Jahrzehnten stillgelegt. Sie liegt ziemlich in der In
selmitte. Ich habe eine Karte.«
»Was ist das?«, fragte Medea, wobei sie nach unten auf die
Südklippen zeigte. Wir konnten ein paar verfallene Molen, Lande-
buchten und Fertigschuppen ausmachen, die sich am Fuß der
Klippe auf einer Felszacke in Meereshöhe scharten. Eine vertikale
Fahrbahn, eine Reihe verrosteter Masten, verlief von der Rücksei
te eines der größeren Schuppen die Klippenwand empor.
»Das ist die Landevorrichtung«, sagte Fischig. »Damit wurde die
Insel mit Nachschub beliefert, als hier noch Personal der PAS sta
tioniert war.«
»Da unten liegt ein Schiff«, sagte ich. »Ziemlich groß.«
Ich wandte mich an Medea. »Lande dort. Neben den Schuppen.
Die Klippen werden das Kanonenboot auch vor Entdeckung schüt
zen.«
Es war schauderhaft kalt, und die Luft war klamm vom Nebel
und der Meeresgischt. Aemos und Dahault blieben mit Medea an
Bord des Kanonenboots, und der Rest von uns stieg aus. Auf der
Rampe wandte ich mich an Verveuk. »Sie bleiben ebenfalls an
Bord, Bastian.«
Er sah mich bestürzt an. Wieder dieser verdammte sehnsüchti
ge Ausdruck.
»Ich hätte gern jemanden zur Bewachung des Bootes an Bord,
auf den ich mich verlassen kann«, log ich glatt.
Seine Miene veränderte sich augenblicklich: Stolz und Selbst
herrlichkeit.
»Aber natürlich, Milord!«
Wir rückten ins Hinterland von Miquol vor. Fischig hatte ein
Auspex-Gerät auf die alte PAS-Basis gerichtet, also steuerten wir
sie als erstes Ziel an.
Der Himmel hatte die leuchtende dunstig weiße Farbe eines
durchgebrannten Elektronenröhrenschirms. Nebelschwaden kleb
ten am Boden wie Rauchwolken. Der Regen fiel stetig. Die Land
schaft war eine Mischung aus zerklüfteten, steil aufragenden
Auswüchsen und steil abfallenden, schattigen Tälern voller Geröll.
Überall lagen Felsbrocken, manche so groß wie Schädel, andere
so groß wie Kampfpanzer. Der Felsen war dunkel, beinahe
anthrazitfarben, und gelegentlich war er zu Kaskaden aus vulka
nischem Glas zersplittert. Ein abstoßender, bedrohlicher grauer
Ort. Eine Monochromwelt.
Nach zwei Stunden passierten wir einen rostzerfressenen Turm
aus Stahlträgern, der in durchhängenden, korrodierten Metallblät
tern auslief, die früher einmal Satellitenschüsseln zur Nachrich
tenübermittlung gewesen waren. Einer der peripheren Empfänger
der Horchstation.
»Wir sind nah dran«, sagte Fischig mit Blick auf sein Auspex.
»Die Basis ist hinter der nächsten Landzunge.«
Wir schlichen von einer Deckung zur nächsten ans eisige Ufer
und überwanden das kurze Stück zum nächsten Langhaus. Mitt
lerweile hatten wir alle bis auf Begundi unsere Waffen gezogen.
Fischigs Auspex und Bewegungsdetektor zeigten beide Lebenszei
chen in der Nähe an, aber wie nah, das verrieten sie nicht. Dank
der verdammten magnetischen Interferenzen waren wir zwar
vorgewarnt, doch so gut wie blind.
VIER
Cruor Vult.
Flucht vor dem Riesen.
Eine schrecklich riskante Wette.
Sein Name lautete Cruor Vult. Er wog zweieinhalbtausend Ton
nen und war sechzig Meter groß. Wie alle Kampftitanen der War
lord-Klasse war er ein Zweifüßer und in seinen Proportionen bei
nahe humanoid. Mit immensen dreizehigen Füßen aus geglieder
tem Metall behuft, trugen seine massiven Beine ein kolossales
Becken und den großen genieteten Rumpf, in dem seine pulsie
renden Atomöfen untergebracht waren. Breite Schultern boten
ausreichend Platz für Turbolaserbatterien. Unter der Schulterpan
zerung trugen die Arme des Titans die primären Waffen der Ma
schine: einen Gatlingblaster in der rechten Faust und eine Plas
makanone in der linken. Der Kopf war vergleichsweise klein, ob
wohl er, wie ich wusste, groß genug war, um das gesamte Kom
mandodeck aufzunehmen. Er hockte tief zwischen den Schultern,
sodass das Ungeheuer bucklig und missgestaltet aussah.
Ich habe schon zuvor Titanen gesehen. Sie sind immer ein er
schreckender Anblick. Selbst die Kampftitanen des Imperiums
sind schrecklich anzuschauen. Die Adeptus Mechanicus, die diese
Kriegsmaschinen zum Wohle der Menschheit herstellen und war
ten, betrachten sie als Götter. Sie sind vielleicht die größten me
chanischen Artefakte, welche die menschliche Rasse jemals her
vorgebracht hat. Wir haben mächtigere Dinge gebaut - die Raum
schiffe, welche die Leere und den Warp durchqueren und mit ih
ren Waffen ganze Kontinente auslöschen können -, und auch
technisch anspruchsvollere Dinge - die letzte Generation der au
tonomen Flüssigkern-Cogitatoren. Aber wir haben nichts so Erha
benes wie den Titan gebaut.
Sie sind für den Krieg und nur für den Krieg gemacht. Sie sind
nur erschaffen, um zu zerstören. Sie tragen die stärkste Bewaff
nung aller landgestützten Kampffahrzeuge überhaupt. Nur Flot
tenkriegsschiffe können mehr Feuerkraft zum Einsatz bringen. Ihr
Aussehen, ihre Fülle, ihre schiere Größe verfolgt keinen anderen
Zweck als den, Angst und Schrecken zu verbreiten und einen
Feind zu demoralisieren.
Und sie leben. Vielleicht nicht so, wie Sie oder ich es verstehen,
aber in der Gedankenverbindung zwischen Pilot, Besatzung und
den Funktionen des Titans brennt ein Intellekt. Manche sagen, sie
hätten eine Seele. Nur die Priester des Mars, die Adepten und
Tech-Magier des Cult Mechanicus, begreifen ihre Geheimnisse
wirklich, und sie hüten dieses Wissen unbarmherzig.
Das Einzige, was vielleicht noch erschreckender ist als ein
Kampftitan, ist ein Chaos-Kampftitan, die berüchtigten Metall-
Leviathane des Erzfeindes. Manche werden in den Schmieden des
Warps gefertigt, deren Konstruktion von den Originalen des Im
periums kopiert und parodiert wird, lästerliche Perversionen der
marsianischen Gottmaschinen. Andere sind alte Imperiumstita
nen, die im Zuge der Großen Häresie verdorben wurden, Verrä
terlegionen, die dem Willen des Imperators zum Trotz zehntau
send Jahre im Auge des Schreckens gelauert haben.
Was für einer dieser war, interessierte mich herzlich wenig. Er
sah deformiert aus, mit Rost besprenkelt, stacheldrahtbehangen
und mit Klingen bedeckt, die wie Dornen sprossen. Was ich zuerst
für gelbe Perlenketten an den Schultern gehalten hatte, waren
tatsächlich Ketten mit Menschenschädeln, viele Tausend. Das Me
tall hatte eine schmutzig matte schwarze Farbe und war mit den
unaussprechlichen Runen des Chaos bedeckt. Der Kopf war ein
hohngrinsender, glänzend verchromter Schädel. Sein Name stand
in Messingbuchstaben auf einer Plakette quer über der giganti
schen Brust.
Er trat vor. Der Boden bebte. Die geborstenen Dachpaneele des
Hangars kreischten, als sie rissen und sich um seine schwingen
den Schenkel bogen. Er schritt durch das Material des Hangars
wie ein Mann, der durch einen Bach watet. Die Vorderseite des
Hangars platzte nach außen weg und fiel mit gewaltigem Krach,
als der Titan durchbrach.
Und dann heulte er.
Große, seitlich am Kopf befestigte Lautsprecher plärrten den
berserkerhaften Schlachtruf des Ungeheuers heraus. Er war so
schmerzhaft laut und so tief im Infraschallbereich, dass er reflex
haft Urängste und Panik in uns weckte. Die Erde bebte noch
mehr, als sie es unter der Last seiner Schritte getan hatte.
Er kam auf uns zu. Nun, da er den Hangar verlassen hatte,
konnte ich den langen, gegliederten Schwanz sehen, der hinter
ihm peitschte.
Bewegt euch!, richtete ich meinen Willen auf meine Kollegen, in
der Hoffnung, sie wachzurütteln und zu einer rationalen Reaktion
zu veranlassen. Alle paar Sekunden vibrierte der Fels unter unse
ren Füßen, wenn er den nächsten Schritt machte.
Wir liefen durch die Straßen der verlassenen Station und ver
suchten, so viele Gebäude wie möglich zwischen ihn und uns zu
bringen. Unser einziger Vorteil war unsere Größe. Wir konnten
ihm entgehen, indem wir verborgen blieben.
Mit einem metallischen Kreischen schlecht geölter Gelenke
drehte er langsam Kopf und Rumpf, um in unsere Richtung zu
schauen, und folgte uns dann mit stampfendem Schritt. Er mar
schierte direkt durch ein Langhaus, das zerbrach wie ein Streich
holz.
»Er weiß, wo wir sind!«, rief Rassi verzweifelt.
»Wie kann er?«, heulte Haar.
Sensoren von militärischer Qualität. Leistungsfähige Auspex-
Anlagen. So gute Geräte, dass sie die magnetischen Störungen
auf der Insel ausglichen. Das Ungeheuer war so konzipiert, dass
es auch auf den denkbar unwirtlichsten Schauplätzen kämpfen
konnte und Giften, Strahlungen, dem Vakuum und Bombardie
rungen standhielt. Es musste in der Lage sein, mitten in der Hölle
zu sehen, zu hören und zu riechen. Die hiesigen Magnetfelder, die
unsere zivilen Instrumente störten, konnten ihm nichts anhaben.
»Er ist so … groß …«, stammelte Bequin.
Wieder ein Krachen. Wieder fiel ein Langhaus um und brach
auseinander. Das Kreischen protestierenden Metalls, als das
Wrack eines Truppentransporters unter einem Fuß pulverisiert
wurde.
Wir machten beinahe kehrt und rannten jetzt in die andere
Richtung, südlich an der Kirche und der Kommandozentrale vor
bei. Wieder drehte er sich mit dem hallenden Knirschen strapa
zierter Gelenke um und setzte seine unaufhaltsame Verfolgung
fort.
Ich spürte einen Krampf, einen Impuls auf der psionischen Ebe
ne. Ich spürte die Woge und das Flackern seiner Gedankenver
bindung.
»Alles runter!«, brüllte ich.
Der Gatlingblaster eröffnete das Feuer. Sein Geräusch war ein
einziger verschwommener Krach. Ein gewaltiger Kegel brennen
der Gase flackerte und zuckte um die Waffenmündungen.
Ein Gewitter der Zerstörung ging auf uns nieder. Hunderte
Sprenggranaten zerstörten die Straße und die Häuserfronten und
zermalmten sie. Feuerstürme jagten tosend die Straße entlang.
Milliarden Funken und Trümmerstücke flogen durch die Luft. Der
Gestank nach Fyzelen war erstickend stark.
Ich erhob mich in einem Sturm aus Asche und niedergehenden
Funken. Wir waren alle noch am Leben, wenn auch durch die Ge
walt der Explosionen chronisch benommen. Entweder waren die
Zielsysteme des Titans ausgeschaltet oder die Besatzung musste
sich noch an die Bedienung gewöhnen. Die Sensoren mochten in
der Lage sein, unsere Bewegungen zu verfolgen, aber der Titan
musste dennoch seine Augen ins Spiel bringen. Vielleicht spürte
er uns auch nur auf eine ganz allgemeine Art.
»Dagegen können wir nicht kämpfen!«, sagte Fischig.
Er hatte recht. Das konnten wir nicht. Wir hatten nichts. Dies
war so einseitig, dass es nicht einmal tragisch war. Aber wir
konnten auch nicht fliehen. Sobald wir die Deckung der Stations
gebäude verließen, würden wir im Freien und leichte Ziele sein.
»Was ist mit dem Kanonenboot?«, meldete sich Alizebeth zu
Wort.
»Nein … nein«, sagte ich. »Nicht einmal das Boot hat genügend
Feuerkraft. Es kann ihn vielleicht verbeulen, aber es kann ihn
nicht besiegen. Das Ding würde es aus der Luft holen, bevor es
auch nur in seine Nähe käme.«
»Aber …«
»Nein! Das kommt nicht infrage!«
»Was dann?«, wollte sie wissen. »Sterben? Kommt das infra
ge?«
Wir rannten wieder, weg von der brennenden Todeszone. Mit
einem weiteren Ausbruch ohrenbetäubender Lautstärke eröffnete
der Gatlingblaster wieder das Feuer. Ein Langhaus und ein Teil
der Kommandozentrale rechts von uns lösten sich in einem Vul
kanausbruch wirbelnder Trümmer und Feuerwolken in Schutt und
Asche auf. Überall waren Flammenwände, die in der grauen Düs
ternis grellgelb loderten.
Begundi führte uns in eine Seitenstraße zwischen den Enden
zweier Langhäuser. Fischig und Kara Swole trugen den erschöpf
ten Rassi beinahe. Wir duckten uns in den Schatten an eine mor
sche Seitenwand.
Da wir uns versteckten, konnten wir den Titan nicht mehr se
hen. Es herrschte Stille, die nur durch das Knistern des brennen
den Pressspans und das Knarren langsam einstürzender Fertig
bauten gestört wurde.
Aber ich konnte ihn spüren. Ich konnte spüren, wie sein unmen
schlicher Geist böswillig in den tiefsten Harmonien des psioni
schen Spektrums brodelte. Er war nördlich von uns, auf der ande
ren Seite der Kirche und der Vorratsschuppen, wo er wartete und
lauschte.
Ein vibrierender Schlag. Er bewegte sich wieder. Die Abfolge der
Schritte beschleunigte sich, als er Tempo aufnahm, bis der Boden
gar nicht mehr dazu kam, zwischen den Schlägen nicht zu zittern.
Kiesel rutschten über den Boden und loses Glas löste sich aus den
geborstenen Fenstern der Langhäuser in der Nähe.
»Los!«, grollte Fischig. Er sprang auf und lief nach Osten über
die Hauptstraße. Die anderen folgten seinem Beispiel.
»Fischig! Nicht da lang!« Ich sprang ihm hinterher und erwisch
te ihn mitten auf der Straße. Gequältes Metall ächzte, und der
Titan tauchte am Ende der Straße auf, wo er seinen gewaltigen
Oberkörper in unsere Richtung drehte.
Fischig erstarrte vor Entsetzen. Ich warf mich mit ihm hinter
das verrostete Wrack eines alten Truppentransporters der PAS.
Blasterschüsse fegten durch die Straße und erzeugten eine Rei
he von Einschlägen, die Krater im Boden hinterließen, die Seite
eines Vorratsschuppens demolierten und alles mit Flammen,
Rauch und pulverisiertem Gestein erfüllten.
Ein Geschosshagel fegte durch den Truppentransporter, spreng
te das ermüdete Material seiner Panzerung auf und schleuderte
rostige Splitter in alle Richtungen. Die Trefferwucht hob das mo
dernde Wrack tatsächlich an und drehte es einmal um die eigene
Achse. Ich zog Fischig hinter ein Langhaus und verhinderte gera
de noch, dass wir unter dem Metallwrack zerquetscht wurden.
Der Transporter blieb vor der Seitenwand des Fertigbaus liegen
und drückte die Wandpaneele ein.
Die erderschütternden Schritte kamen wieder. Der Titan folgte
der Straße. Ich sah Fischig an. Er war blass und benommen. Ein
scharfkantiger Splitter hatte sich in seine linke Schulter gebohrt.
Ohne den dort festgeschnallten Bewegungsdetektor hätte er ihn
enthauptet. Der Detektor war eine rauchende Ruine, und rings
um das in seinem Trapezius steckende Metallstück quoll Blut aus
der Schulter.
»Heiliger Thron«, murmelte er.
Ich stützte Fischig mit einer Hand und schaute mich um. Be
gundi und Swole war es gelungen, vor dem Beschuss alle wieder
in Deckung zu schaffen. Ich konnte sie durch den Rauch sehen,
wie sie im Schatten kauerten.
Ich hob die freie Hand und gab Zeichen, die so klar wie möglich
waren. Ich wollte, dass sie sich zurückzogen und neu formierten.
Wir würden uns aufteilen müssen. Wir konnten an keiner Stelle
wagen, die offene Straße zu überqueren.
Fischig und ich stolperten in die entgegengesetzte Richtung los
und landeten in einem Entwässerungsgraben hinter der Reihe von
Langhäusern, wo ein Bach durch die Station zum See floss. Wir
überquerten ihn auf einer kleinen Drahtkäfigbrücke und gingen
dann auf der anderen Seite hinter einer Werkstatt in Deckung.
»Wo ist er?«, japste Fischig schmerzerfüllt.
Ich schaute nach. Ich konnte die riesige Maschine zweihundert
Meter weiter hinten ausmachen, wo sie in den schwarzen Rauch
ihres letzten Feuerüberfalls gehüllt über die Fertigbauten ragte.
Der Titan hatte den alten Truppentransporter erreicht und stand
dort. Es sah tatsächlich so aus, als wittere die riesige Kriegsma
schine.
Plötzlich drehte sich der Titan wieder mit dem Geräusch surren
der Getriebestangen und kreischender Gelenke und fegte durch
das Langhaus. Er folgte uns.
»Er kommt hier entlang«, sagte ich zu Fischig. Wir liefen los,
über die Betondecke des Werkstattbodens und dann über die
leicht ansteigende Straße zur Kommandozentrale.
Fischig war langsamer geworden. Der Titan holte auf.
Ein entfernter Knall ertönte, der durch das gesamte Seebecken
hallte. Am Westende der Station schraubte sich ein Feuerball in
die Luft.
»Was war das?«, grollte Fischig.
Der Titan wollte es ganz eindeutig ebenfalls wissen. Er änderte
seinen Kurs und entfernte sich von uns in Richtung der unerklärli
chen Explosion, ohne den Kollateralschaden zur Kenntnis zu
nehmen, den er in seinem Kielwasser zurückließ.
»Das«, sagte eine Stimme hinter uns, »war die beste Ablen
kung, die mir eingefallen ist.«
Wir drehten uns um, Harlon Nayl stand vor uns.
Wie gesagt, ich will nicht vorgeben, etwas von der Funktions-
weise eines Kampftitans zu verstehen. Das tut kein Mensch, wenn
er nicht Priester des Mars oder, wie Thuring, Besitzer unrechtmä
ßig übertragenen Wissens ist. Aemos wusste wahrscheinlich das
eine oder andere. Ich wusste mit Sicherheit, dass er schon Ge
dankenverbindungseinheiten der Adeptus Mechanicus mit eigenen
Augen gesehen hatte, denn das hatte er mir schon vor langer Zeit
im Kryo-Generatorraum des Schlummergewölbes von Prozessio
nal Zwo-Zwölf auf Hubris erzählt.
Aber er war in jener kühlen, verwüsteten Kirche nicht bei mir,
und es war auch keine anständige Unterhaltung mit ihm möglich.
Doch ich wusste genug, um zu verstehen, dass die Funktion ei
nes Titans von der Verbindung zwischen Mensch und Maschine,
zwischen dem menschlichen Gehirn und dem mechanischen Emp
finden abhing. Diese wurde - wunderbarerweise - durch die psio
nische Schnittstelle der Gedankenimpulseinheit erreicht.
Was, simpel ausgedrückt, bedeutete, dass die Wurzel unseres
Problems im Wesentlichen eine psionische war. Wenn wir die Ge
dankenverbindung stören oder besser noch zerstören konnten …
»Dieser Runenstab ist von Magos Geard Bure von den Adeptus
Mechanicus für mich angefertigt worden«, sagte ich zu Rassi,
während ich ihn das Gewicht der Waffe spüren ließ. Der Stab war
eine lange runische Stahlrute mit einer Kappe in Form einer Son
nenkorona aus Elektrum. Der Magnetstein im Zentrum der Kappe
war ein Schädel, eine perfekte Kopie meines eigenen, der mit
dem dreizehnten Zeichen der Geißelung markiert war. Der Schä
del war aus der hyperdichten Geode eines teleemphatischen Mi
nerals namens Lith gemacht, das Bure auf Cinchare gefunden
hatte. Es war ein Psi-Verstärker von verheerender Kraft.
»Wir benutzen ihn, um unsere gemeinsamen psionischen Kräfte
zu verstärken. Um uns einen Weg ins Bewusstsein der Maschine
zu erzwingen.«
»Aha. Und dann?«
Ich schaute zu Alizebeth. »Dann übernimmt Madam Bequin den
Runenstab und überträgt ihre unberührbare Leere in sein Inners
tes.«
»Wird das funktionieren?«, fragte Kara Swole.
Eine lange Pause trat ein.
Bequin sah zuerst mich an, dann Rassi. »Ich weiß es nicht. Wird
es?«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte ich. »Aber ich glaube, der Plan
gibt uns die besten Aussichten.«
Rassi holte tief Luft. »So sei es. Ich sehe keine andere Hoff
nung, nicht einmal eine entfernte. Fangen wir an.«
Poul Rassi und ich nahmen den Runenstab zwischen uns, die
Hände um den langen Schaft geschlossen. Er schloss die Augen.
Ich versuchte mich zu entspannen, aber die instinktiven Barrie
ren des Selbstschutzes, die in jedem Geist existieren, hielten
mich davon ab loszulassen. Ich wollte nicht in das Ding eindrin
gen. Selbst aus der Entfernung stank es nach verderbter Macht.
Nach dem Warp.
»Kommen Sie, Gregor«, flüsterte Rassi.
Ich konzentrierte mich. Ich schloss die Augen. Ich wusste, dass
der Titan mit jedem Augenblick näher kam, weil ich spürte, wie
der Boden der Kirche zitterte.
Ich versuchte, mich gehen zu lassen.
Es war, als klammere man sich an einen Halt, während man
über einer Grube mit ätzendem Schlamm hing. Ich konnte es
nicht ertragen, nachzugeben und abzurutschen. Was mich dort
unten erwartete, war ein kosmisches Grauen, eine brodelnde
Masse aus Dreck und Gift, die meinen Geist, mein Bewusstsein,
meine Seele auflösen würde.
Das Chaos winkte, und ich versuchte den Mut aufzubringen, in
seine Arme zu springen.
Ich spürte, wie mir Schweißtropfen über die Stirn liefen. Ich
roch den Moder der verfallenen Kirche. Ich spürte den kalten
Stahl in meinen Händen.
Ich ließ los.
Es war schlimmer als alles, was ich mir hätte vorstellen können.
In der modrigen Enge der Kirche sprang Bequin vor und nahm
den Runenstab aus den Händen der beiden Inquisitoren, die vor
Anstrengung und Grauen zitterten. Unsere Augen waren so ver
dreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
Sie umklammerte den Runenstab, konzentrierte ihre Kraft der
Unberührbarkeit und …
FÜNF
Ich lief nach draußen und sah gerade noch, wie die majestäti
sche Raubvogelgestalt meines Kanonenboots im Tiefflug über die
PAS-Station rauschte und die Geschütze auf den sich langsam
drehenden Titan abfeuerte. Die Ströme der großkalibrigen Grana
ten prallten einfach von der dicken Panzerhaut des Riesen ab.
Cruor Vult drehte sich mit dem Kreischen von Metall auf Metall,
hob die rechte Faust und schoss. Der konische, weißglühende
Flammenblitz der Mündungsgase zuckte und flackerte um den
Gatlingblaster.
Das Boot bockte und ruckte, als es die ersten Treffer bekam. Es
versuchte auszuweichen, aber der Geschosshagel war zu dicht.
Die heftige Salve riss meinem geliebten Kanonenboot den
Bauch auf und eine Schwanzflosse ab. Flammen und Rauch
speiend, schmierte das Boot ab. Trümmer lösten sich von seinem
zerfetzten Rumpf. Es versuchte wieder zu steigen.
Die Haupttriebwerke erloschen.
Mit einer breiten Rauchfahne im Schlepptau kippte das Boot
brutal nach links weg, fegte mit einer Flossenstrebe durch den
Rand der alten, verrosteten Satellitenschüssel und stürzte ab. Es
schlug am Seeufer auf, grub sich in den Uferschlamm und den
Kies und hinterließ eine schwelende, dreißig Meter lange Furche.
Ich stolperte vorwärts in dem Versuch, etwas zu sehen, aber
das abgestürzte Boot wurde zum großen Teil von Gebäuden ver
deckt.
Es brannte, so viel konnte ich sagen. Cruor Vult schritt langsam
zum Strand.
Ich hatte plötzlich das mentale Bild eines Jägers vor Augen, der
zu dem verwundeten Wild geht und dabei den Fangschuss aus
nächster Nähe vorbereitet.
Um die Ecke des nächsten Langhauses konnte ich bis zum glit
zernden Kies des eisigen Seeufers schauen. Der Titan entfernte
sich mit knirschenden Schritten, und seine riesigen Füße hinter
ließen perfekte Abdrücke aus pulverisierten Kieseln. Das Kano
nenboot lag halb auf der Seite, ein verstümmeltes, geborstenes
Wrack, das sich tief in das Geröll und den harten, kalten Schlamm
des Seeufers gebohrt hatte. Jämmerlicher schwarzer Rauch quoll
aus seinen Innereien, und Dampfschwaden stiegen auf, wo das
Seewasser Kontakt mit brennenden Trümmern hatte.
Ein leiser, blecherner Knall ertönte, und eine Ausstiegluke wur
de aus der Flanke des Boots gesprengt, nachdem die Sprengsätze
gezündet hatten. Eine Gestalt, eindeutig verwundet, fiel aus der
Luke und kroch das Ufer entlang.
Die Gestalt sah aus wie Verveuk.
Der Titan war jetzt nur noch etwa fünfzig Meter von der Ab
sturzstelle entfernt, und seine Füße erzeugten Wasserfontänen,
als er durch das flache Wasser am Ufer schritt.
Ich wurde mir einer Bewegung neben mir bewusst. Es war Haar,
der sein Präzisionsgewehr gehoben hatte und damit auf den Titan
zielte, eine trotzige Geste so voller Mut, dass sie die ihr zugrunde
liegende Dummheit in den Schatten stellte. Kara Swole war dicht
hinter ihm und begleitete Rassi, der sich aufgerafft hatte, um sich
mir anzuschließen. Infolge der Tortur in der Gedankenverbindung
sah er halb tot aus. Seine Augen waren eingefallen und dunkel,
die Lippen dünn und blutleer.
Ich frage mich, wie ich wohl aussah.
Begundi folgte ihnen. Er hatte seine Pistolen wieder gehalftert.
Er wusste, dass Feuerkraft wie seine witzlos war. Fischig und Nayl
waren bei Alizebeth in der Kirche geblieben.
Rassi hatte meinen Runenstab und benutzte ihn, um sich auf
recht zu halten.
»Gehen Sie zurück«, sagte ich zu allen. »Gehen Sie einfach …
wir können nichts tun.«
»Wir kämpfen …«, keuchte Rassi. »Wir kämpfen … gegen den
Erzfeind … im Namen des Gott-Imperators der Menschheit … bis
wir umfallen …«
Er hob meinen Runenstab und benutzte ihn, um seinen müden
Geist zu verstärken. Psychothermische Energie manifestierte sich
sehr viel stärker, als sie dies durch seinen Stock getan hatte, und
traf den Rücken des Titans. Ich weiß nicht, ob er hoffte, ihn damit
zu verwunden. Ich weiß nicht, ob es an dieser Stelle schon so
weit mit ihm gekommen war, dass er glaubte, er könnte es. Ich
glaube, er versuchte ihn einfach vom Kanonenboot abzulenken.
Rassis sengender Flammenstrahl sah so verheerend aus, als er
aus dem Runenstab neben mir schoss, so grell, dass mir die Au
gen schmerzten, und so heiß, dass meine Haare versengt wur
den. Aber als er den Titan traf, wurde sein eigentliches Kaliber
aufs Schmerzlichste enthüllt. Er prallte wirkungslos von der hinte
ren Rumpfverkleidung des Titans ab.
Aber er hielt den Strahl dennoch aufrecht. Das psychothermi
sche Feuer wurde grün und dann blauweiß. Haar fing an zu schie
ßen. Ich glaube, Kara ebenfalls.
Wie Küsse in den Wirbelsturm, hätte mein alter Meister Haps
hant gesagt.
Cruor Vult beharkte das Wrack des Kanonenboots mit seinem
Gatlingblaster. In den ersten Momenten des gnadenlosen Angriffs
wurde der Rumpf aufgerissen, verbogen und deformiert, sodass
Metallsplitter über das Ufer und in den See flogen und sich überall
kleine Einschlagswellen ausbreiteten.
Das Boot schien sich zu winden, als versuche es dem Beschuss
zu entrinnen. In Wahrheit wurde es ganz einfach vom Hagelsturm
der Schüsse bewegt, der darüber hinwegfegte und es zerfetzte.
Dann explodierte es. Ein großer, heller Blitz, ein krachender
Donnerschlag und eine Druckwelle. Die Explosion schlug ein Loch
in das Seeufer und sandte eine beachtliche Flutwelle über den
See zum anderen Ufer.
Wo das Kanonenboot gewesen war - wo Medea, Aemos und Da
hault gewesen waren -, befand sich nur noch eine Grube, aus der
Flammen loderten. Trümmer, Wasser und Kiesel regneten
schmerzhaft nieder wie ein apokalyptischer Wolkenbruch. Der
Titan verschwand buchstäblich in einer jäh aufwallenden Dampf
wolke.
Verveuk war fünfzig Meter vom Wrack entfernt gewesen und
war landeinwärts gestolpert, das war das Letzte, was ich von ihm
gesehen hatte. Als ich es wagte, den Kopf in den Kiesregen zu
heben, war nichts mehr von ihm zu sehen.
Nach vollbrachtem Mord ging der Titan auf uns los.
Ich wurde flach auf den Boden geworfen und schlug so hart mit
dem Kopf gegen eine Langhauswand, dass ich einen Moment das
Bewusstsein verlor. Später fand ich heraus, dass Begundi mich
mit einem verzweifelten Hechtsprung in das wenige an Deckung
befördert hatte, was noch verfügbar war.
Cruor Vult hatte seine Zielfähigkeiten verbessert.
Die kalte Inselluft war voller Mineralstaub von den Kieseln und
Steinen, die durch seinen Blasterbeschuss atomisiert worden
waren. Rassi und Haar existierten ganz einfach nicht mehr. Sie
waren von der Waffe verdampft worden. Mein Runenstab, ge
schwärzt, aber intakt, lag auf einem Flecken Erdboden, der durch
die grausige Alchimie des Blasterfeuers in zerfurchtes Glas ver
wandelt worden war. Die einzige andere Spur von ihnen war ein
winziges Bruchstück von Haars Lasergewehr.
Kara Swole lag zwanzig Meter entfernt, wo die Explosion sie
hingeschleudert hatte. Sie war voller Blut, und ich war sicher,
dass sie tot war.
Und ich war sicher, dass auch wir tot waren. Thuring hatte ge
wonnen. Er hatte meine Freunde und Verbündeten vor meinen
Augen getötet, und jetzt hatte er gewonnen.
Ich hatte nichts mehr, womit ich ihn bekämpfen konnte. Ich
hatte nichts, was es mit einem Titan aufnehmen konnte. Ich hatte
nichts gehabt, als dieses einseitige Duell begonnen hatte, und ich
hatte ganz sicher auch jetzt nichts.
Ich …
Eine Idee sprang mich an, heimtückisch und übel, ans Tages
licht gezerrt durch meine extreme Lage. Ich schüttelte sie ab. Es
war undenkbar. Der Gedanke war abstoßend, unentschuldbar.
Aber er war auch richtig. Ich hatte doch etwas.
Ich hatte etwas Stärkeres als einen Titan.
Wenn ich es einzusetzen wagte. Wenn ich so tolldreist war, es
loszulassen.
Undenkbar. Undenkbar.
Cruor Vult donnerte durch den ausdünnenden Dampf auf mich
zu.
Ich konnte das Jaulen der Autolader in der massiven Gatling
waffe hören, die den Blaster mit frischer Munition verbanden. Ich
konnte die Uferkiesel vor meinen Füßen sehen, Tausende, wie sie
bei jedem seiner Schritte leicht hüpften.
»Bex …«
»Inquisitor?«
»Nehmen Sie Kara mit und laufen Sie. Fliehen Sie in die Kir
che.«
»Inquisitor, ich …«
Tun Sie’s gleich, zwang ich ihn, und er sprang auf und rannte
los.
Ich kroch zum Runenstab und umklammerte den Schaft. Er war
heiß und klebrig vom Blut.
Duclane Haar und Poul Rassi würden als Opfer herhalten müs
sen, erkannte ich ganz pragmatisch und bereits von mir selbst
angewidert. Es war keine Zeit, keine Gelegenheit, etwas Kompli
zierteres zu versuchen. Wie die Dinge lagen, hatte ich ohnehin
kaum welche von den Werkzeugen, Gerätschaften, Salben, Talis
manen und Schutzvorrichtungen, die ich normalerweise als not
wendig erachtet haben würde, um etwas wie das hier zu vollbrin
gen.
Ich hielt inne. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht einmal in
Betracht gezogen, so etwas wie das hier zu vollbringen, ungeach
tet der Vorbereitungen.
Auf dem verglasten Boden im Weg des heranstampfenden
Chaos-Kampftitans kniend, hielt ich den vom Blut zweier teurer
Freunde glitschigen Runenstab in die Höhe und begann die Be
schwörung.
Es war schwierig. Schwierig, sich wortgenau an die entspre
chenden Verse im Malus Codicium zu erinnern, einem Werk, das
ich insgeheim seit vielen Jahren gründlich studiert hatte. Es war
en Schriften, die ich unbedingt hatte lernen und verstehen wollen,
mir aber dennoch Furcht einflößten. Nach meinem ersten Urlaub,
in dem ich das Codicium studiert hatte, nur wenige Monate nach
der Hinrichtung seines ursprünglichen Besitzers Quixos, war ich
gezwungen gewesen, Abstand davon zu nehmen und mich zu
erholen, und hatte mich Rat suchend an die Äbte des Klosters
vom Heiligen Herzen auf Alsor gewandt.
Jetzt versuchte ich mich an eben jene Passagen zu erinnern.
Trieb mich. Mühte mich, Schriften zu wiederholen, die aus mei
nem Bewusstsein zu löschen ich mir einst alle Mühe gegeben hat
te.
Wenn ich auch nur ein Wort falsch zitierte, eine Formulierung
oder eine Vokabel, würde wir alle durch die Hand eines Übels
sterben, das weitaus schlimmer war als Cruor Vult.
SECHS
Chaos gegen Chaos.
Der Preis.
Die Konsequenz.
Am Seeufer auf Miquol machte ich mir nichts vor. Ich wusste,
was für ein verzweifeltes Wagnis ich einging.
An dem trostlosen Ufer war ich sicher, ich könnte die Wahrheit
von Lügen unterscheiden. Voke hatte lediglich die Feinheit der
Trennlinie falsch eingeschätzt.
Auf jener eisigen Insel auf Durer, den Runenstab in den Hän
den, wusste ich, dass es kein Selbstmord war. Es war das Gegen
teil.
Blitze zuckten. Plötzlich brach ein Gewitter über dem See aus,
das den Himmel aufwühlte und einen Wolkenbruch brachte, be
gleitet von heftigen Winden und katastrophalen elektrischen Phä
nomenen.
Ein grässliches weißes Ding, das sich so schnell bewegte, dass
man es nur als Nachbild auf der Netzhaut wahrnahm, zuckte aus
meinem Stab und fuhr geradewegs in die schwarze Masse von
Cruor Vult.
Der Titan zögerte mitten im Schritt, einen Fuß erhoben. Er
schauderte. Seine riesigen Arme ruderten einen Moment. Dann
splitterte sein Chromschädelgesicht und zerbarst in einer Explosi
on aus widerlich grünem Licht.
Cruor Vult schwankte, während der Regen auf seine knarrende
Gestalt prasselte.
Ein Halo aus Licht erleuchtete das Seeufer und die alte PAS-
Basis. Cruor Vult, der uralte Feind der Menschheit, explodierte
von der Hüfte aufwärts in einem Ball greller, weißer Hitze. Nichts
von Kopf, Rumpf und Armen überlebte die Explosion.
Die Beine, ein Fuß noch erhoben, zitterten und schwankten, fie
len wie ein Erdrutsch zur Seite um und zerstörten die ruinierten
Reste der Satellitenschüssel völlig.
Cruor Vult war tot. Fayde Thuring war tot.
Und ich war bewusstlos, von der Druckwelle der Explosion zu
rückgeschleudert.
Und das bedeutete, Cherubael war frei.
»Was im Namen der Hölle ist hier passiert?«, blaffte Fischig, das
Gewehr erhoben, als er zu mir rannte.
»Alles. Nichts. Es ist vorbei, Fischig.«
»Aber … was ist das?«, fragte er.
Der Dämonenwirt schwebte ein paar Zentimeter über dem Bo
den neben mir. Ich hatte aus meinem Gürtel eine Leine gemacht
und ihn um Verveuks verbrannten, aufgeblähten Hals gebunden.
»Ich habe einen Dämon gefangen, Godwyn. Er ist jetzt gebun
den und kann uns nichts anhaben.«
»Aber … Verveuk?«
»Tot. Wir müssen ihn ehren. Er hat dem Imperator alles gege
ben.«
Fischig betrachtete mich wachsam. »Woher weißt du, wie man
einen Dämon bindet, Eisenhorn?«, fragte er.
»Ich habe viel gelernt. Es gehört zu den Aufgaben des Inquisi
tors, diese Dinge zu wissen.«
Fischig wich einen Schritt zurück. »Verveuk …«, begann er. »Er
war tot, bevor du seinen Körper benutzt hast, oder?«
Ich antwortete nicht. Drei Fähren kamen über den See geschos
sen und bereiteten sich zur Landung vor. Die von Alizebeth geru
fene Verstärkung war endlich eingetroffen.
SIEBEN
Zuvor hatte ich bereits angemerkt, dass nur wenige Bürger des
Imperiums der Menschheit einen Dämonenwirt erkennen oder
verstehen würden, was ein Dämonenwirt ist. Das ist wahr. Wahr
ist auch, dass zu der ausgewählten Gruppe der Personen, die sich
damit auskennen, auch mehrere Leute aus meinem Stab gehö
ren. Jene, die mit mir auf 56-Izar, Eechen, Cadia und Farness
Beta waren.
Aemos und Medea verstanden das Konzept des Dämonenwirts
ganz gewiss. Ich hatte sie selbst unterwiesen. Ich hatte das Ge
fühl, dass Medea ebenso wie Fischig nur vage verstand, was ich
mit mir auf die Schönheit gebracht hatte, obwohl sie ihm mit
schauderndem Argwohn begegneten.
Aber Aemos wusste es. Er wusste es verdammt gut. Soweit ich
das sagen konnte, wusste er alles, was man wissen konnte, ohne
wahnsinnig zu werden. Aber er war schon länger bei mir als alle
anderen. Wir waren schon seit mehr Jahren Freunde und Gefähr
ten, als ich zu zählen wagte. Ich wusste, dass ich sein Vertrauen
genoss und mich schon sehr irren musste, bevor er meine Metho
den infrage stellen würde.
Nach den ersten Tagen der Fahrt ging mir auf, dass er den Dä
monenwirt nicht einmal erwähnen würde.
Das konnte ich nicht zulassen. Ich wollte Offenheit. Also brachte
ich das Thema selbst zur Sprache.
Es war eines späten Abends, vielleicht in der fünften Nacht auf
der Schönheit. Wir spielten Doppelkönigsmord (zwei Bretter
gleichzeitig, eines verkehrt gespielt, indem die Marschälle als ge
krönte Steine benutzt wurden, das andere lang und mit erweiter
ten Zugmöglichkeiten gespielt … das war die einzige Form des
alten Strategiespiels, die seinen Geist beanspruchte) und tranken
den besten Amasec, den Startis an Bord hatte.
»Unser Passagier«, begann ich, indem ich einen Knappen nahm
und wieder absetzte, da ich über meinen nächsten Zug nachdach
te. »Was denkst du über ihn? Du warst sehr still.«
»Ich war nicht der Ansicht, dass es mir zusteht, etwas dazu an
zumerken«, sagte er.
Ich zog den Knappen auf Marschall drei und bereute es sofort.
»Über, wie lange sind wir schon befreundet?«
Ich sah, dass er tatsächlich nachrechnete. »Ich glaube, wir sind
uns zum ersten Mal im siebten Monat des …«
»Ich meine ungefähr.«
»Tja, vielleicht fing es einige Jahre nach unserer ersten Begeg
nung an, und damit wären es …«
»Könnten wir uns darauf verständigen, dass man es grob … als
sehr lang bezeichnen könnte?«
Er dachte darüber nach. »Das könnten wir«, sagte er, klang
aber wenig überzeugt.
