Academia.eduAcademia.edu

Totholz lebt! – sterbende Bäume brauchen Schutz.

2024, Collage - Zeitschrift für Raumentwicklung

Totholz spielt nicht nur im Wald eine wichtige Rolle, sondern ist auch für ein ökologisch funktionierendes Siedlungsgebiet unabdingbar. Es bietet zahlreichen Organismen Nahrung, Unterschlupf sowie ein breites Spektrum an unterschiedlichen Habitaten. Alte Bäume und verschiedenste Formen von Totholz – liegende und stehende Stämme, Asthaufen, Baumstümpfe, Wurzeln usw. – sollten in Gärten, Parks und Alleen gezielt geschützt werden.

Totholz lebt! – sterbende Bäume brauchen Schutz MARK KRIEGER Prof. Dipl.-Ing FH Landschaftsarchitektur, Leiter Freiraumlabor Campus Rapperswil-Jona, ILF Institut für Landschaft und Freiraum, OST – Ostschweizer Fachhochschule CHRISTOPH KÜFFER Prof. Dr., Umweltnaturwissenschaftler ETH, Leiter Fachteam Ökologie und Pflanzenverwendung, ILF, OST – Ostschweizer Fachhochschule GABI LERCH Dipl.-Ing., Landschaftsarchitektin, Kuratorin Freiraumlabor Campus Rapperswil-Jona, ILF, OST – Ostschweizer Fachhochschule [ABB.1] Sterbende Birken und Totholz auf dem Campus in Rapperswil-Jona entlang der Wegverbindung vom Bahnhof zum See (Foto: Gabi Lerch, 2024) Totholz spielt nicht nur im Wald eine wichtige Rolle, sondern ist auch für ein ökologisch funktionierendes Siedlungsgebiet unabdingbar. Es bietet zahlreichen Organismen Nahrung, Unterschlupf sowie ein breites Spektrum an unterschiedlichen Habitaten. Alte Bäume und verschiedenste Formen von Totholz – liegende und stehende Stämme, Asthaufen, Baumstümpfe, Wurzeln usw. – sollten in Gärten, Parks und Alleen gezielt geschützt werden. Bäume bilden das Rückgrat von klimaangepassten, gesunden und ökologischen Siedlungsräumen. Trotzdem schrumpft der urbane Baumbestand in der Schweiz weiter: Bäume fallen einerseits der ungebremsten Bautätigkeit zum Opfer, andererseits senken Klimawandel, Pflanzenkrankheiten sowie schlechte Bodenbedingungen ihre Lebenserwartung drastisch. Allmählich wächst das Wissen, dass Stadtbäume besseren Schutz benötigen. Vielen noch zu wenig bewusst ist hingegen, dass auch altes und totes Holz einen zentralen Bestandteil von intakten Ökosystemen ausmacht und immer mehr aus unseren Siedlungslandschaften verschwindet. Sterbende Bäume bedeuten Leben Machen sich bei einem Baum erste Schwächezeichen bemerkbar– ein Ast bricht ab –, ist dies oft sein Todesurteil: Der Baum wird gefällt, das Holz abtransportiert. Dadurch verlieren urbane Lebensräume ihre primäre Nahrung und Strukturvielfalt – sie verhungern und verarmen. Solange ein Baum vital ist, sind die Photosyntheseprodukte der Pflanze für Tiere nur beschränkt zugänglich. Der Baum verteidigt sich gegen Organismen, die seine Blätter und das Holz fressen wollen. Einzig das abfallende Laub im Herbst füttert die am Anfang der Nahrungskette stehenden Bodenlebewesen. Erst wenn ein Baum alt ist und der nicht selten jahrzehntelange Sterbeprozess einsetzt, ermöglicht das geschwächte Pflanzenmaterial neues Leben. In von alten Bäumen, Laub und Totholz leerge- fegten Siedlungsräumen fehlt dieses Fundament der Nahrungskette. Dass es dennoch grössere Tiere wie Füchse in der Stadt gibt, liegt hauptsächlich an unserem Food Waste – an Essensresten unter Parkbänken und in unseren Müllsäcken. Vom Setzling bis zum Altbaum In der Planung und Gestaltung müssen wir den gesamten Lebenszyklus eines Baums fördern: Jungpflanzen frühzeitig nachpflanzen, Bäume sorgfältig pflegen, damit sie alt werden können, und das Totholz an Ort und Stelle bewahren. Lebende und tote Bäume benötigen in unseren Planungs- und Baugesetzen einen besseren Schutz: einen expliziten Schutzstatus, Zonen prioritärer Förderung sowie vor allem genügend Flächen und Raumvolumen über dem und im Boden – beispielsweise, indem die Grenzabstände für Bäume aufgehoben werden und das Bauen im Untergrund mittels griffiger Unterbauungsziffern begrenzt wird. Es braucht Budgets, um eine kontinuierliche und fachgerechte Pflege des Baumbestandes zu gewährleisten. Sterbende Bäume können in vielen Fällen durch Stützmassnahmen oder einen professionellen Rückschnitt von einzelnen Ästen noch über Jahrzehnte bestehen bleiben. Laub und Äste können in Baumscheiben oder unter Hecken das lokale Ökosystem weiterhin bereichern. Und nicht zuletzt sollte die Akzeptanz von Totholz in der breiten Bevölkerung mittels Kommunikation (z. B. Informationstafeln) und attraktiver Gestaltungen gefördert werden. Mit Totholz gestalten Im Freiraumlabor auf dem Campus der OST in Rapperswil-Jona experimentieren wir mit gestalterischen Strategien, um Totholz in einen repräsentativen öffentlichen Freiraum zu integrieren. Aktuelle Herausforderung ist eine sterbende Birkenallee [ABB.1]: Baumstrünke zweier umgestürzter Birken wurden liegengelassen; Wildstauden, Pilze und Käfer haben diese bereits besiedelt. Aus den Ästen wurde mit den Studierenden ein Holzstapel gebaut – vielleicht wohnt hier irgendwann ein Wiesel? Die verbliebenen Alleebirken wurden auf ihre Standfestigkeit geprüft – ein Exemplar musste kräftig gestutzt werden, darf jedoch auf diese Weise weiterleben. Junge Bäume wurden bereits nachgepflanzt. Insgesamt ergibt sich eine vielfältig strukturierte Natur, wo Chaos und Ordnung, Leben und Tod, Ökologie und Ästhetik zusammenspielen. Die Natur darf Natur sein, aber auch gestaltende Eingriffe sind sichtbar. Im Abendlicht wirkt die Birkenallee nun wie aus einem Bild von Caspar David Friedrich – passend zum Jubiläumsjahr des berühmten Malers. WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN Campus-Garten als Freiraumlabor, OST https://www.ost.ch/de/die-ost/campus/ campus-rapperswil-jona/infrastrukturund-it/campus-garten KONTAKT [ABB.1] 32 COLLAGE 4/24 gabi.lerch@ost.ch COLLAGE 4/24 Zeitschrift für Raumentwicklung Périodique du développement territorial Periodico di sviluppo territoriale Publikation / publication / pubblicazione FSU FORUM THÈME Penser la ville à partir du paysage Von der Landschaft her denken Pensare la città attraverso il paesaggio Städtische Autobahnen werden zu Boulevards Dank Rollenklarheit souverän moderieren Totholz lebt!