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Kritik
In die Zeit gefallen
Günther Anders dichtet abseits der Didaktik
Günther Anders, Die Totenpost. Elegien, herausgegeben, kommentiert und mit einem
Nachwort von Alexander Knopf, Göttingen: Wallstein Verlag 2022.
Der in der Wiener Nationalbibliothek archi
vierte Nachlass des 1992 verstorbenen Phi
losophen Günther Anders sorgt seit einigen
Jahren immer wieder für Überraschungen.
Nach den Editionsprojekten zu den musik
philosophischen, anthropologischen und
ästhetischen Schriften erschien im Oktober
2022 (zeitgleich mit den Briefwechseln zwi
schen Anders und Adorno, Bloch, Horkhei
mer, Marcuse und Plessner) der Lyrikband
Die Totenpost. Elegien – diesmal nicht bei
Anders’ Hausverlag C. H. Beck, sondern im
Göttinger Wallstein Verlag. Der Germanist
Alexander Knopf hat ihn herausgegeben,
kommentiert und ein ausführliches Nach
wort angefügt.
Wer jemals die Tagebuchaufzeichnungen
des kleinen Bandes Lieben gestern gelesen
hat, den Anders 1986 mit vierzigjährigem
Abstand zu ihrer Abfassung im amerikani
schen Exil herausgab, wird sich vermutlich
an eine auffällige Episode darin erinnern.
»Seit gestern in der Unterwelt«, so beginnt
ein Eintrag vom März 1948. Grund für diesen
dramatischen Auftakt: die unerwartete An
kunft von sieben Fässern und Kisten nachge
lassener Briefe, Tagebücher und Dokumente
der Eltern und Ahnen der letzten drei Gene
rationen, die noch vor dem Krieg in Rotter
dam verschifft worden waren und seither
offenbar in verschiedenen Häfen und Lager
häusern ihrer letzten Zustellung entgegenge
sehen hatten. Anders ordnete diesen Nach
lass zunächst und sichtete offenbar auch eine
beträchtliche Menge des Briefwechsels seiner
weiblichen Vorfahren. Jedenfalls inspirierte
ihn dieser unerwartete Erfahrungsschatz zu
wegweisenden Einsichten in die Zeit und
MilieuSpezifität von Erwartungen bezüglich
der Geschlechterverhältnisse und der dabei
zu erlebenden Gefühle. Philologisch nach
vollziehen können wir seine Überlegungen
allerdings nicht mehr: Wie er im Tagebuch
notiert, hat er den Inhalt der »Totenfässer«
nur eine Woche nach Erhalt vernichtet. Er
fügt noch hinzu, dass er sich diesbezüglich
»erbärmlich« fühle. Allerdings geben die
se Aufzeichnungen keinen Hinweis darauf,
dass er in den folgenden Monaten und Jah
ren einen Elegienzyklus entwerfen würde,
der sich ausgewählten Stücken dieses Nach
lasses noch einmal zuwendet, diesmal freilich
aus dem Gedächtnis, dafür aber mit deutlich
akzentuiertem lyrischem Gestaltungswillen.
Drei Konvolute seines Nachlasses enthal
ten diesen Die Totenpost betitelten Zyklus in
ebenso vielen Fassungen; zwei davon waren
als Druckvorlagen vorgesehen. Warum es
dann doch nicht zur Drucklegung kam, bleibt
auch nach der Lektüre des nun vorliegenden
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Kritik
Bandes ungeklärt. Der Herausgeber weist al
lerdings nach, dass eine der Elegien 1949 in
der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau
erschienen war (120). Die Arbeit am Zyklus
dürfte Anders 1952 eingestellt haben – in
zwischen war er mit seiner Frau Elisabeth
Freundlich nach Wien übersiedelt.
Von den drei Fassungen liegen nun in äs
thetisch ansprechender Aufmachung die frü
heste und die späteste in einem synoptischen
Abdruck vor. Schon weil Anders teils erheb
lich in den Text eingegriffen hat, wofür man
neben privaten Gründen sicher auch seine
poetische Sensibilität geltend machen kann,
lohnt sich die vergleichende Lektüre. Die
33 Elegien der literarisch sehr ansprechen
den letzten Fassung verteilen sich auf die
Teile »Die Ankunft«, »Die Post« und »Der
Abschied«, wobei dem zweiten Teil bei wei
tem der größte Umfang zukommt. Die Länge
variiert beträchtlich, die kürzeste Elegie ist
nur vier Zeilen lang, die längsten nehmen an
derthalb Druckseiten ein.