»Und wir sind Freunde, oder nicht?«
»Ja, natürlich! Na, das hoffe ich doch«, sagte er, indem er mei
nen rechten Basilisk schlug und sich dadurch einen Brückenkopf
in meiner zweiten Reihe sicherte. »Sind wir das denn nicht?«
»Ja. Ja, das sind wir. Ich wende mich an dich, wenn ich Antwor
ten brauche.«
»Das tust du.«
»Manchmal glaube ich, diese Antworten könnten auch kommen,
ohne dass ich zuerst die Fragen stellen muss.«
»Hmmm«, sagte er. Er wollte sein Yale ziehen. Er hob die aus
Knochen geschnitzte Figur und betrachtete sie eingehend. »Das
Yale hat mir immer zu denken gegeben«, sagte er. »Es ist offen
sichtlich ein Wappentier und kann seine Ursprünge in die Zeiten
vor dem Großen Hader zurückverfolgen. Aber wofür steht es? Die
Analogien der anderen Figuren sind angesichts der historischen
Traditionen und der Struktur der imperialen Kultur offensichtlich.
Aber das Yale … von allen Figuren im Königsmordspiel gibt mir
das Rätsel auf …«
»Du tust es schon wieder.«
»Was denn?«
»Ausweichen. Das Thema vermeiden.«
»Tue ich das?«
»Ja.«
»Verzeihung.« Er stellte die Figur wieder ab und schlug einen
meiner Raubvögel mit einem Zug, den ich einfach übersehen hat
te. Jetzt hatte er meinen Marschall in der Zwickmühle.
»Nun?«
»Nun?«
»Wie denkst du darüber?«
Er runzelte die Stirn. »Das Yale. Äußerst bestürzend.«
Unvermittelt schlug ich sein Yale. Es war ein alberner Zug, aber
ich weckte ihn damit auf.
»Über die andere Sache. Den Passagier.«
»Er ist ein Dämonenwirt.«
»Ja, das ist er«, sagte ich beinahe erleichtert.
»Du hast ihn auf Miquol an Verveuks Körper gebunden.«
»Das habe ich. Ich glaube, du hast mich dabei beobachtet.«
»Ich war benommen, halb bewusstlos. Aber, ja, ich habe es ge
sehen.«
»Und wie denkst du darüber?«
Er machte eine Deckungsfigur zum König und wechselte auf
mein schwarzes Brett. Das Spiel würde in fünf, sechs Zügen zu
Ende sein.
»Ich versuche es erst gar nicht. Ich will mir nicht vorstellen, wie
ein Mann, dem ich so lange folge und an den ich schon so lange
glaube, plötzlich die Macht und die Mittel haben kann, einen Dä
mon zu beschwören und dann wieder zu binden. Ich versuche
nicht an die Möglichkeit zu denken, dass Bastian Verveuk noch
am Leben war, als die Bindung erfolgte. Ich versuche zu glauben,
dass mein geliebter Inquisitor keine Grenze überschritten hat,
nach deren Überschreiten es kein Zurück mehr gibt. Schach
matt«, fügte er hinzu.
Ich gab auf beiden Brettern auf und lehnte mich zurück. »Es tut
mir leid«, sagte ich.
»Was denn?«
»Dir all das zugemutet zu haben.«
»Deine Fragen sind …«
»Nein. Das meine ich nicht. Im Zuge meiner Jagd auf Quixos
habe ich mehrere finstere Dinge gelernt. Ganz oben auf dieser
Liste waren die Mittel, einen Dämon zu beherrschen. Das ist ein
Wissen, das ich freiwillig niemals benutzt hätte. Aber der Titan
war zu viel. Ich konnte nicht zulassen, dass er überlebt. Ich hatte
nur noch das finstere Wissen in meinem Arsenal.«
»Ich verstehe, Gregor. Wirklich. Dieses Gespräch wäre nicht
einmal nötig gewesen. Du hast getan, was du tun musstest. Wir
haben überlebt … jedenfalls die meisten von uns. Das Chaos wur
de besiegt. Das ist die Aufgabe, oder nicht? Niemand hat je be
hauptet, dass es leicht sein würde. Opfer müssen gebracht wer
den, sonst wird die Arbeit des Imperators nie getan.«
Er beugte sich vor, und seine augmetischen Augen funkelten im
Feuerschein. »Ganz ehrlich, Gregor … wenn ich der Ansicht wäre,
dass du dich in einen wahnsinnigen Radikalen verwandelt hast,
würde ich dann hier sitzen und Königsmord mit dir spielen?«
»Danke, Über«, sagte ich.
Mein Heim war ein würdiges Anwesen auf der Halbinsel Insume,
zwanzig Flugminuten von der ehrwürdigen Lagunenstadt Dorsay
entfernt. Nach der Adelsfamilie, die es hatte erbauen lassen,
Haus Spaeton genannt, handelte es sich um eine H-förmige Villa
aus grauem Stein mit einem grünen Kupferdach. Es gab angren
zende Garagen und Stallungen, ein Vogelhaus, einen Bienen
stock, einen berühmten Ziergarten in Form eines Labyrinths, das
in mathematischer Perfektion von der Firma Krauss angelegt
worden war, einen kleinen Hafen in der privaten Bucht und einen
perfekten Rasen. Im Norden und Osten war es von unbewohnten
Wäldern, Obstgärten und reichlich Wiesen umgeben, und von der
Terrasse hatte man einen ungetrübten Blick auf den Golf von Bis
heen.
Zwei Wochen erholte ich mich in Haus Spaeton. Ich hatte mich
auf dem Heimflug auszuruhen oder wenigstens zu erholen ver
sucht, aber schon die Reise selbst brachte große Anspannung mit
sich, und meine Besorgnis angesichts des rudimentären Gefäng
nisses des Dämonenwirts hatte verhindert, dass ich mich ent
spannen konnte.
Jetzt konnte ich mich wenigstens ausruhen.
Ich machte lange Spaziergänge über die Halbinsel oder stand an
der Küste und beobachtete, wie die Wellen gegen die Felsen am
Rande der Bucht schlugen. An den warmen Abenden saß ich im
Garten und las. Ich half jüngeren Mitgliedern des Personals, in
den Obstgärten Fallobst zu sammeln und in Weidenkörben zu
verstauen.
Ich ging nicht einmal in die Nähe der Bibliothek, des Labyrinths
oder meines Büros. Alizebeth war immer irgendwo in meinen Ge
danken.
Aemos fungierte in dieser Zeit als Sekretär, eine Aufgabe, die
ansonsten Bequin übernommen hätte. Jeden Morgen zur Frühs
tückszeit informierte er mich über die Anzahl der über Nacht
empfangenen Botschaften, und dann sagte ich ihm, wie damit zu
verfahren sei. Er beantwortete allgemeine Briefe, speicherte pri
vate Mitteilungen für meine spätere Kenntnisnahme und zögerte
alles Offizielle hinaus. Er wusste, dass es nur wenige Botschaften
gab, mit denen ich mich befassen würde, wenn sie denn eintra
fen: Nachricht über Bequins Zustand, eine direkte Mitteilung vom
Ordos oder etwas von Fischig.
Ich rief meinen Astropathen und trug ihm auf, die Vorbereitun
gen zu treffen. Er schlug den Abend als geeignete Zeit vor, wenn
alles ruhiger war, und so bat ich Jarat, ein leichtes, frühes Abend
essen aufzutragen, damit der Abend frei bliebe, und eine kalte
Mahlzeit vorzubereiten, falls wir nach getaner Arbeit noch hungrig
seien.
Um sieben Uhr gingen Medea und ich ins Lesezimmer über der
Hauptbibliothek des Hauses. Ich gab Kircher ausdrückliche Anwei
sung, dass wir nicht gestört werden dürften. Der größte Teil des
Personals hatte sich früh zu privaten Studien oder zur Entspan
nung zurückgezogen.
Psullus, der Rubrikator, war in der Bibliothek und reparierte ein
paar Bindungen, die an den Buchrücken ausfransten.
»Lassen Sie uns eine Weile allein«, bat ich ihn.
Er schaute entnervt drein. Invalid infolge einer progressiven
auszehrenden Krankheit, lebte er praktisch in der Bibliothek. Sie
war seine private Welt, und ich kam mir grausam vor, ihn daraus
zu verjagen.
»Was soll ich tun?«, fragte er vorsichtig.
»Setzen Sie sich ins Arbeitszimmer und beobachten Sie die
Sterne. Lesen Sie ein gutes Buch.«
Er sah sich um und lachte.
Meine Bibliothek befand sich im Herzen von Haus Spaeton und
nahm zwei Etagen in Beschlag. Die untere war durch Alkoven und
Regale geteilt, während die obere Galerie von diesen Alkoven
getragen wurde und Zugang zu weiteren Regalen an den Galerie-
wänden bot. Lampen hingen an dünnen Ketten von der Decke
und spendeten warmes, goldenes Licht, und die Lesepulte in der
Mitte des Untergeschosses waren mit einzelnen Leselampen aus
gestattet, die kleine Inseln eines helleren bläulichen Scheins
schufen.
In dem Raum war es angenehm warm, und die Luftfeuchtigkeit
wurde ständig kontrolliert, damit die dort gelagerten Bücher kei
nen Schaden nehmen konnten. Es roch nach Holzpolitur, chemi
schen Konservierungsmitteln und dem Ozon der Stasenfelder,
welche die ältesten und gebrechlichsten Exemplare schützten.
Als Psullus mit Boydenstyres Leben verschwunden war, führte
ich Medea die Messingtreppe zur Galerie empor und weiter zu der
massiven Tür des privaten Lesezimmers am anderen Ende.
Vor der Tür blieb Medea stehen und holte einen glavianischen
Nadler aus der Tasche. »Ich habe das hier mitgebracht«, sagte
sie. »Die Waffe hat meinem Vater gehört und ist ein Exemplar
eines Paars, das extra für ihn angefertigt wurde.«
Das wusste ich sehr wohl. Medea trug die beiden Pistolen im
Gefecht immer noch.
»Lass sie draußen«, sagte ich. »Es ist nie eine gute Idee, die
Verbindung durch Waffen herzustellen. Auch nicht durch Erbstü
cke wie dieses. Der Stachel des Todes heftet sich daran, und das
würdest du unangenehm finden. Die Jacke ist prima.«
Sie nickte und ließ die Waffe auf einem Bücherregal neben der
Lesezimmertür liegen. Wir gingen hinein und stellten fest, dass
Vance auf uns wartete. Der kleine Raum wurde von Kerzen er
hellt, und um den mit einer Decke geschmückten Tisch standen
drei Stühle. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Buntglas
des Oberlichts.
Wir nahmen Platz. Vance, ein großer, aber gebeugter Mann mit
freundlichen müden Augen breitete Midas’ rote Jacke auf dem
Tischtuch aus. Er hatte bereits so lange meditiert, dass er einem
Trancezustand nahe war, und ich führte Medea sanft zu einer
empfänglichen Gelassenheit.
Die Auto-Seance begann - ein unkompliziertes psionisches Ver
fahren, das ich schon oft bei Untersuchungen und Nachforschun
gen angewendet hatte. Vance kanalisierte die Kraft des Warps.
Ich konzentrierte meine eigenen Kräfte darauf, dafür zu sorgen,
dass wir zentriert blieben. Vom Punkt des Übergangs wurde der
Raum in ein kaltes, frostiges Licht getaucht. Festes wurde durch
scheinend und verschwommen. Die Dimensionen des kleinen Le
seraums streckten sich und verschoben sich ungeduldig.
Midas’ Jacke, nun eine türkisfarbene Rauchschwade, war in die
Aura gehüllt, die sie im Laufe der Zeit ausgebildet hatte: den
Echos ihres Kontakts mit menschlichen Händen und menschlichen
Gedanken.
»Nimm sie«, sagte ich. »Fass sie an.«
Medea streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den Rand
der Aura, die unter ihrer Berührung aufblühte und sich auf
bauschte. »Oh«, sagte sie.
Wir entwirrten die psionischen Erinnerungen, die dem Klei
dungsstück anhafteten, bis wir ihren Vater gefunden hatten. Mi
das Betancore, Pilot, Krieger, mein Freund. Wir lockten sein Phan
tom aus seinem Versteck.
Es war kein Geist, nur das Nachbild, das er zurückgelassen hat
te. Ein Eindruck von ihm, sein Aussehen, seine Stimme, seine
Gefühle. Eine entfernte Andeutung seines vollen Lachens. Der
schwache Geruch nach den Lho-Stäbchen, die er gern rauchte,
und nach dem Duftwasser, das er auftrug. Wir sahen ihn jung, als
er wenig mehr als ein Junge war. Wir sahen ihn als Mann mittle
ren Alters, nur wenige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod. Dort,
am Ruder des Kanonenboots, das jetzt selbst nur noch ein Geist
war, während ihn die glavianischen Schaltkreise in seinen Händen
mit den Kontrollen des Boots vermählten. Dort am Ruder eines
Langboots.
Dort, wie er auf Glavia den Sonnenaufgang über den Pfahlber
gen beobachtete.
Wir schmeckten seinen Kummer über den Tod von Lores Vib
ben, aber ich ließ Vance rasch weitergehen, um uns den empathi
schen Kummer zu ersparen. Wir folgten ihm durch mehrere be
rauschende Luftkämpfe und teilten seine Freude über die virtuo
sen Flugmanöver und gekonnten Abschüsse. Wir sahen, wie er
mir und meinen Gefährten immer wieder das Leben rettete.
Wir hörten ihm am Esstisch zu, wie er die Gesellschaft mit einer
gut erzählten Geschichte zum Lachen und zum Beifallklatschen
brachte. Wir lachten alle drei noch einmal mit. Wir sahen ihn
stumm über ein Königsmordbrett gebeugt, da er herauszufinden
versuchte, wie Bequin es geschafft hatte, ihn wieder zu schlagen.
Wir beobachteten ihn, wie er in einem Regen bunter Luftschlan
gen seine Braut zum Altar der Hochkirche in Glavia Glavis führte.
Ich sah mich selbst neben Fischig, Alizebeth und Aemos auf der
vordersten Bank sitzen, jubeln und mit dem Rest der Festgäste
Feierglöckchen läuten.
»Das ist meine Mutter!«, flüsterte Medea.
Die verschleierte Frau an Midas’ Arm war umwerfend, bezau
bernd. Jarana Shayna Betancore. Midas hatte immer einen so
guten Geschmack gehabt. Jarana lebte noch, weit weg auf Glavia,
eine angesehene Witwe und Direktorin einer Schiffbaufirma. »Sie
sieht so jung aus«, fügte Medea hinzu. In ihrer Stimme lag ein
Unterton von Traurigkeit. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr
auf Glavia gewesen, um ihre Mutter zu besuchen.
Dann, beinahe als Eindringlinge, sahen wir, wie sich Midas und
Jarana am Ufer des Taywhiesees umarmten. Midas war außer sich
vor Glück und Aufregung.
»Wirklich? Wirklich?«, fragte er immer wieder.
»Ja, Midas. Wirklich. Ich bin wirklich schwanger.«
Ich sah Medea an, sah die Tränen in ihren Augen.
»Wir sollten jetzt aufhören, glaube ich«, sagte ich.
»Nein, ich will noch mehr sehen«, sagte sie.
»Wir sollten aufhören«, wiederholte ich.
Vance wurde offensichtlich müde, und ich wusste, es würde
nicht mehr lange dauern, bis wir über die Erinnerungen an Fayde
Thuring und die letzten Stunden stolperten. »Wir sollten aufhö
ren. Wir …«
Das jähe Summen meines Kommunikators schnitt mir das Wort
ab. Ich fluchte laut. Kircher hatte strikte Anweisungen erhalten:
keine Störungen.
Das Geräusch beendete die Séance sofort. Das blaue Licht blitz
te auf und verschwand, und der Raum wurde mit einem jähen
Ruck, der die Kerzen löschte und uns schmerzhaft aus dem Warp
riss, normal. Vance sank schwer atmend und leidend nach vorn.
Ein stechender Schmerz zuckte mir jäh durch den Kopf. Medea
zog die Jacke zu sich über den Tisch und vergrub schluchzend
den Kopf in den seidigen Falten. Die Wände schwitzten.
Ich verfluchte Kircher. Séancen durften nicht so unterbrochen
werden. Die abrupte Beendigung hätte jedem von uns ernsthaf
ten Schaden zufügen können. In diesem Augenblick waren wir
alle emotional völlig benommen.
Ich stand auf. »Bleibt hier«, sagte ich. »Nehmt euch einen Mo
ment Zeit zur Erholung.«
Vance nickte schwach. Medea hatte sich in ihrem eigenen Ge
fühlssturm verloren.
Ich ging nach draußen und zog schwer atmend die Tür zu. Ich
holte das kleine Handkom aus der Tasche und drückte auf die
Antwortrune.
»Sie haben hoffentlich einen guten Grund, Jubal«, sagte ich hei
ser.
Statisches Rauschen antwortete mir.
»Jubal? Jubal? Hier spricht Eisenhorn.«
Nichts. Dann eine hektische Abfolge von ein paar Wörtern, die
ich nicht verstand. Dann wieder Knistern.
»Jubal?«
In der Ferne, irgendwo auf der anderen Seite des Hauses, er
tönte dreimal ein gedämpftes Knack-Zischen.
Laserschüsse.
Ich nahm Midas’ Nadler aus dem Regal, wo Medea ihn hingelegt
hatte, und lief zur Bibliothekstür.
ACHT
Im Haus war es still, und das Licht war gedämpft, aber ich roch
Brandgeruch. Ich eilte durch einen mit Teppich ausgelegten
Quergang und entsicherte den Nadler. Dreißig Schuss und eine
voll aufgeladene Zelle. Ich hatte kein Reservemagazin.
Winzige rote Lampen blinkten auf den Anzeigen der Sicher
heitsmonitore, die in regelmäßigen Abständen in den Wänden
eingelassen waren. Ich ging zum nächsten, öffnete die Abdeckung
und wollte gerade meinen Siegelring auf das Lesegerät drücken,
als ich etwas hörte.
Ich hob den Nadler.
Zwei Mädchen und ein Hausdiener kamen angelaufen und
schrien auf, als sie mich sahen.
»Ruhig, immer mit der Ruhe!«, rief ich, indem ich den Nadler
senkte. »Hierher, kommen Sie!«
Sie liefen zu mir und kauerten sich hinter ein paar Zierpflanzen.
»Was ist los?«
Zuerst waren sie zu verängstigt, um zu antworten. Ich sah,
dass die jüngste Litu war, das neue Mädchen. Sie sah mich mit
entsetzten, tränengeröteten Augen an.
»Litu? Was ist los?«
»Angreifer«, sagte sie mit vor Panik heiserer Stimme. »Angrei
fer, Inquisitor. Vor wenigen Minuten hat es plötzlich einen lauten
Knall oben gegeben, und dann wurde geschossen. Männer mit
Gewehren liefen herum. Ich habe einen Toten gesehen. Ich glau
be, es war Urben. Glaube ich.«
Rocef Urben. Ein Mitglied der Sicherheitsabteilung.
»Sein ganzes Gesicht war blutig«, stammelte sie.
»Die Angreifer, Litu. Aus welcher Richtung?«
»Von Westen, Inquisitor«, sagte der Hausdiener, Coylon.
»Durch das Haupttor, glaube ich. Ich habe Meister Kircher sagen
hören, sie kämen auch aus den Stallungen.«
»Sie haben Kircher gesehen?«
»Es war ein ziemliches Durcheinander. Ich habe ihn gehört, als
er vorbeigelaufen ist.«
Ich sah mich um. Der Brandgeruch wurde stärker, und ich hörte
weitere Schüsse.
»Coylon«, sagte ich, »haben Sie Ihre Hausschlüssel?«
»Ich bin niemals ohne sie unterwegs, Inquisitor«, sagte er.
»Guter Mann. Gehen Sie hier weiter zur Ostveranda und bringen
Sie die beiden Frauen in den Garten, am besten in die Obstgär
ten. Verstecken Sie sich. Haben Sie ein Kom?«
»Ja, Inquisitor.«
»Wenn Sie in den nächsten zwanzig Minuten nichts von mir hö
ren, versuchen Sie alle drei das Grundstück zu verlassen. Passen
Sie gut auf sie auf, Coylon.«
»Das werde ich, Inquisitor.«
Sie liefen los. Ich wies mich am Monitor mit meinem Ring aus
und verschaffte mir Zugang. Die kleine Wandeinheit erzeugte ein
kleines diagnostisches Hologramm. Unglaublicherweise stellte sie
fest, dass alle Sicherheitssysteme, alle Detektoren und alle
Schirme abgeschaltet waren. Sie waren an Ort und Stelle durch
Eingabe eines autorisierten Befehlscodes abgeschaltet worden.
Wie war das möglich?
»Jubal?«, versuchte ich es noch einmal über Kom. »Irgendje
mand? Hier spricht Eisenhorn. Kommen!«
Diesmal bekam ich Antwort. Eine Männerstimme, hart wie
Stein. »Eisenhorn. Du bist tot, Eisenhorn.«
Ich ging nach unten durch die Quartiere der Dienstboten. An
scheinend waren alle geflohen. Türen standen offen, und ein paar
Stühle waren umgestürzt. Halb ausgetrunkene Tassen mit Kaf
fein, der immer noch dampfte. Eine halb beendete Partie Königs
mord in der Dienstbotenküche. Eine Bildeinheit, die immer noch
eine Direktübertragung aus der Arena in Dorsay zeigte. Ein ver
gessenes Lho-Stäbchen auf dem Boden, das ein Loch in den Tep
pich brannte.
Ich trat die Glut aus.
Hinter einer Tür zum Westflügel fand ich Urben. Er war tatsäch
lich tot. Er lag verkrümmt auf dem Rücken. Laserstrahlen hatten
ihn aufgesprengt.
Ich war über ihn gebeugt, als ich Schritte hörte.
Drei Männer kamen von der anderen Seite, aber ich sah nur
zwei von ihnen. Sie bewegten sich schnell und mit der flüssigen
Sicherheit geübter Mörder. Sie trugen Kampfrüstungen aus gum
miertem Drahtgeflecht und hatten ihre Gesichter hinter grotesken
Masken aus Pappmaschee verborgen, wie man sie auf dem Markt
in Dorsay für den Karneval kaufen kann. Sie trugen Lasergewehre
mit kurzem Lauf.
Sie schossen, sobald sie mich sahen, und die Laserstrahlen
schlugen in den Türrahmen. Ich hatte gerade noch Zeit, in De
ckung zu hechten. Ich hörte das Knistern und Schnattern ihrer
Kom-Geräte.
Einer, mit einer vergoldeten Carnodonmaske, spurtete tief ge
duckt heran, während ihm ein anderer mit einer Meerjungfrau
maske Feuerschutz gab.
Ich gab zwei Schüsse mit dem Nadler durch die Tür ab und
stanzte zwei winzige Löcher in das Grinsen des Carnodons. Der
Angreifer klappte zusammen, als seine Knie unter ihm einknick
ten, und krachte zu Boden.
Die Meerjungfrau schoss wieder, mehrfach, und ich wechselte
auf die andere Seite der Tür.
Aufhören!, befahl ich mit meinem Willen.
Keine Reaktion. Sie waren psionisch abgeschirmt.
Jemand hatte sich vorbereitet.
Ich duckte mich und schoss auf den Kronleuchter. Als er zu Bo
den krachte, warf sich die Meerjungfrau zur Seite, und ich traf ihn
mit drei Nadeln, die jede für sich gereicht hätten, ihn zu töten.
Die Meerjungfrau stolperte schwerfällig rückwärts und warf im
Fallen einen Konsolentisch um.
Ich huschte durch die Tür, ohne zu wissen, dass der dritte Ang
reifer da war. Seine Schüsse streiften meine Schulter und schleu
derten mich zu Boden.
Es gab einen lauten Knall.
Ich blickte auf.
»Gregor?«
Es war Aemos.
»Gregor, ich glaube, deine verdammte Pistole hat Ladehem
mung«, sagte er.
Ich stand auf. Aemos stand in einer Tür und fummelte an mei
ner Boltpistole herum. Der dritte, unsichtbare Angreifer hatte eine
klebrige Beule im Wandstuck hinterlassen.
»Gib sie mir«, sagte ich, indem ich ihm die Waffe entriss und
die verklemmte Patrone entfernte. »Danke, Aemos«, fügte ich
hinzu.
Er zuckte die Achseln. »Das ist äußerst bestürzend«, sagte er.
»Waffen und ich, wir scheinen nicht miteinander auszukommen,
und ich …«
»Aemos, Ruhe! Was ist hier eigentlich los?«
»Wir werden angegriffen«, sagte er.
»Ich brauche schon etwas mehr als das, alter Freund.«
»Tja, ich weiß aber nicht viel mehr, Gregor. Zack, und wir wur
den angegriffen. Keine Vorwarnung, kein gar nichts. Überall Män
ner. Reichlich Herumlaufen und Schießereien. Wir hielten dich für
tot.«
»Mich?«
»Sie haben das Arbeitszimmer zuerst angegriffen. Mit einer
Granate oder so.«
»Verdammt! Komm mit. Bleib nah bei mir.«
Wir gingen nach oben. Rauchschwaden trieben durch die Luft.
Ich hielt den Nadler in der einen und die Boltpistole in der ande
ren Hand. Am Ende der Treppe fanden wir zwei Mitglieder meines
Personals. Schüsse hatten sie vor die Wand geschleudert.
»Oh, das ist schrecklich …«, murmelte Aemos.
Das war es. Jemand würde für diesen Frevel teuer bezahlen.
Die Tür zu meinem Arbeitszimmer stand offen, und Rauch
strömte heraus.
»Bleib zurück«, flüsterte ich Aemos zu und hechtete durch die
Tür.
Der Raum war ein einziges Chaos. Eine vom Rasen abgefeuerte
Rakete oder Sprenggranate hatte die Hauptfenster zerstört und
Schreibtisch und Stuhl in Feuerholz verwandelt. Kalte Nachtluft
strömte durch die Fensteröffnung und wehte den Rauch von den
brennenden Regalen und Läufern ins Haus.
Im Arbeitszimmer befanden sich noch drei Angreifer, welche die
Regale plünderten und versuchten, den Aktenschrank aufzubre
chen. Ein Mann mit einer Clownsmaske fegte kostbare Manuskrip
te, Tafeln und Schriften aus einem klimageregelten Kasten in ei
nen Sack. Ein anderer mit einer Drachenmaske trat wiederholt
gegen den Schaukasten, in dem Barbarisater aufbewahrt wurde,
in dem Versuch, ihn zu zerbrechen. Ein Dritter mit einer grinsen
den Sonne vor dem Gesicht attackierte meinen gepanzerten Ak
tenschrank mit einem Brecheisen.
Alle drei drehten sich um und griffen nach ihren Waffen.
Thron, sie waren schnell! Ich hatte sie überrumpelt, aber sie
bewegten sich wie der Blitz. Der Drache schaffte es tatsächlich,
mir einen Feuerstoß entgegenzuschicken, der über meinen ge
duckten Kopf hinwegflog, bevor ich ihn mit einem Boltgeschoss
fällte. Sein Leichnam fiel auf die Panzerglasabdeckung des
Schwertkastens und hinterließ eine verschmierte Blutspur darauf,
als er daran herunterglitt. Der Clown war langsamer und wurde
von Nadeln durchbohrt, um wie ein Sack umzufallen. Er fiel ein
fach um, und seine Maske zerknitterte, als sie auf dem Weg nach
unten die erste Regalbrettkante traf, dann die nächste und noch
eine.
Das Sonnengesicht ließ das Brecheisen fallen und warf sich hin
ter die Ruine des Schreibtischs, während ich aus meiner Hechtrol
le hochkam und neu zielte.
Sein Laserfeuer begegnete meinem Hagel aus der Boltpistole
und dem Nadler. Ich schwöre, dass mindestens zwei meiner Bolt
geschosse in der Luft von seinen Laserstrahlen gesprengt wurden.
Aber die Nadeln durchbohrten sauber den Schreibtisch und auch
ihn. Er fiel schlaff zurück, tot.
Ich stand auf und ging zum zerstörten Ende meines Arbeits
zimmers.
Und da fand ich Psullus. Erst vor ein paar Stunden hatte ich ihn
dorthin geschickt. Die brennenden Seiten von Boydenstyres Le
ben lagen überall verstreut. Er hatte an meinem Schreibtisch ge
sessen, als die Rakete das Fenster getroffen hatte.
»Lieber Imperator … Aldemar …« Aemos war schockiert über
den grässlichen Anblick.
Mittlerweile war ich nur noch wütend. Ich schob den nun prak
tisch leergeschossenen Nadler in meine Hosentasche und nahm
mir ein paar Magazine mit Boltpatronen vom Regal am Fenster.
»Wir müssen von hier verschwinden, Aemos«, sagte ich.
Er nickte benommen. Ich nahm den Sack, den der Clown gefüllt
hatte, und reichte ihn Aemos. »Mach ihn voll«, sagte ich. »Du
weißt, was wertvoll ist.«
Er beeilte sich zu gehorchen.
Ich tippte Sicherheitscodes in die Kästen, die Barbarisater und
den Runenstab enthielten. Die Panzerglasabdeckungen öffneten
sich schnurrend.
Draußen ertönte ein schrilles Heulen, und die Strahlen von
Suchscheinwerfern huschten über den Rasen und die Obstgärten.
Meine Angreifer hatten Luftunterstützung.
Eine letzte Notwendigkeit. Ich öffnete meinen mit einem Deflek
torschild gesicherten Tresor und entnahm ihm das uralte Malus
Codicium. Ich schob es in meine Jacke, aber Aemos hatte es ge
sehen.
»Vorwärts!«, sagte ich.
»Einen Moment«, erwiderte Aemos, der noch ein paar Röhren
mit Schriftrollen im Sack verstaute und ihn sich dann über die
Schulter warf.
»Jetzt bin ich fertig«, sagte er.
Ich ging zur Tür, die Boltpistole in der einen und Barbarisater in
der anderen Hand. Der Stab hing über meinem Rücken. Ich hörte
den Lärm eines heftigen Feuergefechts von unten.
Mein treuer Freund Jubal Kircher würde sich nicht kampflos ver
abschieden.
»Mir nach«, sagte ich zu Aemos.
NEUN
Die Gewittereiche.
Wieder zurück.
Midas kann stolz sein.
Beinahe eine Stunde irrten wir durch die Finsternis des Waldes,
blind und verzweifelt. Alarmierend schnell verloren wir den gro
ßen Brandherd aus den Augen, den wir zurückgelassen hatten.
Der dichte, uralte Wald verschluckte alles Licht.
»Haben wir uns verirrt?«, murmelte Eleena zaghaft.
»Nein«, versicherte ich ihr. Kircher, Medea und ich hatten viele
Stunden damit verbracht, im Wald zu jagen, und ich kannte mich
hier gut genug aus, obwohl die Dunkelheit alles geheimnisvoller
und unvertrauter machte.
Ab und zu sah ich eine bekannte Formation, eine Felszacke, ei
nen alten Baum, einen Knick im Gelände. Diese Wegmarken er
kannte ich, und dann nahm ich mir einen Moment Zeit, mich zu
orientieren.
Zweimal flog ein Schweber über uns hinweg, dessen Such
scheinwerfer das dichte Blattwerk erhellten. Hätten sie Infrarot
sichtgeräte gehabt, wären wir tot gewesen. Aber sie jagten nur
mithilfe der Scheinwerfer. Endlich, freute ich mich insgeheim,
hatte der Feind einen Fehler gemacht.
Wir erreichten die Eiche.
Medea hatte sie Gewittereiche getauft. Sie war viele Hundert
Jahre alt gewesen, als ein Blitz eingeschlagen war und einen
gesplitterten, blattlosen Baumriesen wie eine zerschmetterte
Turmruine zurückgelassen hatte. Die Rinde schälte sich von sei
nem toten Holz ab, und die Gegend ringsherum wimmelte von
Larven und Käfern. Sie stand in einer Senke und wuchs aus der
dunklen Erde des Überhangs einer zwanzig Meter hohen Bö
schung. Die Eiche selbst maß von ihrem riesigen, teilweise ent
blößten Wurzelwerk bis zu ihrer zersplitterten Krone fünfzig Me
ter, und der Stamm hatte einen Durchmesser von fünfzehn.
Ich kroch in die Senke unter den Wurzeln. Als die Eiche vor
Jahrhunderten der Blitz getroffen hatte, war der massive Stamm
teilweise aus dem Boden gerissen worden und hatte eine Höhlung
unter dem gewaltigen Wurzelwerk geschaffen. Das klamme Loch
war wie eine natürliche Kapelle, wo die Wurzeln als Querstreben
für die Decke dienten. Die ehemaligen Besitzer von Haus Spaeton
hatten sie, so hatte man mir zugetragen, als Altarraum für priva
te Zeremonien benutzt.
Medea und ich hatten beschlossen, sie als Hangar zu benutzen.
Niemand sonst außer Kircher wusste davon. Wir waren uns einig
gewesen, dass es ein gutes Versteck für eine leichte Flugmaschi
ne war. Ein Schlupfloch. Ich glaube nicht, dass wir uns tatsächlich
vorgestellt hatten, ein Verhängnis wie das heutige könne jemals
über Haus Spaeton hereinbrechen, aber wir hatten mit der Idee
gespielt, es könne sich als klug erweisen, ein Transportmittel ir
gendwo außer Sicht versteckt zu haben.
Das fragliche Transportmittel war ein Turbinenflieger mit Scha
lenrumpf, auf Urdesh von Hand gefertigt. Leicht, schnell, ultra
manövrierfähig. Medea hatte ihn vor zehn Jahren aus Langweile
gekauft und ihn zuerst im Haupthangar von Spaeton verstaut, bis
mehrere junge Stabsmitglieder beschlossen hatten, während wir
in einem Fall unterwegs waren, einen Ausflug mit ihm zu machen,
da er sich viel schnittiger flog als die Fähren und Schweber des
Hauses.
Bei unserer Rückkehr hatten sie den Schaden repariert, aber
Medea hatte es bemerkt. Tadel und Verweise waren gefolgt.
Wochen später hatten wir die Gewittereiche auf einem Jagdaus
flug gefunden und die Idee eines versteckten Transportmittels
entwickelt, und da hatte Medea die Flugmaschine hierhergeb
racht. Wir hatten nie wirklich geglaubt, sie je für eine Flucht be
nutzen zu müssen. Es war nur ein Vorwand, sie dem Zugriff der
neidischen Stabsmitglieder zu entziehen.
Ich zog die Plane ab und öffnete die Kanzel. In der Kabine roch
es nach Leder und ganz schwach nach der Feuchtigkeit des Wal
des.
Sechs Meter lang und schiefergrau lackiert, hatte das Flugzeug
eine keilförmige Kabine, die sich zu einem kurzen, V-förmigen
Schwanz verjüngte. Es gab drei Turbinen, eine hinter der Kabine
unter dem Schwanz für den Hauptschub, die anderen beiden an
den kurzen Stummelflügeln, die auf beiden Seiten aus dem Kabi
nendach ragten. Die Turbinen an den Tragflächen waren karda
nisch aufgehängt und dienten zur Kontrolle des Auftriebs und der
Neigung. Die Kabine war mit ihren drei Sitzreihen gemütlich: ein
einzelner Pilotensitz in der Nase, zwei hochlehnige Passagiersitze
dahinter und eine schlichtere Sitzbank dahinter an der Kabinen
rückwand.
Ich schnallte mich auf dem Pilotensitz an und ging die Vorberei
tungsroutine zum Einschalten der Systeme durch, während Elee
na und Aemos es sich auf den beiden Sitzen hinter mir gemütlich
machten. Die Instrumente leuchteten grün auf, und ein leises
Seufzen war zu hören, als die Turbinen losdrehten.
Eleena schloss die Luke. Das Laub in der Wurzelhöhle geriet in
Bewegung.
Seit wir in den Wald eingedrungen waren, hatten wir nichts
mehr von Vance gehört. Ich streckte meine geistigen Fühler aus
und drängte sie, sich zu beeilen. Ich bekam keine Antwort.
Die Energiezellen des Flugzeugs zeigten etwa fünfundsiebzig
Prozent Kapazität an. Auf der Instrumentenleiste blinkten keine
Alarm- oder Fehlfunktionsrunen. Ich fuhr noch eine letzte Diagno
se. Das Flugzeug war mit einer leichten Laserlanze bewaffnet, die
diskret und fest unter der Nase angebracht war. Wir hatten sie
noch nie benutzt, und die Instrumente zeigten, dass sie nicht ein
geschaltet war. Ich gab einen Code ein, um sie zu aktivieren, und
der Bildschirm verriet mir, dass sie schutzverkleidet sei und daher
nicht betriebsbereit.
Während sich die Turbinen noch im Leerlauf drehten, stieg ich
wieder aus, ging zur Nase der Maschine und hockte mich hin, um
darunterzuschauen. Die Lanze, nicht mehr als ein schlankes Rohr,
war mit einer Gummimanschette überzogen, die verhindern soll
te, dass sich Dreck in der Mündung festsetzte. Ich zog an der
Manschette und entfernte sie. Dadurch öffnete sich eine Draht
klammer, die das Entfernen eines kleinen Stifts erlaubte. Danach
war die Lanze betriebsbereit.
Ich kletterte wieder in die Kabine, schlug das Kanzeldach zu und
prüfte die Instrumente. Die Waffe war nun als betriebsbereit auf
geführt, und ich aktivierte die Aufladefunktion, um ihre Energie
zellen zu füllen.
Ich war so gut wie fertig, als ich es spürte.
»Inquisitor, was ist los?«, rief Eleena, als ich ächzte und nach
vorn sank.
»Gregor?«, fragte Aemos beunruhigt.
»Ich bin in Ordnung … Es war Vance …« Ein schnelles, furchtba
res psionisches Kreischen aus der Richtung des Anwesens. Ein
Psioniker, der Schmerzen litt.
Ich versuchte ihn zu erreichen, aber da war nichts außer einer
verschwommenen Mauer aus Qual. Dann hörte ich ihn für eine
Sekunde, wie er Medea drängte, wie er sie drängte zu laufen, zu
laufen und sich nicht umzuschauen.
Wieder ächzte ich, als ein zweiter Stromstoß der Qual durch das
mentale Spektrum zuckte.
»Gott-Imperator, verdammt!«, fluchte ich und setzte das Flug
zeug in Bewegung. Die Turbinen heulten. Wir waren augenblick
lich von einem Mahlstrom aus Blättern und toten Zweigen umge
ben, die gegen Rumpf und Fenster klackerten. Ich kitzelte ein
paar Zentimeter Auftrieb heraus, um den Boden zu verlassen,
wobei die Tragflächenturbinen senkrecht nach unten wiesen, und
dann krochen wir mit Minimalschub aus der Wurzelkaverne der
Gewittereiche heraus.
Ich behielt den Näherungsmesser im Auge, der rot pulsierte, da
er das Gebilde ertastete, das uns ein-schloss. Sobald das Signal
kam, dass der Schwanz den Überhang des Wurzelwerks hinter
sich gelassen hatte, gab ich mehr Schub, und wir stiegen auf,
wobei die Blätter auf der Lichtung aufgewirbelt wurden.
Wir schwebten auf der Stelle und drehten uns langsam, einmal,
zweimal, während ich den Geländeabtaster des Auspex’ seine
Arbeit verrichten ließ. Dann schwenkte ich nach Norden.
»Äh … Gregor?«, sagte Aemos, indem er sich vorbeugte und
über meinen linken Arm auf die erleuchtete Kompasskugel zeigte.
»Wir fliegen nach Norden.«
»Ja.«
»Es … äh … versteht sich wohl von selbst, dass Norden die Rich
tung ist, aus der wir gekommen sind.«
»Ja. Tut mir leid. Wir fliegen zurück.«
Ich kippte die Nase nach unten und schwenkte die Seitenturbi
nen zu einer Dreiviertel-achtern-Schubposition herum, und die
Maschine raste in die Dunkelheit.
Ich flog mit ungefähr zwanzig Knoten und ohne Licht durch den
Wald. Die Sicht war praktisch gleich null, also flog ich unter Be
nutzung einer Kombination aus Auspex und Näherungsmesser,
indem ich die grünen und orangefarbenen Phantome von Baum
stämmen und Zweigen las, die vor uns auftauchten, und ihnen
seitlich auswich oder über sie hinwegsteuerte. Ab und zu kalku
lierte ich zu knapp, und dann ertönte der Kollisionsalarm, wäh
rend etwas leuchtend Rotes über den Schirm strich. Es war oft
ziemlich knapp, aber ich traf nur einmal etwas - zum Glück nur
einen kleinen Ast, der abbrach. Aemos und Eleena schrien unfrei
willig auf.
»Entspannt euch«, drängte ich sie.
Wir wären besser - und sicherer - über dem Blätterdach des
Waldes vorangekommen, aber ich wollte so lange wie möglich
verborgen bleiben.
Vergeblich tastete ich nach Vances Geist.
Ich konnte gerade noch einem dicken Ast ausweichen, dann
zeichnete sich eine flache Böschung unter den Bäumen ab, und
das Auspex zeigte mir, dass wir den Waldrand erreicht hatten.
