Reinhard Kreissl
Öffentliche Inszenierung von Sicherheitsfragen*1
I. Vorbemerkung
Sicherheit ist ein soziales Phänomen, das einen eigentümlichen Status besitzt. Sicherheit ist ein Zustand des Gemeinwesens, bei dem die Individuen ohne weitere Überlegungen ihren üblichen Geschäften nachgehen (bei denen sie natürlich jede Menge
Überlegungen anstellen!). Aus der Teilnehmerperspektive lebt in Sicherheit, wer sich
über Sicherheit keine Gedanken macht. Diese »ontologische Sicherheit« bildet sich
gleichsam im Rücken der Akteure. Man ist mit den Dingen vertraut, nimmt sie gemäß
der bisherigen Erfahrung, ohne sie in Zweifel zu ziehen. Verunsicherung entsteht
durch Unbekanntes, das nicht einzuordnen ist oder durch Irritationen im Umgang mit
Bekanntem. Der neue Nachbar wird misstrauisch beäugt, ebenso die plötzliche Veränderung im Benehmen nahestehender Menschen. Wir verlassen uns im Alltag weniger
auf unseren Intellekt als auf unsere Sinne. Wir glauben, was wir sehen und wir sehen,
was wir glauben. Das weiß auch die Politik und sie nutzt es – im Großen wie im Kleinen. Vergleicht man die Bilder aus dem Vietnamkrieg mit denen aus dem Irak, dann
sieht man diesen Unterschied sofort. Wenn die Bildregie mal daneben geht, wie in
Abu Ghraib, dann gerät die sorgfältig inszenierte Fassade für kurze Zeit ins Wanken.
Doch normalerweise zeigt die geschickte mediale Inszenierung von drohenden Gefahren gepaart mit den beruhigenden Bildern staatstragender Politikdarsteller berechenbar
ihre Wirkung.
Auch im Bereich der Inneren Sicherheit funktioniert diese Politik der Bilder. Allerdings ist die Dramaturgie hier eine etwas andere: Während die Schrecken an fernen
Orten sich über einige wenige Fernsehclips vermitteln lassen, muss die Bedrohung der
Sicherheit im Inneren anders inszeniert werden.
Erstens muss die Bedrohung, wenn sie wirken soll, auf Dauer gestellt werden. Es
bedarf der alltäglichen Erinnerung. Man könnte hier in Analogie zur Terminologie des
Krieges von einer »Low Intensity Strategy« sprechen. Man könnte eine Diashow der
visuellen Sicherheitspolitik zusammenstellen. Man könnte zeigen, wie das öffentliche
Gesichtsfeld markiert wird durch eine Art sicherheitsstaatliche Graffiti, die jeden daran erinnern soll, dass die Gefahr überall lauert. Die suggestive Wirkung des Bildes
reicht dabei bis in die Vermittlung scheinbar objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wer Statistiken zeigt, bei denen das Böse auf einem Koordinatensystem abgetragen wird und zeigen kann, wie die Kurven kontinuierlich und dramatisch ansteigen,
der ist gegen jedes Argument, jeden Appell an den gesunden Menschenverstand gefeit.
Zweitens ist es das geschickte Spiel mit Sichtbarem und Unsichtbarem, das hier
seine Wirkung entfaltet: Die Bedrohung bleibt unsichtbar und nur der privilegierte
*1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag auf dem Kongress »Sicherheitsstaat am Ende?« an
der Humboldt Universität zu Berlin am 23. Mai 2008.
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Blick der Sicherheitskräfte hat Zugang. Daher die begierige Forderung nach weiterer
Durchleuchtung des Gesellschaftskörpers auf der Suche nach den dort vermuteten Erregern des Bösen, die Nötigung, sich zu Kontrollzwecken zu entblößen.
Die Gefahr besteht, wenn man so will, in ihrer Abwesenheit. Das Böse hat keine
Adresse und ist nicht greifbar und daher kann man es in vielfacher Hinsicht als Bedrohung inszenieren.