Was aber hat der Zyklus nun inhaltlich zu
bieten? Wie die Dreiteilung vermuten lässt,
beginnt er mit einer Exposition, die das Denk
würdige der unwilligen Entgegennahme der
Fässer in packende Lyrik überträgt. »Uner
wünschte, / sehr unwillkommene Gäste seid
Ihr mir, / Ihr Sieben aus dem Orkus.« (13) An
Stellen wie diesen beklagt das lyrische Ich
seine Situation der Überforderung, es bleibt
mit dieser unerwarteten und so umfangrei
chen Post alleingelassen. Zugleich nimmt es
einen deutlichen Appell wahr, der von den
Objekten selbst ausgeht. Diesen wendet es
sich im zweiten Teil dann auch ausgiebig
zu. Es treten in rascher Folge nicht nur Brie
fe, Notizzettel und Fotografien auf, sondern
ebenso eine Brille, ein Ring, ein Schlüssel,
Fichtennadeln, ein Silberröhrchen und eine
Haarsträhne der Mutter, die erst 1945 ver
storben war, aus Kindestagen. Auffallend ist,
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wie schnell hier zwischen den Generationen
gewechselt wird; die Elegien geben zum Teil
nur kryptische Hinweise darauf, welchem
seiner Ahnen Anders sich jeweils zuwendet,
was die Lektüre des akribischen Stellenkom
mentars zu einer sehr willkommenen Ergän
zung macht. Die Zuwendung zu den Dingen
hat Anders auch als Theoretiker praktiziert,
am deutlichsten wohl in den beiden Bänden
der Antiquiertheit des Menschen, worin er sich
gerne mit konkreten technischen Geräten
auseinandersetzt und sogar methodologisch
für eine »Dingpsychologie« eintritt. Welche
Korrespondenzen die nun vorliegenden Ele
gien mit seinen theoretischen Erörterungen
aufweisen, könnte für die AndersForschung
eine lohnende Frage sein.
Ergiebig ist Die Totenpost darüber hinaus
primär für ihre Auseinandersetzung mit
Zeitlichkeit und Sterblichkeit sowie für die
gleichzeitige Notwendigkeit wie auch Ver
geblichkeit, eine menschengemachte Ord
nung zu bewahren oder wiederherzustellen.
Wie Alexander Knopf in seinem Nachwort
festhält, ist es eine offene Frage, wieso An
ders den Inhalt der Fässer tagelang ordnete,
um ihn dann als Ganzes zu verbrennen (186);
es sei denn, man interpretiert den Akt des
Ordnens als das, was dem Empfänger erst die
Kraft gab, den Entschluss zur Vernichtung
auch umzusetzen. Nicht zuletzt ordnete An
ders damit auch seine Erinnerung an die To
tenpost, auf die er sich bei der Niederschrift
der Elegien allein verlassen musste.
Wenn man sich Anders inmitten dieser
Erinnerungsstücke vorstellt – »Und hinge
hockt / drei Nächte lang und zwei nachtglei
che Tage / saß er am Boden.« (19) – liegt die
Inversion einer oft benutzten Phrase nahe. Er
war nicht aus der, sondern in die Zeit gefallen.
Die Präsenz einer solchen Vielzahl intimer
Erinnerungsstücke aus der eigenen Familie
bringt seine eigene Situiertheit als seit 14 Jah
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Kritik
ren prekär lebender Exilant gleich mehrfach
durcheinander. Einige Gedichte reflektieren
das Gefühl der Bodenlosigkeit, das sich ein
stellt, wenn ein Mann in mittleren Jahren Do
kumente sichtet, in denen Mutter und Vater,
damals viel jünger als er selbst jetzt, auf ihn
als Kind rekurrieren. Vollends gerät die Zeit
aus der Ordnung, wenn in »Der Abklatsch«
ein Foto eines unbekannten Ahnen, der ihm
selbst zum Verwechseln ähnlich sieht, zu
einem das Selbst insgesamt fragwürdig ma
chenden Dialog inspiriert. »›Gefällt Dir das?‹
so fragte voller Zweifel / der alte Herr, ›sehr
wenig scheinst Du mir / du selbst zu sein.
Was Du und Deine Eltern, Geschwister, Frau
und Freunde Dein Gesicht / und Deine Züge
nannten – ach wie lange ist das schon im Ge
brauch!« (57)
Neben den metaphysischen Abgründen,
die sich in solcher Konfrontation mit der ei
genen Herkunft auftun, bestechen die Ele
gien durch die Feinfühligkeit, die sie gegen
über dem Schicksal der Ahnen, manchmal
sogar völlig unbekannt bleibender Adressa
ten aufbringen. Sie reflektieren, wie in den
beiden »Die beneidete Sitte« betitelten Ge
dichten, zudem über die Geschichtlichkeit
des Sozialen und beklagen den Verlust trost
spendender Bräuche. »Welche Speisen / er
quickten unsre Toten? Welcher Wahn / kann
uns versöhnen? Also ausgestoßen / und ohne
Hoffnung müssen wir’s bestehn.« (63) Die
ser Schmerz der doppelten Vergänglichkeit
(nicht nur der Angehörigen, sondern auch
der Rituale) wird im Hintergrund des Ele
gienzyklus durch die immer wieder kunstvoll
angedeutete Mitpräsenz der Shoa noch ver
stärkt. Mit der Familiengeschichte sollte An
ders sich vor allem 1966 in den Tagebüchern
zu den Besuchen in Breslau und Auschwitz
auseinandersetzen.