Die Straße lag direkt vor uns.
Durch die Baumlinie konnte ich Licht sehen, pulsierend weiß.
Noch eine Leuchtkugel. Ich nahm den Vorwärtsschub weg und
kroch auf nach unten gerichteten Düsen weiter.
Ich konnte über die Straße und den Zaun auf die Wiesen und
das Gebüsch südlich des Anwesens schauen, die wir bei unserer
Flucht zu Fuß durchquert hatten. Das ganze Gebiet war in eine
kalte, graue Helligkeit getaucht, ein waberndes Flackern, das die
erlöschende Leuchtkugel erzeugte. Einige Dutzend schwarze Ge
stalten liefen zu einer Linie aufgefächert suchend durch Gras und
Unkraut.
Medea, rief ich stumm. Sie konnte nicht antworten, da ihr die
Fähigkeiten fehlten. Aber ich betete, dass sie mich hören konnte.
Medea, ich bin ganz nah.
Im Nordosten flackerten plötzlich hektische Aktivitäten rings um
eine Ansammlung von Fintelbäumen auf. Das Blitzen von Laser
strahlen. Zwei weitere Leuchtkugeln explodierten und färbten
alles grell schwarzweiß. Die Angreifer bewegten sich auf die Bäu
me zu.
Sie hatten jemanden in die Ecke gedrängt, festgenagelt. Ich
spürte tief im Bauch, dass es Medea war.
Mit immer noch ausgeschalteten Scheinwerfern gab ich Schub
und jagte über Straße, Zaun und Wiese. Der Abwind schnitt eine
Furche ins Gras. Gestalten drehten sich um, als wir sie überflo
gen. Im Licht der Leuchtkugeln sah ich Karnevalsmasken.
Ich flog dicht über den Boden, sprengte einige der Angreifer
auseinander und jagte auf die Bäume zu. Laserblitze zuckten mir
entgegen.
Mein Daumen klappte die Sicherheitsabdeckung des Feuer
knopfs auf dem Steuerknüppel auf. Es gab keinen Zielmechanis
mus für die starre Laserlanze, nur das Flugzeug selbst. Wenn das
Flugzeug auf etwas zeigte, dann tat es die Lanze ebenfalls.
Ich drückte auf den Feuerknopf.
Die Lanze feuerte einen beständigen Strahl ab, solange ich den
Knopf gedrückt hielt. Ich hatte keine Möglichkeit zu einem Feuer
stoß oder zu Schnellfeuerimpulsen. Eine hellgelbe Linie, bleistift
dünn, zuckte unter der Nase hervor und fegte durch das Gebüsch
neben den Bäumen. Ich sah, wie Matsch und Pflanzenfetzen aus
der von ihr geschnittenen Furche geschleudert wurden. Die Nase
des Flugzeugs zeigte leicht abwärts. Ich war zu kurz. Ich hob die
Nase des Fliegers ein wenig an und schoss noch einmal.
Zwei Angreifer wurden vom Strahl durchbohrt und brachen zu
sammen. Mehrere junge Bäume und eine ausgewachsene Fintel
am Rande des Gehölzes gingen in einem Blätterregen zu Boden.
Da sich das Flugzeug bewegte, war es verdammt schwierig, über
haupt zu zielen.
Zwanzig Meter vor den Bäumen verharrte ich in einer Schwebe
dicht über dem Boden. Ernsthafte Salven schlugen uns jetzt ent
gegen. Das Flugzeug wackelte, als der untere Rumpf von Laser
strahlen getroffen wurde.
Ich schoss zum dritten Mal, wobei ich den Flieger waagerecht
hielt und sachte von rechts nach links drehte, während ich den
Feuerknopf gedrückt hielt. Angreifer warfen sich flach auf den
Boden, um dem tödlichen Lichtstrahl auszuweichen, der über sie
hinwegzuckte. Mehrere schafften es nicht. Die Lanze schnitt sie
säuberlich entzwei, Fleisch, Knochen und Rüstung. Ich musste
eine Granate oder Energiezelle getroffen haben, weil ein Angreifer
in einer Flammenwand explodierte.
Mehr Schüsse schlugen von hinten in den Rumpf. Ich flog weiter
und schwenkte um die Westseite der Bäume.
Ich sah Medea auf dem Auspex. Sie verließ das Gehölz an des
sen Nordende und damit auch ihre Deckung. Es dauerte einen
Augenblick, bis ich sie mit bloßem Auge gefunden hatte. Nur ein
Punkt im hohen Unkraut. Ein leuchtender Punkt. Sie trug die rote
Jacke ihres Vaters. Mir ging auf, dass sie ihre Deckung verlassen
haben musste, um mir Gelegenheit zu geben, aufzusetzen und sie
zu erreichen. Die dünnen Bäume im Gehölz standen viel zu dicht.
Laserstrahlen jagten sie. Sie drehte sich um und schoss mit ei
ner Pistole nach hinten, ohne stehen zu bleiben.
Ich hab dich! Runter mit dir!
Ich sah, wie sie sich umdrehte und mich erblickte. Dann wurde
sie von einem Laserstrahl zu Boden geschleudert.
»Medea!« Ich beschleunigte abrupt, sodass wir in die Sitze ge
presst wurden. »Aemos! Mach das Seitenluk fertig!«
Ich näherte mich der Stelle, wo sie gefallen war, so weit, wie ich
es eben wagte. Der Abwärtsschub des Flugzeugs konnte ernsthaf
te Verletzungen verursachen. Es gab einen harten Ruck, als ich
aufsetzte und die Turbinen auf Leerlauf schaltete. Aemos öffnete
die Luke, aber er war alt, langsam und verängstigt. Eleena kam
nicht nach draußen, weil er ihr den Weg versperrte.
Ich sprang auf, stieß Aemos auf seinen Platz zurück und landete
draußen in den nassen Nesseln und dem klettenartigen Fexgras.
Die Nachtluft war feucht und kalt. Noch eine Leuchtkugel erstrahl
te über uns, und mir ging auf, dass das hallende Knattern, das ich
hörte, von den feindlichen Gewehren stammte, die auf uns ge
richtet waren.
Ich lief los und suchte nach ihr.
»Medea! Medea!«
Nun, da ich am Boden war, ließ sich nicht mehr erkennen, wo
sie in dem hohen Gras gefallen war.
»Medea!«
Ein Laserstrahl zischte knapp links an mir vorbei. Der nächste
der Angreifer, die über die Wiese liefen, war nur noch wenige
Dutzend Meter entfernt.
Mir ging auf, dass ich unbewaffnet war. Meine Boltpistole hatte
ich Sastre gegeben, und Barbarisater und der Runenstab waren
im Flieger hinter mir verstaut.
Nein, ich hatte Medeas glavianischen Nadler. Er war noch in
meiner Jackentasche. Ich zog ihn heraus und schoss, indem ich
mit beiden Händen zielte.
Mein erster Schuss traf den nächsten Angreifer, und er fiel ins
Gras. Mein zweiter Schuss streifte einen anderen, und er ver
schwand ebenfalls im groben Gestrüpp.
Ich warf einen Blick auf die mechanische Anzeige des Nadlers.
Noch zwei Schüsse übrig.
Tief geduckt suchte ich zunehmend hektisch den Boden ab,
während die Schüsse der Gegner immer näher kamen.
»Medea!«
Und da lag sie auf dem Bauch im dicken Unkraut. Der Rücken
der Seidenjacke wies ein blutiges verbranntes Loch auf.
Ich zog sie hoch und hievte mir ihren schlaffen Körper auf die
Schulter. Die Autopistole, die sie benutzt hatte, entglitt ihrer
schlaffen Hand.
Ich bückte mich und hob sie auf. Das Magazin war noch halb
voll.
Ich drehte mich vorsichtig um, bemüht, sie nicht von meiner
Schulter gleiten zu lassen, und schoss mit ihrer Autopistole hek
tisch auf den anrückenden Feind, wobei ich das Knallen und den
Rückschlag der Waffe genoss. Nadler waren elegant und tödlich,
aber man wusste kaum, ob man geschossen hatte oder nicht.
Dieses Ding, verchromt und klobig, schlug aus wie ein Maulesel
und spie leere Messinghülsen aus.
Ich lief zum Flugzeug zurück und rechnete dabei jeden Moment
damit, in den Rücken getroffen zu werden. Ich hörte Laserfeuer,
aber es kam nicht von hinten. Eleena Koi stand in der offenen
Seitenluke des Fliegers und gab mir mit einer Laserpistole Feuer
schutz, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie bei
sich hatte. Aemos war nach hinten auf die Bank gewechselt, um
Eleena Zugang zum Seitenluk zu geben.
Aemos streckte die Arme aus und nahm Medea in Empfang.
Eleena half ebenfalls, und zu dritt verfrachteten wir das Mädchen
auf die Rückbank neben Aemos.
Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass sie nicht tot war.
Eleena gab noch einen letzten Schuss ab und fiel dann zurück
auf ihren Sitz. Ich sprang hinein und rief ihr zu, sie solle die Luke
schließen.
Es war keine Zeit, sich anzuschnallen. Schüsse trafen die Flanke
des Fliegers. Ein Fenster barst. Beulen bildeten sich auf der In
nenhaut, während draußen Fragmente vom Rumpf abplatzten.
Ich hob ab und drehte uns in die Richtung der Angreifer.
Ich glaube, obwohl ich es nicht mit Sicherheit weiß, ich sagte
etwas äußerst Unerquickliches, als ich auf den Feuerknopf drück
te. Etwas wie: »Nehmt das, ihr Schweine.«
Ich glaube nicht, dass ich einen von ihnen traf, aber, beim Gol
denen Thron, sie warfen sich in Deckung.
»Inquisitor!«, überschrie Eleena das Tosen der Turbinen.
Eine Lichtkugel näherte sich von der anderen Seite des Gehöl
zes. Ich konnte den Schweber nicht sehen, nur seine Scheinwer
fer, die wie ein weißer Zwerg vor dem Nachthimmel leuchteten.
Zeit zu verschwinden.
Ich blieb tief am Boden, raste aber mit Vollschub beschleuni
gend über die Wiese nach Süden. Als wir die Straße erreichten,
flogen wir vierzig, fünfundvierzig Knoten. Der Wald ragte vor uns
auf.
In einem Augenblick wog ich meine Möglichkeiten ab. Hochzie
hen, über die Bäume fliegen und ein deutliches Ziel für alle Ver
folger sein. Mit ausgeschaltetem Licht hindurchfliegen und drama
tisch abbremsen, um eine Kollision zu vermeiden. Mit eingeschal
tetem Licht durchfliegen.
Ich wählte die dritte Möglichkeit.
Die Scheinwerfer des Fliegers schalteten sich ein und erleuchte
ten einen Kegel vor uns. Selbst mit den Scheinwerfern, dem Aus
pex und dem Näherungsalarm grenzte dieses Vorgehen an Wahn
sinn. Nachdem ich schon nach wenigen Sekunden nur ganz knapp
einen Zusammenstoß mit einer großen Fichte vermeiden konnte,
musste ich das Tempo auf dreißig Knoten verringern.
»Sie … Sie werden uns alle umbringen!«, jammerte Eleena.
»Seien Sie still!« Die schwarzen Formen von Baumstämmen
peitschten rechts und links an mir vorbei und zwangen mich zu
halsbrecherischen Ausweichmanövern nach links, rechts und wie
der links. Äste, manche so dick wie kleine Baumstämme, ers
treckten sich über uns wie Torbögen oder unter uns wie Brücken.
Mehrmals explodierten wir durch Blattwerk, und der Turbinen
alarm piepte, da sie alle Mühe hatten, des Blattmülls Herr zu
werden, der sie zu ersticken drohte. Die Phantome auf dem Ab
tasterschirm waren praktisch ständig rot.
Eleena sprach ein imperiales Gebet.
»Sprechen Sie eins für uns alle«, blaffte ich. »Aemos, wie geht
es Medea?«
»Sie lebt, den Sternen sei Dank. Aber sie atmet nicht richtig.
Vielleicht ein kollabierter Lungenflügel oder eine innere Verbren
nung. Sie braucht einen Arzt, Gregor!«
»Sie wird einen bekommen. Mach es ihr so bequem wie mög
lich. In dem Spind hinter dir ist ein Erste-Hilfe-Koffer. Verbinde
ihre Wunde.«
Abgesehen davon, dass es purer Irrsinn war, hatte dieser
schnelle Flug bei Nacht durch einen dichten Wald auch etwas ab
solut Verblüffendes. Das bloße Vermeiden aller Kollisionen erfor
derte solche Konzentration, dass ich die Orientierung verlor. Ein
paar erzwungene Ausweichmanöver, zum Beispiel nach links,
schwenkten uns nach Osten. Wollte ich das ausgleichen und dann
einer Eiche nach rechts ausweichen, flogen wir plötzlich nach
Westen. Wir flogen einen Zickzackkurs durch den urtümlichen
Wald, und ein Zickzackkurs ist nicht die schnellste Fluchtroute.
Mindestens vier der fünf Schweber, die ich im Laufe des Angriffs
gesehen hatte, waren hinter uns her. Zwei folgten uns direkt
durch die Bäume, ungefähr fünfhundert Meter hinter uns. Die
anderen beiden waren höher gestiegen und flogen über den Bäu
men, sodass sie viel schneller vorankamen, und gaben sich alle
Mühe, uns zu überholen.
Es handelte sich um ehemalige militärische Modelle. Das hatte
ich bereits im Haus nach einem Blick auf die parkenden Schweber
gesehen. Größere Triebwerke als diese wendige Urdeshi-
Maschine. Größer und besser gepanzert. Und ihre Kanonen waren
schwenkbar am Türrahmen angebracht, was bedeutete, dass sie
praktisch in alle Richtungen schießen konnten. Sie mussten nicht
die Nase auf ihr Ziel richten.
Das Auspex fing an zu summen, und ich sah grelles Licht durch
die Baumkronen über uns fallen wie Sonnenstrahlen durch eine
Wolkendecke. Einer der Schweber über dem Wald hatte uns ein
geholt.
Ich schwenkte zur Seite, weniger, um ihn abzuschütteln, son
dern um den Zusammenstoß mit einem Baumstamm zu vermei
den. Ich sah den Waldboden zucken und beben, als der Schütze
in der Tür das Feuer auf uns eröffnete.
Also legte ich mich in eine enge Kurve, eine Tragfläche beinahe
senkrecht nach unten, direkt an einer kolossalen Eiche vorbei,
und flog in westlicher Richtung weiter. Die Lichter über uns ver
schwanden einen Moment, tauchten dann aber wieder parallel zu
uns auf der linken Seite auf. Ein Baum, der rechts von mir vor
beihuschte, verlor seine Rinde in einer Salve diagonalen Kreuz
feuers.
Zur Hölle mit ihnen. Ich war ziemlich sicher, dass sie weder
Wärmesensoren noch Bewegungsdetektoren hatten. Sie folgten
dem Schein meiner Lampen, der die Baumkronen von unten er
leuchtete.
Ich schaltete die Scheinwerfer aus, verringerte unglücklicher
weise aber die Geschwindigkeit nicht. Der Näherungsalarm jaulte,
und obwohl ich am Steuerknüppel riss, streiften wir einen Baum
stamm.
Wir schlingerten gewaltig. Der Turbinenalarm heulte durchgän
gig. Die Steuerbordturbine war abgestorben.
Ich schwebte auf der Stelle und drückte den Starter für die
Steuerbordturbine, in der Hoffnung, dass sie nur durch die Er
schütterung abgesoffen war. Wenn die Verkleidung oder gar die
Turbine selbst verbeult war, würde ein Neustart für uns alle sehr
unangenehm werden.
Die abgestorbene Turbine drehte sich und hustete. Ich versuch
te es erneut. Noch ein pfeifendes Husten. Zwanzig Meter hinter
uns löste sich der Wald in Holzbrei, Rindenfetzen und pulverisierte
Blätter auf, als der Schweber über uns versuchte, uns mit einer
längeren Salve den Garaus zu machen.
Beim dritten Versuch sprang die Steuerbordturbine wieder an.
Ich blieb im Schwebflug und spielte mit dem Steuerknüppel, kipp
te die Maschine nach rechts und links, nahm Nase und Schwanz
hoch und wackelte mit den Stummelflügeln, um mich zu verge
wissern, dass die Maschine noch korrekt reagierte. Das schien der
Fall zu sein.
Ich blickte nach hinten und sah, dass Eleena mich mit leichen
blassem Gesicht anstarrte. Aemos kümmerte sich um Medea.
»Ist alles in Ordnung mit uns, Gregor?«, flüsterte er.
»Ja. Tut mir leid wegen gerade.«
In die kleine Lichtung links von uns fiel plötzlich vertikal von
oben Scheinwerferlicht, bevor sie von Autokanonen beharkt wur
de. Sie suchten immer noch blindlings.
Ich erlebte einen jähen Moment der Erinnerung. Ein Duell im
All. Hoffnungslose Unterlegenheit. Midas, der ganz nach Gefühl
flog. Ich erinnerte mich, wie er mich vom Pilotensitz des Kano
nenboots ansah und sagte: »Maus wird Katze.«
Maus wird Katze.
Immer noch schwebend, drehte ich den Flieger zur angegriffe
nen Lichtung und hob dann langsam die Nase, bis sie auf die
Lichtquelle über den Bäumen zeigte. Ich drückte auf den Feuer
knopf, nur eine Sekunde lang.
Die Lanze jagte durch das Blätterdach. Ich sah ein kurzes Auf
blitzen, und dann fiel ein neun Tonnen schwerer Feuerball aus
Metall, der zuvor noch ein Schweber gewesen war, einfach durch
Äste und Zweige auf die Lichtung, brach auseinander und schleu
derte Flammen und Trümmer in alle Richtungen.
»Einer weniger«, sagte ich sehr zufrieden mit mir. Nun, das hät
te Midas jedenfalls gesagt.
Hinter uns waren Lichter, die sich uns durch den Wald näherten.
Ich ließ die Scheinwerfer ausgeschaltet, als ich mich vorsichtig
von dem Inferno des Schweberwracks entfernte und hinter einem
knorrigen alten Baumriesen verharrte, der sich mit zunehmendem
Alter ein wenig zur Seite geneigt hatte. Von seinen müden Ästen
hingen ganze Moosvorhänge herab.
Ich beobachtete, wie die Lichter sich näherten, und folgte vor
sichtig dem nächsten mit der Nase. Sie waren langsamer gewor
den, da sie nach Spuren von uns suchten. Die nächsten Lichter
waren quälend nah, aber teilweise durch eine Reihe dicker Eichen
verdeckt.
Der andere Schweber flog direkt zur brennenden Absturzstelle.
Ich ging etwas höher und richtete die Nase auf den sich lang
sam nähernden Schweber.
Er kam in Sicht, da seine Scheinwerfer den Waldboden absuch
ten.
Ich schoss erneut.
Der Schuss war ziemlich gut. Er schnitt dem Schweber die
Heckflosse ab. Während aus dem abgeschnittenen Heck blaue
elektrische Entladungsbögen zuckten, stürzte er steuerlos und
sich überschlagend nach unten. Er zerstörte einen Baumriesen
und umgekehrt.
Der andere Schweber kam hinter der Deckung der Eichen vor
und schoss auf uns. Die Schüsse zerfetzten den Moosvorhang.
Mir ging auf, dass jemand so viel Verstand besessen hatte,
Nachsichtgläser mitzubringen. Sie konnten uns sehen.
ZEHN
Abwärts.
Doktor Berschilde aus Ravello.
Kandschar der Scharfe.
Es war der vierte Schweber, der uns gejagt hatte. Bevor ich
auch nur fluchen konnte, hatte seine feuernde Kanone unsere
Schwanzflosse abgetrennt, die Abdeckung der hinteren Turbine
zerfetzt und die sich immer noch drehenden Propeller verbogen.
Wir fingen an, uns heftig zu drehen. Die Kabine vibrierte wie in
den Fängen eines Krampfanfalls. Eleena schrie.
Ich rang mit den Kontrollen und kämpfte gegen den bockenden
Steuerknüppel an. Ich schwenkte die Tragflächenturbinen auf
vertikal und gab Schub, um den Absturz zu vermeiden. Der Flie
ger brach durch das obere Geäst, streifte einen Baumstamm und
nahm die Nase herunter.
Ich riss mit aller Kraft am Steuerknüppel.
»Festhalten!«, rief ich. Zu mehr hatte ich keine Zeit.
Wir streiften einen Eichenstamm, eine Kollision, die uns die
Backbordturbine abriss und den Lack von der Kanzel abkratzte,
und prallten von einem torfigen Grat aus Moos und vermodertem
Laub ab. Dann stiegen wir wieder und neigten uns nach links,
während die verbliebene Turbine am Rande ihrer Toleranz jaulte,
um etwas Auftrieb zu gewinnen. Der Turbinenalarm schrillte, als
die Turbine unter dem hohen Druck abstarb. Dann fielen wir seit
wärts, überlebten einen Frontalzusammenstoß mit einer Eiche,
der die Windschutzscheibe mit Sprüngen überzog, und krachten
auf den mulchigen Boden. Nach einer Rutschpartie von fünfzig
Metern kamen wir auf der Seite liegend zur Ruhe.
Ich verlor nicht das Bewusstsein, aber die lange Stille, die dem
Absturz folgte, erweckte den Anschein. Ich blinzelte und regist
rierte, dass ich mit der Schulter auf der Seitenluke lag.
Eleena stöhnte, und Aemos fing an zu husten. Das einzige an
dere Geräusch war das klirrende Prasseln der Windschutzschei
bensplitter, die allmählich in die Kabine fielen.
Ich stand auf und kletterte über die Sitze. »Eleena? Sind Sie
verletzt?«
»Nein, Inquisitor … ich glaube nicht …«
»Wir müssen aussteigen. Helfen Sie mir.«
Gemeinsam zogen wir den hustenden Aemos nach draußen und
gingen dann zu Medea zurück, die gnädigerweise immer noch
bewusstlos war.
Die Strahlen der Suchscheinwerfer des Schwebers stachen
durch das Loch nach unten, das wir in das Blätterdach geschlagen
hatten, und irrten umher.
Jeden Augenblick …
Eleena und ich brachten die anderen beiden in den Schutz einer
Senke, die ein gutes Stück vom abgestürzten Flieger entfernt
war.
»Bleiben Sie hier«, flüsterte ich ihr zu. »Geben Sie mir Ihre
Waffe.«
Kommentarlos hielt sie mir ihre klobige Laserpistole hin.
»Bleiben Sie unten«, wies ich sie an und lief zum Wrack zurück,
um meinen Stab und das Schwert zu holen. Den Runenstab warf
ich ins Unterholz, um ihn zu verbergen, dann zog ich Barbarisa
ter.
Der Schweber sank durch das hohe Geäst nach unten und ver
suchte, den Flieger mit seinen Suchscheinwerfern zu finden. Ich
schob Schwert und Pistole in meinen Gürtel und sprang in die
unteren Äste der Buche, die unsere Absturzstelle markierte.
Der Baum war gewaltig und knorrig. Grunzend schwang ich
mich höher ins Hauptgeäst, und dann noch weiter nach oben in
das Netz dünnerer Zweige.
Der Schweber kam in Sicht. Er kroch langsam tiefer, dem rau
chenden Wrack entgegen, und ließ die Strahlen seiner Such
scheinwerfer wandern. Ich konnte den maskierten Kanonier in der
offenen Tür sehen, eine Hand am Joch der Autokanone, die ande
re am Suchscheinwerfer.
Der Schweber sank tiefer. Ich kletterte noch höher in die lufti
geren Bereiche der Buche, bis ich nicht mehr höher konnte und
der Schweber direkt unter mir war.
Der Pilot sagte etwas. Ich konnte deutlich das Knistern in sei
nem Interkom hören. Der Kanonier antwortete, ließ den Schein
werfer los, packte die Griffe der Kanone mit beiden Händen und
richtete sie nach unten auf das Wrack des Fliegers.
Es krachte und blitzte, als er das Flugzeug mit den Kugeln aus
seiner Autokanone beharkte. Die tapfere kleine Urdeshi-Maschine
wurde zerfetzt wie Folie.
Der Kanonier hörte auf zu schießen und rief seinem Piloten et
was zu.
Jetzt oder nie.
Ich ließ die Äste los und fiel direkt auf das Dach des Schwebers.
Er schaukelte ein wenig unter mir. Ich fing mich, kauerte mich
nieder, hielt mich am oberen Lukenrahmen fest und schwang
mich mit den Stiefeln voran hinein.
Der Kanonier stand mit dem Rücken zur Luke und beugte sich
nach innen, um eine frische Munitionskiste von der Wandhalte
rung zu holen. Meine Stiefel trafen sein verlängertes Rückgrat
und schleuderten ihn mit dem Kopf vor die Kabinenwand. Ich lan
dete neben ihm, als er rückwärtstaumelte und die Hände vor sein
ruiniertes Gesicht schlug, packte ihn am Arm und beförderte ihn
rückwärts aus der Luke. Wir schwebten zehn Meter über dem
Boden.
Der Pilot gab ein gedämpftes Grunzen von sich, als er sich um
drehte und mich erblickte. Eine Sekunde später drückte sich die
Mündung einer Laserpistole seitlich unter sein Ohr.
»Landen. Sofort«, sagte ich.
Ich betete, dass ich es mit einem Söldner zu tun hatte und nicht
mit einem Kultisten. Ein Söldner wusste, wann er seine Verluste
akzeptieren und anfangen musste, um sein Leben und für den
nächsten Auftrag zu feilschen. Ein Kultist würde uns gegen den
nächsten Baum fliegen, Pistole hin oder her.
Mit sehr langsamen und klaren Bewegungen, damit ich sie auch
ganz sicher mitbekam, schaltete der Pilot den Hauptantrieb des
Schwebers aus und setzte auf dem Waldboden auf.
»Herunterfahren«, sagte ich.
Er gehorchte, und das Summen der Auftriebseinheiten ver
stummte. Das Armaturenbrett erlosch bis auf ein paar orange
Bereitschaftslampen.
»Abschnallen. Aussteigen.«
Er löste sein Gurtgeschirr und richtete sich langsam auf, wäh
rend ich die Pistole auf ihn gerichtet hielt. Er war ein kleiner, aber
gut gebauter Mann in feuerfestem Anzug mit grauem Flughelm
und Atemvisier.
Er sprang aus der Seitenluke des Schwebers und blieb mit er
hobenen Händen stehen.
Ich landete neben ihm. »Setzen Sie den Helm ab und legen Sie
ihn in den Schweber zurück.«
Der Pilot tat, was ich von ihm verlangte. Seine Haut war blass
und sommersprossig, das leicht schüttere Haar ganz kurz ge
schnitten. Er betrachtete mich mit nervösen blauen Augen.
»Öffnen Sie den Anzug.«
Er runzelte die Stirn.
»Bis zur Taille.«
Mit einer weiterhin erhobenen Hand zog er den Reißverschluss
des Anzugs herunter. Ein Unterhemd und Schultern mit alten,
verschwommenen Tätowierungen kamen darunter zum Vorschein.
Die Psi-Abschirmung war eine kleine, scheibenförmige Vorrich
tung, die an einer Plastikkordel um seinem Hals hing. Ich riss sie
ab und warf sie ins Unterholz. Dann setzte ich meinen Willen ein.
»Name?«
»Nhh…«, knurrte er und verzog dann das Gesicht.
»Name?«
»Eino Goran.«
Ich stieß seinen Geist mit meinem an. Es fühlte sich an, als rei
be ich mich an etwas, das in Plastek gehüllt war.
»Schön, wir wissen beide, dass das eine implantierte Identität
ist. Eine Eilarbeit, wie es aussieht. Richtiger Name?«
Er biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Implan
tierte Identitäten ließen sich durchaus billig auf dem Schwarz
markt erwerben, vor allem eine in ziemlich schlechter Qualität wie
diese. Das waren falsche Persönlichkeiten, die gewöhnlich mit
dazu passenden Papieren verkauft wurden und mit der die Perso
na des Subjekts psionisch überzogen wurde wie ein Möbelstück
mit einer Staubschutzhülle. Nichts Tolles. Wenn man das entspre
chende Geld hatte, konnte man sich passende Fingerabdrücke
und Netzhäute kaufen. Wenn man richtig viel Geld hatte, auch ein
neues Gesicht.
Diese Identität war wie eine falsche Mauer, die in aller Eile er
richtet worden war, um oberflächliche Sondierungen abzuwehren.
Ihr fehlte jegliche wirkliche Geschichte, und sie hatte nicht einmal
vage biografische Eindrücke. Eine Gedankenmaske, so billig und
unrealistisch wie die Karnevalsmasken, die seine Kameraden tru
gen.
Doch obwohl schlecht, war sie mit großer Kraft aufgetragen
worden. Ich versuchte sie zu bewegen, aber sie rührte sich nicht.
Das war frustrierend. Sie war offensichtlich falsch, aber ich kam
nicht an ihr vorbei.
Jetzt war keine Zeit, sich deswegen Gedanken zu machen.
Schlaf!, befahl ich, und er sank bewusstlos zu Boden.
»Eleena, Aemos! Beeilt euch!«, rief ich, während ich den schlaf
fen Mann in den Schweber zurückzerrte. Ich durchsuchte ihn nach
Waffen - es waren keine da - und fesselte ihm dann mit einem
Stück Kabel von der Kabeltrommel des Flaschenzugs des Schwe
bers die Hände auf den Rücken. Als Eleena und Aemos, die vor
sichtig Medea trugen, bei mir ankamen, hatte ich den Piloten ge
knebelt, mit einer Augenbinde versehen und an einer der Quer
streben im Schweber festgebunden.
Wir schafften alles an Bord - die Gegenstände, die wir aus mei
nem Arbeitszimmer gerettet hatten, den Runenstab, alles - und
schnallten Medea auf einer ausklappbaren Liege in der Passagier
kabine des Schwebers an. Dann schwang ich mich auf den Pilo
tensitz, und nachdem ich mich mit den Kontrollen vertraut ge
macht hatte, brachte ich uns in die Luft.
Ich schlich dicht über den Bäumen und ohne Licht dahin. Der
Mond war aufgegangen, und die Nacht war bis auf einen braunen
Fleck vor den Sternen im Norden klar. Der Rauch von meinem
brennenden Anwesen, das bezweifelte ich nicht. Im Luftraum war
sonst nichts zu sehen. Dicht über den Baumwipfeln flog ich uns
nach Süden.
Als wir unterwegs waren, sah ich mir die Kanzel an. Es handelte
sich eindeutig um einen ehemaligen Militärschweber, der meiner
Ansicht nach genau für diesen Zweck gekauft worden war. Alle
Insignien waren herausgemeißelt, alle Dienstnummern mit Säure
entfernt worden. Abgesehen von den grundlegenden Instrumen
ten wies die Kabine mehrere Reihen mit Anschlüssen für optische
Instrumente auf. Es gab nur ein Kom-Gerät und Lücken, wo sich
Auspex, Geländeabtaster und Nachtsichtanzeigen befunden haben
mochten, außerdem Plätze für einen Navigations-Cogitator und
ein ferngesteuertes Waffenleitsystem, das die Waffe in der Tür
mit den Piloteninstrumenten vernetzt und damit einen Kanonier
überflüssig gemacht hätte. Der Ausrüster der Söldner hatte ihnen
nur das einfachste Paket zur Verfügung gestellt. Einen gepanzer
ten Truppenschweber mit einem veralteten Kom-Gerät. Keine
automatischen Systeme. Kein Hinweis auf Herkunft oder Urs
prung.
Aber Leistung und Reichweite konnten sich sehen lassen - die
Energie reichte noch für über tausend Kilometer, bevor die Batte
rie wieder aufgeladen werden musste. Etwas, um sie hinzubrin
gen, Feuerschutz aus der Luft zu geben und sie wieder zurückzuf
liegen.
Unter uns flackerte der Wald vorbei. Das Kom war unentwegt
aktiv, aber ich kannte weder ihre Codes noch ihren Jargon und
verspürte wenig Neigung, irgendjemanden wissen zu lassen, dass
der Schweber noch flugtüchtig war.
Nach einer Weile verstummte das Kom. Ich stöpselte es aus,
zog das Gerät aus der Halterung und wies Eleena an, es über
Bord zu werfen.
»Warum?«, fragte sie.
»Es könnte ein Spürgerät oder Sender eingebaut sein. Das Risi
ko will ich nicht eingehen.«
Sie nickte.
Ich versuchte mich manuell zu orientieren, anhand der einfa
chen Instrumente, während ich im Kopf eine Karte von der Ge
gend rekonstruierte. Es war eine ziemliche Raterei. Dorsay, die
nächste große Stadt, lag jetzt vielleicht noch eine Flugstunde
westlich von uns, aber angesichts des Maßstabs der gegen mich
gerichteten Operation hatte ich das Gefühl, dorthin zu fliegen wä
re gleichbedeutend mit einem Ausflug in die Höhle des Carnodons
gewesen.
Es gab kleinere Fischerdörfer und Hafenstädtchen an der Ostsei
te der Halbinsel Insume, die mindestens zwei Flugstunden ent
fernt waren. Madua, eine Domstadt im Südosten, lag in Reichwei
te. Das galt auch für Entreve, einer Marktstadt am Rande der
Wildnis, und für das Atenategebirge.
Ich erwog, die Arbites über Kom zu rufen, entschied mich je
doch dagegen. Der Angriff auf Haus Spaeton musste in Dorsay
zur Kenntnis genommen worden sein, vor allem nach Ausbruch
der größeren Feuer, aber keine Rettungseinheiten waren gekom
men. Waren die Arbites bezahlt worden, den Vorfall zu ignorie
ren? Waren sie noch tiefer in den Überfall verstrickt?
Bis ich wusste, wer und was meine Feinde waren, konnte ich
niemandem trauen, und das schloss die Behörden und sogar die
Inquisition mit ein.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben war ich praktisch auf
mich allein gestellt.
Ich flog ins Gebirge. Nach Ravello.
Wir parkten in einer Sackgasse, wenig mehr als ein Hof, wo sich
eine Bergspura mühte, vor einer Hauswand zu wachsen. Die Spu
ra, oder zumindest ihre gelben Frühlingsblüten, war das Emblem
von Sankt Calwun, und das kleine Steinbecken, aus dem der
Baum wuchs, war mit Votivflaschen und Münzen bedeckt.
Eine Jalousie im Erdgeschoss zuckte beim Lärm unserer Moto
ren, und ich war froh, dass ich Aemos gebeten hatte, unterwegs
die Autokanone zu entfernen und zu verstauen. So ähnelten wir
zumindest einem Privattransporter.
»Bleibt hier«, sagte ich zu Eleena und Aemos. »Bleibt hier und
wartet.«
Ich marschierte die Straße zurück. Ich trug immer noch Stiefel,
Hose, Hemd und Lederjacke, also die Kleidung, die ich in der
Nacht zuvor bei der Auto-Seance getragen hatte, aber Aemos
hatte mir seinen grünen Umhang geliehen. Ich vergewisserte
mich, dass keine Insignien oder Amtsabzeichen zu sehen waren,
bis auf meinen Siegelring, der leicht zu übersehen war. Medeas
Autopistole, mit Patronen aus einem Magazin nachgeladen, das
wir im Schweber gefunden hatten, steckte hinten in meinem Gür
tel.
Ein streunender Hund kam mir aus Richtung Stadtmitte entge
gen, blieb stehen, um den Saum meines Umhangs zu beschnüf
feln, und trottete dann desinteressiert weiter.
Das Haus war so, wie ich es in Erinnerung hatte, auf halbem
Weg die Gasse entlang. Wir hatten es auf dem Weg hierher be
reits passiert, und jetzt vergewisserte ich mich. Vier Etagen, mit
einem Terrassenbalkon unter dem kupfergedeckten Dach. Vor
den Fenstern waren Läden, und der Haupteingang, zwei massive,
glänzend rot gestrichene Holztüren, war verriegelt.
Es gab keine Klingel oder Glocke. Daran konnte ich mich noch
erinnern. Ich klopfte und wartete.
Ich wartete sehr lange.
Schließlich hörte ich etwas hinter den Türen, und ein Sehschlitz
öffnete sich.
»Was wollen Sie so früh?«, fragte eine alte Männerstimme.
»Ich will Doktor Berschilde sprechen.«
»Wer will das?«
»Lassen Sie mich bitte herein, ich kläre das dann mit Frau Dok
tor.«
»Es ist viel zu früh!«, protestierte die Stimme.
Ich hob die Hand und hielt meinen Siegelring so, dass das Mus
ter durch den Sehschlitz zu erkennen war.
»Bitte«, wiederholte ich.
Der Schlitz schloss sich, Schlüssel klirrten, dann öffnete sich ei
ne der Türen. Drinnen gab es nur Schatten.
Ich trat in die herrliche Kühle des Flurs, während sich meine
Augen langsam an die Düsternis gewöhnten. Ein gebeugter alter
Mann in Schwarz schloss die Tür hinter mir.
»Bitte warten Sie hier«, sagte er und schlurfte davon.
Der Boden war ein poliertes Marmormosaik, das funkelte, wo es
Licht von außen einfing. Die Muster an den Wänden waren von
Künstlern mit der Hand aufgemalt worden. Erlesene, antiquari
sche anatomische Zeichnungen hingen in schlichten vergoldeten
Rahmen an den Wänden. Das Haus roch nach warmem Stein, den
kalten Nachdüften eines guten Abendmahls, Rauch.
»Hallo?«, drang eine Stimme von der Treppe über mir an mein
Ohr.
Ich erklomm die Treppe bis zum nächsten Absatz, wo die Läden
geöffnet worden waren, um das Tageslicht einströmen zu lassen.
»Es tut mir leid, einfach so einzudringen«, sagte ich.
»Gregor? Gregor Eisenhorn?« Doktor Berschilde aus Ravello
machte einen Schritt auf mich zu. Ihre Miene drückte verschlafe
nes Erstaunen aus.
Sie war immer noch ein prächtig anzuschauendes Bild von einer
Frau.
Ich glaube, sie wollte mich umarmen oder mir einen Kuss auf
die Wange drücken, aber dann hielt sie inne, und ihre Miene ver
finsterte sich. »Das ist kein Höflichkeitsbesuch, oder?«
Ich ging zum Schweber zurück und flog ihn in den privaten,
ummauerten Hof hinter ihrem Haus, wo er allen neugierigen Bli
cken entzogen war. Der alte Diener der Ärztin, Phabes, hatte die
Sonnentüren im Erdgeschoss geöffnet und stand mit einer fahrba
ren Trage für Medea bereit. Eleena, Aemos und ich folgten ihnen
hinein. Ich ließ den Piloten, der immer noch in seinem von mei
nem Willen hervorgerufenen Koma lag, gefesselt im Schweber
zurück.
Crezia Berschilde hatte sich mittlerweile Chirurgenkleidung
übergestreift und kam uns im Flur entgegen. Sie sagte wenig, als
sie Medea untersuchte.
»Bring sie durch«, sagte sie zu Phabes, dann sah sie mich an.
»Ist sonst noch jemand verwundet?«
»Nein«, sagte ich. »Wie geht es Medea?«
»Sie stirbt«, sagte sie. Sämtlicher Humor war aus ihrer Stimme
gewichen. Sie war wütend, und ich konnte es ihr nicht verdenken.
»Ich tue für sie, was ich kann.«
»Ich bin dir dankbar, Crezia. Es tut mir leid, dass ich dich damit
behellige.«
»Sie müsste eigentlich ins Stadthospital gebracht werden!«,
schnauzte sie.
»Können wir das vermeiden?«
»Du meinst, ob wir das inoffiziell regeln können? Verdammt, Ei
senhorn, das kann ich nicht brauchen!«
»Das weiß ich.«
Sie spitzte die Lippen. »Ich tue für sie, was ich kann«, wieder
holte sie. »Geht in den Salon. Ich lasse Phabes eine Erfrischung
bringen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und folgte Medea ins Haus.
»Also«, sagte Aemos leise, »wer ist das gleich?«
Ich ging nach Medea sehen, die friedlich auf der sauberen klei
nen medizinischen Station im Keller von Crezias Haus schlief, und
zog mich dann in den Raum zurück, den Phabes für mich vorbe
reitet hatte. Eleena und Aemos waren in angrenzenden Räumen
und ruhten sich aus.
Ich badete und rasierte mich, beides automatisch, während
mein Geist die Geschehnisse analysierte. Ich stellte fest, dass
mein Körper seit gestern einige neue Schrammen davongetragen
hatte, außerdem einen Laserstreifschuss quer über den Ober
schenkel, den ich nicht einmal bemerkt hatte. Meine Kleider war
en schmutzig und zerrissen und stanken nach Rauch, und die Ho
se war mit Kletten und klebrigen Grassamen bedeckt.
Phabes hatte in meinem Zimmer Kleidung zurechtgelegt, meh
rere Garnituren für Männer. Ich sah, dass es meine eigenen war
en. Ich hatte im Laufe der Jahre Garderobe hier gelassen, haupt
sächlich weiche, legere Sachen, die ich anzog, wenn ich zu Be
such kam. Crezia hatte sie aufbewahrt. Ich wusste nicht, ob ich
entzückt oder beunruhigt sein sollte. Nach all den Jahren hatte sie
sich immer noch nicht der Habseligkeiten entledigt, die ich in ih
rem Revier zurückgelassen hatte. Sie waren auch frisch, als wür
den sie regelmäßig ausgelüftet oder gar gewaschen. Mir ging auf,
dass Crezia wohl immer damit gerechnet hatte, dass ich eines
Tages zurückkehren würde.
