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In die Zeit gefallen – Günther Anders dichtet abseits der Didaktik

2023, Zeitschrift für Kulturphilosophie

Rezension zur Edition von Günther Anders, "Die Totenpost", hg. von Alexander Knopf (Wallstein 2022)

216 ❱ Kritik In die Zeit gefallen Günther Anders dichtet abseits der Didaktik Günther Anders, Die Totenpost. Elegien, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Alexander Knopf, Göttingen: Wallstein Verlag 2022. Der in der Wiener Nationalbibliothek archi­ vierte Nachlass des 1992 verstorbenen Phi­ losophen Günther Anders sorgt seit einigen Jahren immer wieder für Überraschungen. Nach den Editionsprojekten zu den musik­ philosophischen, anthropologischen und ästhetischen Schriften erschien im Oktober 2022 (zeitgleich mit den Briefwechseln zwi­ schen Anders und Adorno, Bloch, Horkhei­ mer, Marcuse und Plessner) der Lyrikband Die Totenpost. Elegien – diesmal nicht bei Anders’ Hausverlag C. H. Beck, sondern im Göttinger Wallstein Verlag. Der Germanist Alexander Knopf hat ihn herausgegeben, kommentiert und ein ausführliches Nach­ wort angefügt. Wer jemals die Tagebuchaufzeichnungen des kleinen Bandes Lieben gestern gelesen hat, den Anders 1986 mit vierzigjährigem Abstand zu ihrer Abfassung im amerikani­ schen Exil herausgab, wird sich vermutlich an eine auffällige Episode darin erinnern. »Seit gestern in der Unterwelt«, so beginnt ein Eintrag vom März 1948. Grund für diesen dramatischen Auftakt: die unerwartete An­ kunft von sieben Fässern und Kisten nachge­ lassener Briefe, Tagebücher und Dokumente der Eltern und Ahnen der letzten drei Gene­ rationen, die noch vor dem Krieg in Rotter­ dam verschifft worden waren und seither offenbar in verschiedenen Häfen und Lager­ häusern ihrer letzten Zustellung entgegenge­ sehen hatten. Anders ordnete diesen Nach­ lass zunächst und sichtete offenbar auch eine beträchtliche Menge des Briefwechsels seiner weiblichen Vorfahren. Jedenfalls inspirierte ihn dieser unerwartete Erfahrungsschatz zu wegweisenden Einsichten in die Zeit­ und Milieu­Spezifität von Erwartungen bezüglich der Geschlechterverhältnisse und der dabei zu erlebenden Gefühle. Philologisch nach­ vollziehen können wir seine Überlegungen allerdings nicht mehr: Wie er im Tagebuch notiert, hat er den Inhalt der »Totenfässer« nur eine Woche nach Erhalt vernichtet. Er fügt noch hinzu, dass er sich diesbezüglich »erbärmlich« fühle. Allerdings geben die­ se Aufzeichnungen keinen Hinweis darauf, dass er in den folgenden Monaten und Jah­ ren einen Elegienzyklus entwerfen würde, der sich ausgewählten Stücken dieses Nach­ lasses noch einmal zuwendet, diesmal freilich aus dem Gedächtnis, dafür aber mit deutlich akzentuiertem lyrischem Gestaltungswillen. Drei Konvolute seines Nachlasses enthal­ ten diesen Die Totenpost betitelten Zyklus in ebenso vielen Fassungen; zwei davon waren als Druckvorlagen vorgesehen. Warum es dann doch nicht zur Drucklegung kam, bleibt auch nach der Lektüre des nun vorliegenden ZKph 17 | 2023 | 2 Kritik Bandes ungeklärt. Der Herausgeber weist al­ lerdings nach, dass eine der Elegien 1949 in der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau erschienen war (120). Die Arbeit am Zyklus dürfte Anders 1952 eingestellt haben – in­ zwischen war er mit seiner Frau Elisabeth Freundlich nach Wien übersiedelt. Von den drei Fassungen liegen nun in äs­ thetisch ansprechender Aufmachung die frü­ heste und die späteste in einem synoptischen Abdruck vor. Schon weil Anders teils erheb­ lich in den Text eingegriffen hat, wofür man neben privaten Gründen sicher auch seine poetische Sensibilität geltend machen kann, lohnt sich die vergleichende Lektüre. Die 33 Elegien der literarisch sehr ansprechen­ den letzten Fassung verteilen sich auf die Teile »Die Ankunft«, »Die Post« und »Der Abschied«, wobei dem zweiten Teil bei wei­ tem der größte Umfang zukommt. Die Länge variiert beträchtlich, die kürzeste Elegie ist nur vier Zeilen lang, die längsten nehmen an­ derthalb Druckseiten ein. Was aber hat der Zyklus nun inhaltlich zu bieten? Wie die Dreiteilung vermuten lässt, beginnt er mit einer Exposition, die das Denk­ würdige der unwilligen Entgegennahme der Fässer in packende Lyrik überträgt. »Uner­ wünschte, / sehr unwillkommene Gäste seid Ihr mir, / Ihr Sieben aus dem Orkus.