Die Elegien des Schlussteils konterkarie
ren das Abschiednehmen von der Toten
post – »Das zweite Sterben« vermerkt scho
nungslos das Gewaltsame des Vorgehens
– mit der Bezugnahme auf die Lebenden im
Nahbereich. Es fällt auf, wie oft »Mac, der
schwarze Heizer« (91), den Anders als Voll
strecker der Vernichtung instrumentalisierte,
namentlich genannt wird. Dies auch deshalb,
weil dieser um die Erlaubnis bat, das Port
rät einer Ahnfrau zu behalten. »Die Über
lebende« schildert diese Szene und offen
bart in fast schon sentimentalem Zutrauen
mögliche Sehnsüchte des Autors. »Laß Dir’s
gut gehen / und grüße mir die Deinen, Dei
ne neue / vielköpfige Familie, und zuletzt /
mit heißem Wunsch und unbekannterwei
se / das kommende Jahrhundert! Lebe wohl!«
(93–95) Namenlos bleibt in »O, kehr zurück«
hingegen die angerufene Lebensgefährtin
(Elisabeth Freundlich), die von dem Toten
postIntermezzo nichts bemerken soll, be
vor sie von einer (zuvor bereits geplanten?)
Reise zurückkehrt, und zugleich um Geduld
gebeten wird: »Denn etwas blieb ich dort.«
(97)
Anders hat immer wieder literarisch ge
arbeitet, neben Fabeln, Erzählungen und
Romanen wie Die molussische Katakombe
zahlreiche Gedichte verfasst und auch ver
öffentlicht. Dabei überformt die didaktische
Tendenz allerdings fast immer das literari
sche Vermögen. Mit der Totenpost liegt nun,
letztlich überraschend, ein Nachweis dafür
vor, dass Anders viel freier und moderner
dichten konnte, wenn die Didaktik einmal
nicht die Feder führte. Man wird diesen Ele
gienzyklus vielleicht sogar als sein lyrisches
Hauptwerk bezeichnen können. Dies liegt
daran, wie Knopf in einem zentralen Ab
schnitt seines 80 Seiten langen Nachworts
über das Verhältnis von Anders zur Dichtung
(160–175) zeigt, dass dieser hier seine eigene
Poetik außer Kraft setzt und ausnahmswei
se nicht »die Dichtung instrumentalisiert«
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(163), indem er sie in den Dienst der beleh
renden Aussage nimmt.
Knopfs Nachwort liefert neben einer ak
ribischen Rekonstruktion der Entstehungs
bedingungen, die dennoch einige Fragen
bezüglich der Datierung, der Intention und
der nicht erfolgten Veröffentlichung offen
lassen muss, biographische Skizzen zu jenen
Mitgliedern der Familie Stern, an die in den
Elegien erinnert wird (130–160). Für Walter
BenjaminForscherinnen und Forscher bietet
die Totenpost mitsamt ihrer Dokumentation
einige easter eggs. Ein Gedicht (48) handelt
vom zehn Jahre älteren Cousin, mit dem An
ders oft die Ferien verbrachte. Es liegt nur in
der frühen Fassung vor und blieb aus unbe
kannten Gründen in den späteren Fassungen
ausgespart. Stattdessen trägt die Mappe, die
das druckfertige Konvolut enthielt, die Wid
mung »In memoriam Walter Benjamin« (4).
Auch das ambivalente Verhältnis des Über
lebenden zu ihm erfährt im Nachwort einige
Beachtung (154–160).
Für AndersLeserinnen und Leser ist die
ser Band eine unbedingt empfehlenswerte
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Ergänzung. Der Philosoph und Literat stellt
hier eine ganz andere Seite von sich dar, die
er vielleicht gerade deshalb unter Verschluss
hielt. Es ist ein großes Verdienst des Heraus
gebers, diesen anderen (oder zumindest an
ders dichtenden) Anders in so reichhaltiger
Kontextualisierung zugänglich gemacht zu
haben. Wünschenswert wäre lediglich eine
etwas deutlichere Auseinandersetzung mit
der Frage gewesen, wieso Anders das druck
fertige Manuskript niemals drucken ließ, und
welche Gründe den Ausschlag gaben, es nun
doch zu tun, inklusive der damit verbunde
nen editionsethischen Probleme. Zwar war
es bereits im Jahr 2000 zu einer unkommen
tierten Veröffentlichung auf der Website der
Andersaffinen Zeitschrift FORVM gekom
men (120), doch scheint diese kaum rezipiert
worden zu sein. Gegenüber dem ZurVerfü
gungStellen im Netz hat die Drucklegung ei
nes solchen Dokuments jedenfalls auch heu
te noch ein größeres Gewicht.
Bernd Bösel