Vielleicht war es die Art meiner Rückkehr, die sie aufgebracht
hatte - dass ich um ihrer Hilfe willen zurückkehrte und nicht ein
fach ihretwegen. Das konnte ich ihr nicht verdenken. Ich wäre
auch nicht erfreut gewesen, mich jetzt wiederzusehen, wenn man
die Schwierigkeiten bedachte, in denen ich steckte. Und nicht,
wenn ich alle freundschaftlichen Verbindungen zweieinhalb Deka
den zuvor abgebrochen hätte.
In der Stadt unter uns läuteten die Kirchenglocken und riefen
die Gläubigen zur Andacht. Die Gasthäuser am Seeufer öffneten,
und der Wind brachte den Geruch nach Kräutern und Gebratenem
mit.
Ich wählte ein dunkelblaues Baumwollhemd mit einem dünnen
Kragen, eine schwarze Croisehose und eine kurze, schlichte
Sommerjacke aus schwarzem Wildleder. Die Stiefel, die ich in der
Nacht zuvor getragen hatte, würden mir auch weiterhin dienen
müssen, aber ich säuberte sie und polierte sie mit einem Tuch.
Ich wollte die Pistole in der Jacke verstauen, aber ich wusste, was
Crezia von Waffen hielt, also ließ ich sie mit Barbarisater und dem
Runenstab unter der Matratze meines Betts. Die Säcke mit Schrif
ten und Manuskripten, die Aemos und ich aus Haus Spaeton ge
rettet hatten, waren bei ihm in seinem Zimmer.
Ich hatte sonst wenig bei mir: meinen Siegelring, ein Kurzstre
ckenkom, ein paar Münzen und meine Amtsvollmacht - ein Me
tallsiegel in einem Lederetui. Es war das erste Mal seit Durer,
dass ich meine Rosette vermisste. Die hatte Fischig noch, wo im
mer er sich aufhielt.
Als ich meine Lederjacke an der Garderobe aufhängte, spürte
ich noch ein Gewicht darin, und mir fiel wieder ein, dass ich noch
etwas anderes hatte.
Das Malus Codicium.
Es war ein infernalisches Buch, dreimal verdammt. Ich wusste
von keiner anderen existierenden Kopie. Eine Hälfte der Inquisiti
on würde mich umbringen, um es in die Finger zu bekommen, die
andere würde mich verbrennen, weil ich es in meinem Besitz hat
te.
Quixos, der verderbte Inquisitor-Veteran, der auf Farness Beta
endlich von mir zur Strecke gebracht worden war, hatte seine
Macht darauf aufgebaut. Ich hätte es vernichten müssen, als ich
ihn vernichtet hatte, oder zumindest dem Ordo übergeben. Ich
hatte nichts dergleichen getan. Ich hatte es benutzt, insgeheim
studiert und meine Fähigkeiten gesteigert. Ich hatte Cherubael
unter Benutzung seines Wissens gefangen und gebunden. Dank
der Einsichten, die es mir vermittelte, hatte ich mehrere Kultver
schwörungen zerschlagen.
Es war ein kleines Ding mit weichem Deckel in schlichter
schwarzer Haut. Die Ränder der Seiten waren rau und von Hand
geschnitten. Unscheinbar.
Ich setzte mich auf die Bettkante und wog es in den Händen.
Herrliches vormittägliches Sonnenlicht fiel durch das Fenster, der
Himmel war blau, die von der Rückseite des Hauses sichtbaren
Hänge des Itervalle hatten einen weichen Lilaton. Doch mir war
kalt, und ich hatte das Gefühl, in Finsternis getaucht zu sein.
Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, warum ich dieses
abscheuliche Werk für meine eigenen Zwecke aufbewahrt hatte.
Wissen, nehme ich an. Neugier. Ich war viele Male in meinem
Leben verbotenen Artefakten begegnet, von denen das Berüch
tigtste das verfluchte Nekroteuch war. Dieses hassenswerte Ding
hatte ein Eigenleben besessen. Es stach, wenn man es anfasste.
Es lockte einen an und verlockte einen, es zu öffnen. Ihm nur nah
zu sein, war schon Gift für den Geist.
Aber das Codicium war still und war es immer gewesen. Es hat
te nie einen lebendigen Eindruck gemacht wie die anderen gifti
gen, raschelnden Bücher, denen ich begegnet war. Es war immer
nur ein Buch gewesen. Der Inhalt war bestürzend, aber das ei
gentliche Buch …
Doch jetzt geriet ich ins Grübeln. Seit dem Augenblick, als es in
meinen Besitz gelangt war, hatte sich einiges verändert. Ange
fangen mit Cherubael und immer weiter bis zu den schlimmen
Ereignissen auf Durer.
Vielleicht vergiftete es mich. Vielleicht verdrehte es meinen
Geist. Vielleicht hatte ich die Grenze zu weit überschritten, ohne
es aufgrund seines schädlichen Einflusses zu bemerken.
Vielleicht war das ein Maß dafür, wie böse es war. Dass es
schmerzlos war. Unsichtbar. Heimtückisch. In dem Augenblick, in
dem man das Nekroteuch berührte, wusste man, dass es ein ver
derbliches Ding war, wusste, dass man seiner verführerischen
Verderbnis widerstehen musste. Man wusste, dass man dagegen
ankämpfte.
Aber das Malus Codicium … so unendlich böse, so subtil, dass es
langsam in die Seele eindrang, ohne dass man es merkte.
War so ein einstmals so großer Diener des Imperators wie Qui
xos zu einem Ungeheuer geworden? Ich hatte mich immer ge
fragt, warum er niemals gesehen hatte, was aus ihm geworden
war. Warum er so blind für seine eigene Entartung gewesen war.
Ich öffnete die Schublade meines Nachtschranks und legte das
Buch hinein. Sobald wir Ravello verlassen hatten, würde ich mich
darum kümmern müssen.
Der Schweber war immer noch auf dem Hinterhof geparkt. Pha
bes hatte ein Stromkabel vom Haus nach draußen gelegt, und die
Batterien des Schwebers wurden gerade wieder aufgeladen.
Es war heiß im Hof. Insekten summten im üppig blühenden Bu
canthus, der die Seitenmauer bedeckte.
Der Söldner war wach. Blind und stumm, wie er war, drehte er
den Kopf hin und her, als er mich kommen hörte.
Ich riss ihm das Klebeband vom Mund und füllte dann eine Tas
se mit Wasser aus einer Flasche, die ich mir aus der Küche ge
borgt hatte. Ich hielt ihm die Tasse an den Mund.
»Es ist nur Wasser. Trinken Sie.« Er spitzte die Lippen und
wandte den Kopf ab.
»In dieser Hitze werden Sie austrocknen. Trinken Sie.«
Er weigerte sich weiterhin.
»Hören Sie, wenn Sie austrocknen, werden Sie schwach und
damit weitaus anfälliger für meine Fragen und Gedankensondie
rungen.«
Er stutzte und schluckte, scheute dann aber wieder vor der Tas
se zurück, als ich sie hochhielt.
»Wie Sie wollen«, sagte ich und nahm die Tasse herunter. Die
Vessoriner waren für ihre Genügsamkeit berühmt. Es hieß, sie
könnten tagelang ohne Nahrung und Wasser auskommen, wenn
eine Schlacht dies erforderlich machte. Wenn er damit prahlen
wollte, konnte er das von mir aus ruhig tun.
Ich erhob mich und tastete die Karosserie des Schwebers sorg
fältig ab. Ich hatte mir aus Crezias Arbeitszimmer einen Abtaster
geborgt und auf die Erkennung von Signalen des hohen und des
tiefen Frequenzbandes angesetzt … Transponder, Sender, Codes.
Ich fand nichts. Obendrein tastete ich den Vessoriner ebenfalls
ab. Sowohl Schweber als auch Gefangener waren sauber. Wenn
die Söldner nach uns suchten, würden sie uns nicht wegen des
Schwebers oder seines Piloten finden.
Ich hatte eine halbe Stunde gebraucht, den Schweber abzutas
ten. Ich kehrte zum Piloten zurück. Die Vormittagssonne stand
jetzt hoch genug, um Sonnenlicht durch die Seitenluke des
Schwebers zu werfen, und er spürte die Hitze offensichtlich, weil
er die Beine in den verbliebenen Schatten hochgezogen hatte.
Ich bot ihm noch einmal das Wasser an. Keine Reaktion.
»Nennen Sie mir Ihren Namen«, sagte ich.
Seine Kiefermuskeln spannten sich.
»Nennen Sie mir Ihren Namen«, wiederholte ich unter Einsatz
meines Willens.
Er schauderte. »Eino Goran.« Seine Stimme klang trocken und
undeutlich.
»Und bevor er Eino Goran wurde, trugen Sie welchen Namen?«
»Nngh…«
Seine Willenskraft war groß. Die Vessoriner waren eine stumpfe
Rasse mit einem hohen Prozentsatz von Unberührteren. Zu ihrer
martialischen Ausbildung gehörte auch, Methoden des Wider
stands gegen Verhöre zu lernen, und zuerst dachte ich, er könne
einen gut entwickelten geistigen Trick in seinem Arsenal haben,
um psionischen Anstößen zu widerstehen.
Doch als ich ihn weiter befragte, kam mir der Verdacht, es kön
ne mehr mit der implantierten Identität zu tun haben. Ich ver
suchte sie wegzuziehen, aber sie rührte sich immer noch nicht.
Sie mochte krude und simpel sein, war aber psionisch wie festge
nietet. Ein Teil dieser gründlichen Befestigung, war ich überzeugt,
diente als Schirm. Es war nicht so, dass er nicht antworten wollte.
Er konnte nicht.
»Gregor?«
Ich schaute aus der Luke und sah, dass Crezia in den Hof ge
kommen war. »Gregor, was zur Hölle machst du da?«
Ich stieg aus dem Schweber und führte sie zur Gartentür zu
rück. Der Vessoriner hatte zweifellos gehört, wie sie meinen Na
men genannt hatte. Das war nicht mehr zu ändern.
»Dieser Mann ist verschnürt wie ein verdammtes Paket!«, sagte
sie.
»Dieser Mann würde mich töten, wenn er die Gelegenheit dazu
bekäme. Er ist um unserer aller Sicherheit willen gefesselt. Ich
muss ihm Fragen stellen.«
Sie funkelte mich an. Sie hatte sich umgezogen und trug ein
langes Kleid aus blauem Satin mit Schmuckbesatz. Ihre stroh
blonden Haare waren hinter dem Kopf streng zusammengebun
den und wurden von zwei goldenen Nadeln hochgehalten. Sie war
schön und stolz, wie ich sie in Erinnerung hatte. Crezia hatte ho
he Wangenknochen, einen großzügigen Mund und hellbraune Au
gen, die zu Ausdrücken der Leidenschaft und der Intelligenz neig
ten. Die einzige Leidenschaft, die ich seit meiner Ankunft in ihnen
gesehen hatte, war Zorn.
»Wie ein Paket«, wiederholte sie. »Das lasse ich nicht zu. Nicht
in meinem Haus.«
»Was schlägst du dann vor? Hast du einen sicheren Raum, der
von außen verschlossen werden kann?«
»Ich soll dir eine Zelle für ihn zur Verfügung stellen? Pah!«,
spottete sie.
»Entweder das oder der Schweber.«
Sie dachte darüber nach. »Ich lasse Phabes oben einen Raum
leer räumen.«
»Keine Fenster.«
»Sie haben alle verdammte Fenster! Aber der Raum, der mir
vorschwebt, hat nur ein kleines Oberlicht. Nicht groß genug, um
hindurchzuklettern.«
»Danke.«
»Ich will ihn mir ansehen.«
Es hatte keinen Sinn zu streiten. Sie untersuchte den Mann
gründlich.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin Doktor Cr…«
»Er braucht deinen Namen nicht zu wissen. Oder meinen. Denk
darüber nach.«
Sie holte tief Luft. »Ich bin Ärztin. Ich schaue nur nach Ihrer
Gesundheit. Haben Sie einen Namen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Er benutzt den Namen Eino Goran.«
»Ich verstehe. Eino, diese Situation ist unangenehm, aber wenn
Sie mit mir und Gr… mit meinem Bekannten hier zusammenarbei
ten, wird sicher alles in Ordnung kommen. Bald.«
Bekannter. Ich konnte die genüssliche Häme spüren, die sie in
das Wort legte.
Crezia sah mich missbilligend an. »Er muss essen und trinken.
Vor allem trinken, bei dieser Hitze.«
»Sag ihm das, nicht mir.«
»Sie müssen trinken, Eino. Wenn Sie nichts trinken, muss ich
Ihnen einen Flüssigkeitstropf anlegen.«
Er ließ zu, dass sie ihm die Tasse an den Mund führte, und trank
in kleinen Schlucken.
»Sehr gut«, sagte sie. Dann zu mir: »Seine Fesseln sind viel zu
stramm.«
»Daran wird sich nichts ändern.«
»Dann stell ihn auf die Beine und führ ihn etwas herum. Binde
ihm die Hände anders.«
»Später vielleicht. Wenn du wüsstest, was er ist, was er getan
hat, wärst du nicht so mitfühlend.«
»Ich bin eine Angehörige der Medicae Imperialis. Was sie getan
haben, spielt nie eine Rolle.«
Wir gingen wieder in den Salon zurück.
»Seine Identität ist implantiert. Ich muss an den Barrieren vor
bei.«
»Um herauszufinden, wer er wirklich ist?«
»Um herauszufinden, für wen er arbeitet.«
»Ich verstehe.« Sie setzte sich und kaute an einem Fingernagel.
Das tat sie immer, wenn sie etwas beunruhigte.
»Du hast hier Medikamente. Zendocain? Oxybarbital?«
»Machst du Witze?«
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich ihr gegenüber. »Ich bin
todernst. Ich brauche ein psychoaktives Mittel oder wenigstens
ein Opiat oder Barbiturat, um seine Willenskraft zu schwächen.«
»Nein. Auf gar keinen Fall.«
»Crezia …«
»Ich werde mich nicht an Folter beteiligen!«
»Das ist keine Folter. Ich werde ihm nichts tun. Ich muss nur
seinen Geist öffnen.«
»Nein.«
»Crezia, ich werde es tun. Ich habe das Mandat der Heiligen In
quisition, um Verhöre durchzuführen, und diese Umstände geben
mir noch größere Freiheit in der Wahl meiner Mittel. Wäre es dir
nicht lieber, wenn es unter deiner erfahrenen Aufsicht stattfin
det?«
ELF
Adept Cielo.
Todesnachrichten.
Gefährliche Freundlichkeit.
Ich ging im Haus und im Garten auf und ab. Zwei- oder dreimal
machte ich mich auf den Weg nach oben zu dem Piloten, die Au
topistole schon in der Hand. Zur Hölle mit der Belohnung! Ich
würde Rache nehmen!
Jedes Mal kehrte ich wieder um. Ich hatte Medea von der Rache
abgeraten, also sollte ich meine guten Ratschläge selbst beherzi
gen. Tarl zu töten, wäre so gewesen, als zerbreche man ein
Schwert. Was hatte Medea gesagt? Rache ist eine Verdrängungs
aktivität. Man kann sich darauf stürzen, weil man das, was man
eigentlich tun will, nicht tun kann. Ich brauchte etwas, aber Ra
che war es nicht.
Was war es also? Ich musste wieder ins Spiel zurückkehren. Ich
musste meine Verbündeten um mich scharen. Ich musste heraus
finden, wer Kandschar der Scharfe war.
Und dann, und zum Teufel mit dem Rat, den ich Medea gegeben
hatte, musste ich ihn vernichten.
Um Punkt neun Uhr kam Adept Cielo mit seinem Helfer, der am
Tag zuvor bestellt worden war. Beide trugen einen Kapuzenum
hang, was wohl ihrer Vorstellung von Subtilität entsprach.
Ich traf mich mit ihnen in Crezias Anwesenheit im Salon. Sie
trug einen beigen Hosenanzug.
Adept Cielo war ein älterer, erfahrener Astropath, einer der Bes
ten, den die Gilde in Ravello anzubieten hatte.
»Ich nehme an, es handelt sich um eine Privatangelegenheit,
mein Herr?«
»Das ist richtig.«
»Kaufen Sie meine Dienste in bar?«
»Nein, Adept, durch direkte Geldüberweisung. Ich habe einen
vertraulichen Übertragungsdienst, den ich benutzen möchte. Ich
erwarte äußerste Diskretion.«
»Sie haben die Garantie der Gilde, mein Herr«, sagte Cielo. Sein
Helfer öffnete eine Datentafel und reichte mir den Daumenab
druckabtaster.
Ich drückte meinen Daumen darauf und gab dann meinen Ge
heimcode ein.
»Aha«, sagte Cielo, als die Datentafel summte und etwas an
zeigte. »Alles erledigt. Ihr Konto hat das Geld überwiesen. Alles
ist in bester Ordnung, Herr Eising. Dann können wir anfangen.«
Natürlich benutzte ich kein Konto, das etwas mit der Person
Gregor Eisenhorn zu tun hatte. Ich hatte guten Grund zu der An
nahme, dass meine Finanzen unter Beobachtung standen, wenn
nicht gar eingefroren waren. Aber ich würde es gar nicht erst ver
suchen, weil das meinen Feind wissen lassen würde, dass jemand
mit Zugang zu Gregor Eisenhorns Konten noch am Leben war,
und es würde nicht so schwierig sein, der Überweisung nachzuge
hen.
Wie bei verschiedenen meiner Besitzungen führte ich auch Kon
ten unter anderem Namen. »Gorton Eising« hatte mehrere Kon
ten bei der Imperiumsbank Thracia und genug Mittel für meinen
gegenwärtigen Bedarf.
Ich hatte den vertraulichen Übertragungsdienst schon vor vielen
Jahren eingerichtet, damit ich Botschaften senden und empfan
gen konnte, ohne meine echte Identität zu benutzen. Im Wesent
lichen handelte es sich um einen automatisch gewarteten Brief
kasten, den ich mit einem Astropathen von jedem Ort benutzen
konnte. Ich konnte Nachrichten über ihn senden und alle an ihn
verschickten Nachrichten lesen. Der Dienst war unter dem Namen
»Aegis« registriert.
Als sich Cielo Zugang zum Aegis-Konto verschaffte, warteten
dort keine Nachrichten auf mich. In Glossia verfasste ich Warn
botschaften für Fischig auf Durer, nach Messina und an Angehöri
ge meiner Organisation auf Thracian Primaris, Hesperus, Sarum
und Cartol, die Cielo verschickte. Ich benutzte die Unterschrift
»Rosendorn«. Außerdem schickte ich eine private, verschlüsselte
und anonyme Nachricht an einen Freund außerhalb des Helicani
schen Subsektors. Sie bestand nur aus einem einzigen Word:
»Sanctum«.
Ich würde auf Antworten warten, bevor ich Verbindung zu mei
nem Lord Rorken aufnahm. Ich wollte alles der Reihe nach ange
hen. Nicht zum ersten Mal in meiner Laufbahn wollte ich außer
Sicht bleiben. Freunde ausgenommen.
Natürlich war es auch ein Risiko, Botschaften unter anderem
Namen zu verschicken. Viele oder alle der Personen, die ich zu
kontaktieren versuchte, mochten selbst unter Beobachtung ste
hen - wenn sie nicht bereits eliminiert worden waren.
Aber Glossia war ein privater Code. Selbst wenn meine Bot
schaften abgefangen wurden, mussten sie erst einmal entschlüs
selt werden.
Als Aemos kurz nach zehn Uhr auftauchte, wusste ich sofort,
dass etwas nicht in Ordnung war. Er trug einen kleinen Stapel
Datentafeln und nahm kommentarlos ein Glas Wein von Eleena
an, was ungewöhnlich für ihn war.
Seine Hand zitterte, als er das Glas hob und einen Schluck
trank. Sogar Crezia sah, dass er außer sich war.
»Nun, alter Freund?«, fragte ich.
»Ich habe Stunden damit verbracht, den beiden Namen nach
zuspüren, Gregor. Immer noch nichts über diesen Kandschar,
obwohl ich eine Liste der Planeten zusammengestellt habe, wo
dieses Wort noch benutzt wird.« Er schob mir eine Datentafel zu.
»Maria Tarray … da hatte ich etwas mehr Erfolg. Eine Maria Tar
ray wurde von den Arbites auf Hallowcan vor fünf Jahren festge
nommen, weil sie an Kultaktivitäten teilgenommen hatte. Aus der
Haft entflohen, während sie auf ihre Verhandlung wartete. Sie ist
noch zweimal aufgetaucht: auf Felthon, wo sie bekanntermaßen
eine enge Vertraute des Kultanführers Berrikin Paswold war, und
auf Sanseeta, wo sie im Zusammenhang mit dem Mord an Hie
rarch Sansum und fünf Ministorumsangestellten gesucht wird. Die
Inquisition hat außerdem einen Haftbefehl für sie als mutmaßliche
kriminelle Psionikerin ausgestellt.«
»Dann ist sie also eine aktive Teilnehmerin an Kultaktivitäten?«
Ich sah mir die Auszüge an, die Aemos auf der Datentafel gespei
chert hatte. Sie verrieten mir nicht viel mehr. Wenn ich Verbin
dung zur Inquisition aufnahm, würde sie gewiss eine vollständige
re Akte haben. Trotz der Risiken war ich geneigt, Rorken zu kon
taktieren.
»Wenn es dieselbe Frau ist«, erwiderte er.
Es gab kein Bild, aber die Beschreibung entsprach dem geisti
gen Bild, das ich von ihr empfangen hatte.
»Wie sieht ihre Vergangenheit aus?«
»Darüber gibt es nichts … aber beim Verhör nach ihrer Verhaf
tung auf Hallowcan hat sie behauptet, siebenunddreißig Jahre alt
und auf Gudrun geboren zu sein.«
»Interessant …«, sagte ich. »Wir sollten ihre Einzelheiten mit
den Unterlagen der planetaren Meldeämter vergleichen und …«
»Ich glaube, du bezahlst mich dafür, gründlich zu sein, Gregor«,
sagte Aemos mürrisch. »Das habe ich bereits getan. Hier gibt es
keine Aufzeichnungen über sie. Tatsächlich gibt es niemanden auf
Gudrun mit dem Namen Tarray oder Tari. Auf anderen Welten
hingegen schon. Tatsächlich zu viele, um von Nutzen zu sein.«
»Also, Gelehrter«, sagte Crezia, »was beunruhigt Sie wirklich?«
Aemos trank noch einen Schluck Wein und legte eine Datentafel
auf den Tisch. »Bei den Namen kam ich nicht weiter, also habe
ich mir etwas anderes vorgenommen. Ich habe mir die Nachrich
ten aus dem gesamten Subsektor vorgenommen und sie nach
gewissen Schlüsselwörtern durchforstet. Das wird euch nicht ge
fallen.«
Ich las die Tafel, und mein Herz verwandelte sich in kalten
Stein. Auf der Tafel waren Nachrichten von mehreren Planeten
des Subsektors gespeichert. Kleine Meldungen, von denen die
meisten nicht über den Status regionaler Nachrichten hinauska
men. Jedenfalls hatten die Ereignisse keine planetare und schon
gar keine interplanetare Bedeutung. Aemos hatte sie nur ent
deckt, weil er im Nachrichtenkompendium des Imperiums speziell
danach gesucht hatte.
Der erste Bericht war der über die Explosion auf Messina. Mes
sina Primus, die Hauptmakropole, Turm elf. Die Explosion hatte
sich um zehn Uhr fünfzig Ortszeit ereignet. Das war erschre
ckend. Meiner Schätzung nach hatte der Angriff auf Haus Spaeton
unter Berücksichtigung der siderischen Unterschiede etwa um
diese Zeit begonnen. Die Explosion hatte die obersten zehn Eta
gen des Turms eingeäschert. Die Anzahl der Todesopfer wurde
mit elftausendsechshundert angegeben. Der Gouverneur hatte
den Notstand ausgerufen.
Eine lange Liste der zerstörten Firmen und Besitzungen war an
gehängt. Mitten auf der zweiten Seite fand sich auch das Dom
Institut, der Name, unter dem das Femininum öffentlich bekannt
gewesen war.
Keine Überlebenden. Es hätte wohl Zufall sein können, aber ich
glaubte nicht daran. Was bedeutete, mein Feind, dieser Kand
schar der Scharfe, hatte nicht gezögert, viele Tausend Zivilisten
zu töten, nur um das Femininum auszuschalten.
In der Datei hieß es, eine geächtete Bewegung, die sich Spröss
linge Messinas nannten, habe die Verantwortung für den Anschlag
übernommen. Diese Gruppe, so hieß es, wolle die Unabhängigkeit
Messinas vom Imperium erzwingen.
Was natürlich Unsinn war. Messina war so imperial wie eine Pla
netenkultur nur sein konnte.
Der zweite Bericht auf der Tafel stammte von Cartol. Eine Fami
lie auf Urlaub unterwegs in der Provinz Kona war von unbekann
ten Schützen ermordet worden. Zwei Männer und drei Frauen.
Identitäten sollten gleich nach ihrer Ermittlung folgen. Die Behör
den auf Cartol schätzten die Todeszeit auf zwischen zehn Uhr und
Mitternacht zwei Tage zuvor.
Ich hatte meinen Agenten Leres Phinton mit Biron Fäkal, Loys
Naran und zwei Unberührbaren vor fünf Monaten nach Cartol ge
schickt, um Beweise im Zusammenhang mit einem Todeskult in
der Region Kona zu suchen. Sie hatten sich regelmäßig gemeldet
und Bericht erstattet. Lieber Gott-Imperator …
Ich sprang zur nächsten Meldung. Von Thracian Primaris. Ein
Privathaus in Makropole Zweiundsechzig war kurz vor Mitternacht
durch einen Bombenanschlag zerstört worden. Acht Tote, nicht
identifiziert. Als Adresse wurde Zweiundsechzig, Zentrum, Ebene
114, 871 angegeben, was die Adresse meiner Zweigniederlassung
war, die ich auf der Hauptwelt des helicanischen Subsektors un
terhielt. Barned Ferrikal, der seit dreißig Jahren für mich arbeite
te, führte das Büro mit einem Stab von sieben Personen.
Die nächste Meldung. Hesperus. Zwei Männer bei einem Feuer
gefecht mit einer Jugendbande getötet. Kurz vor Mitternacht, vor
einer Woche. Sie hätten sich in den falschen Teil der Stadt verirrt,
hatte ein Sprecher der Arbites gesagt.
Lutor Witte und Gan Blaek, zwei der fähigsten verdeckten Er
mittler, die ich hatte, waren seit einem Jahr auf Hesperus aktiv,
um einen Kult Tzeentchs aufzuspüren, der sich seine Opfer unter
den Jugendlichen der Untermakropole suchte.
Als Nächstes kam Sarum, Hauptwelt des Subsektors Antimar.
Einer meiner vielversprechendsten Schüler, Interrogatorin Devra
Shiborr, war gemäß meiner Anweisung vor acht Monaten dorthin
geflogen, um einen Chaos-Ring in der zentralen Universität zu
infiltrieren und bloßzustellen. Sie hatte sich als Doktor Zeyza Bajj
ausgegeben, Historikerin von Punzel.
Der Bericht meldete den Tod, anscheinend durch Selbstmord,
der vielversprechenden Akademikerin Bajj. Ihr Leichnam, seit
ungefähr acht Stunden tot, war zur Chorglocke an eben diesem
Morgen in ihrem Badezimmer entdeckt worden.
Und dann die letzte und schockierendste Meldung, vor einer
Woche im Globalen Nachrichtendienst von Sameter erschienen.
Das Heim von Inquisitor Nathun Inshabel war von einem nicht
identifizierten Feind angegriffen und vernichtet worden. Inshabel
gehörte zu den Toten.
Ich lehnte mich zurück. Alle sahen mich an. Aemos hatte das
Kinn auf die Hände gestützt, und die beiden Frauen starrten mich
mit ängstlicher Geduld an.
»Sie sind alle tot«, sagte ich. »Jeder. Mein gesamter Stab. Mein
Haus hier, das Hauptquartier des Femininums und alle Agenten,
die aktiv im Feld tätig waren. Jeder Einzelne. Alle praktisch
gleichzeitig am gleichen Wochentag ermordet.«
Meine Stimme verlor sich. Ich war zu schockiert. Crezia schenk
te mir ein Glas Amasec ein und nahm sich selbst auch eins.
Alles zerstört. Die Organisation, die ich über Jahrzehnte aufge
baut hatte, die Freunde und Verbündeten, die ich gefunden hatte
… in einer Nacht ausgelöscht. Meine sämtlichen sichtbaren Hilfs
mittel waren identifiziert, aufs Korn genommen und eliminiert
worden. Abgesehen von Fischig, der zu uns unterwegs war, gab
es nur noch uns.
Mehr als alles andere fühlte ich mich aller Verbindungen be
raubt. Das Netzwerk aktiven Personals, das ich seit Beginn mei
ner Laufbahn errichtet hatte, war mir brutal genommen worden.
Ich war allein.
Ich wollte nichts … nicht mehr, als diesem Kandschar dem
Scharfen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten und ab
rechnen.
Ich ging zu Bett, ohne den Amasec anzurühren, und schlief un
ruhig. Mitten in der Nacht schrak ich aus einem Traum, an den ich
mich zuerst nicht erinnern konnte. Als ich wach in der Dunkelheit
lag, fielen mir die Einzelheiten langsam wieder ein. Ich hatte von
der Flucht aus Spateon geträumt. Medea und Jekud Vance hatten
mich gerufen und mich angefleht, sie zu retten. Ich konnte mich
noch an das Gefühl erinnern, Medeas Hand genommen und Vance
die andere hingehalten zu haben, der mich jedoch nicht ganz er
reichen konnte. Die Janitscharen schossen ihn nieder und schnit
ten ihn mit ihren Laserstrahlen förmlich in Stücke. Sein psioni
scher Todesschrei war mir wie ein heißer Draht durch den Kopf
gefahren, und das hatte mich geweckt. Oder nicht?
Um vier erwachte ich erneut. Die Nacht war still bis auf das Zir
pen der Berggrillen.
Irgendwas stimmte nicht. Ich stand auf, holte die Autopistole
unter der Matratze hervor und schlich mich zur Treppe.
Ich hörte Aemos in seinem Zimmer schnarchen und das ent
fernte Seufzen der schlummernden Crezia.
Eleenas Tür war offen.
Ich schaute hinein. Das Bett war leer, und die Decke lag auf
dem Boden.
Ich schlich mit dem Rücken zur Wand durch den Flur, die Waffe
in beiden Händen und erhoben, beinahe, als bete ich. Unter der
nächsten Tür fiel Licht durch. Das Badezimmer.
Ich hörte Wasser gurgeln, und plötzlich überflutete mich Licht,
als sich die Tür öffnete.
Ich legte die Waffe an.
»O Gott! Goldener Thron, Herr Inquisitor! Was machen Sie …«
Ich legte Eleena eine Hand über den Mund und zog sie in den
Schatten.
»Du hast mich zu Tode erschreckt«, flüsterte sie, als ich sie los
ließ.
»Verzeih.«
»Ich wollte nur ins Badezimmer.«
»Verzeih. Irgendwas stimmt nicht.«
»Gregor? Was soll der Lärm?«, tönte Crezias Stimme durch den
Flur.
»Geh wieder in dein Zimmer!«, zischte ich.
Auf die für Crezia Berschilde typische Art tat sie genau das Ge
genteil. Sie verknotete den Gürtel ihres seidenen Morgenmantels,
während sie zu uns kam.
»Was ist hier los, verdammt?«
»Halt zur Abwechslung einfach mal die Klappe, Crezia«,
schnauzte ich.
»Na, entschuldige zur Hölle und zurück.«
Ich schob sie beide hinter mich und schlich mich zur Tür des
Gefangenenzimmers.
»Hübscher Hintern«, sagte Crezia. Ich trug nur eine Unterhose.
»Könntest du einen Moment ernst sein?«, knurrte ich zurück.
»Bitte, Doktor«, drängte Eleena. »Das ist ernst.«
Die Tür war geschlossen und dunkel.
»Siehst du?«, sagte Crezia. »Kein Problem.«
Ich probierte die Klinke und bemerkte, dass nicht abgeschlossen
war. Crezia fuhr zusammen, als ich die Tür auftrat und die Waffe
auf das Bett richtete.
Das leere Bett.
Eleena schaltete das Licht ein. Die zerfaserten Stränge von Tarls
Fesseln waren noch am Bettgestell festgebunden. Er hatte sie
durchgebissen oder durchgescheuert.
»Goldener Thron, er ist verschwunden!«
»O nein …«, murmelte Crezia. »Ich habe ihm die Fesseln doch
nur ganz leicht gelockert.«
»Du hast was?«
»Ich hab’s dir doch gesagt! Ich hab dir gesagt, ich würde mir
deswegen Sorgen machen. Die Blässe seiner Hände und …«
»Du hast mir nicht gesagt, dass du sie ihm gelockert hast!«,
tobte ich.
»Ich dachte, du hättest verstanden, was ich damit meinte!«
Ich lief nach unten. In den unbeleuchteten Flur fiel Mondlicht
durch die halb offenen Eingangstüren.
»Er kann noch nicht weit sein! Was spielt es überhaupt für eine
Rolle?«, rief Crezia mir nach.
Ich trat auf die Straße. Es war niemand zu sehen. Der kühle
Schatten der Nacht breitete sich flüssig auf den Bodenplatten aus.
Tarl, da war ich sicher, war längst über alle Berge.
Ich ging wieder hinein, und Crezia schaltete das Flurlicht ein.
Und schrie.
Phabes saß vornübergebeugt in einer Ecke, als sei er beim Auf
stehen eingeschlafen. Aber er war sehr tot. Seine Kehle war
durchgeschnitten. Eine große Blutlache hatte sich vor seiner hin
gekauerten Gestalt gesammelt.
»Verstehst du jetzt, Crezia? Ja?«, brüllte ich zu ihr hoch.
Tarl war frei. Er wusste, wer ich war und wo ich war. Wir muss
ten weg.
Schnell.
ZWÖLF
Wir ließen den leeren Schweber unter den Bäumen, und sobald
Medea sicher in den weichen Lederpolstern der Kabine verstaut
war, fuhr ich in Richtung Passstraße.
Von Nayl erzählte ich den anderen nichts. Ich wollte ihnen keine
verfrühten Hoffnungen machen.
Bei Einbruch der Nacht folgten wir einer verschneiten Schnell
straße über den Pass nach Ontre. Gruj blieb hinter uns zurück.
Ich glaubte, einen kleinen gelben Schweber im Anflug auf die
Stadt zu sehen, als wir abfuhren, aber er war zu weit weg, um
sicher sein zu können.
Wir fuhren die Nacht durch und wechselten uns am Steuer ab.
Das Wetter war gut, und das Kabinenkom war auf die Wettervor
hersagen eingestellt, um Schneewarnungen mitzubekommen.
Als wir den Nordrand des Mons Fulco erreichten, fuhren wir be
ständig durch Schneeschauer und mussten langsamer fahren und
die Hauptscheinwerfer einschalten. Crezia saß zu diesem Zeit
punkt am Steuer. Sie lebte bereits lange genug in den Bergen,
um zu wissen, was sie zu tun hatte.
Ich döste in der Kabine auf der langen Bank gegenüber der im
mer noch schlafenden Medea. Ich träumte erneut von ihr, von
ihrer Rettung. Wieder kam Jekud Vance in meinem Traum vor
und flehte mich verzweifelt um Hilfe an. Auch diesmal schrie und
bellte er einen psionischen Speer heraus, der mich weckte.
Mein Blick irrte zu Medea, aber ihr Zustand war unverändert.
Eleena schlief in der Nähe. Die Kabine schaukelte und vibrierte im
Straßenlärm, und an den Fenstern flatterten Schneegeister vor
bei.
»Alles in Ordnung, Gregor?«, fragte Aemos.
Er saß auf der Rückbank in der Kabine, von Datentafeln um
ringt.
»Nur ein Traum, aber. Er hat mich schon letzte Nacht geweckt.«
Ich stutzte und richtete mich auf. In der letzten Nacht hatte ich
angenommen, die Geräusche von Tarls Flucht hätten mich hoch
schrecken lassen. Doch nun war es wieder passiert. Der Traum
hatte mich geweckt. Beide Male. Jekud Vances schrecklicher To
desschrei voller Schmerz, Wut und Frustration.
Mitten am Nachmittag rumpelten wir in Ontre ein. Schwere
Schneefälle hatten uns aufgehalten, und die Kupferdächer des
berühmten Urlaubsorts waren vereist. Doch die schweren Schnee
fälle hatten auch die Wintersportler in großer Zahl in die Stadt
getrieben. In dem Ort wimmelte es von Aktivität, die Straßen
waren von Fahrzeugen verstopft und der Himmel fleckig von ein
treffenden Schwebern.
Ich fuhr das Schneemobil auf den Parkplatz des Transkontinen
talbahnhofs von Ontre und fand einen freien Platz. Aemos und ich
gingen in den Bahnhof, wo Torin Gregori Karten für vier zusam
menhängende Schlafabteile kaufte. Der Express wurde in einer
Stunde erwartet, hieß es.
Wie sich das gewaltige Atenategebirge mitten durch Gudruns
größten Kontinent zieht, so zieht sich der Trans-Atenate-Express
wie eine Ader durch das Gebirge. Die Eisenbahn ist für ihre Ro
mantik berühmt. Die meisten, die damit fahren, tun es wegen der
Fahrt, Urlauber, die lieber unterwegs sind, statt anzukommen.
Die jungen Leute scharen sich um Zentren wie Gruj und Ontre
und benutzen sie als Basis für Skifahren und Eislaufen, aber die
Reichen wählen den Trans-Atenate, wo sie gemütlich im Luxus
sitzen und Gudruns spektakulärste Landschaft draußen am Fens
ter vorbeiziehen sehen.
Um fünf Uhr fuhr die große, verchromte, prometheum
getriebene Lokomotive mit einer Kette von zehn Doppeldecker-
wagen in Ontre ein. Träger halfen uns, Medea an Bord zu bringen.
Unsere Abteile in der oberen Etage von Wagen drei waren erster
Klasse und geräumig. Wir brachten Medea in einem unter, Crezia
und Eleena rechts und links von ihr. Über und ich teilten uns das
vierte. Es gab Verbindungstüren zwischen den Abteilen, und alles
war mit poliertem Ahornholz furniert.
Der Express tutete, verließ Ontre und erklomm mit kräftigem
Zug die Steigung zum Fonettepass. Die riesige silberne Bestie
erreichte auf flachen Streckenabschnitten bis zu hundertsiebzig
Stundenkilometer.
Ich sah mir den Fahrplan an. Im Laufe der Nacht nach Fonette,
dann ein kurzes Stück nach Locastre, schließlich eine ununterbro
chene Hochgeschwindigkeitsfahrt durch die Majoren des Gebirges
über das Südplateau zur Küste.
Wir würden in etwas unter drei Tagen in Neu-Gevae eintreffen.
Es gab kaum ein Gefühl der Bewegung: eine leichte rollende
Vibration, die man nach kurzer Zeit nicht mehr bewusst spürte.
Die Wagen waren robust, dickwandig, geheizt und vor der Kälte
des Gebirges geschützt, aber der Nebeneffekt war, dass praktisch
kein Geräusch mehr von außen hereindrang. Von der gewaltigen
Lokomotive, auf dem Bahnsteig von Ontre noch ohrenbetäubend
laut, war praktisch nichts mehr zu hören. Nur wenn der Express
durch einen Einschnitt oder eine Rinne raste und der Motorenlärm
durch die steilen Seitenwände komprimiert und nach hinten ge
lenkt wurde, hörten wir überhaupt ein Flüstern.
Bei herabgezogenen Fensterjalousien hätte ich mich auch da
heim in einem gemütlichen Salon befinden können.
Solange es Tageslicht gab, ließ ich die Jalousie oben und wurde
mit einem Panoramablick auf den Pass belohnt, die im Sonnenun
tergang rosig und weich aussehenden Schneefelder und die
schroffen Eisklippen mit ihren harten Schatten, die immer wieder
von Auswüchsen aus schwarzem Fels unterbrochen wurden. Ab
und zu huschte beiger Dampf von der Lokomotive an den Fens
tern vorbei und versperrte die Sicht.
In langsamen Kurven konnte man sich aus dem Fenster lehnen
und die verkürzten Seiten des Wagens und des Zuges voraus se
hen, segmentiert wie eine große Schlange, während der Chrom
und die blauweiße Lackierung das letzte Sonnenlicht einfingen.
Zweimal begleitete uns ein langer springender Schatten des Zu
ges neben uns im Schnee.
Die Nacht brach herein, und das Panorama verdunkelte sich. Ich
zog die Jalousie herunter. Aemos döste, also erwog ich einen
Spaziergang durch den Zug, um mich mit ihm vertraut zu ma
chen.
Die Verbindungstür öffnete sich, und Crezia kam herein. Sie
trug ein graues Satingewand mit eng geschnürtem Plissee-
Einsatz, der vom hohen Kragen bis zum Bund des gerafften Rocks
verlief. Ein Pelzmuff lag über einem Arm, und sie hatte die Haare
hochgesteckt.