« (13) An Stellen wie diesen beklagt das lyrische Ich seine Situation der Überforderung, es bleibt mit dieser unerwarteten und so umfangrei­ chen Post alleingelassen. Zugleich nimmt es einen deutlichen Appell wahr, der von den Objekten selbst ausgeht. Diesen wendet es sich im zweiten Teil dann auch ausgiebig zu. Es treten in rascher Folge nicht nur Brie­ fe, Notizzettel und Fotografien auf, sondern ebenso eine Brille, ein Ring, ein Schlüssel, Fichtennadeln, ein Silberröhrchen und eine Haarsträhne der Mutter, die erst 1945 ver­ storben war, aus Kindestagen. Auffallend ist, 217 wie schnell hier zwischen den Generationen gewechselt wird; die Elegien geben zum Teil nur kryptische Hinweise darauf, welchem seiner Ahnen Anders sich jeweils zuwendet, was die Lektüre des akribischen Stellenkom­ mentars zu einer sehr willkommenen Ergän­ zung macht. Die Zuwendung zu den Dingen hat Anders auch als Theoretiker praktiziert, am deutlichsten wohl in den beiden Bänden der Antiquiertheit des Menschen, worin er sich gerne mit konkreten technischen Geräten auseinandersetzt und sogar methodologisch für eine »Dingpsychologie« eintritt. Welche Korrespondenzen die nun vorliegenden Ele­ gien mit seinen theoretischen Erörterungen aufweisen, könnte für die Anders­Forschung eine lohnende Frage sein. Ergiebig ist Die Totenpost darüber hinaus primär für ihre Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit und Sterblichkeit sowie für die gleichzeitige Notwendigkeit wie auch Ver­ geblichkeit, eine menschengemachte Ord­ nung zu bewahren oder wiederherzustellen. Wie Alexander Knopf in seinem Nachwort festhält, ist es eine offene Frage, wieso An­ ders den Inhalt der Fässer tagelang ordnete, um ihn dann als Ganzes zu verbrennen (186); es sei denn, man interpretiert den Akt des Ordnens als das, was dem Empfänger erst die Kraft gab, den Entschluss zur Vernichtung auch umzusetzen. Nicht zuletzt ordnete An­ ders damit auch seine Erinnerung an die To­ tenpost, auf die er sich bei der Niederschrift der Elegien allein verlassen musste. Wenn man sich Anders inmitten dieser Erinnerungsstücke vorstellt – »Und hinge­ hockt / drei Nächte lang und zwei nachtglei­ che Tage / saß er am Boden.« (19) – liegt die Inversion einer oft benutzten Phrase nahe. Er war nicht aus der, sondern in die Zeit gefallen. Die Präsenz einer solchen Vielzahl intimer Erinnerungsstücke aus der eigenen Familie bringt seine eigene Situiertheit als seit 14 Jah­ 218 Kritik ren prekär lebender Exilant gleich mehrfach durcheinander. Einige Gedichte reflektieren das Gefühl der Bodenlosigkeit, das sich ein­ stellt, wenn ein Mann in mittleren Jahren Do­ kumente sichtet, in denen Mutter und Vater, damals viel jünger als er selbst jetzt, auf ihn als Kind rekurrieren. Vollends gerät die Zeit aus der Ordnung, wenn in »Der Abklatsch« ein Foto eines unbekannten Ahnen, der ihm selbst zum Verwechseln ähnlich sieht, zu einem das Selbst insgesamt fragwürdig ma­ chenden Dialog inspiriert. »›Gefällt Dir das?‹ so fragte voller Zweifel / der alte Herr, ›sehr wenig scheinst Du mir / du selbst zu sein. Was Du und Deine Eltern, Geschwister, Frau und Freunde Dein Gesicht / und Deine Züge nannten – ach wie lange ist das schon im Ge­ brauch!« (57) Neben den metaphysischen Abgründen, die sich in solcher Konfrontation mit der ei­ genen Herkunft auftun, bestechen die Ele­ gien durch die Feinfühligkeit, die sie gegen­ über dem Schicksal der Ahnen, manchmal sogar völlig unbekannt bleibender Adressa­ ten aufbringen. Sie reflektieren, wie in den beiden »Die beneidete Sitte« betitelten Ge­ dichten, zudem über die Geschichtlichkeit des Sozialen und beklagen den Verlust trost­ spendender Bräuche. »Welche Speisen / er­ quickten unsre Toten? Welcher Wahn / kann uns versöhnen? Also ausgestoßen / und ohne Hoffnung müssen wir’s bestehn.