Ich erhob mich beinahe automatisch von meinem Sitz.
»Nun?«, fragte sie.
»Du siehst … umwerfend aus.«
»Ich meinte ›nun‹ wie: Wird es nicht Zeit, dass du mich zum
Abendessen begleitest?«
»Abendessen?«
»Die Hauptmahlzeit des Tages? Normalerweise irgendwann zwi
schen Mittagessen und Schlaftrunk anzusiedeln?«
»Ich bin mit dem Konzept vertraut.«
»Gut. Wollen wir?«
»Wir laufen um unser Leben. Hältst du das für den richtigen
Zeitpunkt?«
»Ich kann mir keinen besseren vorstellen. Wir laufen um unser
Leben, Gregor, und zwar im exklusivsten und opulentesten aller
Reisemöglichkeiten, die Gudrun zu bieten hat. Wenn wir schon
um unser Leben laufen, schlage ich vor, wir tun es stilsicher.«
Ich ging ins Badezimmer und zog die präsentabelste. Kleidung
an, die ich bei mir hatte. Dann hakte sie sich bei mir ein, und wir
schlenderten durch den Niedergang zum Speisewagen, drei Wa
gen weiter hinten.
»Hast du diese Kleidung mitgebracht?«, fragte ich leise, wäh
rend wir dem indirekt beleuchteten, mit Teppich ausgelegten
Gang folgten und dabei anderen gut gekleideten Passagieren be
gegneten, die aus dem Speisewagen kamen.
»Natürlich.«
»Wir sind in aller Eile aufgebrochen, und du hast so ein Kleid
eingepackt?«
»Ich dachte, ich sollte auf alles vorbereitet sein.«
Der Speisesaal befand sich im Oberdeck des sechsten Wagens.
Kristalllüster hingen an der Kuppeldecke, und die Decke selbst
bestand aus Panzerglas. Er diente außerdem als Aussichtssalon,
obwohl im Moment nur sternenbedeckte Schwärze zu sehen war.
Ein Streichquartett spielte unaufdringlich an einem Ende, und
der Saal füllte sich langsam. Leise Musik lag in der Luft, dazu das
Klirren von Silberbesteck und leises Stimmengewirr. Diskrete
Giftsensoren schwebten wie Glühwürmchen über jedem Gedeck.
Ein uniformierter Zugbegleiter führte uns zu einem Tisch auf der
linken Fensterseite.
Wir studierten die Speisekarte. Mir ging auf, wie hungrig ich
war.
»Wie oft, was meinst du?«, fragte sie.
»Wie oft was?«
»Vor Jahren, als wir zusammen waren. Du hast mich immer in
Ravello besucht, verstohlen, wie es deine Art ist. Wie oft habe ich
vorgeschlagen, dass wir einmal den Express durch das Gebirge
nehmen?«
»Du hast es erwähnt, ja.«
»Aber getan haben wir es nie.«
»Nein, haben wir nicht. Das bereue ich.«
»Ich auch. Ich finde es irgendwie traurig, dass wir es jetzt aus
Notwendigkeit tun. Obwohl ich mir hätte denken können, dass ich
dich nur zu einer romantischen Reise wie dieser bewegen kann,
wenn du dazu gezwungen bist.«
»Aus welchem Grund auch immer, jetzt sind wir hier.«
»Ich hätte dir vor Jahren eine Pistole an den Kopf halten sol
len.«
Wir bestellten Potage Velours, gefolgt von Lende vom Tiefland
runka mit Kräutergemüse und Waldpilzragout und dazu einen
Château Xandier von Sameter, der, wie ich mich noch erinnerte,
zu ihren Lieblingsweinen zählte.
Die Suppe, die mit köstlichem Kapaun und einem Hauch von
Weißwein und gerösteten Zwiebeln in breitrandigen weißen Tel
lern mit dem Wappen der Transkontinental-Gesellschaft serviert
wurde, war samtig und praktisch perfekt. Die Runkaiende, einfach
in der Pfanne in Amasec gebraten, war blutig und untadelig. Der
Xandier, trocken und dann würzig im Abgang, ließ sie in Erinne
rungen schwelgen und lächeln.
Wir unterhielten uns. Wir hatten Jahrzehnte auszufüllen. Sie er
zählte von ihrer Arbeit und ihrem Leben, dem Interesse an Xeno-
Anatomie, das sie entwickelt hatte, den Monografien, die sie ge
schrieben hatte, und einem neuen Verfahren für Muskelverpflan
zungen, an dessen Entwicklung sie maßgeblich beteiligt gewesen
war. Sie hatte sich zur Entspannung dem Spinettspiel zugewandt
und mittlerweile bis auf zwei alle Studien Guzellas gemeistert. Sie
hatte ein Buch geschrieben, eine Abhandlung über die verglei
chende Analyse von Skelettdimorphismen bei frühmenschlichen
Biotypen.
»Ich hätte dir beinahe ein Exemplar geschickt, aber ich hatte
Angst, das könnte mir falsch ausgelegt werden.«
»Ich besitze eine Erstausgabe«, gestand ich.
»Wie loyal! Aber hast du sie auch gelesen?«
»Zweimal. Deine Kritik an Terkssons Arbeit über die Fundstellen
auf Dimmamar-A ist überzeugend und ziemlich vernichtend. Ich
bin nicht ganz mit deinen Kapiteln über Tallarnopithizän einver
standen, aber wir haben schon immer über die ›Außerhalb
Terras-Hypothese‹ gestritten.«
»Richtig. Du warst in dieser Hinsicht schon immer ein Ketzer.«
Ich hatte das Gefühl, ihr viel weniger zurückgeben zu können.
In meinem Leben hatte es in den letzten Jahren so viel gegeben,
das ich ihr nicht erzählen konnte oder durfte. Also erzählte ich ihr
stattdessen von Nayl.
»Der Mann ist vertrauenswürdig?«
»Absolut.«
»Und du bist sicher, dass er es auch ist?«
»Ja. Er benutzt Glossia. Das Schöne an diesem Code ist seine
individuelle Idiomatik. Außenseiter können ihn weder knacken
noch benutzen oder verstehen. Man muss lange in meinen Diens
ten gestanden haben, um die Grundlagen seiner Funktionsweise
zu verstehen.«
»Dieser Leibwächter. Der dein Haus verraten hat.«
»Kronsky?«
»Ja. Er stand in deinen Diensten.«
»Nicht lange. Auch wenn er ein paar Grundlagen aufgeschnappt
hätte, könnte er mich nicht lange täuschen, wenn er Glossia be
nutzen würde.«
»Also werden wir gerettet?«
»Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, den Planeten
zu verlassen.«
»Gregor, ich glaube, diese gute Nachricht schreit nach einem
ausschweifenden Dessert.«
Der Kellner brachte uns Ribaude Nappe, klebrig und süß, gefolgt
von aromatischem Kaffein von Hesperus und als Digestif einen im
Eichenfass gereiften Amasec und einen Pascha für sie.
Mittlerweile lachten wir zusammen.
Es war ein wunderbares Abendessen und ein ebenso wunderba
rer Abend in hinreißender Gesellschaft. Bis zum heutigen Tag ha
be ich nichts Vergleichbares erlebt.
Ich wurde durch den Ruck des Anhaltens kurz nach Morgeng
rauen geweckt. Draußen ertönte ein Pfeifsignal, durch den Wagen
gedämpft, dann war das entfernte Gemurmel von Männerstim
men zu hören.
Langsam glitt ich aus dem Bett und gab mir dabei alle Mühe,
Crezia nicht zu stören. Sie schlief noch tief und fest, obwohl sie
sich umdrehte und murmelnd auf den auskühlenden Platz über
griff, den ich soeben verlassen hatte.
Ich versuchte meine Kleidung zu finden. Sie lag verstreut auf
dem Boden, und da die Jalousie heruntergelassen war, musste ich
mich auf meinen Tastsinn verlassen.
Ich hob die Jalousie mit einem Finger und schaute nach drau
ßen. Es war bereits hell, das Licht war kalt und farblos. Draußen
war ein Bahnhof, und Leute tummelten sich auf dem verschneiten
Bahnsteig.
Wir waren in Fonette angekommen.
Ich zog mich zitternd an. Nun, da der Zug angehalten hatte und
der Motor nur im Leerlauf drehte, kam kühlere Luft aus den Heiz-
schlitzen.
Ich öffnete die Tür, warf noch einen letzten Blick zurück und
glitt dann hinaus. Im Schlaf hatte sich Crezia zusammengerollt
und in die Laken eingewickelt und so die Kühle und die Welt aus
geschlossen.
Draußen war es eiskalt und sehr hell. Der breite Bahnsteig war
voller Passagiere, die ein- oder ausstiegen, und Servitoren, die
Gepäckpyramiden beförderten.
Es schneite leicht. Ich schlug die Arme um den Körper und
stampfte mit den Füßen. Mehrere andere Reisende waren ausges
tiegen, um sich die Beine zu vertreten.
Der Bahnhof in Fonette belegte eine erhöhte Fläche über der
Stadt, die im Norden vom Mons Fulco überschattet wurde und im
Süden von den Uttes, Minor und Major, und schließlich vom wol
kenverhangenen Zentralmassiv.
»Wie lange haben wir Aufenthalt?«, fragte ich einen vorbei
kommenden Träger.
»Zwanzig Minuten, mein Herr«, erwiderte er. »Gerade lange
genug für einen Personalwechsel und das Befüllen des Tenders
mit Wasser.«
Nicht lange genug für einen Ausflug in die Stadt, überlegte ich.
Ich verharrte auf dem Bahnsteig, bis die Pfeife wieder zum Ein
steigen aufforderte, und blieb dann im Gang stehen und lehnte
mich aus dem Türfenster, als der Zug den Bahnhof verließ.
Das Bahnhofsgebäude glitt vorbei und gab den Blick auf die
Stadt darunter frei, die vom Bahnsteig aus nicht zu sehen gewe
sen war. Steile, verschneite Dächer, eine Kirche des Ministorums,
ein solides Blockhaus der Arbites. Ein Landeplatz unterhalb des
Bahnhofs mit geparkten Schwebern, deren Batterien aufgeladen
wurden.
Einer von ihnen war klein und gelb. Ich ging in Crezias Kabine
zurück, zog Jacke und Stiefel aus und legte mich neben sie, bis
sie aufwachte. Sie drehte sich um und küsste mich auf den Mund.
»Was machst du?«, fragte sie verschlafen.
»Den Fahrplan prüfen.«
»Ich glaube nicht, dass es auf dieser Strecke Änderungen gibt.«
»Nein«, stimmte ich zu. »In etwa vier Stunden erreichen wir Lo
castre. Da haben wir einen längeren Aufenthalt. Fünfundvierzig
Minuten. Dann die lange Etappe nach Neu-Gevae.«
Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Verschlafen und
entspannt war sie schöner denn je.
»Und?«, fragte sie.
»Ich prüfe dort das astropathische Konto. Dort ist genug Zeit.«
Es klopfte an die Tür. Es war der Kabinensteward mit einem vol
len Servierwagen. Als Letztes hatten wir in der Nacht zuvor ein
üppiges warmes Frühstück bestellt.
Nun, nicht ganz als Letztes.
DREIZEHN
Locastre.
Vollbremsung.
Ende der Fahnenstange.
Wir trafen mit über einer Stunde Verspätung in Locastre ein. Für
die Jahreszeit ungewöhnliche Schneestürme waren von Osten
durch die Uttes gefegt, und der Express war praktisch nur noch
im Schritttempo vorangekommen. Auf steilen Anstiegen durch die
Pässe bestand Rutschgefahr, und wir spürten ab und zu einen
Ruck, wenn die Wagenräder auf den vereisten Schienen durch
drehten. Auf einem geraden Abschnitt westlich des Utte Major
gab es einen zehnminütigen Aufenthalt, als die Besatzung des
Zuges ausstieg und den Schneepflug an der Nase der Lokomotive
anbrachte. Da waren wir bereits mitten im Schneesturm, und
durch das Fenster sah man nur noch einen farblosen Wirbel.
Ich ging ans Ende des Wagens und lugte durch ein Fenster.
Schwarze Flecken bewegten sich in dem weißen Dunst, manche
davon im Licht von flackernden grünen oder roten Fackeln. Ich
spürte mehrere Rucke und metallische Schläge durch den Boden
unter mir fahren.
Der Wagenlautsprecher informierte uns ruhig, dass wir bald
weiterfahren würden und das Wetter keine Gefahr sei und be
schwichtigte uns mit der Neuigkeit, dass im Speisesaal kostenlos
heißer Punsch ausgeschenkt werde. Unnötigerweise in teure Pelze
gehüllt, kamen andere Passagiere, um durch die fleckigen Fenster
zu schauen, während sie sich murmelnd unterhielten und in aben
teuerlichen Spekulationen ergingen.
Ich kehrte in das Abteil zurück, das ich mir mit Aemos teilte,
versperrte die Türen und setzte mich zu ihm. Ich trug ihm meine
Theorie vor.
»Pontius Glaw …«, spien seine alten Lippen den Namen aus.
»Pontius Glaw …«
»Es passt zusammen, oder nicht?«
»Nach allem, was du erzählst, Gregor. Obwohl ich natürlich
kaum etwas darüber weiß, was zwischen dir und diesem Unge
heuer auf Cinchare vorgefallen ist.«
Wir waren die Schurkerei von Pontius Glaw und seiner giftigen
Brut zuerst genau hier auf Gudrun im Jahr 240 angegangen, vor
Urzeiten, wie es schien. Damals war Glaw, ein berüchtigter Ket
zer, bereits seit zwei Jahrhunderten tot gewesen, nachdem Inqui
sitor Angevin seinen obszönen Aktivitäten ein Ende bereitet hatte.
Aber Glaws Intellekt und Persönlichkeit waren von seiner noblen
Familie in einem psi-empfindlichen Kristall konserviert worden.
Wir hatten die Versuche Haus Glaws vereitelt, ihn zu körperlichem
Leben zu verhelfen, und danach hatte ich den Kristall zur Aufbe
wahrung bei meinem alten Verbündeten Magos Geard Bure von
den Adeptus Mechanicus gelassen.
Ein Jahrhundert später, im Jahre 340, hatte ich Bures abgelege
ne Feste auf der Bergbauwelt Cinchare im Zuge der Quixos-Affäre
wieder besucht, um mir von seinem Gefangenen arkane Informa
tionen bezüglich Dämonenwirte zu beschaffen. Ohne Pontius
Glaws’ finsteres Wissen wäre ich niemals in der Lage gewesen,
Quixos und seine versklavten Dämonen Prophaniti und Cherubael
auszulöschen.
Aber ich war gezwungen gewesen, mit Glaw zu verhandeln. Ihn
für seine Mühe zu entschädigen. Der Köder, den ich ihm als Ge
genleistung für seine Hilfe vorhielt, war mein Wort, ich werde
Bure veranlassen, einen Körper für ihn anzufertigen.
Und weil ich ein Mann von Ehre bin, hielt ich mein Wort. Ich
glaubte, auch wenn Glaw wieder über Mobilität verfüge, werde er
Geard Bures Zugriff niemals entwischen können.
Anscheinend hatte ich mich diesbezüglich geirrt.
In diesen privaten Gesprächen auf Cinchare hatte Glaw mir von
dem Ereignis erzählt, das ihn, den kultivierten Sprössling eines
der geachtetsten Adelshäuser von Gudrun, zu einem Anbeter des
Warps gemacht hatte.
Es war auf Quenthus Acht, im Jahre 019. Glaw hatte die dorti
gen Amphitheater aufgesucht, um Gladiatoren für sein Kampfgru
benhobby zu kaufen. Schon vor seinem Fall war er ein grausamer
Mann gewesen. Er hatte jemanden gekauft, einen Krieger von
einer abgelegenen wilden Welt … Borea, erinnerte ich mich. Dar
auf bedacht, seinem neuen Herrn zu gefallen, hatte der Krieger
Glaw seinen Halsring geschenkt. Es war ein Familienerbstück von
der wilden Welt, und weder dem Krieger noch Glaw war klar ge
wesen, dass es auf übelste Weise mit dem Makel des Chaos be
haftet war. Glaw hatte ihn angelegt und war ihm sofort ins Netz
gegangen. Diese eine simple Handlung hatte sein Schicksal be
siegelt und ihn in ein götzendienerisches Ungeheuer verwandelt,
das den Helicanischen Subsektor beinahe zwei Jahrzehnte plagte.
Ich gab Aemos eine Zusammenfassung.
»Es scheint alles zusammenzupassen. Ich nehme an, du
glaubst, dass Pontius Glaw aus seinem Gefängnis auf Cinchare
entkommen ist, sich eine Streitmacht aufgebaut und dich jetzt
aufs Korn genommen hat, um Rache zu nehmen?«
»Rache? Nein … nun ja, vielleicht indirekt. Er würde sich gewiss
an mir rächen wollen, aber das Ausmaß seines Angriffs, die Mühe,
die umfassende Vorgehensweise … jeder Bestandteil meines Un
ternehmens und auch noch Inshabel.«
Aemos zuckte die Achseln. »Inshabel war mit uns auf Cincha
re.«
»Genau das meine ich. Pontius versucht alle zu vernichten, die
von seiner Existenz wissen könnten. Im Imperium hält man ihn
lange für tot. Wir stellen eine Bedrohung für ihn dar, allein da
durch, dass wir von ihm wissen.«
Ich sah, dass Aemos etwas auf dem Herzen hatte, das er nicht
sagen wollte. »Aemos?«
»Nichts, Gregor.«
»Alter Freund?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sprich es ruhig aus. Pontius Glaws Existenz ist nur deshalb ein
Geheimnis, weil ich den Ordos nie darüber informiert habe, dass
es ihn noch gibt. Weil ich den Kristall nie der Obhut des Ordo He
reticus übergeben habe, wie ich es hätte tun sollen. Und er ist
auch jetzt nur frei, weil ich einen Körper für ihn habe bauen las
sen.«
»Nein.« Er stand auf, blinzelte durch das Abteilfenster und ver
suchte, in dem Schneesturm irgendetwas zu erkennen. »Diese
Unterhaltung haben wir schon einmal geführt oder wenigstens
eine ähnliche. Über Cherubael.« Er drehte sich zu mir um. Er war
schon so alt. »Du bist ein Inquisitor des Glorreichen Imperiums
der Menschheit. Du hast dich der Vernichtung des Bösen in jeder
Facette seiner drei klassischen Formen verschrieben: Xenos, Mal
leus, Hereticus. Du stellst dich unvorstellbaren Gefahren. Von
allen Aufgaben, die Imperiumsdiener erfüllen, ist deine die be
schwerlichste. Du musst alle dir zur Verfügung stehenden Waffen
einsetzen, um unsere Kultur zu beschützen, selbst das Arsenal
des Feindes. Und du weißt sehr wohl, dass solche Einsätze
manchmal Konsequenzen haben. Jetzt mögen wir deine Art des
Umgangs mit Pontius Glaw bedauern, aber ohne sie wäre Quixos
nicht zur Strecke gebracht worden. Wir können den ganzen Tag
›hätte‹, ›wenn‹ und ›aber‹ anführen. Die simple Wahrheit ist die,
dass der Sieg seinen Preis hat, und diesen Preis bezahlen wir
jetzt. Das wahre Maß deines Charakters liegt in der Beantwortung
der Frage, was du deswegen unternimmst.«
»Ich berichtige meine Fehler. Ich bringe Pontius Glaw zur Stre
cke.«
»Daran zweifle ich nicht.«
»Ich danke dir, Aemos.«
Er setzte sich wieder. »Diese Tarray-Frau. Wie passt sie ins
Bild?«
Ich zeigte ihm die Einwohnerdaten. »Die Tarrays waren wäh
rend Glaws organischer Lebenszeit eine Familie aus einer niede
ren Kaste. Dann bricht die Linie abrupt ab, taucht aber auf Quen
thus wieder auf. Ich glaube, die Tarrays, oder zumindest ein Tar
ray, gehörte zu Glaws Gefolge, und er hat sie mit nach Quenthus
genommen. In Locastre musst du diesbezüglich Nachforschungen
anstellen.«
»In Locastre? Aber wir haben dort nur fünfundvierzig Minuten
Aufenthalt.«
Ich deutete auf das Fenster. »Wahrscheinlich dauert er bei dem
Wetter länger, aber du musst dich beeilen. Ich werde die Zeit
nutzen, um das Aegis-Konto abzurufen.«
Die Klinke der Verbindungstür bewegte sich auf und ab.
»Gregor?« Das war Crezia.
»Warum hast du dich eingeschlossen?«, rief sie durch die Tür.
»Ich bespreche nur ein paar Dinge mit Aemos.«
»Im Speisesaal wird heißer Punsch serviert. Ich dachte, wir
könnten uns unters Volk mischen.«
»In einer Minute«, rief ich. Es gab einen Ruck, und der Zug
setzte sich wieder in Bewegung.
Ich sah Aemos an. »Worüber wir gesprochen haben … das bleibt
unter uns. Noch. Crezia braucht es nicht zu wissen, und Eleena
auch nicht.«
»Meine Lippen sind versiegelt«, sagte er.
Wie ließen den Schneesturm hinter uns und fuhren auf einer nur
noch leicht ansteigenden Strecke in Locastre ein. Es war beinahe
Mittag. Das schlechte Wetter lauerte wie eine graue Wand hinter
uns und verhüllte die Uttes, aber die Wetterberichte kündigten
an, es werde ins Tal ziehen.
In Locastre verkündeten die Träger einen neunzigminütigen
Aufenthalt.
Ich trug Eleena auf, dafür zu sorgen, dass der Express nicht ab
fuhr, solange Aemos und ich nicht zurück waren.
Locastre liegt in einem von Gletschern gegrabenen Tal. Die al
ten Häuser sind aus dunkelgrauem Granit, und Höhe und Klima so
beschaffen, dass die Straßen durch geheizte Drucktunnel aus
Panzerglas geschützt sind. Ich mietete eine Servitor-Sänfte und
ließ mich durch die warmen, feuchten Straßentunnel tragen, auf
deren transparenten Dächern ominöse Schneewehen lagen.
Vor der Niederlassung der Astropathischen Gilde trug ich ihm
auf zu warten und ließ als vertrauensbildende Maßnahme meinen
Kredstab in seinem Beförderungsmeter. Er kauerte sich tief auf
sein spinnengliedriges Chassis und ließ Dampf aus seiner Hydrau
lik ab.
Auf dem Aegis-Konto erwartete mich eine Nachricht von Nayl.
Er war gut vorangekommen und bereits in Neu-Gevae eingetrof
fen. Plätze auf einem Frachter namens Caucus waren bereits ge
bucht. Er war erpicht darauf, mich zu sehen.
Nayls Nachricht war in Glossia, und ich antwortete ebenso.
Wenn das Wetter mitspielte, würden wir in zwei Tagen in Neu-
Gevae eintreffen. Bei der Ankunft würde ich ein Treffen mit ihm
arrangieren.
»Ist das alles, mein Herr?«, fragte der Adept, der mich bedien
te.
Ich erinnerte mich an Crezias Bemerkungen beim Abendessen,
ob Nayl vertrauenswürdig sei. Ich fügte noch eine Zeile hinzu, in
der ich andeutete, die Situation erinnere mich an die Klemme, die
wir vor Jahren gemeinsam auf Eechan im Kampf gegen Beidame
Sadia durchgestanden hätten.
»Senden Sie das bitte«, sagte ich.
Im Bahnhof ließ der Express sein Horn tuten.
Der Ruck bewirkte, dass ich mir den Kopf an der Seitenwand
des Bettes stieß, und weckte mich so rechtzeitig, dass ich noch
zwei weitere Rucke spürte, bevor der Zug anhielt.
Es war beinahe drei Uhr morgens und stockdunkel. Ich konnte
die Eisnadeln wie Kleinkalibergeschosse gegen das Kabinenfens
ter prasseln hören.
Bisher war jedes Anhalten sanft und glatt gewesen, nicht so wie
jetzt.
Aemos war ebenfalls aufgewacht und richtete sich auf, als ich
die Nachttischlampe einschaltete und Barbarisater umschnallte.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts, hoffe ich.« Die Verbindungstür öffnete sich, und Eleena
schaute herein.
»Habt ihr das gespürt?«, fragte sie schläfrig.
»Such deine Pistole«, sagte ich.
Wir weckten Crezia und gingen alle drei in Medeas Abteil. Crezia
sah verdattert und beunruhigt aus. Eleena war mittlerweile hell
wach und prüfte das Magazin der Waffe.
Ich legte Aemos’ Überwurf an, um meine eigenen Waffen zu
verbergen.
»Bleibt hier und seid wachsam«, sagte ich und verließ dann die
Verbindungssuite durch die Tür zu meinem Abteil.
Im düsteren Gang konnte ich Bewegung in den anderen Abtei
len hören, leise Stimmen und das gelegentliche Summen eines
Rufknopfes, wenn ein besorgter Passagier versuchte, einen Zug
begleiter zu rufen.
Ich ging sofort durch den Wagen zur Monitoranzeige, als ich die
beiden roten Lämpchen inmitten der grünen leuchten sah.
Ich öffnete die Glasabdeckung der Anzeige und hielt meinen
Siegelring auf das Lesegerät. Die inquisitorischen Zugangscodes
in meinem Siegelring überwanden rasch die Sperren in den Cogi
tator-Systemen der Transkontinental-Linie und verschafften mir
Zugang zum Hauptsystem.
Der kleine Bildschirm des Monitors erwachte und zeigte benut
zerfreundliche Grafiken und Datenkolonnen. Ich verlangte eine
Erläuterung der roten Lämpchen.
Fehlercode 88 Strich 508 - systematisches Ansprechen aktiver
Bremseinheiten in den Wagen sieben bis zehn mit anschließender
automatischer Vollbremsung der Haupteinheiten.
Fehlercode 521 Strich 6911 - irreguläre Öffnung der Türenver
riegelung, Tür 34, Wagen acht, Unterdeck.
Ich eilte durch das Oberdeck des Zuges nach hinten. Ein paar
Abteiltüren öffneten sich, und ängstliche Gesichter schauten nach
draußen. »Kein Grund zur Sorge!«, rief ich in meinem besten
Transkontinental-Tonfall, den ich durch sanften Einsatz meines
Willens unterstützte. Das Zuschlagen der Türen hinter mir klang
wie ein Trommelwirbel.
In Wagen sechs musste ich wegen des Speisesaals ins Unter
deck wechseln. In Wagen sieben angelangt, sah ich drei Männer
des Zugpersonals den Niedergang in Richtung Wagen acht ent
langeilen.
Im unteren Gang von Wagen acht war es bitterkalt, und es
wehte ein eisiger Wind. Ich sah, wie sechs oder sieben Männer
Schlechtwetterkleidung anlegten und Fackeln anzündeten, um
dann durch die geöffnete Wagentür in die Nacht zu springen. Ein
paar andere standen vor der Überwachungsanzeige, und ein Zug
begleiter sah mich kommen.
»Bitte gehen Sie in Ihr Abteil zurück, mein Herr. Es ist alles in
Ordnung.«
»Was gibt es für ein Problem?«
»Gehen Sie einfach wieder zurück, mein Herr. Welche Abteil
nummer haben Sie? Ich bringe in ein paar Minuten kostenlose
Getränke vorbei.«
»Die hinteren Bremsen haben soeben angesprochen, und Tür 34
ist offen«, sagte ich.
Er blinzelte. »Woher wissen …«
»Was ist los?«
»Mein Herr, ich möchte Ihr Wohlbefinden gewährleisten, wenn
Sie also bitte …«
Ich hatte keine Zeit für eine Debatte. »Was ist los, Inex?«, las
ich seinen Namen von dem Messingschild an seinem Jackenrevers
ab und tränkte meine Worte mit einem Hauch Willenskraft. Ein
Name half immer, den geistigen Zwang zu verstärken.
Er blinzelte. »Die Bremssysteme der hinteren vier Wagen haben
angesprochen, was zu einer Vollbremsung geführt hat«, sagte er
rasch und gehorsam.
»Hat jemand die Notbremse gezogen?«
»Nein. Dann wüssten wir, welche es war, und außerdem hätten
dann alle Bremsen gleichzeitig angesprochen. Wir glauben, dass
es Eis in den hinteren Einheiten ist.«
»Das könnte zu einem partiellen Ansprechen der Bremsen füh
ren?«
»Ja.«
»Was ist mit der Tür?«
»Sie wurde geöffnet, gleich nachdem der Zug zum Stehen ge
kommen ist. Der Chefbegleiter glaubt, es war einer der Maschi
nisten, der die Tür geöffnet hat, um nach den Bremsen zu sehen,
ohne das System zu informieren, dass er die Tür öffnet.«
»Sie wurde nicht gewaltsam geöffnet?«
»Sie wurde von innen geöffnet. Mit einem Schlüssel.« Die Wir
kung meines Willens ließ nach, und sein scherzhafter Tonfall stell
te sich wieder ein. »Wir haben jetzt Personal draußen, das die
Bremsen überprüft.«
»Einschließlich dieses Maschinisten, der angeblich die Tür in
seinem Eifer geöffnet hat, den Fehler zu finden?«
»Davon bin ich überzeugt, mein Herr.«
»Finden Sie es heraus«, sagte ich, indem ich meinen Willen et
was nachdrücklicher einsetzte.
Er lief zur Anzeige zurück, und seine Kollegen traten verwirrt
beiseite, als er sich daran zu schaffen machte.
»Wer hat Zugang zu den Türschlüsseln?«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte einer der anderen.
»Ein besorgtes Mitglied der Öffentlichkeit«, sagte ich, indem ich
den Willen gegen sie alle einsetzte. »Wer hat Schlüssel?«
»Nur Maschinisten ab Rang zwei, Zugbegleiter der Klasse eins
und die Wachen«, stammelte ein anderer eilig bemüht.
»Wie viele Leute sind das?«
»Dreiundzwanzig.«
»Wissen wir von allen, wo sie sich aufhalten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Inex.
»Treten Sie beiseite«, befahl ich und benutzte dann meinen
Ring. Der Zug hatte eine Besatzung von vierundachtzig Personen.
Jedem Besatzungsmitglied war ein subdermaler Peilsender im
plantiert, damit der Zugführer ständig über den Aufenthaltsort
seiner Leute informiert war. Auf der Anzeige war eine schemati
sche Darstellung des Zuges abgebildet, aber der Schirm war so
klein, dass ich hin und her scrollen und mir die Darstellung Stück
für Stück ansehen musste. Leitendes Personal war rot einge
zeichnet, Maschinisten orange, Begleiter grün und Wachen blau.
Hilfspersonal wie Köche, Kellner, Träger und Reinigungskräfte
waren rosa.
Rote und orange Punkte konzentrierten sich im Lokomotivenbe
reich, während die blauen und grünen auf die Waggons verteilt
waren. Das Oberdeck von Wagen neun, wo das Personal unter
gebracht war, war voller rosa Punkte. Ich sah einen Haufen grü
ner und blauer Punkte im rückwärtigen Teil des Unterdecks von
Wagen acht in der Nähe von Tür 34: die Männer rings um mich.
Ein Untermenü listete die orangefarbenen und blauen Lichter auf,
die den Zug verlassen hatten, um die Bremsen zu inspizieren.
In Wagen neun war ein grünes Licht unter den rosafarbenen.
Ich rief mehr Informationen auf. Das grüne Licht gehörte Zugbe
gleiter Erster Klasse Rebert Awins. Er war in seinem Quartier.
Der Express hatte eine Vollbremsung hingelegt, und der gesam
te Stab mit Ausnahme der Hilfskräfte kümmerte sich um den Zug.
Nur Awins nicht.
»Awins ist Klasse eins. Er hat Schlüssel.«
»Das stimmt«, sagte Inex.
»Warum hilft er nicht?«
Alle sahen einander an.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Er hat heute in der Morgenschicht gearbeitet«, sagte einer von
ihnen.
»Ich habe ihn beim Schichtwechsel im Erholungsraum gesehen,
wo er zu Mittag gegessen hat«, fügte ein anderer hinzu.
»Und seitdem?«
Sie schüttelten den Kopf.
»Er hätte um neun Uhr wieder zum Dienst antreten müssen«,
sagte Inex. »Soll ich nach ihm sehen?«
Nein, wollte ich sagen. Weil er tot ist. Aber es hatte keinen
Sinn, sie zu verängstigen.
Ich änderte meine Meinung. »Tun Sie das, Inex.« Ich nahm
dem Mann neben mir sein Kopfhörer-Interkom ab. Er protestierte
nicht. Er bemerkte es nicht einmal.
»Gehen Sie zu ihm und sagen Sie mir, was Sie finden. Kanal …«
Ich studierte den kleinen Ohrhörer des Geräts und stellte den
Sender ein. »… sechs.«
»Das mache ich«, sagte Inex. Als er sich zum Gehen wandte,
berührte ich ihn kurz an der Stirn. Er schauderte. Mein Psi-
Einfluss würde jetzt eine gute halbe Stunde bei ihm bleiben, auch
wenn er nicht mehr in meiner Nähe war.
Inex eilte davon.
Mein Blick fiel auf die Wagentür. Sie war zugezogen worden,
aber das »Ungesichert«-Licht blinkte noch. In der Tür lagen
tauende Brocken schmutzigen Eises auf dem Metallboden.
»Wie viele Leute sind rausgegangen?«, fragte ich.
Einer von ihnen schaute auf die Anzeige. »Zwanzig.«
»Wie viele sind wieder hereingekommen, seit Sie hier sind?«
»Keiner«, sagten alle.
Sie würden mich suchen. Uns. Sie wussten, dass wir im Zug
waren, und sie hatten in Fonette oder Locaste jemand an Bord
gebracht. Jemand, der sich mit Rebert Awins angefreundet, ihn
getötet und dann dessen Schlüssel an sich genommen hatte. Je
mand mit den technischen Fähigkeiten, eine teilweise Bremsung
zu veranlassen, den Zug anzuhalten und dann mit Awins’ Schlüs
sel eine Außentür zu öffnen, um seine Kameraden an Bord zu
lassen.
Jemand, der mittlerweile ganz sicher wusste, welche Abteile wir
belegten.
Ich lief durch das Unterdeck des Zuges zu Wagen drei zurück.
Ich zog Barbarisater aus der Scheide. Es wirkte so deplatziert, mit
einem Schwert durch einen Zug zu laufen. Aber die Abteile rings
um mich waren voller unschuldiger Bürger des Imperiums, und
ich wagte nicht, meine Pistole zu benutzen.
Außerdem wagte ich nicht, das Interkom zu benutzen.
Ich tastete mich psionisch vor. Eleena war eine Unberührbare,
also wandte ich mich an Aemos, Crezia und Medea.
Macht euch bereit. Es gibt Ärger.
Ich passierte mehrere Zugbegleiter im Gang, die sofort alar
miert zurücksprangen, als sie die Klinge sahen.
Vergessen!, befahl ich jedem, wenn ich vorbei war, und sie
machten einfach weiter.
Ich erreichte das vordere Ende von Wagen vier und machte
mich bereit, die Treppe zum Oberdeck zu erklimmen. Ein Trans
kontinental-Zugbegleiter lag bäuchlings mit gebrochenem Genick
auf den Stufen.
In diesem Augenblick heulte mir eine hektische Stimme ins Ohr:
»Er ist tot! Gott-Imperator! Er ist tot! Rebert ist tot! Gebt Alarm!«
Die Alarmsirenen heulten los, und Lichtleisten in der Wand
blinkten orange. Ich sah, dass auf dem Monitor am Wagenende
eine dritte rote Lampe brannte.
Ich hielt meinen Siegelring auf das Lesergerät und rief die In
formation ab.
Fehlercode 946 Strich 2452 - irreguläre Öffnung eines Fensters,
Fenster 146, Wagen drei, Oberdeck.
Ich stieg über den Leichnam des Zugbegleiters hinweg und eilte
die Treppe empor.
Im oberen Gang von Wagen drei war es noch kälter als in Wa
gen acht. Das letzte Fenster auf der linken Seite, direkt neben der
Schleuse zum nächsten Wagen, stand weit offen, und eisige Luft
und Schnee wurden hineingeweht. Das Fenster war mit einer
Energieklinge oder einer Melterlanze aus dem Rahmen geschnit
ten worden.
Die Beleuchtung war schlecht. Düstere, halb abgedunkelte Lam
pen und das Blinken der Alarmlichter. Die Sirenen heulten immer
noch.
Mir ging auf, dass vor mir drei dunkle Gestalten geduckt durch
den Gang schlichen. Aufgrund des Heulens der Sirenen und des
Schneesturms hatten sie mich nicht kommen hören.
Ich drückte mich an die Wand. Barbarisater pulsierte hungrig.
Sogar passiv konnte ich spüren, dass die drei Männer psionisch
abgeschirmt waren. Ihre Silhouetten waren massig. Kampfrüs
tung. Ich sah den hässlichen Schatten eines Sturmgewehrs, als
der vorderste Mann seine Partner nach vorn winkte.
Nach vorn zu den Türen unserer Abteile.
Ich schlich näher.
Der Mann besaß die Professionalität, hinter sich zu schauen,
und sah mich.
Und plötzlich war die Hölle los.
VIERZEHN
Wir gingen in eins der verlassenen Abteile. Ich öffnete die Holz
abdeckung des kleinen Cogitators der Suite, schaltete ihn auf
hololithischen Modus und drückte meinen Siegelring auf das Le
segerät. Das kleine Gerät projizierte ein Hologramm des inquisito
rischen Siegels, von Berechtigungsnachweisen überlagert, dem
ein sich langsam drehendes dreidimensionales Abbild meines
Kopfes folgte.
»Ich bin Inquisitor Gregor Eisenhorn vom Ordos Helican.«
Suko und seine Wachen waren sprachlos.
»Akzeptieren Sie das oder soll ich mich langsam vor Ihnen dre
hen, bis Sie überzeugt sind?«
Der Zugführer sah mich an, so perplex, dass er kaum wusste,
was er sagen sollte. »Verzeihung, Milord«, begann er. »Wie kann
Transkontinental der Arbeit des mächtigen Ordos helfen?«
»Nun, für den Anfang könnten Sie dafür sorgen, dass dieser
Zug bald weiterfährt.«
»Aber …«
Es reichte mir. »Ich bin inkognito unterwegs gewesen. Aber
damit ist es jetzt vorbei. Und wenn ich mich schon als Inquisitor
identifiziere, dann werde ich mich auch wie einer benehmen. Die
ser Zug steht ab sofort unter meinem Kommando.«
Der Express setzte seine Fahrt um fünf Uhr fort, und es gab
keine weiteren Unterbrechungen. Wir donnerten aus der Nacht in
ein moderateres Morgengrauen, in dem das Land zwar schneebe
deckt war, die Schneestürme aber aufgehört hatten.
Suko holte aus der Lokomotive alles heraus, was sich unter Be
rücksichtigung der Sicherheitsbestimmungen machen ließ, um
Zeit aufzuholen. Der Express raste durch die südlichen Ausläufer
des Atenategebirges abwärts durch hügeliges Land und felsige
Gletscherebenen. Wäre ich wach gewesen, hätte ich gesehen, wie
harte Tundra und Geröll langsam in Wald und sommergrünes
Baumland übergingen, und später dann, im strahlenden Licht der
Morgensonne, die ersten kleinen Weiler des riesigen Südplateaus.
Aber ich schlief tief und fest und mit verbundenen Wunden.
Barbarisater schlummerte unruhig an meiner Seite, und Crezia
wachte über mich.
Ich erwachte nach fünf, während der Express immer noch aus
gezeichnet vorankam. Unsere Ankunft in Neu-Gevae wurde um
Mitternacht erwartet. Ich hatte Suko strikte Anweisungen gege
ben, keine Nachricht von unserem Missgeschick vorauszusenden.
Es war wahrscheinlich, dass Pontius es in Neu-Gevae noch ein
mal versuchen würde. Ich studierte die Karte der Zugroute und
erwog, Suko einen unplanmäßigen Halt an einer der Satellitensta
tionen in den Städten nördlich von Neu-Gevae einlegen zu lassen.
Wir konnten aussteigen und einen Schweber mieten, und der Zug
konnte zur Stadt weiterfahren.
Ich überlegte jedoch, mein unerbittlicher und aufmerksamer
Feind könne diesen Zug vorhersehen. Und ich zog außerdem in
Betracht, dass eine Ankunft in der Öffentlichkeit im Bahnhof einer
großen Stadt der sicherere Plan sein mochte.
Ich lag auf der Koje in meiner Kabine und meditierte vor mich
hin, während das Tiefland des Plateaus draußen an mir vorbei
rauschte. Mittlerweile war Medea auf den Beinen, wenn auch un
ter Schmerzen, und humpelte ausgerechnet mit meinem Runen
stab als Krücke umher. Nur sie hatte den Esprit, eine solche Res
pektlosigkeit zu wagen.
Sie humpelte in meine Kabine und ließ sich auf den Rand mei
ner Koje sinken, um sich dann den schmerzenden Rücken zu hal
ten. Crezia schlief in der Koje gegenüber.
»Keinen Moment Langeweile, was?«, sagte Medea.
»Keinen.«
Sie deutete mit einem Kopfnicken auf Crezia. »Sie ist dir nicht
von der Seite gewichen, Gregor. Den ganzen Tag.«
»Ich weiß.«
»Sie ist mehr als nur eine alte Freundin, oder?«
»Ja, Medea.«
»Du und deine Geheimnisse.«
»Ich weiß.«
»Du hast es mir nie erzählt.«
»Ich habe es keinem erzählt. Crezia Berschilde hat ihr Privatle
ben verdient.«
Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Gregor Eisenhorn hat das
Privatleben auch verdient, findest du nicht? Du magst ein großar
tiger und schrecklicher Inquisitor sein und alles, aber du bist auch
ein menschliches Wesen. Du hast auch ein Leben außerhalb die
ser furchtbaren Arbeit.«
Ich dachte darüber nach. Traurigerweise war ich nicht ihrer An
sicht.
»Aber dann seid ihr wieder zusammen. Du und die gute Frau
Doktor.«
»Ich habe eine Freundschaft aufgefrischt, die ich niemals hätte
einschlafen lassen dürfen.«
»Ja, sicher. Aufgefrischt.« Sie beschrieb eine überraschend un
gehobelte und anschauliche Geste.
Ich musste unwillkürlich lächeln. »War sonst noch irgendetwas,
oder bist du nur gekommen, um die vulgären Extreme deiner
mimischen Fähigkeiten zu demonstrieren?«
»Ja, da war noch etwas. Was machen wir, wenn wir dort an
kommen?«
FÜNFZEHN
Maxilla war wie immer der perfekte Gastgeber, und die allge
meine Stimmung besserte sich ein wenig, sobald wir in seiner
Gesellschaft waren. Er nahm uns in der vorderen Steuerbord-
Luftschleuse der Essene in Empfang, bekleidet mit einem karier
ten Mantelkleid, einer blauen Seidenkrawatte und einer Krawat
tennadel in Form eines goldenen Sterns sowie einer violetten
Wildlederkalotte mit einer silbernen Quaste. Seine Haut war glän
zend weiß gefärbt, mit schwarzen Herzen über den Augen und
einer zierlichen Platinkette, die den Diamantring in seinem linken
Ohrläppchen mit dem Saphirstecker in seiner Nase verband. Hin
ter ihm warteten vergoldete Servitoren mit Erfrischungstabletts.
Er begrüßte uns alle, flirtete mit Medea und machte einen beson
deren Aufstand um Crezia und Eleena, zwei Frauen, die er noch
nicht kannte.
»Wohin?«, war seine erste Frage an mich.
»Lassen Sie mich Ihren Astropathen benutzen und nehmen Sie
Kurs dorthin, wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Die Essene erreichte Hubris vier Tage später. Hubris war eine
abgelegene Welt im helicanischen Subsektor, und Fischig, Bequin,
Maxilla und ich hatten uns dort alle im Jahre 240 kennengelernt.
Indirekt waren wir dort auch zum ersten Mal über Pontius Glaw
gestolpert. Alles bewegte sich auf die seltsamste Art im Kreis.
Ich hatte Fischig hierherbestellt, weil Hubris ein abgelegener
und bequemer Treffpunkt war, aber er schien auch sehr passend
zu sein. Er war Züchtiger bei den dortigen Arbites gewesen, als er
mir zuerst über den Weg lief. Hubris war seine Heimatwelt.
Für elf von neunundzwanzig Monaten ist Hubris so weit von sei
ner Sonne entfernt, dass die Bevölkerung gezwungen ist, in mas
siven kryogenischen Gewölben eine Art Winterschlaf zu halten,
um die Schwärze und die Kälte zu überleben. Diese Winter der
ewigen Nacht werden Schlummer genannt, und bei diesem letz
ten Besuch hatte ich einen erlebt.
Doch nun waren wir zu Beginn der Schmelze eingetroffen, der
mittleren Jahreszeit zwischen Schlummer und Vitale.
Die Gewölbe hatten sich geleert, und die großen Städte erwach
ten unter einer fahlen Sonne. Die Bevölkerung war mit hektischen
Festivitäten, Tänzen und allgemeinen Exzessen beschäftigt, die
drei Wochen dauerten und angeblich die Wiedergeburt der Gesell
schaft feierten, wahrscheinlich aber tief verwurzelte Ursprünge in
den traditionellen Methoden der Erholung vom Kälteschlaf hatten.
Ich bot an, herunterzukommen und mich mit ihm zu treffen,
weil ich dachte, Crezia, Eleena und Medea könnte die Entspan
nung von Festivitäten guttun, und Maxilla war noch nie jemand
gewesen, der zu einer Feier nein sagte.
Doch Fischig antwortete, er wolle so schnell wie möglich auf die
Essene kommen, und ein paar Stunden später traf er mit einer
Fähre ein, die er selbst steuerte.
Von dem Augenblick, als er an Bord kam, war mir klar, dass er
angespannt war. Er war höflich und schien sich zu freuen, Medea,
Aemos und Maxilla zu sehen. Aber mir gegenüber war er reser
viert.
Ich sagte, es sei schön, ihn zu sehen, und dass ich erleichtert
sei, dass er Glaws Säuberung entgangen sei.
»Glaw, hm?«, fragte er. Er hatte bereits alles über die Zerstö
rung des Femininums und den Tod aller anderen Mitglieder unse
res Stabs gehört. »Ich hatte mich schon gefragt, wer es wohl sein
könnte.«
»Wir müssen reden«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Aber nicht hier.«
SECHZEHN
Überlebende Messinas.
Gideons Omen.
Nichts währt ewig.
Harlon umarmte mich inbrünstig, und Kara küsste mich auf Ze
henspitzen zaghaft auf die Wange. Ich starrte sie beide an und
konnte es kaum glauben.
»Du entwickelst die Angewohnheit, von den Toten aufzuerste
hen«, sagte ich zu Harlon. »Ich bin nur froh, dass es diesmal
wahr ist.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Das erkläre ich später. Ich weigere mich, noch etwas zu sa
gen, bevor ihr mir erzählt habt, wie das möglich ist.«
»Warum gehen wir nicht hinein?«, schlug Ravenor vor. Er führte
uns den Pfad durch die Punzbäume und über einige Lichtungen,
wo das Licht durch die fleischigen orangefarbenen Blätter der
Baumkronen einen goldenen Schimmer hatte. Grellbunt gefieder
te Eidechsen hüpften von Ast zu Ast, und transparente Insekten
von der Größe der geöffneten Handfläche eines Menschen flatter
ten wie Samenkapseln durch die schwüle Brise.
Ravenors Energiesessel zischte ein paar Zentimeter über dem
Boden durch die Luft, von einem kugelförmigen Feld umgeben
und gehalten, das von dem sich darum drehenden und kreiseln
den Antigravreifen erzeugt wurde.
Jenseits des bewaldeten Hangs war der Boden überflutet. Ein
großer See aus einer gelben Flüssigkeit erstreckte sich unter dem
Dschungeldach, das in bunten Ansammlungen daraus empors
pross. Wedel, Binsen und Bäume mit fasrigen Wurzeln bildeten
Hügelinseln in dem See. Hinzu kamen ganze Batterien von feisten
malven- oder orangefarbenen Zutaes mit riesigen Blättern und
einem Gewirr saprophytischer Ranken.
Antigrav-Laufstege überbrückten das klebrige Wasser und ver
banden das trockene Land über mehrere Hügel mit Ravenors La
ger.
Das Lager war auf einem zwanzig mal zwanzig Meter messen
den Metallfloß errichtet worden, das durch versiegelte, kreisende
Repulsor-Auftriebskapseln über Wasser gehalten wurde. Eckig
und geometrisch in ihrer Form, sah die Konstruktion wie ein gro
ßes Zelt aus, aber ihrem sanften Flimmern entnahm ich, dass sie
durch einander überlappende, undurchsichtige Kraftfelder gebil
det wurde.
Wir gingen durch eine Einweg-Feldmembran hinein, welche die
Tür bildete, und betraten eine kühle, klimatisierte Kammer, die
von Lichtkugeln erhellt war. Ausrüstung stapelte sich in Metallbe
hältern, und es gab mehrere zusammenklappbare Möbelstücke.
Weitere Trennschirme wiesen auf angrenzende, abgeteilte Räume
hin. Ein grauhaariger Mann in einer Leinenrobe arbeitete an ei
nem kleinen Klapptisch und begutachtete Daten auf einem trag
baren Cogitator.
Kara klappte noch drei von den gestapelten Stühlen auseinan
der, während Harlon Flaschen mit gekühltem Wasser mit Frucht
geschmack und ein paar vakuumverpackte Proviantpäckchen hol
te. Aus einem der anderen Räume kam eine junge Frau und be
riet sich leise mit dem Mann am Cogitator.
»Du bist hier beschäftigt, wie ich sehe?«, sagte ich.
»Ja«, sagte Ravenor. »Die Aussicht müsste gut sein.«
Ich verstand nicht, was er meinte, aber ich ging nicht darauf
ein. Mir gingen zu viele andere Dinge im Kopf herum.
Harlan öffnete eine Flasche und reichte sie mir, bevor er sich
setzte.
»Auf uns, die wir trotz allem noch leben.« Er stieß seine Flasche
an meine, und Kara prostete uns mit ihrer zu.
»Also?«, fragte ich.
»Ein Haufen abgebrühter Söldnerschweine hat das Femininum
hochgehen lassen. Den ganzen Turm. Es gab viele Tote«, sagte
Harlon sachlich, aber seine Stimme hatte immer noch einen wü
tenden Unterton.
»Und ihr zwei?«
»Madam Bequin hat uns gerettet«, sagte Kara.
»Was?«
»Wir haben sie nach Messina gebracht«, sagte Kara. »Ihr Zu
stand war stabil. Die medizinischen Einrichtungen im Femininum
sorgten gut für sie. Nach einer Woche hatten sie mich so weit,
dass ich wieder auf den Beinen war. Dann verschlechterte sich
plötzlich Madam Bequins Zustand.«
»Sie hatte einen Schlaganfall«, knurrte Harlon. »Eine ziemlich
schlimme … wie nennt sich das noch?«
»Zerebrovaskuläre Ischämie«, sagte Ravenor leise.
»Jedenfalls überstieg es die Möglichkeiten der medizinischen
Einrichtungen innerhalb des Femininums, also brachten wir sie in
aller Eile zur Operation in die Städtische Klinik Sandus Sedar«,
sagte Kara. »Uns war klar, Sie würden sie nicht allein lassen wol
len, also blieben wir bei ihr. Harlon und ich haben abwechselnd an
ihrem Bett gewacht. In der Nacht, als das Femininum überfallen
wurde, hatte ich gerade meine Schicht begonnen.«
»Und ich war in einem Schweber auf dem Rückweg zu Turm
elf«, beendete Harlon ihren Bericht.
»Also wart ihr beide nicht da?«
»Nein.«
»Ihr zwei … und Alizebeth … habt überlebt?«
»Wir Glücklichen, was?«, sagte Harlon.
»Wo ist sie?«, fragte ich. »Und wie geht es ihr?«
»Hat seitdem nicht wieder das Bewusstsein erlangt. Sie liegt in
der Krankenstation meines Schiffes und wird künstlich ernährt«,
erwiderte Ravenor. »Mein Leibarzt kümmert sich um sie.« Ich
kannte Doktor Antribus, Gideons Arzt. Bequin hätte nicht in er
fahreneren Händen sein können.
Ich wandte mich wieder an Harlon und Kara. Ich hatte keine
Mühe zu erkennen, dass der auf Loki geborene ehemalige Kopf
geldjäger Spaß daran hatte, das Garn seiner Geschichte zu spin
nen. Wahrscheinlich hatte er das seit Wochen geprobt.
»Also … weiter.«
»Wir sind untergetaucht. Kara und ich. Madam B war nicht
transportfähig, also änderten wir ihre Personalien, damit man sie
nicht mehr mit dir in Verbindung bringen konnte. Dann haben wir
uns auf die Jagd begeben. Auf einem kleinen Raumhafen in den
Vororten haben wir das Mordkommando gestellt. Insgesamt drei
ßig, vessoriner Janitscharen, allesamt. Mit den Brüdern hatte ich
bis dahin noch nie zu tun gehabt, obwohl ich natürlich schon von
ihnen gehört hatte. Kämpfen können die Schweine, das steht
fest.«
»Ich habe sie auch aus der Nähe erlebt.«
»Dann kannst du ja ganz gut beurteilen, dass zwei gegen drei
ßig ein ziemlich hartes Brot war, auch wenn wir sie überrumpelt
haben. Ich habe drei von ihnen erledigt …«
»Zwei«, korrigierte Kara. »Es waren zwei.«
»Also gut, zwei ganz sicher und einen wahrscheinlich. Kara,
möge der Imperator sie segnen, hat sechs von den Schweinen
umgelegt. Zack zack zack!«
»Du kannst mir die Einzelheiten später bei einer Flasche Ama
sec erzählen, Harlon. Jetzt bleib beim Wesentlichen.«
»Mein Familienmotto, Chef«, grinste Harlon. »Jedenfalls stellte
sich heraus, dass Kara und ich uns wohl mehr auf den Teller ge
laden hatten, als wir essen konnten, und sie trieben uns auf ei
nem Lagerplatz neben dem Raumhafen in die Enge. Wir standen
mit dem Rücken zur Wand. Unser letztes Gefecht. Ein Moment
zum Unterwäschewechseln. Und dann, einfach so«, schnippte er
mit den Fingern, »traf die Rettung ein.« Er schaute zu Inquisitor
Ravenor.
»Ich war nur froh, dass ich helfen konnte«, warf Ravenor ein.
»Helfen? Er und sein Jagdkommando haben brutal zugeschla
gen! Soweit ich weiß, sind nur acht der Söldner lebend entkom
men. Sie sind auf ihr Schiff geflohen und sofort gestartet.«
Ich stellte meine leere Flasche auf den Boden und beugte mich
vor, die Ellbogen auf den Knien. »Also, Gideon«, sagte ich, »wie,
im Namen Terras, kommt es, dass du zum richtigen Zeitpunkt auf
Messina warst?«
»Das war ich nicht«, sagte er. »Ich war zum falschen Zeitpunkt
da. Hätte ich Messina einen Tag früher erreicht, wäre ich zum
richtigen Zeitpunkt dort gewesen. Aber mein Schiff wurde von
einem Warpsturm aufgehalten, der außerdem mein Kommunika
tionssystem lahmgelegt hat.«
»Jetzt sprichst du das zweite Mal seit meiner Ankunft in Rät
seln«, sagte ich. »Ist das eine Art, deinen alten Meister zu be
handeln?«
Gideon Ravenor war mein Interrogator und Schüler gewesen,
damals, gegen Ende der 330er, und der vielversprechendste Kan
didat für den Posten des Inquisitors, der mir je begegnet ist.
Nicht nur ein latenter Psioniker der Delta-Stufe mit einem PQ von
171, sondern er hatte außerdem einen genialen Intellekt und eine
ausgezeichnete Bildung sowie die Statur eines Athleten. Während
der Heiligen Novene auf Thracian Primaris war er den berüchtig
ten Gräueltaten zum Opfer gefallen und schlimm verkrüppelt
worden. Seit dieser Zeit lebte er im Kokon seines Energiesessels,
ein brillanter Geist in einem gelähmten, nutzlosen Körper.
Doch das hatte ihn nicht daran gehindert, einer der besten Ver
treter der Inquisition zu werden. Ich selbst hatte seine Beförde
rung zum vollen Inquisitor-Status im Jahre 346 gefördert. Seither
hatte er Hunderte von Fällen erfolgreich bearbeitet, darunter die
Gomek-Übertretung und natürlich die Cervan-Holman-Affäre auf
Sarum. Außerdem hatte er mehrere Werke verfasst, die von be
trächtlicher Einsicht kündeten: die gefeierten Essays Unterwegs
zu einem Imperialen Utopia, Reflexionen über den Makropolstaat
und Terra Redux: Eine Geschichte der frühen Inquisition, eine
Studie über Warpwerk, die rasch zu einem Standardwerk gewor
den war, sowie ein Werk namens Der Spiegel aus Rauch, das sich
derart poetisch mit der Interaktion zwischen Menschen und dem
Warpzustand befasste, dass ich glaubte, es werde ebenso als
Kunstwerk überleben, wie es lehrreich war.
In der trüben Kugel des Kraftfelds seines Stuhls war Ravenor
praktisch unsichtbar, nur ein formloser Schatten, der in der Düs
ternis hing. Sein Körper war vollkommen unbrauchbar, und was
er tat, wurde allein durch psionische Stärke vollbracht. Seine In
validität hatte seine geistigen Kräfte stärker werden lassen, was
die Dinge kompensierte, die ihm verwehrt waren. Ich war sicher,
dass er mittlerweile sehr viel mehr war als ein Psioniker der Del
ta-Stufe.
»In den letzten Jahren hat meine Arbeit es erforderlich ge
macht, ein Verständnis für Divination und Prophezeiungen zu
entwickeln«, sagte Gideon zögernd. »Dinge wurden mir …
enthüllt. Dinge von großer Bedeutung.«
Mir war klar, dass er mit seinen Äußerungen sehr vorsichtig
war. Es war, als wollte er mir gern mehr sagen, wagte es aber
nicht. Ich entschied, dass ich seine Vorsicht respektieren sollte.
»Eine dieser Enthüllungen - eine Vision, wenn du so willst - hat
ein gewaltsames Ende für das Femininum auf Messina prophezeit.
Der genaue Zeitpunkt des Verhängnisses wurde vorhergesagt.
Aber ich bin nicht mehr rechtzeitig gekommen, um es zu verhin
dern.«
»Die Zerstörung des Femininums wurde vorhergesagt?«, fragte
ich.
»Mit bestürzender Genauigkeit«, erwiderte er.
Plötzlich ging mir auf, dass ich seine Stimme hörte, womit ich
die Stimme meine, mit der Ravenor vor seinen schrecklichen Ver
letzungen gesprochen hatte. Die Stimme eines Mannes, dessen
Mund und Kehlkopf nicht durch brennendes Prometheum ge
schmolzen worden waren. Ich hatte mich vollkommen an die mo
notone, synthetische Sprechweise des psi-aktivierten Lautspre
chers in seinem Stuhl gewöhnt.
»Meine Arbeit hat mir außerdem ermöglicht, stärkere psionische
Fähigkeiten zu perfektionieren«, sagte er, und eine bestand ganz
eindeutig darin, meine oberflächlichen Gedanken lesen zu kön
nen. »Den Lautsprecher habe ich seit etwa einem Jahr nicht
mehr. Ich habe ausreichend psionische Kontrolle, um meine
Stimme natürlich senden zu können.«
»Ich höre dich in meinem Kopf?«
»Ja, Gregor. Du hörst die Stimme, die du kennst. Natürlich
funktioniert das nicht bei Unberührbaren und psionisch abge
schirmten Personen - DESWEGEN HALTE ICH DEN ALTEN LAUTS
PRECHER IN BEREITSCHAFT.«
Der letzte Teil seines Satzes erklang in der mechanischen, ton
losen Stimme seines Stuhls, und die knirschenden, emotionslosen
elektronischen Worte ließen uns alle überrascht lachen.
»Ich bin zwar zu spät gekommen, um das Femininum zu retten,
aber es hat gereicht, um Kara, Harlon und Alizebeth in Sicherheit
zu bringen.«
»Dafür bin ich dir unendlich dankbar. Aber warum hast du mich
zu einem Treffpunkt so weit abseits aller Routen bestellt?«
»Auf Promody gibt es Geheimnisse, die wir benötigen«, sagte
er.
»Was für Geheimnisse?«
»Ich durfte einen Blick in die Zukunft werfen, Gregor«, sagte
Ravenor. »Und die ist nicht schön.«
SIEBZEHN
Psionische Archäologie.
Ghül.
Die Barke des Dämons.
Ravenors Techniker hatten ihre Zeit seit ihrer Ankunft auf Pro
mody damit verbracht, mithilfe der Astropathen eine Vermessung
vorzunehmen. Sie hatten die Oberfläche und die Atmosphäre des
Planeten nach Spuren von Kandschars Besuch abgesucht: Lande
stellen, Rückstände von Fahrzeugabgasen, die Echos menschli
cher Geister. Sie waren jetzt sicher, dass sich das Lager in der
Nähe der Landestelle Kandschars befand. Jetzt bereiteten die Ast
ropathen alles für eine Auto-Séance in einem Maßstab vor, der
sehr viel größer war als alles, was ich je versucht hatte.
Gideon rief mich ins Kraftzelt.
»Ghül ist der Name eines Planeten«, sagte er.
»Der toten Welt in der Vision?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Und wo liegt er?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wer ist wir? Woher stammt diese Information?«
Er seufzte. »Lord Runenprophet?«, rief er.
Einer der inneren Schirme öffnete sich, und eine schlanke, sehr
hochgewachsene Gestalt in einer langen Kapuzenrobe trat aus
einem der Innenräume. Die Robe bestand aus einem glänzenden
blauen Material, das wie metalldurchwirkte Seide funkelte, aber
schwerer und fließender zu sein schien. Ein absonderlicher, unan
genehm süßlicher Geruch wie nach erhitztem Zucker lag in der
Luft. Ich wusste, diese Kapuze würde in meiner Gegenwart nicht
zurückgeschlagen werden; ich war nicht würdig, das Gesicht dar
unter zu erblicken.
»Das ist Eisenhorn«, sagte die Gestalt. Es war keine Frage. Die
Wörter flossen melodisch und in einer seltsamen Kadenz, wie sie
kein Mensch hätte hervorbringen können.
»Mit wem spreche ich?«, sagte ich.
»Das Buch ist in seiner Jacke«, sagte die Gestalt zu Ravenor,
indem sie mich ignorierte. »Eine Beleidigung, dass er es so bei
läufig bei sich trägt.«
»Gregor?«
Ich nahm das Malus Codicium aus der Tasche. Die Gestalt be
schrieb mit der behandschuhten Rechten eine schützende Geste.
»Eine Beleidigung, die dein Freund wohl hinnehmen muss,
fürchte ich«, sagte ich. »Dieses Buch gebe ich nicht aus der
Hand.«
»Es hat ihn vergiftet. Es schwelt in seinem Blut. Es hat ihn Dä
monen unterjocht.«
»Und zweifellos noch mehr«, konterte ich. »Aber werfen Sie
doch einen Blick in meine Gedanken und sagen Sie mir dann,
dass ich mich nicht unser aller Errettung verschrieben habe.«
Ich ließ provokativ meine psionische Abschirmung erlöschen,
doch obwohl ich die Versuchung des Eldar spürte, rührte er mei
nen Geist nicht an.
»Ravenor bürgt für Sie«, sagte die Gestalt nach einem Moment.
»Damit begnüge ich mich. Aber kommen Sie nicht näher.«
»Wie soll ich Sie also nennen?«
»Dazu wird keine Notwendigkeit bestehen«, sagte der Eldar
freimütig.
»Bitte«, warf Gideon ein. Ihm war eindeutig sehr unbehaglich
zumute. »Gregor, du kannst meinen Gast mit Lord Runenprophet
anreden. Milord, vielleicht erzählen Sie Gregor etwas über Ghül?«
»In den Ersten Tagen kam eine Rasse aus dem Mahlstrom und
errichtete Siedlungen in diesem Gebiet. Sieben Welten machten
sie, und die größte davon war Ghül. Dann wurden sie gestürzt
und ließen keine Spur zurück.«
»Aus dem Mahlstrom? Aus dem Warp? Sie meinen eine Dämo
nenrasse?«
Der Lord Runenprophet sagte nichts.
»Wollen Sie damit sagen, dass einst sieben Welten in unserer
Wirklichkeit von Dämonen kolonisiert worden sind?«
»Sie flohen vor einem Krieg. Ihr König war tot, und sie hatten
seinen Leichnam für das Begräbnis bei sich. Auf seinem Grabmal
errichteten sie die erste Stadt und machten dann sechs Welten
ringsherum, um so seiner Ruhe auf ewig Ehre zu erweisen.«
»Ghül ist das Grab eines Dämonenkönigs?«
Er gab keine Antwort.
»Was ist? Beantworten Sie nur jede zweite Frage? Ist Ghül die
Grabwelt? Ist es das, hinter dem Glaw her ist? Das Grabmal eines
Dämons?«
»Ich habe die Antwort nicht gesehen«, sagte der Eldar.
»Dann stellen Sie eine Vermutung an!«
»Der Dämonenkönig ist tot. Kandschar kann nicht, hoffen, ihn
wiederzuerwecken.«
»Es sei denn, er hat das Malus Codicium«, sagte ich.
»Nicht einmal dann.«
»Was dann?«, schnauzte ich beinahe.
»Traditionell«, warf Gideon ein, »jedenfalls in der menschlichen
Kultur, wird ein König mit großen Schätzen und Artefakten be
stattet.«
»Also ist irgendwas in diesem Grab. Etwas so Wertvolles, dass
das Malus Codicium nur ein Schlüssel wäre, es zu bekommen. Wo
liegt Ghül?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Ravenor.
»Weiß Glaw es?«
»Ich glaube, deswegen war er hier.«
Der Eldar zog sich zurück, und ich war froh, seiner Ausstrahlung
entronnen zu sein. Ich fand es schwer verständlich, wie Ravenor
ihn ertragen konnte.
Draußen wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Alle von
Ravenors Leuten mit Ausnahme von Kenzer und den sechs Astro
pathen zogen sich in das Schiff zurück. Nayl und Kara flogen zur
Essene zurück.
»Eine Nachricht von Maxilla«, sagte Nayl zu mir. »Du hast eine
Botschaft von Fischig bekommen.«
»Von Fischig? Wirklich?«
»Anscheinend hat er seine Meinung geändert. Er bedauert wohl
den Zusammenstoß mit dir und will zurückkommen.«
»Ich glaube, dafür ist es jetzt zu spät, Harlon.«
Nayl zuckte die Achseln. »Sei nicht so streng mit ihm, Boss. Du
weißt, wie hart er, ist. Er hat Zeit gehabt, sich die Dinge durch
den Kopf gehen zu lassen. Alles abzuwägen. Lass ihn zurück
kommen. Nach allem, was Gideon sagt, können wir ihn wahr
scheinlich gut gebrauchen.«
»Nein. Vielleicht später. Ich glaube, ich kann ihm nicht mehr
vertrauen.«
»Wahrscheinlich denkt er von dir genauso«, grinste Nayl. »Ein
Scherz!«, fügte er hinzu und hob die Hände, um mich zu be
schwichtigen. »Viel Glück«, verabschiedete er sich und ging dann
zur Fähre, wo Kara Swole ihn bereits erwartete.
Als sich die Essene von Promody löste und Fahrt zum Transi
tionspunkt ins Immaterium aufnahm, den Maxillas Navigator be
rechnet hatte, machte ich mich auf die Suche nach Aemos.
Er war in seiner Kabinensuite und blätterte sich durch einen
Stapel Bücher, die er sich aus Maxillas Bibliothek geborgt hatte.
»Etwas anderes, um dich abzulenken«, sagte ich, wobei ich ihm
einen Haufen Datentafeln und Aufzeichnungsplatten gab. Vor un
serer Trennung hatte Ravenor noch alles für mich kopiert, was zu
kopieren ihm gestattet worden war, darunter auch eine Bild-Datei
der Inschrift, wie die Sensoren in seinem Energiesessel sie aufge
zeichnet hatten.
»Gideon hat um der besseren Orientierung willen einige Schlüs
selpassagen in seinen Notizen kopiert, aber was mich wirklich
interessiert, ist die Inschrift, die eine Karte ist. Gideons … Be
kannter … hat mir verraten, was sie bedeutet, oder jedenfalls der
Teil, der sich auf Ghül bezieht. Ich wüsste gern etwas mehr darü
ber, im wörtlichen Sinne.«
»Ich soll die Schriftsprache einer fremden Rasse entschlüsseln,
die schon vor dem Auftauchen des ersten Menschen lange tot
war?«
So ausgedrückt, schien es viel verlangt. »Es gibt noch ein paar
andere Proben derselben Schrift, die Ravenor an anderen Fund
stätten entdeckt hat. Ich weiß es nicht. Mach damit, was du
kannst. Was du auch in Erfahrung bringst, es wird sehr nützlich
sein.«
Die Fahrt zum Jeganda-System war nicht die längste, die ich je
unternommen habe, aber sie kam mir so vor. Ich war unruhig
und reizbar und konnte es nicht erwarten, dort einzutreffen. Ich
konnte einfach nicht aufhören, an Glaws Vorsprung zu denken
und daran, wie nah das Nichts des Runenpropheten war.
Um die Zeit auszufüllen, meditierte ich und hielt mich mit
Übungen fit. Außerdem wühlte ich mich durch Maxillas Bibliothek
auf der Suche nach etwas, das sich auf die Eldar und ihre Legen
den bezog. Kara arbeitete mit Medea, um sie wieder in erstklassi
ge körperliche Verfassung zu bringen, und nach zwei Wochen
durchliefen wir drei jeden Tag ein anstrengendes Kampftraining.
Bei den leichteren Übungen leistete Eleena uns manchmal Gesell
schaft, um in Form zu bleiben. Ich war froh, dass ich eine Unbe
rührbare bei mir hatte, in Anbetracht unseres Bestimmungsortes
und Glaws Fähigkeiten.
Abgesehen von Alizebeth, die unter den gegebenen Umständen
nicht zählte, war Eleena die letzte Überlebende des Femininums.
Ich fragte mich, ob ich je wieder Unberührbare anwerben und es
neu aufbauen würde.
Ich fragte mich, ob ich überhaupt Gelegenheit dazu bekommen
würde.
In der dritten Woche rief mich Aemos in seine Suite, um seine
bisherigen Erkenntnisse zu besprechen. Ich fragte mich, warum
er es mir nicht einfach beim Abendessen erzählt hatte. Wir trafen
uns ohnehin alle jeden Abend zum Dinner.
Er sagte, er mache Fortschritte. Die alte Kultur, die Ghül ge
macht habe, tauche indirekt in mehreren alten Quellen auf. An
scheinend haben die früh-imperialen Entdecker bei ihren ersten
Kontakten mit Xenos-Rassen Mythen über eine lange tote Rasse
erfahren, obwohl sich Aemos Sorgen machte, einige der Verweise
könnten sich auf andere tote Kulturen oder auf Rassen beziehen,
die abgewandert oder sonst wie weitergezogen waren.
Ein Thema war allen gemeinsam. Die Rasse von Ghül wurde als
»Andere« oder »Außenseiter« bezeichnet, weil sie ihren Ursprung
nicht in unserer Galaxis hatte. Der Name »Ghül« tauchte selbst
nirgendwo auf.
»Eine unbedeutendere Kultur, die Doy von Mitas, hat eine Le
gende über die ›Xol-Xonxoy‹, Dämonen, die einmal geherrscht
haben und angeblich wiederkommen wollen. Das Wort bedeutet
›Warp-Verdrehten‹.«
»Als Beschreibung durchaus ausreichend. Die Eldar schienen
überzeugt zu sein, dass diese Kultur eine Kolonie von Dämonen
aus dem Warp war. Nicht einmal eine eigenständige Rasse, mehr
eine Art Heer, eine Armee … eine Nation. Ein vertriebener Dämo
nenkönig mit seinen Anhängern vielleicht.«
»Es gibt noch ein paar Hinweise, nicht viele. Mit der Inschrift
komme ich nicht weiter, obwohl sie außergewöhnlich ist und Gi
deons Material über diese Séance äußerst bestürzend. Ich würde
mir gern dein Buch ausborgen.«
»Du willst was?«
»Dein verdammtes Buch. Das Adjektiv ist mit Bedacht ge
wählt.«
»Du hast gesagt, du wolltest es nie wiedersehen«, erinnerte ich
ihn.
»Das will ich auch nicht, Gregor. Mich schaudert schon bei der
Vorstellung, dass es überhaupt an Bord ist. Aber mich schaudert
noch viel mehr bei der Vorstellung, was wir wohl dort draußen
vorfinden. Du hast mir eine Aufgabe gestellt. Und das ist das ein
zige Hilfsmittel, das ich noch nicht bemüht habe.«
Ich nahm das Malus Codicium aus der Tasche. Einen Moment
lang konnte ich es nicht über mich bringen, es ihm zu geben.
»Sei vorsichtig«, zischte ich.
»Ich kenne die Vorgehensweisen«, sagte er mürrisch. »Du hast
mich schon öfter verbotene Texte studieren lassen.«
»Aber noch keinen wie diesen.«
ACHTZEHN
Treffen im Jeganda-System.
Verschobene Loyalitäten.
Bis zum Letzten, bis zum Tod.
Die Gardisten brachten Medea und mich an Bord der Essene zu
rück. Ich war immer noch benommen. Ich konnte hören, wie Fi
schig Heldane anflehte, seinen Männern zu befehlen, behutsamer
mit uns umzugehen.
Ach, was für einen Fehler Fischig gemacht hatte.
Als wir durch die Andockbuchten der Station geführt wurden,
sah ich die schnittige schwarze Form eines Kreuzers der Inquisiti
on, der jetzt den Platz neben der Essene belegte. Heldanes Schiff.
Wahrscheinlich hatte es sich in der Atmosphäre des Gasriesen
verborgen, bis die Falle zugeschnappt war.
Sie brachten uns in die Hauptkabine. Heldanes Männer, und ich
vermutete, dass es eine ganze Abteilung war, hatten die Essene
genommen.
»Wie viele Personen sind bei Ihnen?«, schnauzte Heldane mich
an.
Ich gab keine Antwort.
»Wie viele?«, wiederholte er und ließ seinen Worten eine Klinge
aus psionischen Schmerzen folgen, die mich aufschreien ließ. Ich
musste mich konzentrieren. Ich musste meine mentale Abwehr
neu aufbauen.
Unter Vortäuschung einer Verletzung sah ich mich um und
machte eine Bestandsaufnahme. Maxilla stand von Gardisten um
ringt in der Nähe und schaute brütend vor sich hin. Eleena saß
kerzengerade und blass auf einem Sofa. Medea lag auf dem Bo
den und wachte gerade auf. Von Aemos und Kara war nichts zu
sehen.
»Vier!«, sagte Maxilla. »Diese vier. Die Übrigen sind meine Be
satzung, allesamt Servitoren, die an mein Schiff gebunden sind.«
Er spielte die Rolle des unschuldigen Schiffskapitäns, der über
diese Invasion seines Schiffs entrüstet war und sich von seinen
schwierigen Fahrgästen distanzierte. Aber ich wusste, dass er
Angst hatte.
»Sie lügen, das ist mir klar«, sagte Heldane, der Maxilla um
wanderte. »Ihre Abschirmung ist gut, Kapitän, das will ich Ihnen
zugestehen. Lügen Sie mich nicht an.«
»Ich lüge Sie nicht …«, begann Maxilla und schrie dann vor
Schmerzen.
»Lügen Sie mich nicht an!«
»Lassen Sie ihn in Ruhe!«, donnerte Fischig. »Er ist nur der Ka
pitän. Der Besitzer des Schiffs, wie Sie schon sagten. Er hat mit
alledem nichts zu tun.«
Heldane fuhr herum und bedachte Fischig mit einem vernich
tenden Blick. »Sie haben das hier möglich gemacht, Züchtiger.
Sie sind zum Ordos gekommen und haben uns angefleht, Ihren
teuren, ketzerischen Meister vor der Verdammnis zu bewahren.
Und das tue ich. Also halten Sie den Mund und lassen Sie mich
weitermachen. Oder soll ich lieber die Gedanken dieser reizenden
jungen Damen sondieren?«
»Nein.«
»Gut. Weil dieser Kapitän ziemlich interessant ist. Er ist nicht
vollkommen menschlich, oder? Sind Sie das, Tobius Maxilla? Ihre
Abschirmung ist bewundernswert, aber nur, weil Ihr Gehirn nicht
vollkommen organisch ist. Sie sind so sehr Maschine, mein Herr,
dass Sie die Bezeichnung ›Mensch‹ kaum verdienen, oder?«
»Das müssen Sie gerade sagen«, antwortete Maxilla tapfer.
Ich spürte die psionische Welle von der anderen Seite des
Raums, und sie ließ mich zusammenzucken. Heldanes unmen
schliche Züge falteten sich zu einem wütenden, animalischen
Brüllen, und Maxilla stolperte, schrie auf und fiel auf die Knie,
während Funkenregen aus ausgebrannten Servos im Nacken, der
rechten Schulter und der rechten Hand schossen.
»Wirst du mir jetzt antworten, Metallmensch«, fragte Heldane
Maxilla spöttisch, »oder soll ich noch einen Teil deines blasphemi
schen Körpers durchbrennen lassen?«
»Wir sind fünf«, sagte ich laut. »Fünf.«
»Aha … der Ketzer spricht.« Heldane drehte sich zu mir um und
wendete seine Aufmerksamkeit wenigstens für den Moment von
Maxilla ab.
»Das fünfte Mitglied meiner Gruppe ist mein Gelehrter, Aemos.
Ich bin sicher, Sie erinnern sich noch an ihn. Er ist auf der Kran
kenstation.«
»Wie entgegenkommend von Ihnen, Gregor«, sagte Heldane.
Ich betete, ihn überlistet zu haben. Heldane konnte unseren Ge
danken zweifellos entnehmen, dass noch jemand fehlte. Wenn ich
ihm Aemos zeigte, würde er hoffentlich zufrieden sein und Kara
übersehen.
»Ich würde Ihnen raten, ihn dort zu lassen.«
»Warum?«
»Er … es gab einen Unfall«, sagte ich. »Er hat Schaden genom
men.«
»Warpschaden?«
»Nein. Er wird sich erholen.«
»Aber er ist krank infolge eines Kontakts mit dem Warp?«
»Nein!«
Heldane wandte sich an einige von seinen Männern. »Gehen Sie
auf die Krankenstation. Machen Sie diesen Mann ausfindig. Töten
Sie ihn und verbrennen Sie seine sterblichen Überreste.«
»Gott-Imperator, nein!«, rief ich.
Ich versuchte aufzustehen, versuchte mit meinem Geist auszug
reifen, um Barbarisater Heldanes Händen zu entreißen. Ich war
zu schwach, und er war zu stark. Ein weiterer psionischer Schlag
schmetterte mich zu Boden.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte eine neue Stimme. »Gerade gab
es eine Menge unziemliches Geschrei.«
»Alles ist bestens, Milord. Willkommen an Bord«, hörte ich Hel
dane sagen.
Ich wälzte mich herum und sah den Neuankömmling die Haupt
kabine der Essene betreten. Er sah prächtig aus in seiner Servo
rüstung aus Messing, und der augmetische Kiefer war ebenso stur
vorgeschoben wie beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte.
»Osma …«, flüsterte ich.
»Großmeister Osma vom Ordos Helican, wenn es Ihnen nichts
ausmacht«, sagte er verdrossen.
Er war befördert worden. Orsini war tot, und Leonid Osma hatte
endlich den Rang, nach dem er sein Leben lang getrachtet hatte.
Seit ich vornehmlich damit beschäftigt war, zu fliehen und am
Leben zu bleiben, war im Helicanischen Subsektor viel geschehen.
Osma, meine Nemesis, der Mann, der einmal versucht hatte,
mich extremis diabolus zu erklären, und mich eingesperrt, gefol
tert und gejagt hatte, war nun Großmeister des Ordos Helican
und mein höchster Vorgesetzter.
Die Gardisten schleiften mich ins Zwischengeschoss von Maxil
las Kabine und setzten mich auf einen der Stühle der langen Fest
tafel. Sie traten zurück, und Osma und Heldane näherten sich.
Osma hielt Barbarisater und studierte die komplizierten Muster
auf der Klinge. Sein eigener gewaltiger Energiehammer war an
seinem Gürtel verankert.
Heldane setzte sich mir gegenüber.
»Wir können einander nicht ausstehen, Eisenhorn. Ich werde
Sie nicht beleidigen, indem ich etwas anderes behaupte. Machen
Sie es für uns alle leichter. Gestehen Sie.«
»Was soll ich gestehen?«
»Ihre Ketzerei«, sagte Osma.
»Ich bin kein Ketzer. Und dies ist kein ordentliches Tribunal der
Inquisitoren. Ich kann nicht verurteilt werden.«
Ich wusste verdammt gut, dass ich sehr wohl verurteilt werden
konnte. Großmeister oder nicht, Osma konnte mit mir verfahren,
wie es ihm beliebte.
»Gestehen Sie«, wiederholte er, indem er sich mit jaulenden
Servos seiner Rüstung auf den Stuhl neben Heldane setzte. Er
war wirklich fasziniert von Barbarisater und drehte und wendete
das Schwert in seinen Panzerhandschuhen.
»Was soll ich gestehen?«
»Wir haben eine Liste mit Anklagepunkten«, sagte Heldane, in
dem er eine Datentafel unter seinem Umhang hervorholte. »Ihr
eigener Mann, Fischig, war sehr spezifisch, was seine Sorgen be
trifft. Sie haben mit Dämonen verkehrt und bei mehr als einer
Gelegenheit einen von ihnen als Dämonenwirt beschworen. Sie
haben verbotene Texte vor der Inquisition verborgen. Sie haben
einen erwiesenen Ketzer vor der Inquisition beschützt und ihm
gestattet, frei herumzulaufen.«
Ich musterte Heldane durchdringend. »Sie meinen Pontius
Glaw? Ich gebe nichts zu, aber eines sage ich Ihnen: Wenn Sie
mich hier einsperren, werden Sie einen viel höheren Preis dafür
zahlen, als Sie sich vorstellen können. Ich habe geschworen, Pon
tius Glaw aufzuhalten, und Sie hindern mich daran, meine heili
gen Pflichten zu erfüllen.«
»Die Zeit, in der Sie heilige Pflichten erfüllt haben, ist lange
vorbei«, sagte Osma.