« (63) Die­ ser Schmerz der doppelten Vergänglichkeit (nicht nur der Angehörigen, sondern auch der Rituale) wird im Hintergrund des Ele­ gienzyklus durch die immer wieder kunstvoll angedeutete Mitpräsenz der Shoa noch ver­ stärkt. Mit der Familiengeschichte sollte An­ ders sich vor allem 1966 in den Tagebüchern zu den Besuchen in Breslau und Auschwitz auseinandersetzen. Die Elegien des Schlussteils konterkarie­ ren das Abschiednehmen von der Toten­ post – »Das zweite Sterben« vermerkt scho­ nungslos das Gewaltsame des Vorgehens – mit der Bezugnahme auf die Lebenden im Nahbereich. Es fällt auf, wie oft »Mac, der schwarze Heizer« (91), den Anders als Voll­ strecker der Vernichtung instrumentalisierte, namentlich genannt wird. Dies auch deshalb, weil dieser um die Erlaubnis bat, das Port­ rät einer Ahnfrau zu behalten. »Die Über­ lebende« schildert diese Szene und offen­ bart in fast schon sentimentalem Zutrauen mögliche Sehnsüchte des Autors. »Laß Dir’s gut gehen / und grüße mir die Deinen, Dei­ ne neue / vielköpfige Familie, und zuletzt / mit heißem Wunsch und unbekannterwei­ se / das kommende Jahrhundert! Lebe wohl!« (93–95) Namenlos bleibt in »O, kehr zurück« hingegen die angerufene Lebensgefährtin (Elisabeth Freundlich), die von dem Toten­ post­Intermezzo nichts bemerken soll, be­ vor sie von einer (zuvor bereits geplanten?) Reise zurückkehrt, und zugleich um Geduld gebeten wird: »Denn etwas blieb ich dort.« (97) Anders hat immer wieder literarisch ge­ arbeitet, neben Fabeln, Erzählungen und Romanen wie Die molussische Katakombe zahlreiche Gedichte verfasst und auch ver­ öffentlicht. Dabei überformt die didaktische Tendenz allerdings fast immer das literari­ sche Vermögen. Mit der Totenpost liegt nun, letztlich überraschend, ein Nachweis dafür vor, dass Anders viel freier und moderner dichten konnte, wenn die Didaktik einmal nicht die Feder führte. Man wird diesen Ele­ gienzyklus vielleicht sogar als sein lyrisches Hauptwerk bezeichnen können. Dies liegt daran, wie Knopf in einem zentralen Ab­ schnitt seines 80 Seiten langen Nachworts über das Verhältnis von Anders zur Dichtung (160–175) zeigt, dass dieser hier seine eigene Poetik außer Kraft setzt und ausnahmswei­ se nicht »die Dichtung instrumentalisiert« ZKph 17 | 2023 | 2 Kritik (163), indem er sie in den Dienst der beleh­ renden Aussage nimmt. Knopfs Nachwort liefert neben einer ak­ ribischen Rekonstruktion der Entstehungs­ bedingungen, die dennoch einige Fragen bezüglich der Datierung, der Intention und der nicht erfolgten Veröffentlichung offen­ lassen muss, biographische Skizzen zu jenen Mitgliedern der Familie Stern, an die in den Elegien erinnert wird (130–160). Für Walter Benjamin­Forscherinnen und Forscher bietet die Totenpost mitsamt ihrer Dokumentation einige easter eggs. Ein Gedicht (48) handelt vom zehn Jahre älteren Cousin, mit dem An­ ders oft die Ferien verbrachte. Es liegt nur in der frühen Fassung vor und blieb aus unbe­ kannten Gründen in den späteren Fassungen ausgespart. Stattdessen trägt die Mappe, die das druckfertige Konvolut enthielt, die Wid­ mung »In memoriam Walter Benjamin« (4). Auch das ambivalente Verhältnis des Über­ lebenden zu ihm erfährt im Nachwort einige Beachtung (154–160). Für Anders­Leserinnen und ­Leser ist die­ ser Band eine unbedingt empfehlenswerte 219 Ergänzung. Der Philosoph und Literat stellt hier eine ganz andere Seite von sich dar, die er vielleicht gerade deshalb unter Verschluss hielt. Es ist ein großes Verdienst des Heraus­ gebers, diesen anderen (oder zumindest an­ ders dichtenden) Anders in so reichhaltiger Kontextualisierung zugänglich gemacht zu haben. Wünschenswert wäre lediglich eine etwas deutlichere Auseinandersetzung mit der Frage gewesen, wieso Anders das druck­ fertige Manuskript niemals drucken ließ, und welche Gründe den Ausschlag gaben, es nun doch zu tun, inklusive der damit verbunde­ nen editionsethischen Probleme. Zwar war es bereits im Jahr 2000 zu einer unkommen­ tierten Veröffentlichung auf der Website der Anders­affinen Zeitschrift FORVM gekom­ men (120), doch scheint diese kaum rezipiert worden zu sein. Gegenüber dem Zur­Verfü­ gung­Stellen im Netz hat die Drucklegung ei­ nes solchen Dokuments jedenfalls auch heu­ te noch ein größeres Gewicht. Bernd Bösel