»Wo ist das Malus Codicium!«, fragte Heldane.
Ich stärkte meinen Gedankenschirm in der verzweifelten Hoff
nung, dass die schlichte Wahrheit an der Oberfläche meiner Ge
danken nicht ans Tageslicht kommen würde. In meiner Tasche. In
meiner verdammten Tasche. Deine Männer haben mich nach Waf
fen durchsucht, aber ein ramponiertes altes Buch in meiner Ja
ckentasche hat sie nicht weiter interessiert.
Heldane las die Gedanken nicht. »Er ist immer noch wunderbar
widerstandsfähig«, sagte er zu Osma.
Sie nahmen an, das Codicium befinde sich an einem sicheren
Ort. In einem Tresor, hinter einem Deflektorschirm unter meiner
verdammten Matratze! Sie hatten keine Ahnung, dass es direkt
vor ihrer Nase war, nur durch eine dünne Lederschicht vor ihren
Blicken verborgen. Ich musste ihnen diese schlichte, alberne
Wahrheit verheimlichen.
»Millionen werden sterben. Vielleicht Milliarden, wenn Sie mich
mein Werk nicht vollenden lassen.«
»Das sagen alle«, sagte Osma. Er erhob sich und beugte sich zu
mir herüber, sodass sein stumpfes, faltiges Gesicht dicht vor mei
nem war. »Sie werden brennen, Eisenhorn. Brennen und leiden.
Ich bin heute nur Großmeister, weil ich Ketzer wie Sie nie gedul
det habe. Sie gehören zur schlimmsten Sorte Narren.«
»Erzählen Sie uns von dem Dämonenwirt«, sagte Heldane. »Wo
ist er eingesperrt? Wie können wir ihn finden? Wie lauten seine
Kommandoworte?«
»Kommandoworte?«, wiederholte ich. »Wofür brauchen Sie die?
Wollen Sie den Dämonenwirt selbst benutzen?«
Heldane lehnte sich zurück und warf Osma einen Blick zu.
»Natürlich wollen sie das nicht!«, sagte Fischig, der auf der
Treppe zum Zwischengeschoss herumlungerte. »Das sind keine
Ketzer wie du … sie würden nicht …« Er wandte sich an Osma und
Heldane. »Sie wollen den Dämonenwirt nicht, oder, Milords?«
»Man muss ihn dingfest machen und sich um ihn kümmern«,
sagte Osma. Ȇberlassen Sie das bitte Ihren Vorgesetzten. Sie
mischen sich zu sehr ein.«
»Aber der Dämonenwirt. Sie reden, als wollten Sie ihn für sich
selbst.«
Osma sah den pferdegesichtigen Inquisitor an. »Heldane? Sa
gen Sie diesem Mann, er soll gehen. Er hat seine Schuldigkeit
getan.«
»Gehen Sie, Fischig!«, schnauzte Heldane, und mein ehemaliger
Freund ging die Treppe hinunter und setzte sich auf eines der
Sofas, um Eleena und Medea anzustarren, die sich um Maxilla
kümmerten.
»Der Dämonenwirt!«, krächzte Heldane. »Übergeben Sie ihn
uns!«
»Und Sie nennen mich einen Ketzer …«
Heldanes psionischer Schlag ließ mich auf meinem Stuhl zu
rückzucken.
Ein Gardist näherte sich Osma. »Wir haben die Krankenstation
durchsucht, Milord. Da ist niemand.«
Dem Imperator sei Dank, dachte ich. Kara hat Aemos befreit.
»Kara?«, sagte Heldane plötzlich. »Wer ist Kara?«
Niemand, dachte ich angestrengt.
»Da ist noch eine sechste Person an Bord«, sagte Heldane zu
Osma. »Die wahrscheinlich jetzt mit dem Gelehrten zusamme
narbeitet.«
»Findet sie!«, schnauzte Osma, und die Hälfte seiner Männer
eilte aus der Kabine. »Holen Sie weitere Einheiten aus meinem
Schiff, wenn es nötig sein sollte.«
Es gab einen Ruck, dem ein schreckliches, berstendes Kreischen
von Metall auf Metall irgendwo draußen folgte.
»Was war das?«, wollte Heldane wissen.
Er stand auf und lief die Treppe zum Eingang zur Hauptbrücke
hinunter. Die Essene ruckte erneut.
Osma erhob sich und richtete die Spitze von Barbarisater auf
mich. »Hoch mit Ihnen!«, befahl er. »Bewachen Sie die anderen«,
sagte er zum Hauptmann der Gardisten.
Wir folgten Heldane auf die Brücke. Fischig gesellte sich zu
sammen mit Maxilla zu uns, der von einem Gardisten gestützt
wurde.
Wir hatten starke Schlagseite. Auf dem Hauptschirm sahen wir
die Station vor uns.
Die Essene hatte sich von ihren Leinen losgerissen und trieb
langsam vom Dock weg. Andockgerüste knirschten und falteten
sich unter dem Druck des Schiffsrumpfs zusammen.
»Was haben Sie getan?«, fragte mich Osma.
»Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderte ich.
Eine Reihe kleinerer Explosionen fegte durch die Kontrollstatio
nen auf der rechten Seite des riesigen Brückenraums und über
schüttete den Marmorboden mit Funkenschauern und Maschinen
trümmern.
Eine weitere Explosion erschütterte den Kirchenannex auf der
Steuerbordseite, der das astropathische Gewölbe enthielt, und
beulte die Luke aus. Ein Steuerservitor ging in Flammen auf,
kippte um und schlug sich dabei seine goldene Ummantelung auf.
»Sabotage!«, sagte Osma.
Heldane wandte sich an Maxilla. »Dein Werk!«
»Meins?«, sagte Maxilla. »Warum sollte ich mein kostbares
Schiff beschädigen, nur um diesen Verbrechern zu helfen? Sie
bedeuten mir nichts!«
»Du lügst, du metallene Missgeburt!«, blaffte Heldane, packte
Maxilla an der Kehle und hob ihn hoch. »Sag uns, was du getan
hast! Mach es rückgängig! Sag deiner Mannschaft, sie soll das
Schiff stabilisieren!«
»Ich habe nichts getan …«, krächzte Maxilla erstickt.
Heldane schleuderte ihn durch den Raum. Der Inquisitor war
nach allen Maßstäben stark, und er unterstützte seine körperliche
Kraft mit Telekinese. Maxilla prallte mit einem furchtbaren Kra
chen an die Wand, und Heldane hielt ihn mit seinen Kräften einen
schrecklichen Augenblick dort fest und quetschte ihn mit seiner
Geisteskraft gegen das Metall der Wand. Das laute Knacken von
Knochen und Metall war zu hören.
Dann ließ er ihn los, und der schlaffe, gebrochene Körper von
Tobius Maxilla fiel auf das Marmordeck und blieb still liegen.
»Warum haben Sie das getan?«, rief Fischig.
»Halten Sie den Mund, Sie verdammter Idiot«, antwortete Hel
dane. »Wir müssen dieses Schiff verankern.«
Fischig und einer der Gardisten machten ein paar Schritte in
Richtung der Brückenkonsolen. Fischig kannte die Essene. Wahr
scheinlich glaubte er, er könne die Schubdüsen aktivieren und
uns stabilisieren, bevor die Andockgerüste dem Rumpf noch mehr
Schaden zufügten.
Das astropathische Gewölbe explodierte in einer weißen Flam
menwand, die zwei Ruderstationen atomisierte und Fischig und
den Gardisten von den Beinen holte.
Schreiend, sich windend und in grüne Flammenzungen gehüllt,
die über ihren nackten, sich verkrampfenden Körper flackerten,
schwebte eine Gestalt aus dem brennenden Gewölbe.
Doch sie schrie gar nicht. Sie lachte.
Es war Cherubael.
Der Dämonenwirt leuchtete so grell, dass es schmerzte, ihn zu
betrachten, aber ich sah genug, um zu erkennen, dass er den
Körper eines Astropathen der Essene okkupierte. In einigen der
Buchsen in seiner glänzenden Haut waren immer noch Stecker
eingestöpselt, an denen Kabel hingen, die hinter ihm herschleif
ten. Alle Kleidung war verbrannt, aber die ausgedehnte bionische
Augmetik des Astropathen lag frei. Der Körper hatte keine Beine,
nur eine baumelnde Sammlung aus Kabeln und genormten ma
schinellen Kupplungen, über die der Astropath wie der größte Teil
von Maxillas Besatzung direkt und permanent in eine Gewölbe
buchse eingestöpselt gewesen war.
Heldane und zwei seiner Gardisten rannten ihm entgegen, und
die Gardisten brüllten Schutzgebete vor dem Warp, als sie das
Feuer eröffneten. Heldane zog ein Energieschwert aus seiner
Hüftscheide. Ich spürte den Rückschlag, als er den Dämonenwirt
mit der vollen Wucht seiner psionischen Kräfte angriff.
Osma starrte den Dämonenwirt staunend an. Mir ging plötzlich
auf, dass er trotz seines Rangs und seiner Autorität wahrschein
lich sehr wenig Erfahrung aus erster Hand mit etwas so Schau
derhaftem wie Cherubael gesammelt hatte.
»Sie wollten den Dämonenwirt, Großmeister«, sagte ich. »Sieht
aus, als hätten Sie ihn gefunden.«
Meine Worte rissen ihn aus seiner Starre, und er fuhr herum,
doch Barbarisater zischte bereits durch die Luft und direkt in mei
ne ausgestreckte Hand.
»Ketzer!«, schrie er. Sein Energiehammer sprang knisternd in
seine Panzerhandschuhe, und er ging auf mich los. Er hatte einen
beträchtlichen Vorteil. Er war psionisch abgeschirmt und schwer
gerüstet und hatte es mit einem gänzlich ungerüsteten Gegner zu
tun.
Unsere Waffen prallten aufeinander. Wir lösten uns voneinander
und schlugen erneut zu. Hinter seinen Schlägen lag gewaltige
Kraft, und ich war noch von der psionischen Abreibung ge
schwächt, die Heldane mir verpasst hatte.
»Wir haben keine Zeit für so etwas, Sie Dummkopf!«, brüllte
ich. »Ich habe den Dämonenwirt nicht gerufen, aber ich bin Ihre
einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten!«
Hinter uns kicherte Cherubael hysterisch, als er die Gardisten
verbrannte, die auf ihn schossen. Er sauste herab und ging auf
den ergrimmten Heldane los.
Osma war trotzig. Er wollte nicht abbrechen. Er lenkte meinen
Schwertstreich mit einem so starken Hammerschlag ab, dass ich
zurückgeworfen wurde und mir eine weite Blöße gab. Sein näch
ster Schlag war direkt auf mein Gesicht gezielt, und ich warf mich
zurück, um ihm auszuweichen. Er ging daneben. Knapp. Die
Energie des Hammers versengte mir die Wange.
Aber ich hatte den Halt verloren.
Ich fiel auf das Marmordeck und wälzte mich sofort zur Seite,
als der Hammer bereits heruntersauste und auf die Steinplatten
krachte. Osmas Waffe, das Malleus-Symbol seines Ordos, hob
sich erneut zum tödlichen Schlag.
Das knackende Zischen von Energie ertönte, und ein türkisfar
bener Strahl zuckte über mich hinweg. Er traf Osma ins Gesicht
und verdampfte seinen Kopf in einem Aufblitzen aus Licht, Kno
chensplittern und Fettgewebe. Sein Körper schlug mit metalli
schem Krachen auf den Boden, und die geschmolzenen Überreste
seines schweren augmetischen Kiefers kullerten über das Deck.
Ich erhob mich.
Maxilla, der immer noch übel verdreht dort lag, wo Heldane ihn
hingeworfen hatte, ließ langsam die Hand sinken. Der Laserring
an seinem elegant behandschuhten Finger leuchtete.
Ich drehte mich zum Kampf um. Medea und Eleena hatten den
Raum zusammen mit den verbliebenen Gardisten betreten und
schauten voller Entsetzen zu. Einige Gardisten flohen.
Heldane wurde von dem strahlenden, gackernden Dämonenwirt
durch die Brücke zurückgedrängt. Er warf Cherubael alles entge
gen, was er hatte, und der Dämon lachte nur, da der aus seinem
klaffenden Maul strömende Warp seine Zähne von hinten erleuch
tete und ihre Silhouetten nachzeichnete.
Heldanes Gewänder fingen an zu schwelen.
»Eleena!«, rief ich, und sie lief zu mir. Keiner der wie vom Don
ner gerührten Gardisten versuchte auch nur, sie aufzuhalten.
»Wir haben keine Zeit, es vernünftig zu machen. Du musst ne
ben mir bleiben. Du kannst einen Teil seiner Macht blockieren.«
Sie nickte und hielt sich mit beiden Händen an meiner Jacke
fest. Sie hatte unsagbare Angst, aber sie zögerte keinen Moment.
Ich holte das Malus Codicium aus meiner Jacke und blätterte
verzweifelt darin. Ich konnte nicht finden, was ich suchte. Ich
konnte es einfach nicht finden!
Das Marmordeck der Brücke barst und teilte sich unter Heldane
wie fester Boden bei einem Erdbeben. Einer seiner Füße glitt in
den Spalt, und er schwankte.
Cherubael schnaubte hämisch und klatschte in die Hände. Das
Deck bebte, und der Spalt schloss sich wieder wie eine Schraub
zwinge.
Heldane schrie. Er gab das furchtbare Geheul der Verdammten
von sich. Sein zerquetschtes Bein hielt ihn im Deck fest. Cheru
bael ging auf ihn los.
Heldane schlug voller Entsetzen mit seinem Schwert zu. Die
Klinge schmolz. Die Kleidung des Inquisitors fing Feuer. Von Kopf
bis Fuß in grüne Flammen gehüllt, schrie er wieder. Brennend,
aufrecht, an Ort und Stelle festgenagelt, sah er aus wie ein Ket
zer, der am Pfahl brannte.
Cherubael wandte sich von seinem Opfer ab, das ihn nun, da es
starb, langweilte. Er schwebte mir entgegen. Eleena gab ein
schluchzendes Wimmern von sich.
»Bleib nah bei mir!«, sagte ich zu ihr.
»Hallo Gregor«, sagte Cherubael. Seine Stimme klang heiser
und geschädigt. Der Astropath, in dessen Körper er wohnte, hatte
viele Jahre nicht mehr gesprochen, und die Stimmbänder waren
teilweise verkümmert.
»Haben wir nicht Spaß zusammen, Gregor?«, fuhr er fort, wäh
rend mich die ausdruckslosen Augen fixierten. Er lächelte, aber in
den leeren Augäpfeln lag keine Wärme. Nichts lag darin, nur Bö
ses.
»Es macht immer so viel Spaß, diese Spiele mit dir zu spielen.
Aber das hier muss wohl eine kleine Überraschung sein, hm? Du
hast nicht damit gerechnet, mich zu sehen, oder? Diesmal hast
nicht du mich gerufen.«
Er kam näher. Ich spürte nicht Hitze, sondern brennende Kälte
von ihm ausstrahlen. Ich blätterte immer noch in dem Buch.
»Ich habe noch eine Überraschung für dich«, fügte er im Flüs
terton hinzu. »Das ist unser letztes gemeinsames Spiel. Ich habe
genug davon, dass du dir alle Spiele ausdenkst. Hast du gesehen,
was ich mit diesem pferdegesichtigen Schwachkopf gemacht ha
be? Mit dir mache ich das nicht, alter Freund. Mit dir mache ich
etwas, das wirklich wehtut.«
Er schoss vorwärts, wich dann aber ein wenig zurück, als sei er
gestochen worden. Er hatte die psionische tote Zone um Eleena
berührt. Cherubael richtete seine Aufmerksamkeit auf sie.
»Hallo. Bist du aber ein süßes kleines Ding. So ein hübsches
Gesicht! Ein Jammer, dass ich es ruinieren werde.«
»Mmmh!«, schluchzte Eleena.
»Du bist ein schlauer alter Langweiler, Gregor. Immer darauf
bedacht, eine Unberührbare bei dir zu haben, wenn du mir be
gegnest. Aber das ist nicht deine Übliche, oder? Was ist mit ihr
passiert?«
Ich schlug das Buch auf.
»Aber sie wird dich nicht retten«, sagte Cherubael, indem er
Hände ausstreckte, aus denen dicke, hässliche Krallen wuchsen.
Ich riss das Buch hoch und hielt es mit beiden Händen vor seine
Augen, indem ich es aufgeschlagen ließ, damit der Dämonenwirt
alles klar sehen konnte.
Es waren Diagramme der vier wichtigsten Runen des Bannens.
Sie würden Cherubael nicht bannen, weil sie nicht richtig invoziert
worden waren. Aber es war ziemlich sicher, dass ihn der bloße
Anblick schmerzen würde.
Cherubael schrie auf und schwebte zurück. Ich trat einen Schritt
vor, wobei ich das Buch erhoben und geöffnet hielt.
Von Schmerzen geschüttelt, raste der Dämonenwirt durch den
Brückenraum und durch den Hauptschirm und zerschmetterte die
hololithischen Tafeln in einem Regen aus Kristallsplittern und
Funken. Er prallte zweimal gegen die Decke wie eine aufgebrach
te Hornisse, die gegen eine Fensterscheibe kämpft, und sein
Flammenhalo wurde zuerst gelb und dann orange.
Cherubael stürzte zu Boden, schlug auf, brannte sich hindurch
und ließ ein rundes, rauchendes Loch zurück.
»Ach, lieber Imperator …«, ächzte Eleena.
»Vorwärts!«, sagte ich. »Es wird nicht lange dauern, bis er zu
rückkommt, um es noch mal zu versuchen. Beweg dich!«
Medea kam angelaufen. Die letzten Gardisten waren damit be
schäftigt, mit ihren Umhängen auf die Flammen einzuschlagen, in
die Heldane gehüllt war. Er schrie immer noch.
»Schaff sie hier raus!«, sagte ich zu Medea, indem ich Eleena
auf sie zuschob. »Ins Hangardeck! Los!«
Sie liefen zum Ausgang. Tiefe Bassdetonationen irgendwo tief in
der Essene ließen den Boden erbeben. Mehrere Alarmsirenen
heulten. Aus der verbeulten Decke der Brücke sprühten Funken.
Ich ging zu Maxilla. Seine Augen flatterten, und er sah zu mir
hoch. »Ich hab’s nicht so gemeint …«, sagte er mit dünner Stim
me.
»Was gemeint?«
»Ich habe diesem Scheusal gesagt, Sie alle würden mir nichts
bedeuten. Aber das habe ich nicht so gemeint.«
»Ich weiß.«
»Danke«, sagte er und starb.
NEUNZEHN
In Yssariles Hallen.
Blätter der Finsternis.
Im Namen des Heiligen Gott-Imperators.
Nicht weit entfernt benutzte irgendjemand eines dieser ver
dammten Shurikenkatapulte. Ich konnte das Jhut! Jhut! Jhut! des
Werfer-Mechanismus und die dünnen, spröden Geräusche der
Einschläge hören.
In meinem Mund war Blut, nahm ich zur Kenntnis. Darüber
würde ich mir später Sorgen machen. Crezia würde zweifellos
einen ziemlichen Wirbel darum veranstalten. »Du solltest das
wirklich besser nicht tun«, hatte sie mich eindringlich auf der
Krankenstation der Hinterlicht gewarnt.
Und damit lag sie ganz einfach falsch. Das hier war die Arbeit
des Imperators. Das hier war meine Arbeit.
»Aufschließen«, sagte Nayl über Interkom. »Zwanzig Schritte.«
»Verstanden«, erwiderte ich. Ich trat vor. Es war immer noch
anstrengend und immer noch eine Überraschung für mich, dass
mein Körper so erbärmlich langsam war. Die kruden augmeti
schen Stützen um meine Beine und meinen Rumpf zogen mich
nach unten und zwangen mich zu stapfen wie ein Oger aus den
alten Sagen.
Oder wie ein Kampftitan, überlegte ich wehmütig. Einen schwe
ren Schritt nach dem anderen stampfte ich unbeholfen meiner
Bestimmung entgegen.
Es war das Beste, was Crezia und Antribus angesichts der vor
handenen Zeit und Ressourcen geschafft hatten. Crezia hatte
mich unbedingt in die Krankenstation sperren und schnellstmög
lich in eine erstklassige imperiale Einrichtung bringen wollen.
Ich hatte darauf bestanden, mobil zu sein.
»Wenn wir jetzt hastig Reparaturen vornehmen«, hatte sie ge
sagt, »wird sich das langfristig negativ auswirken. Um dich ge
hfähig zu machen, müssen wir Dinge tun, die später nicht mehr
reparabel sind, in welche Einrichtung du dich anschließend auch
begibst.«
»Tu es einfach«, hatte ich gesagt. Für die Gelegenheit, an Pon
tius Glaw zu kommen, würde ich mit Freuden auf die höchsten
Stufen prothetischer Kunst verzichten. Ich brauchte nur zu funk
tionieren.
Barbarisater zitterte in meiner rechten Faust, als es eine Bioau
ra spürte, aber ich entspannte mich. Es war Kara Swole.
Sie trabte durch die Kluft zu mir zurück, mit einem engen, grü
nen gepanzerten Trikotanzug und einer dicken, gefütterten Flak
jacke bekleidet. Sie hatte ein Staubvisier heruntergeklappt und
eine stupsnasige kompakte Handkanone über die Schulter gewor
fen.
»Alles klar, Boss?«, fragte sie.
»Alles bestens.«
»Du siehst aus …«
»Wie?«
»Stinksauer.«
»Danke, Kara. Wahrscheinlich bin ich verärgert, weil du und
Nayl die Spitze bildet und den ganzen Spaß habt.«
»Nayl meint sowieso, wir sollten enger zusammenrücken.«
Über Kom rief ich das zweite Element unserer Streitmacht. We
niger als zwei Minuten später waren Eleena und Medea bei uns.
Mit ihnen kamen Lief Gustine und Korl Kraine, zwei Männer aus
Gideons Truppe, die uns als Verstärkung aushalfen, sowie Gi
deons angeworbener Archäologe Kenzer.
»Wir schließen auf«, sagte ich zu ihnen.
»Alles in Ordnung, Inquisitor?«, fragte Eleena.
»Es geht mir blendend. Blendend. Ich wünschte nur …« Ich hielt
inne. »Es geht mir blendend, danke, Eleena.«
Sie machten sich immer noch alle Sorgen um mich. Seit dem
Gemetzel im Jeganda-System waren erst dreieinhalb Wochen
vergangen. Ich war erst seit drei Tagen wieder auf den Beinen.
Insgeheim waren alle derselben Meinung wie Crezia: Ich sollte im
Krankenrevier bleiben und alles Ravenor überlassen.
Nun, das war der Witz daran, der Boss zu sein. Ich traf die ver
dammten Entscheidungen. Aber ich sollte nicht wütend auf sie
sein, weil sie sich Sorgen machten. Ohne Karas und Eleenas hek
tische Erste Hilfe in der Pinasse wäre ich gestorben. Ich war
zweimal kollabiert. Eleena, die einzige Person mit meiner Blut
gruppe, hatte sogar noch in letzter Minute Blut gespendet.
An den Rändern zerfetzt, war meine Gruppe enger zusammen
gewachsen denn je.
»Legen wir einen Zahn zu«, sagte ich. »Wir wollen nicht, dass
Nayl und Ravenor den Ruhm für sich allein haben.«
»Nach dir, Eisenhuf«, sagte Medea.
Kara kicherte, gab aber vor, Probleme mit ihrer Atemmaske zu
haben.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wieso du glaubst, dass du mit so
einem Spitznamen durchkommst«, sagte ich.
Wir hörten wieder das Shurikenkatapult. Das Geräusch kam
ganz aus der Nähe und hallte durch das Labyrinth der Schlucht zu
uns zurück.
»Jemand veranstaltet eine Feier«, sagte Gustine. Bärtig, ver
mutlich, um die furchtbaren Narben zu verbergen, die seine ge
samte Haut zu bedecken schienen, war Gustine ein ehemaliger
Gardist, der auf Grubenkämpfer, Kopfgeldjäger und schließlich
Inquisitionssoldat umgesattelt hatte. Er sagte, er stamme von
Raas Bisor im Segmentum Tempestus, aber ich wusste nicht, wo
das war - abgesehen davon, dass es im Segmentum Tempestus
lag. Gustine trug eine schwere graue Rüstung und ein altes, oft
repariertes normales IG-Lasergewehr.
Er war schon viele Jahre bei Ravenor, also vertraute ich ihm.
Die surrenden Geräusche ertönten wieder, vom knackenden Zi
schen von Laserentladungen begleitet.
»Ravenors Freunde«, sagte Medea.
Keiner von uns fühlte sich wohl mit den Eldar. Sechs von ihnen
waren auf Gideons Schiff eingetroffen, als Leibwache für den Ru
nenpropheten. Groß, viel zu groß, unmenschlich schlank und still,
beschränkten sie sich auf den Bereich des Schiffs, der ihnen zu
gewiesen war. Aspektkrieger hatte Gideon sie genannt, was im
mer das bedeuten mochte. Die gefiederten Büsche auf ihren gro
ßen runden Helmen ließen sie noch größer aussehen, wenn sie
ihre Rüstung angelegt hatten.
Sie hatten Ravenor, den Lord Runenprophet und drei weitere
Mitglieder von Ravenors Truppe zur Oberfläche begleitet.
Ein dritter, sechsköpfiger Angriffstrupp unter Ravenors bedeu
tendstem Unterführer Rav Skynner war etwa einen Kilometer
westlich von uns vorgerückt.
Ghül oder 5213X im Carto-Imperialis-Code war anders, als ich
es mir vorgestellt hatte. Der Planet hatte keinerlei Ähnlichkeit mit
der ausgedörrten Welt, die ich in Maria Tarrays Gedanken gese
hen hatte, der vertrockneten Hülse, wo urtümliche Städte unter
Ascheschichten vergraben lagen. Ich nehme an, es lag wohl dar
an, dass ich nur gesehen hatte, wie sie sich den Planeten vorstell
te. Sie hatte ihn selbst nie gesehen. Sie hatte nicht lange genug
gelebt, um noch Gelegenheit dazu zu haben.
Ich fragte mich, ob Ghül der Vision des Runenpropheten ent
sprach. Wahrscheinlich. Die Eldar kamen mir wie unnötig präzise
Bastarde vor.
Wir hatten uns der Welt in einer weiten, verstohlenen Umlauf
bahn genähert. Die Hinterlicht war mit Tarnfeldern ausgerüstet,
die Ravenor mir nicht erklären wollte, von denen ich aber das
Gefühl hatte, dass sie zumindest teilweise von seinem eigenen,
beängstigend starken Willen erschaffen wurden. Sensoren im ho
hen Frequenzband hatten ein Raumschiff in enger Umlaufbahn
ausgemacht, einen Freihändler von beträchtlicher Größe, der
nicht zu bemerken schien, dass wir da waren.
Ghül selbst war unsichtbar. Oder beinahe unsichtbar. Ich habe
nie eine Welt gesehen, die so wenig da zu sein schien. Sie war ein
Schatten vor dem Sternenfeld, ein schwach erkennbares Materie
echo. Sogar auf der sonnenwärtigen Seite fehlte ihr jede echte
Form. Sie schien Licht aufzusaugen und nichts zurückzugeben.
Als Cynia Preest, Ravenors weiblicher Schiffskapitän, uns die
ersten Oberflächenabtastungen zum Studium brachte, hatten wir
geglaubt, sie zeige uns Nahaufnahmen von einem Kinderspiel
zeug.
»Das ist ein Labyrinth«, erinnere ich mich gesagt zu haben.
»Ein Rätsel … wie ein Mosaik«, entschied Ravenor.
»Nein, ein bearbeiteter Obstkern«, hatte Medea gesagt.
Wir hatten sie alle angesehen. »Die Werke des Herrn am Herzen
eines Steins?«, fragte sie. »Niemand?«
»Vielleicht könntest du es uns erklären?«, sagte ich.
Und das hatte sie getan. Lang und breit, bis wir die Idee ver
standen hatten. Die Einsiedler von Glavia waren anscheinend der
Ansicht, dass sie ihrer göttlichen Liebe für den Imperator keinen
größeren Ausdruck verleihen konnten als den, das gesamte Impe
riale Gebet auf die Kerne von Sekerrys zu schreiben. Eine Seker
ry, erfuhren wir, war eine weiche, süße Sommerfrucht, die nach
Quitte und Nougat schmeckte. Ein wenig so wie ein Schirnapfel,
wurden wir zuverlässig informiert. Die Kerne hatten die Größe
von Perlen.
Zum Glück hatte niemand den Fehler gemacht zu fragen, was
ein Schirnapfel war.
»Ich weiß nicht, wie sie es schaffen«, war Medea fortgefahren.
»Sie machen es mit bloßem Auge und einer Nadel. Sie können
nicht einmal sehen, glaube ich. Aber in der Schola haben sie uns
vergrößerte Bilder von den bearbeiteten Kernen gezeigt. Man
konnte jedes Wort lesen! Jedes einzelne Wort! Die Werke des
Herrn auf dem Herzen eines Steins. Alles eng zusammen, kom
pakt und unter Ausnutzung jedes noch so kleinen Winkels. Man
hat uns gelehrt, die Gebetskerne seien eines der Neunzehn Wun
der von Glavia, und dass wir stolz darauf sein könnten.«
»Neunzehn Wunder?«, hatte Cynia gefragt.
»Goldener Thron, Frau, ermuntern Sie sie nicht auch noch!«,
hatte ich gerufen. Aber an Medeas Vergleich war tatsächlich et
was dran gewesen. Die Oberfläche von Ghül war beschriftet wor
den; so sah die Welt aus. Wie eine perfekte schwarze Kugel, de
ren gesamte Oberfläche eng mit tiefen, miteinander verbundenen
Linien bedeckt war. Tatsächlich war jede dieser Linien eine zwei
hundert Meter breite und neunhundert Meter tiefe Schlucht mit
glatten Wänden.
Ich staunte über Medeas Beschreibung. Ich erinnerte mich an
die Karte, die wir bei der Auto-Séance auf Promody gesehen hat
ten, und daran, wie die Notizen des guten Aemos’ dieselbe ge
wundene Form angenommen hatten wie die Karte, während er
sich um ihre Entschlüsselung bemühte.
Ghül mochte durchaus beschriftet sein, entschied ich. Die ge
samte Kultur der Warp-Verdrehten, ganz gewiss ihre Sprache,
war auf Ausdrücken von Raum und Orten aufgebaut. Ich stellte
mir vor, dass die beschriftete Wand, die wir bei der Auto-Séance
gesehen hatten, Teil eines derartigen Labyrinths von Linien gewe
sen war, und zwar in einer Zeit, als Promody wie Ghül ausgese
hen hatte, die Hauptwelt.
Wir rückten durch die Schlucht vor. Sie bog leicht nach Westen
ab wie ein alter Fluss, der sich tief in sein Bett gegraben hatte.
Vor langer Zeit auf KCX-1288, als wir den Saruthi begegnet war
en, hatte mich der Mangel an regelmäßiger Geometrie bestürzt.
Jetzt bestürzte mich das Gegenteil. Alles war so verdammt präzi
se, abgerundet, makellos und ohne Fehl. Nur eine leichte rußarti
ge Ablagerung auf dem breiten Boden des Grabens deutete über
haupt auf so etwas wie Alter hin.
Wir holten Nayl ein.
»Sie wissen, dass wir hier sind«, kommentierte er die Kampfge
räusche im Nebengraben.
»Irgendeine Vorstellung von ihrer Anzahl?«, fragte ich.
»Keine, aber Skynners Trupp ist auch auf Ärger gestoßen. Ves
soriner, schätzt er, in Panzeranzüge gehüllt, schwer und bis an
die Zähne bewaffnet.«
»Dann sind wir besser vorsichtig.«
Ich versuchte Ravenor zu erreichen und benutzte dafür meinen
Geist anstelle des Interkoms.
Status?
DIE ASPEKTKRIEGER HABEN …
Stopp, stopp, stopp … leiser, bitte, Gideon.
Entschuldige. Ich vergesse manchmal, dass du …
Dass ich was?
Dass du verwundet bist, wollte ich nur sagen. Die Aspektkrieger
haben Feindkontakt. Es geht hier ziemlich geschäftig zu.
Ich konnte das unterschwellige Aufwallen von Energie spüren,
als er seine geistigen Kräfte kanalisierte, um die Psi-Kanonen sei
nes Stuhls abzufeuern.
Der Gegner?, sendete ich.
Vessoriner Janitscharen und noch andere Söldner, insgesamt
ein heterogenes Gemisch. Wir …
Er brach ab. Einen Moment gab es ein knirschendes Verzer
rungsrauschen.
Entschuldige, sendete er. Irgendeine Fusionswaffe. Sie wollen
uns definitiv nicht hier drinnen haben.
Wo hier drinnen?
Er sendete eine Reihe von Koordinaten, und ich nahm Nayl die
Kartentafel aus den Händen und tippte sie ein.
Ein Bauwerk, sendete Ravenor. Vor uns, südwestlich von dir. Es
ist in die Ecke von einer der Schluchtenkreuzungen eingebaut.
Obwohl ich nicht weiß, wie. Es gibt keine Türen. Aber die Vessori
ner kommen irgendwoher. Es muss einen versteckten Eingang
geben.
Mehr Verzerrungsrauschen. Dann war er wieder da.
Die Vessoriner kämpfen wie Wahnsinnige. Mein Lord Runenpro
phet sagt, sie haben sich bereits die Hochachtung der Aspektkrie
ger verdient.
Dein Lord Runenprophet?
Bitte wiederholen, das habe ich nicht verstanden.
Nichts, Gideon. Wir versuchen, über das Nordostende der Kreu
zung zu euch zu stoßen.
Verstanden.
Vorwärts!, drängte ich. Die anderen erschraken, bis auf Eleena,
und mir ging auf, dass ich immer noch meinen Geist einsetzte.
Schlampig. Ich war erschöpft und hatte Schmerzen. Trotzdem
keine Entschuldigung.
»Entschuldigung«, sagte ich laut. »Wir rücken vor. Diese
Schlucht biegt nach Südwesten ab und kreuzt zwei andere. Das
Ziel befindet sich an der Kreuzung, glaubt Gideon.«
Wir eilten durch den tiefen Schatten der Schlucht weiter.
»Goldener Thron!«, rief Kenzer plötzlich. Er schaute nach oben.
Grelle Lichtblitze erhellten den Sternenhimmel zwischen den
Seiten der Schlucht. Sie zuckten hin und her, als gieße jemand
Milch in Tinte. Auf unsere Anwesenheit aufmerksam geworden,
hatte Glaws Raumschiff das Feuer eröffnet, und die Hinterlicht
antwortete. Lichtblitze wie von einem Stroboskop zuckten über
den Himmel.
»Ich wollte nicht da oben sein«, sagte Korl Kraine. Kraine war
ein Makropolgeborener, der nie in einer offiziellen Miliz oder Ar
mee gedient hatte. Seine Treue gehörte zuallererst Ravenor und
zweitens und letztens dem Unterklan von Tanmakropole Neun,
Tansetch. Er war ein kleiner blasser Mann, der geflickte und zu
rechtgeschnittene Flakleinwand trug. Seine Haut war mit Klanfar
ben gefärbt, und seine Augen waren billige Augmetika. Er trug
eine Kette aus Menschenzähnen um den Hals, was eine ziemliche
Ironie war, da seine eigenen Zähne aus Keramit bestanden.
Kraine hob sein mit einem Nachtsichtgerät ausgestattetes
Tronsvasse-Autogewehr an die Schulter und eilte vorwärts. Er
hatte sein Leben lang in einem lichtlosen Stadtstollen gelebt, bis
Ravenor ihn rekrutiert hatte. Diese Düsternis kam ihm entgegen.
Das Geräusch der Katapulte wurde lauter. Mittlerweile waren
mehrere am Werk und summten im Duett mit schweren Laser
waffen. Ich hörte das erdige Krachen einer Granate.
Kenzer, der Archäologe, hing etwas zurück. Er gehörte nicht zu
Ravenors offizieller Truppe, sondern war lediglich ein Experte, der
für seine Hilfe auf Promody bezahlt worden war. Ich mochte ihn
nicht sonderlich. Er hatte kein Rückgrat und war nicht richtig bei
der Sache.
Ich brauchte nicht seine Gedanken zu lesen, um zu wissen, dass
er nur wegen des potenziellen Vermögens hier war, das er mit
einigen exklusiven akademischen Traktaten über die Ghül-
Entdeckung verdienen konnte.
»Beeilung!«, brüllte ich ihn an. Mein Rücken wurde langsam
müde, und ich hatte wieder Blut im Mund.
Kenzer kauerte an der Schluchtwand und fummelte an seinem
Handabtaster herum.
Ich befahl einen Halt und stapfte zu ihm zurück, wobei meine
schweren, mit dem Metallrahmen der Stützen beschwerten Stiefel
Ruß aufwirbelten. Eisenhuf, in der Tat!
Ich glaube, am meisten ärgerte mich nicht der Stützrahmen,
sein Gewicht oder der unbeholfene Gang, zu dem ich gezwungen
war, nicht einmal das Blut, das mir von irgendwoher in den Mund
lief.
Nein, das Schlimmste war meine kalte Kopfhaut.
Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen. Crezia war ge
zwungen gewesen, mir den Kopf kahl zu scheren, um das Bündel
der neuralen und synaptischen Kabel zu implantieren, die den
augmetischen Rahmen um meine Beine steuern würden. Sie war
während der gesamten Implantationsprozedur außer sich gewe
sen. Es war wirklich furchtbar krude, sogar nach grundlegenden
imperialen Maßstäben. Aber draußen im Nirgendwo war es das
Beste gewesen, was sie und Antribus hatten zusammenbasteln
können.
Was sein muss, muss sein, wie man sagt.
Ich war kahl, und mein Hinterkopf war wund und mit den Im
plantatsbuchsen der subspinalen Zuleitungen bedeckt, die meine
treuen Ärzte installiert hatten, damit der Beinrahmen funktionier
te. Die stahlummantelten Kabel sprossen aus meiner Kopfhaut
und liefen meinen Rücken hinunter bis in den Lumbalservo der
Gehstütze. Die gebündelten Kabel waren wie ein augmetischer
Pferdeschwanz fein säuberlich an meinen Rücken getackert.
Mit der Zeit würde ich mich daran gewöhnen. Wenn ich die Zeit
hatte. Wenn nicht, was spielte es dann für eine Rolle?
Ich blieb neben Kenzer stehen, sodass mein Schatten auf ihn
fiel.
»Was machen Sie da?«
»Eine Aufzeichnung, Inquisitor«, plapperte er. »Hier ist eine
Markierung. Die Mauern, die wir bisher gesehen haben, waren
alle glatt und leer.«
Ich schaute nach unten. Es war schwer, sich zu bücken. »Wo?«
Er holte einen Gebläsepinsel aus dem Rucksack mit seiner Aus
rüstung und blies den Ruß weg. »Da!«
Eine kleine Spirale. In den glatten Fels geschnitten.
Sie sah aus wie eine winzige Version der Karte, die wir auf Pro
mody gesehen hatten, oder wie eine extrem winzige Version der
labyrinthartigen Oberfläche dieses Planeten.
»Machen Sie Ihre Aufzeichnung und gehen Sie weiter«, sagte
ich. Ich wendete mich ab. »Vorwärts«, rief ich schroff über die
Schulter nach hinten.
Kenzer schrie. Laserstrahlen zuckten.
Ich fuhr sofort wieder herum. Kenzer lag auf dem Boden der
Schlucht, von Laserstrahlen zerfetzt. Er hatte nicht mehr alle
Glieder am Leib, so heftig war die Wirkung der aus nächster Nähe
abgefeuerten Strahlen gewesen. Das aus seinem Leichnam rin
nende Blut versickerte im Ruß.
Von einem Angreifer war nichts zu sehen.
»Was war das?« Barbarisater war in meiner Hand und hatte ge
schnurrt, doch nun war es still.
Nayl warf sich neben mir auf den Boden und ließ den Lauf sei
nes mattschwarzen Lasergewehrs umherwandern.
»Wie im Namen Terras ist das passiert?«, fragte er. »Lief, Korl?
Schluchtrand?«
Ich drehte mich um. Gustine und Kraine arbeiteten sich lang
sam rückwärts, Blick und Waffen auf die oberen Ränder der
Schlucht gerichtet.
»Nichts. Keine Heckenschützen oben«, meldete Gustine.
Ich schlug mit der Handfläche auf die kalte Steinwand der
Schlucht oberhalb der Markierung, die Kenzer gefunden hatte. Sie
war absolut unnachgiebig.
Wir rückten weiter vor und folgten dem Verlauf der Schlucht.
Kraine hatte die Nachhut übernommen. Nach fünfzig Metern
schrie er plötzlich auf.
Als ich mich umdrehte, sah ich ihn gerade noch im Kampf gegen
zwei vessoriner Janitscharen in vollem Panzer. Kraine taumelte
rückwärts, da er wiederholt in den Rumpf getroffen wurde,
schaffte es aber, trotzdem noch zu schießen. Er jagte eine Salve
durch das Visier eines der Vessoriner, bevor der andere den tödli
chen Treffer setzte und Kraine in den Ruß schickte.
Nayl und Medea schossen bereits. Der verbliebene Vessoriner
schwenkte seine Waffe herum und gab eine weitere Salve ab, mit
der er Eleena und Nayl streifte.
Dann fiel er auf den Rücken, als Karas Kanone ihn förmlich aus
einanderriss.
»Kümmere dich um sie!«, befahl ich Medea, indem ich auf Nayl
und Eleena zeigte.
Nayls linker Arm hatte einen Streifschuss abbekommen, und
Eleena hatte eine Fleischwunde am linken Schienbein. Beide be
standen darauf, es ginge ihnen gut.
Medea öffnete ihren Rucksack und holte Kompressen und Ver
bandszeug heraus.
Ich sah mir die Leichen an. Kraine und die Vessoriner. Gustine
tauchte neben mir auf. »Woher sind sie gekommen?«, fragte er.
Ich antwortete nicht. Ich zog meinen Runenstab über den Kopf
aus seiner Lederscheide und hielt ihn fest, während ich meine
Kräfte auf die Schluchtwand konzentrierte. Ruß und die Ablage
rungen von Äonen stoben davon, und ich sah eine weitere Spi
ralmarkierung in der Wand wie diejenige, welche Kenzer gefun
den hatte.
»Karten«, sagte ich.
»Wie bitte, Inquisitor?«, fragte Lief.
Ich bückte mich, spie auf meine Finger und rieb dann mit der
Hand über die Spiralmarkierung. Dabei gab ich mir alle Mühe, die
Blutschliere im Speichel zu ignorieren.
»Kein Wunder, dass Ravenor keinen Eingang finden kann. Wir
sehen das nicht in der richtigen Dimension.«
»Verzeihung, Inquisitor, aber wovon zum Henker reden Sie?«,
fragte Lief.
Ich mochte ihn. Immer ehrlich.
»Die Warp-Verdrehten haben Zeit und Raum auf eine Weise be
griffen, die wir uns nicht vorstellen können. Schließlich kamen sie
aus dem Warp. Wir betrachten dies als geometrisches Netz ma
thematisch präziser Schluchten, als Labyrinth. Aber das ist es
nicht. Es ist vierdimensional …«
»Vierdimensional?«, fragte Gustine unsicher nach.
»Vier-, sechs-, achtdimensional … wer weiß? Stellen Sie es sich
vor wie … wie ein gestricktes Kleidungsstück!«
»Ein gestricktes Kleidungsstück, Inquisitor?«
»Ja, all die dicken ineinander und miteinander verwobenen Fä
den, ein sehr kompliziertes Muster.«
»In Ordnung …«
»Jetzt stellen Sie sich die Stricknadeln vor, die es anfertigen.
Nur die Nadeln. Groß, hart, simpel.«
»Gut …«, sagte Medea, die sich zu uns gesellt hatte.
»Dieser Planet ist ganz einfach das Strickzeug. Hart, starr, sim
pel. Die Wirklichkeit von Ghül ist das Kleidungsstück, das die Na
deln stricken und das wir nicht sehen können, etwas Komplexes
und Weiches, das sich um die Nadeln schmiegt.«
»Es tut mir leid, Inquisitor, aber ich kann Ihnen nicht folgen«,
sagte Lief Gustine.
»Folgen«, sagte ich. »Das stimmt genau. Diese Markierungen
an der Wand. Sie sind wie Mini-Karten, die erklären, wie die um
liegende Wirklichkeit betreten und verlassen werden kann.«
Gustine nickte, als habe er verstanden. »Schön … also zurück
zur Ausgangsfrage: Woher sind die Janitscharen gekommen?«
Ich schlug gegen die harte Wand. »Von hier. Genau von hier.«
»Aber das ist solides Gestein!«
»Nur für uns«, sagte ich.
Als wir weiter durch die Schlucht vorrückten, bildeten wir eine
Formation, die nach allen Seiten sicherte, wie eine Phalanx von
Speerträgern aus den Anfängen der Kriegführung. Der Lärm von
Ravenors Schlacht wurde frenetisch. Nayl meldete grimmig, er
könne weder Skynner noch sonst jemanden aus dessen Gruppe
erreichen.
Wir hielten alle nach weiteren Markierungen an den Wänden
Ausschau.
»Hier, Inquisitor! Hier!«, meldete sich Kara.
Ich stapfte zu der Spirale, die sie gefunden hatte. »Wir warten«,
befahl ich.
Wie ein blinzelndes Auge öffnete sich der glatte Fels. Plötzlich
war er einfach nicht mehr da. Ein vessoriner Janitschar im
Kampfpanzer kam mit erhobener Waffe hervor.
Nayl hatte seine Waffe auf ihn gerichtet und fällte ihn mit einem
einzigen Schuss, doch hinter dem ersten waren noch mehr.
Medea fing an zu schießen. Zwei weitere Söldner waren aus der
Wand auf der anderen Seite der Schlucht getreten.
Es gab keine Deckung. Überhaupt keine verdammte Deckung.
Einen Moment später wurden wir von einer dritten Position un
ter Beschuss genommen.
Ich hatte bereits die schwere Hecuter-Autopistole gezogen, die
ich mir aus dem Arsenal der Hinterlicht geborgt hatte. Gustines
altes Lasergewehr zischte neben mir, und Eleena leerte das Ma
gazin ihrer Pistole auf Halbautomatik.
Bis jetzt hatten sie uns nur etwas weichgeklopft. Dies war ein
kapitaler Hinterhalt. Ich zählte mindestens fünfzehn Janitscharen
und einen Ogryn mit einer schweren Waffe. Nayl ging mit einem
Oberschenkeltreffer zu Boden, schoss aber weiter. Ein Laserstrahl
zerstob an der schweren Stütze meines linken Beins.
Zeit für eine Änderung im Kräfteverhältnis.
»Cherubael!«, befahl ich.
Der Dämonenwirt hatte hoch über der Schlucht und hinter uns
geschwebt wie ein Drachen, aber nun sauste er herab und nahm
dabei Geschwindigkeit und Leuchtkraft auf.
Bei der Konstruktion dieses Dämonenwirts war ich sehr viel um
sichtiger vorgegangen. Auf Grundlage des primitiven und hasti
gen Rituals, das Aemos und ich in den letzten Minuten an Bord
der Essene ausgeführt hatten, waren die Runen und Schutzvor
richtungen auf seiner Haut von mir ergänzt worden, um seinen
Gehorsam zu stärken. Diesem Dämonenwirt würde die kapriziöse
Heimtücke seines Vorgängers nicht gestattet sein. Er würde sich
nicht auflehnen. Er würde nicht die wilde Bestie sein, die ständig
beobachtet werden musste. Er war mit dreifachen Schutzvorrich
tungen gebunden und vollkommen unterwürfig. Ich bildete mir
ein, in der Lage zu sein, aus meinen Fehlern zu lernen, zumindest
manchmal.
Natürlich hatte derartige Sicherheit ihren Preis. Dieser Cheru
bael konnte sehr viel weniger Macht manifestieren, eine direkte
Konsequenz der verstärkten Bindungen. Aber er besaß noch ge
nug. Mehr als genug.
Mit einem Kometenschweif aus Warpflammen jagte er durch die
Schlucht und verheerte eine Gruppe von Angreifern in einem ver
schwommenen Äthersturm. Für die Vessoriner spricht, dass sie
nicht schrien. Aber sie verloren ihren Angriffsmut und ließen sich
zurückfallen.
Der Ogryn schoss mit seiner schweren Waffe auf den heranra
senden Wirt. Der Einschlag blätterte wie Blüten von Cherubael ab.
Er stieß dem kreischenden Metahumanoiden die Krallen in die
Brust und hob ihn hoch.
Und dann warf er ihn. Der Ogryn flog hoch in die Luft. Einfach
nur hoch und immer höher.
Cherubael änderte die Richtung und raste durch die Schlucht zu
den zurückweichenden Söldnern. Unsere Waffen hatten sie mitt
lerweile dezimiert, und wir verfolgten sie, obwohl Eleena bei dem
am Boden liegenden, fluchenden Nayl geblieben war.
Mir fiel noch etwas anderes an diesem neuen Cherubael auf. Er
lachte nicht mehr. Niemals. Sein Gesicht war zu einem unerbittli
chen Stirnrunzeln erstarrt. Er ließ keine Anzeichen erkennen, dass
ihm sein Gemetzel irgendwelche Freude bereitete.
Was wiederum mich freute. Das Gelächter war mir wirklich auf
die Nerven gegangen.
Aber es würde eine Weile dauern, sich an Cherubaels neues Ge
sicht zu gewöhnen. Einmal fest in seinem fleischlichen Wirt ver
ankert, hatte der Dämon die üblichen Veränderungen vorgenom
men - die sprießenden Hörnernoppen, die Krallen, die glatte,
glänzende Haut, die leeren Augen.
Aber er hatte Godwyn Fischigs Züge nicht völlig ausgelöscht.
Er tötete die letzten Angreifer, alle bis auf einen, der die
Schluchtmauer erreichte und die Dimensionsfalle öffnete, aus der
sie gekommen waren.
»Festhalten!«, befahl ich. »Halt die Tür auf!«
Cherubael gehorchte. Er atomisierte den letzten Söldner, als die
Falle offen war, und breitete dann die Arme aus, was sie daran
hinderte, sich wieder zu schließen. Selbst Cherubael bereitete
dies große Mühe.
»Mach. Schon«, sagte er, als sei er verärgert über mich.
Ich erreichte die Falle.
Es blieb keine Zeit, uns alle durchzubringen. Gustine warf sich
kopfüber hinein, und ich folgte, wobei ich den anderen zurief,
zurück- und zusammenzubleiben.
Als Letztes hörte ich einen lauten, matschigen Aufprall, bei dem
es sich um den Ogryn handeln musste, der schließlich dem Ge
setz der Schwerkraft gehorchte.
Die Falle blinzelte zu.
Ich spürte einen Übelkeit erregenden Übergangsruck. Ich lande
te auf dem am Boden liegenden Gustine in einem spärlich er
leuchteten, kastenartigen Raum, der muffig roch.
»Au!«, beschwerte er sich.
Ich erhob mich. Das allein war lächerlich schwierig. Als ich wie
der stand, schwitzte ich ausgiebig.
»Alles in Ordnung?«, fragte Gustine.
»Ja«, schnauzte ich. Aber das war es eigentlich nicht. Mein Kopf
pochte, und die Schmerzen in meinen Beinen setzten sich lang
sam gegen die Schmerzmittel durch, die automatisch von einem
Spender verabreicht wurden, den Crezia an meiner Hüfte angeb
racht hatte.
»Du erwartest besser nicht von mir, dass ich dich trage«, flüs
terte Cherubael hinter mir.
»Keine Sorge. Deine Würde ist nicht in Gefahr.«
Ich zog Barbarisater, nahm es in die rechte Hand und behielt
den Runenstab in der linken.
Ich stapfte vorwärts. Dunkelheit. Eine Wand. Ich drehte mich.
Noch eine Wand.
»Gustine?«
Er hatte eine Taschenlampe eingeschaltet, aber sie zeigte nur
schwarze Wände. Von einer Decke war nichts zu sehen.
»Wie weit kannst du sehen?«, fragte ich Cherubael.
»Unendlich weit«, sagte er, indem er neben mich schwebte.
»Schön. Praktisch ausgedrückt: Wie weit ist das?«
»Hier drinnen nicht sehr weit. Ich kann sehen, dass die Wand
dort endet. Dahinter ist ein Spalt.«
»Na gut.« Ich stapfte voraus. Mein Rücken schmerzte jetzt
sehr, wo die Implantate angebracht waren, und meine Nase blu
tete.
Gustine klemmte die Taschenlampe in die Bajonetthalterung
seines Lasergewehrs.
Er versuchte Nayl über Kom zu erreichen. Tot und stumm.
Ich versuchte, geistig zu Ravenor durchzukommen. Nichts.
Mit schweren Schritten ging ich mit meinen seltsamen Beglei
tern durch die Dunkelheit. Der Runenstab zitterte, da er irgendei
nen Energiefokus witterte.
»Spürst du das?«, fragte ich den Dämon.
Er nickte.
Ich beschloss, dass wir ihm folgen würden.
»Haben Sie bemerkt, dass wir hier auch atmen können?«, mel
dete sich Gustine ein paar Minuten später zu Wort.
»Du meine Güte, das wäre mir nie aufgefallen.«
Er sah mich stirnrunzelnd an, da er sich hochgenommen fühlte.
»Ich meine, die Luft ist richtig, draußen wie drinnen.«
»Das ist so, damit der Feind atmen kann«, sagte Cherubael.
»Was soll das denn heißen?«
»Sie waren zuerst hier. Sie sind hineingekommen. Ghül hat die
Atmosphäre an sie angepasst, sobald Ghül spürte, dass sie da
waren.«
»Du redest, als wäre Ghül lebendig.«
»Ghül war nie lebendig«, sagte er. »Ghül war auch nie tot«,
fügte er einen Moment später hinzu.
Ich wollte ihn gerade auffordern, diese beunruhigende Vorstel
lung ein wenig auszuführen, doch plötzlich raste Cherubael da
von, in die Schwärze vor uns. Ich sah sein Licht aufblitzen, eine
Laser-Entladung.
Als er zurückkam, dampfte Blut an seinen Krallen.
»Sie jagen uns«, sagte er.
Wir näherten uns dem Mausoleum über eine Ebene aus lichtlo
sem Stein. Je weiter wir kamen, desto mehr ging mir auf, wie
weit das Bauwerk tatsächlich entfernt war. Es war offenkundig
noch viel größer, als ich ursprünglich angenommen hatte.
Ich ließ Gustine seine Taschenlampe ausschalten. Wir folgten
einfach nur den Lichtpunkten vor uns. Ich regte an, Cherubael
möge uns warnen, wenn die Dunkelheit rings um uns etwas ande
res als eine flache Steinebene sein sollte. Zum Beispiel ein Ab
grund.
Der einzige Vorteil des unvorstellbaren Maßstabs dieses Ortes,
den ich erkennen konnte, bestand darin, dass der Feind große
Schwierigkeiten haben würde, uns zu finden. Es gab so viel Raum
zu durchsuchen.
Nach einer Zeitspanne, die mir wie eine Stunde vorkam, waren
wir immer noch sehr weit vom Grabmal entfernt. Ich sah auf
meinen Chronometer, um genau zu bestimmen, wie lange wir uns
im Innern Ghüls befanden, aber er war stehen geblieben. Stehen
geblieben stimmte eigentlich nicht. Er lief noch und schlug die
Sekunden, zeigte aber die Zeit nicht mehr an.
Ich erinnerte mich an die Uhr in Aemos’ Kabinensuite, die ge
schlagen hatte, um Zeiten anzuzeigen, die keine Bedeutung hat
ten.
Als wir uns unserem Ziel näherten, wurde ich allmählich
schlauer aus den Lichtern. Winzige Punkte, so hatte es den An
schein gehabt, die kleine Lichtkreise warfen.
Es handelte sich um massive Lampen von hoher Leuchtkraft,
wie sie benutzt wurden, um Landefelder militärischer Lager zu
beleuchten. Auf Suspensor-Plattformen montiert, schwebten sie
an verschiedenen Stellen vor der Fassade des Mausoleums und
strahlten Einzelheiten der Oberfläche mit Lichtflecken von der
Größe eines Amphitheaters an. Es gab dreiundvierzig dieser Platt
formen, jede mit ihrem eigenen Strahler. Ich zählte sie.
Auf den Plattformen waren Männer, menschliche Gestalten.
Glaws Männer, war ich sicher, einige von ihnen Söldnerwachen,
die meisten Adepten arkanen Wissens, die sich seiner Sache ver
schrieben hatten.
Im Laufe der Zeit sanken einige Plattformen nach unten oder
änderten die Richtung ihres Scheinwerferstrahls.
Sie lasen die Wand.
Mit welchen Mitteln auch immer, Glaw hatte irgendwie von die
sem Ort erfahren, ihn gefunden und sich hineingestohlen, um
seine üblen Schätze zu plündern. Doch seine größten Geheimnis
se entzogen sich ihm ganz offensichtlich immer noch.
Aus diesem Grund wollte er das Malus Codicium so unbedingt.
Um das letzte Schloss aufzusperren, um ihn durch die letzte
Barriere zu bringen.
Eine der Plattformen stieg vertikal in die Höhe, und ihr Schein
werferlicht huschte über das Relief der Grabmalfassade. Sie stieg
und hielt dann hoch über uns inne, am Ende der Fassade, wie es
schien. Ihr Licht erfasste ein offenes Rechteck, vielleicht einen
Eingang, obwohl ich mich fragte, wer einen Eingang ohne Treppe
ans obere Ende einer Mauer legen würde.
Ich schalt mich für diese Frage. Die Warp-Verdrehten. »Glaw ist
da oben«, sagte Cherubael. Er hatte recht. Ich konnte den Ver
stand des Ungeheuers riechen.
Wir beeilten uns auf dem letzten Stück zum Fuß der Mauso
leumsfassade. Mehrere Lastenschweber waren dort abgestellt,
neben Metallkisten mit Ausrüstung und Ersatzlampen für die
Scheinwerfer. Ihr Basislager.
Wir warteten. Ich ließ mir unsere Möglichkeiten durch den Kopf
gehen.
Praktisch gleichzeitig sanken zwei der Plattformen zum Boden
herab und dunkelten ihre riesigen Scheinwerfer ab. Auf jeder
Plattform waren ungefähr sechs Männer.
Eine setzte auf, und zwei Männer sprangen ab und eilten zu ei
nem der Lastenschweber. Ich konnte hören, wie sie ein paar Wor
te mit den Männern auf der Plattform wechselten. Einen Moment
später landete die zweite daneben.
Ich konnte die Männer sehen. Sie trugen leichten Drillich oder
Schutzkleidung. Einige hatten Datentafeln in den Händen.
Die Männer, die zum Schweber gegangen waren, kamen mit ei
ner Ausrüstungskiste zurück. Sie luden sie auf die Plattform, die
sofort wieder die Fassade emporstieg, während der Scheinwerfer
wieder hochgefahren wurde, um die Arbeit fortzusetzen.
»Vorwärts«, sagte ich leise.
Mehr Männer luden mehr Kisten auf die andere Plattform. In
sgesamt waren es sechs, vier in Gewändern und zwei gerüstete
Söldner, welche die Plattform bedienten.
Barbarisater schaltete die drei Träger mit zwei raschen Strei
chen aus. Gustine zerrte einen Mann rückwärts über das Geländer
der Plattform und brach ihm das Genick. Cherubael umarmte die
beiden Söldner von hinten, und sie verwandelten sich in Asche
und flatterten als Flocken davon.
Wir gingen an Bord.
»Übernehmen Sie den Scheinwerfer«, sagte ich zu Gustine. Ich
machte mich rasch mit den Instrumenten der Plattformsteuerung
vertraut und aktivierte dann den Auftrieb. Die Steuerung war ein
einfacher Messinghebel.
Wir stiegen. Die Fassade des Grabmals huschte vorbei. Als wir
die unterste der arbeitenden Plattformen passierten, fuhr Gustine
den Scheinwerfer hoch und richtete ihn auf die Wand.
Ich wusste nicht mehr, wie hoch unsere Plattform vor ihrer Lan
dung zum Aufnehmen von Ersatzteilen gewesen war. Wie lange
noch, bis wir unseren Bestimmungsort passierten und die ande
ren auf uns aufmerksam wurden?
Ich hoffte, dass sie alle zu sehr in ihre Arbeit vertieft waren.
Wir hatten vielleicht zwei Drittel der Strecke zurückgelegt, als
wir Schüsse von einer anderen Plattform hörten und ein Schein
werfer in unsere Richtung geschwenkt wurde. Einige andere folg
ten diesem Beispiel praktisch sofort und erfassten uns bei unse
rem Aufstieg. Laserstrahlen zuckten uns entgegen. Gustine duck
te sich hinter das Geländer und erwiderte das Feuer. Ich sorgte
dafür, dass wir weiter stiegen.
»Soll ich …?«, fragte Cherubael.
»Nein, bleib hier.«
Gustines nächste Salve zerstörte den Scheinwerfer einer uns
folgenden Plattform. Ein gewaltiger Funkenregen explodierte dar
aus und rieselte die Fassade hinunter. Ich spürte es mehrfach
rucken, als die Unterseite unserer Plattform von einigen Laser
strahlen getroffen wurde.
Fast da.
Wir stiegen bis neben den Eingang. Er war quadratisch, viel
leicht vierzig Meter im Geviert. Eine Plattform schwebte bereits
davor, und da mein Umgang mit der Steuerung eher unbeholfen
war, stieß ich dagegen. Die Männer an Bord fingen an zu schie
ßen. In der düsteren Einmündung des Eingangs waren noch
mehr. Gustine feuerte zurück. Ich sah einen nach hinten auf das
Deck der anderen Plattform fallen, dann kippte ein anderer über
das Geländer und fiel wie ein Stein.
Laserstrahlen und Kugeln beharkten unser Vehikel und rissen
Streifen und Brocken aus den Deckplatten und dem Geländer.
Nach einem Volltreffer erlosch der Scheinwerfer.
Ich riss am Steuerknüppel und rammte die andere Plattform
von der Seite, diesmal absichtlich. Wir stießen dagegen und
drängten sie gegen die Fassade. Der Rand der Plattform sprühte
kreischend Funken, als er sich am Gestein rieb. Ich wiederholte
das Manöver. Die Männer auf der anderen Plattform schrien und
schossen.
»Rücken wir vor!«, rief Gustine.
Er warf eine Granate in die Einmündung, um uns den Weg frei
zuräumen.
Es gab einen dumpfen Krach und einen Blitz, und zwei rudern
de, strampelnde Gestalten wurden durch die Luft geschleudert.
Gustine warf eine zweite Granate auf die andere Plattform und
sprang dann über das Geländer in den Eingang des Grabmals,
während er mit seinem Lasergewehr in den wallenden Rauchnebel
schoss.
Ich folgte ihm, und Cherubael schwebte mir hinterher. Es war
verdammt schwierig, einen großen Schritt zu machen und den
Spalt zwischen der Plattform und dem Eingang zu überwinden.
Gustines zweite Granate riss ein Loch in das Deck der anderen
Plattform. Sie sackte ab und fiel dann brennend wie ein Fahrstuhl
auf dem Weg nach unten.
Tief unter uns fegte sie durch zwei andere Plattformen und
schleuderte Männer und Trümmer durch die Luft.
Der Ruck der Explosion kam im falschen Augenblick für mich.
Unsere Plattform zitterte und schwankte und bewegte sich wie ein
im Dock festgemachtes Boot. Ich war erst mit einem Bein auf der
anderen Seite und versuchte meine steifen, schweren Beine zu
zwingen, mich zu tragen.
Ich würde abstürzen. Die Stütze um meinen Körper fühlte sich
so schwer an wie ein Anker, der mich nach unten zog.
Cherubael fasste mich unter den Armen und zog mich mühelos
in den Eingang.
Ich war dankbar, aber ich fand keine Worte in mir, um ihm zu
danken. Cherubael danken? Allein die Vorstellung war Gift. Ande
rerseits war sie nicht unwahrscheinlicher als die Vorstellung, dass
Cherubael mir freiwillig das Leben rettete …
Gustine kämpfte sich durch den Eingang vorwärts, der, wie wir
nun sahen, ein langer Tunnel von den Ausmaßen seiner Öffnung
war. Ausrüstungskisten waren in der Einmündung gestapelt und
schwebende Lichtkugeln in regelmäßigen Abständen an der Wand
platziert. Sie sahen aus, als bildeten sie eine sehr lange Reihe.
Vier oder fünf Söldner und Bedienstete unseres Gegenspielers
lagen tot auf dem Tunnelboden, und ein halbes Dutzend mehr
wich langsam zurück und schoss dabei in unsere Richtung, um
uns zu verjagen.
Cherubael schwebte vorwärts und löschte sie aus. Wir folgten
ihm. Ich wünschte mir so sehr, rennen zu können.
Der Tunnel öffnete sich auf der anderen Seite der Mausoleums
fassade. Wir erblickten das Innere. Mittlerweile war ich für den
unmenschlichen Maßstab unempfänglich geworden. Das Grabmal
war ein Gewölbe, in dem man bequem einen Kontinent hätte un
terbringen können. Die Innenwände und die hohe, von Steinsäu
len gestützte Decke waren verschwenderisch mit Schriftgewusel
und Emblemen geschmückt, die zu erblicken ich anderen Augen
niemals gestatten würde, schwor ich mir. Dies war die Krypta, wo
Yssarile bestattet worden war, und die Wände schrien sein Lob
und seine Anbetung heraus.
Ich konnte wenig in der Dunkelheit dahinter erkennen, aber da
war etwas. Etwas von der Größe einer großen imperialen Makro-
pole. Ich machte eine schwarze geometrische Form aus, die we
der aus Stein noch Metall oder auch Knochen bestand, sondern
aus all diesen Dingen zugleich, so schien es jedenfalls. Sie war
abstoßend. Tot, aber lebendig. Untätig, aber von der schlum
mernden Kraft von Millionen Sonnen erfüllt.
Die Barke des Dämonenkönigs. Yssariles Streitwagen für seine
unheiligen Kriege, sein Instrument der Apokalypse, mit dem er
die verdrehten Festungen und Habitate seiner eigenen Realitäten
in Kriegen gegeißelt hatte, die viel zu furchtbar waren, um sie
sich vorzustellen.
Glaws Beute.
Aus dem beleuchteten Tunnel gingen wir weiter auf einen ge
waltigen Sockel aus dunklem Onyx, der am Rand der Innenmauer
seinen Anfang nahm. Es gab dort einen hohen Klotz, einen polier
ten Zahn aus einem dunkelgrünen Mineral, vierzig Meter hoch
und tief im Sockel verankert. Er war mit eingemeißelten Spiralen
bedeckt.
Lichtkugeln umschwebten ihn, und an seinem Fuß lagen Werk
zeuge und Instrumente. Pontius Glaw hatte diese Entdeckung
selbst studiert. Aber der Lärm unseres gewaltsamen Eindringens
hatte ihn aufmerksam gemacht. Er erwartete uns.
Er kam hinter dem Klotz hervor, ruhig, beinahe gleichgültig.
Sein großer, glänzender Maschinenleib war so, wie ich ihn von der
Auto-Séance in Erinnerung hatte. Der Klingenumhang klirrte,
wenn er sich bewegte. Die goldene Maske grinste beständig.
»Gregor Eisenhorn«, sagte er leise. »Der hartnäckigste Bastard
der ganzen Galaxis. Nur Sie konnten sich den Weg zu mir kratzen
und kriechen und hacken und krallen. Was natürlich der Grund
ist, warum ich Sie so bewundere.«
Ich stapfte vorwärts.
»Vorsichtig!«, zischte Gustine, aber ich hatte schon längst den
Punkt überschritten, wo Vorsicht noch Priorität hatte.
Ich trat Glaw gegenüber. Er war breiter als ich und ein gutes
Stück größer. Sein Klingenumhang klirrte, als er mit einer perfekt
gestalteten Metallhand über die Oberfläche des grünen Klotzes
strich. Dann hob er dieselbe Hand und hielt sie zur Begutachtung
in die Höhe.
»Magos Bure hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet, nicht?
Was für ein Künstler. Ich kann Ihnen niemals genug dafür dan
ken, dass Sie ihn veranlasst haben, seine Fähigkeiten in meinen
Dienst zu stellen. Das ist die Hand, mit der ich ihn getötet habe.«
»An Ihren Händen klebt mehr Blut als nur seines, Glaw. Hören
Sie noch auf den Namen, oder ziehen Sie es vor, sich hinter der
Bezeichnung Kandschar zu verstecken?«
»Mir ist beides recht.«
»Ihre Tochter hat keinen Ihrer Namen angenommen.«
Er antwortete nicht. Wenn ich ihn wütend machte, konnte ich
ihn vielleicht zu einem Fehler verleiten.
»Maria«, sagte er, »so eigensinnig. Noch ein Grund, Sie zu tö
ten, abgesehen von dem offensichtlichen.«
Er wollte noch etwas sagen, aber ich hatte lange genug gewar
tet. Ich presste meinen Willen durch den Runenstab und sprang
vor, wobei ich meine Klinge schwang.
Der psionische Schlag trieb ihn zurück, und er drehte sich halb,
sodass sein Umhang wirbelte und Barbarisater mit seinen zahlrei
chen Klingen zur Seite ablenkte. Aus seiner Drehung wurde ein
volles Herumwirbeln, und ich wich zurück, um dem tödlichen
Saum des Klingenumhangs zu entgehen.
Gustine stürmte vor und schoss Lichtstrahlen auf Glaw, die ein
fach von seinem Metallkörper reflektiert wurden.
Cherubael kam von der anderen Seite. Sein sengender Angriff
schwärzte Glaws Metall, und ich hörte ihn fluchen. Er hieb mit der
offenen Hand nach Cherubael und fuhr dabei gekrümmte Klingen
aus Schlitzen in den Fingerspitzen aus.
Die Haken fetzten in Cherubaels Körper, der jedoch keinen Laut
von sich gab. Er rang mit Pontius Glaw, und die psionische Ener
gie kochte den Raum zwischen ihnen und flammte in spasmischen
Lichtranken auf. Die Luft knisterte und ionisierte. Glaws tanzende
Metallfüße kratzten Onyxsplitter von dem Sockel unter ihm. Ich
versuchte einzugreifen, einen Schlag zur Unterstützung des Dä
monenwirts zu landen, aber es war so, als wolle man sich einer
glühenden Esse nähern.
Gustine schaute einfach nur mit offenem Mund zu. Er war so
hoffnungslos unterlegen, dass es nicht mehr komisch war.
Glaw landete einen wilden Hieb, der Cherubael für einen Mo
ment davonschleuderte, und ließ eine Lanze mentaler Wut folgen,
die den Dämonenwirt tatsächlich abstürzen ließ. Cherubael stand
langsam auf wie ein abgeworfener Reiter und erhob sich wieder
über den Boden.
In dieser kurzen Pause griff ich wieder in den Kampf ein und
drängte Glaw mit abwechselnden Hieben von Stab und Schwert
zurück, während ich gleichzeitig die stärkste mentale Mauer zwi
schen uns errichtete, die ich zustande brachte.
Glaw schmetterte sie in unsichtbare Fetzen, traf mich schwer
und riss mir den Stab aus der Hand. Seine Klingen schnitten mei
nen Arm auf und zerfetzten meine Jacke.
Ich wendete alle Kraft auf, die ich besaß, und konterte mit Bar
barisater in einer Reihe rotierender ulsars und schwerer sah
hehts, die klirrend von seinem Umhang abprallten. Der Runenstab
lag außer Reichweite.
Ich duckte mich, um einem hohen Schwung des Rasiermesser
saums auszuweichen, aber ich hatte mich zu heftig bewegt. Ich
spürte, wie Schädelstöpsel heraussprangen und Servos aus mei
nem Rücken gerissen wurden. Schmerzen schossen durch mein
Rückgrat. Ich konnte dem nächsten Angriff gerade noch entge
hen. Meine Schwertarbeit wurde eine hektische Abfolge von tahn
feh sar-Paraden, da ich zurückzuweichen und seine Haken und
Umhangsklingen abzuwehren versuchte.
Cherubael ging wieder auf Glaw los, doch etwas fing ihn mitten
in der Luft ab. Im Augenwinkel sah ich, dass Cherubael in einen
Luftkampf mit einer leuchtenden Gestalt verwickelt war. Sie ras
ten davon, weg vom Sockel und über den Abgrund des Grabmals.
»Sie glauben doch nicht, dass Sie der Einzige mit einem Schoß
dämon sind, oder?«, höhnte Glaw. »Und mein Dämonenwirt ist in
seiner Macht nicht so eingeschränkt wie Ihrer. Der arme Cheru
bael. Sie haben ihn so schlecht behandelt.«
Anstelle einer Antwort landete ich einen hohen Schlag, der tat
sächlich seine goldene Maske einkerbte.
»Bastard!«, kreischte er und fegte seinen Umhang unter meiner
Deckung durch. Das dicke Metall meiner Körperstütze lenkte das
Schlimmste ab, aber ich spürte, wie Blut aus Schnitten an meinen
Rippen quoll.
Ich taumelte zurück. Die Schmerzen im Rücken waren das
Schlimmste, und ich war sicher, dass meine ohnehin stark einge
schränkten Bewegungsmöglichkeiten jetzt massiv beeinträchtigt
waren. Mein linkes Bein fühlte sich tot und schwer an.
Eisenhuf. Eisenhuf.
Er stieß mit seinen Krallen nach mir und hätte mir fast das Ge
sicht zerfetzt. Ich parierte seine Hand im letzten Augenblick, in
dem ich Barbarisater zwischen seine gespreizten Finger brachte
und den Stoß aufhielt.
Er schleuderte mich zurück. Ich geriet aus dem Tritt, da ich mit
meinen langsamen, schweren mechanischen Beinen keine Balan
ce hatte.
Laserstrahlen tanzten über Glaws Gesicht und Brust, als Gustine
vergeblich zu helfen versuchte. Glaw vollführte eine Pirouette
ein Manöver, das für einen solchen Riesen unglaublich behände
wirkte -, und sein Umhang surrte durch die Zentrifugalkraft bei
nahe waagerecht durch die Luft.
Hunderte sich schnell bewegende messerscharfe Klingen pfiffen
so schnell und vollständig durch Gustine, dass er gar nicht mitbe
kam, wie ihm geschah.
Ein blutiger Nebel schoss in die Höhe. Gustine fiel in sich zu
sammen. Buchstäblich.
Glaw drehte sich wieder zu mir um. Ich hatte Cherubael aus den
Augen verloren. Ich war auf mich allein gestellt.
Und erst jetzt gestand ich mir ein, dass ich hoffnungslos unter
legen war.
Glaw war praktisch gegen Schaden gefeit. Schnell, gepanzert,
tödlich. Selbst an einem guten Tag wäre er in einem Zweikampf
nur schwer zu besiegen gewesen.
Und dies war kein guter Tag.
Er würde mich töten.
Er wusste es auch. Als er angriff, fing er plötzlich an zu lachen.
Das traf mich tiefer als jede seiner Klingen. Ich dachte an Fi
schig, Aemos und Bequin. Ich dachte an all die Verbündeten und
Freunde, die seinetwegen gestorben waren. Ich dachte daran,
was seine Gehässigkeit mir angetan und was es mich gekostet
hatte, so weit zu kommen.
Ich dachte an Cherubael. Das Lachen erinnerte mich an Cheru
bael.
Ich ging so heftig und mit solcher Wucht auf ihn los, dass Bar
barisaters Klinge Kerben bekam und kleine Splitter absprangen.
Ich landete Hiebe, die Klingenschuppen von seinem klirrenden
Umhang abtrennten. Ich schlug nach ihm, bis er nicht mehr lach
te.
Seine Antwort war ein psionischer Schlag, der mich zehn Schrit
te zurückschleuderte. Blut schoss mir aus der Nase und füllte
meinen Mund. Ich fiel nicht. Die Freude würde ich ihm nicht ma
chen. Aber Barbarisater entglitt schreiend meinem kraftlosen
Griff.
Ich stand vornüber gebeugt. Die Hände auf den Oberschenkeln,
wie ein Hund japsend. Mir schwamm der Kopf. Ich hörte seine
Schritte über den Onyx knirschen, während er zu mir kam.
»Sie hätten schon längst gewonnen, wenn Sie das Buch hät
ten«, sagte ich und hustete das Blut aus dem Mund.
»Was?«
»Das Buch. Das verdammte Buch. Das Malus Codicium. Dahin
ter waren Sie doch eigentlich her, als Sie Ihre gedungenen Mör
der auf mich gehetzt haben. Darum haben Sie meine ganze Or
ganisation zerfetzt und jeden getötet, den sie erreichen konnten.
Sie wollten das Buch.«
»Natürlich wollte ich es«, knurrte er.
Ich sah zu ihm hoch. »Es hätte die Beute bereits erschlossen.
Dieses endlose, fruchtlose Studium unnötig gemacht. Sie hätten
das Grabmal einfach geöffnet und den Streitwagen des Dämons
in Besitz genommen. Lange bevor wir hier eingetroffen wären.«
»Genießen Sie diesen kleinen Triumph, Gregor«, sagte er. »Ih
ren kleinen Pyrrhussieg. Indem Sie mir das Buch vorenthalten
haben, ist es Ihnen gelungen, meine Arbeit um Monate, vielleicht
Jahre zu verzögern. Yssariles Waffe wird mir gehören, aber Sie
haben mir ihre Bergung sehr viel schwerer gemacht.«
»Gut«, sagte ich.
Er kicherte. »Sie sind ein tapferer Mann, Gregor Eisenhorn. Jetzt
kommen Sie - ich mache es schnell.«
Seine Klingen klirrten.
»Dann nehme ich an«, fügte ich hinzu, »ich müsste verrückt
sein, es mitgebracht zu haben.«
Er erstarrte.
Mit einer zitternden, blutigen Hand griff ich in meine Jacke und
holte das Malus Codicium heraus. Ich glaube, er keuchte. Ich hielt
es hoch, halb geöffnet, sodass er es sehen konnte, und blätterte
ein paar Seiten um.
»Sie dummer, dummer Mann«, sagte er lächelnd.
»Das glaube ich auch«, sagte ich. Mit einem brutalen Ruck riss
ich die Seiten aus dem Einband.
»Nein!«, rief er.
Ich hörte nicht zu. Ich konzentrierte mich auf das Bündel loser
Seiten in meinen Händen und entzündete sie mit der heftigsten
mentalen Explosion, zu der ich fähig war. Die Seiten gingen in
Flammen auf.
Ich warf sie hoch in die Luft.
Glaw schrie vor Verzweiflung und Wut. Ein Regen aus brennen
den Blättern umflatterte uns. Er versuchte nach ihnen zu greifen.
Er bewegte sich wie ein Idiot, wie ein Kind, schnappte aus der
Luft, was er konnte, in dem Versuch zu retten, was zu retten war.
Die Seiten brannten. Blätter der Finsternis wehten über den So
ckel und wurden vom Feuer verzehrt.
Er packte eine Handvoll, griff nach mehr, stampfte die halb ver
brannten Blätter aus, die auf dem Boden landeten.
Er schenkte mir überhaupt keine Beachtung mehr.
Barbarisater traf ihn so fest, dass es ihm beinahe den Kopf ab
trennte. Elektrizität knisterte aus dem geborstenen Metall. Er
keuchte und taumelte. Die cartheanische Klinge sang in meinen
Händen, als ich sie ihm über die Brust zog und seinen Umhang
auftrennte.
Er fiel nach hinten, direkt an den Rand des Sockels, und seine
Fingerhaken kreischten, da er auf dem glatten Onyx nach Halt
tastete. Ich schlug wieder zu, ein Aufwärtshieb, der ihm die gol
dene Maske abriss und sie in den Abgrund fegte. Das Innere sei
nes Kopfes wurde sichtbar. Die Schaltkreise, die knisternden Ka
bel, der Kristall, der sein Bewusstsein und Wesen enthielt, in sei
ner Wiege aus Verbindungen und Drähten.
»Im Namen des Heiligen Gott-Imperators von Terra«, sagte ich
ruhig, »erkläre ich dich diabolus und vollstrecke hiermit das Ur
teil.«
Mein eigenes Blut tropfte von Barbarisaters Heft durch meinen
doppelhändigen Griff. Ich hob die Klinge.
Und machte den ewl euer.
Die Klinge spaltete ihm den Schädel und zerschmetterte den
Kristall in Glassplitter.
Pontius Glaws’ Metallkörper zuckte krampfhaft, ruckte zurück
und fiel mit klirrendem Klingenumhang vom Rand des Sockels in
den Abgrund, in die Finsternis des Grabmals des Dämonenkönigs.
Ich saß auf dem Sockel, den Rücken an die Wand des Grabmals
gelehnt, während sich langsam eine Blutlache um mich bildete,
als ein Licht in der Dunkelheit des Gewölbes aufblitzte.
Es kam näher.
Schließlich schwebte Cherubael nach unten und verharrte über
mir. Gesicht, Glieder und Körper waren scheußlich mit Schwielen,
Brandwunden und Schnitten übersät.
Ich sah zu ihm hoch. Es war schwer, sich zu bewegen, schwer,
sich zu konzentrieren. In meinem Mund war Blut, in meinen Au
gen ebenfalls.
»Glaws Dämonenwirt?«
»Nicht mehr da.«
»Er hat behauptet, er wäre mächtiger als du.«
»Du weißt nicht, wie gemein ich sein kann«, sagte er.
Ich dachte darüber nach. Die letzten Seiten des diabolischen
Buchs waren nur Flocken aus schwarzer Asche, die auf dem So
ckel verteilt waren.
»Sind wir hier fertig?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn.
»Dann muss ich dich wohl doch tragen, oder?«, seufzte er.
DOSSIERANHANG