Im folgenden soll versucht werden, ein paar Perspektiven zu skizzieren, unter denen
man sich kritisch mit solchen Inszenierungen öffentlicher Sicherheit auseinandersetzen kann.
Ich werde zunächst einige Mechanismen beschreiben, die dazu beitragen, dass Sicherheitsfragen einen hohen Stellenwert in der aktuellen Diskussion einnehmen (II.).
Ich werde sodann versuchen, die verschiedenen Arten der Inszenierung des Themas
Sicherheit und Bedrohung kurz zu skizzieren (III.) und abschließend noch über mögliche Wirkungen der Sicherheitspolitik im weiteren Sinne spekulieren (IV.).
II. Konjunkturen der Sicherheitspolitik
Es gibt zunächst eine Reihe von Mechanismen, die Sicherheitsprobleme sozusagen als
Nebeneffekt hervorbringen und die Politik der Inneren Sicherheit befeuern. Von wesentlicher Bedeutung sind hier die drei Bereiche Politik, Medien und Wirtschaft.
1. Die Politik
Politik mit der Angst ist im Angesicht der enger werdenden Handlungsspielräume eines der letzten Felder, auf denen sich die politischen Akteure auf der Vorderbühne
profilieren können. Der Mechanismus ist relativ simpel: Man baut eine Bedrohung
auf, verabschiedet ein neues Gesetz und behauptet dann, wenn der angekündigte Schaden nicht eintritt, dass dies der erfolgreichen Politik zuzuschreiben ist. Wenn man den
regierungsamtlichen Verlautbarungen glaubt, haben wir auf diese Art und Weise in
der aktuellen Situation schon jede Menge verheerende Anschläge von Islamisten verhindern können.
Zudem ist die Orientierung an den dunklen Szenarien des schlimmsten denkbaren
Falls eine Art auf die Zukunft gerichtete Rückversicherung für all jene, die öffentlichkeitswirksam ihre politische Verantwortung demonstrieren wollen. Sollte jemals ein
Flugzeug entführt und auf ein AKW gelenkt werden, dann kann der Innenminister immer darauf verweisen, dass er dieses Szenario vorhergesehen habe, aber die von ihm
vorgeschlagenen Maßnahmen seien leider abgelehnt worden.
Die amerikanischen Sicherheitsdienste haben nach dem 11. September ihre Strategie im Umgang mit der Politik in diesem Sinne geändert. Man hatte ihnen seinerzeit
vorgeworfen, die vorhandenen Informationen vor den Anschlägen nicht an die Politik
weitergeleitet zu haben, damit hätten sie sich, so die Kritik, mitschuldig gemacht. Seitdem landet jede noch so irrelevante vermeintliche Terrordrohung auf dem Tisch der
politisch Verantwortlichen, die in unsortierten Informationen ersticken. Die Sicherheitsdienste aber sind aus dem Schneider, denn sie haben es jetzt gesagt. Ähnlich ist
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die Konstellation der Sicherheitspolitiker im Verhältnis zur politischen Öffentlichkeit.
Noch aus den seltsamsten Bedrohungsfantasien lassen sich notwendige Einschränkungen der Freiheitsrechte begründen und dann, sollte wirklich der Fall eintreten, kann
die Politik auf die Warnung an den Gesetzgeber verweisen. Auch und gerade dann,
wenn andere, mit Verweis auf Augemaß und Rechtsstaatlichkeit diese ablehnen. Eine
verrückte Logik der Zurechnung gibt hier den Sicherheitspolitikern den Feldvorteil.
Jeder, der ihre Schreckensszenarien in Zweifel zieht, wird als leichtsinniger Geselle
gebrandmarkt.
2. Die Medien
Ähnliches gilt für die Interessen der einschlägig orientierten Medien. Die neuesten Bedrohungen, seien es mordende Mütter, inzestuöse Väter oder bombenbastelnde Muslime sind in jedem Fall auflagensteigernd. Und immer wieder ist der Ruf nach Vergeltung und Kontrolle das, was den grausigen Befunden auf dem Fuß folgt. Zudem führt
die mediale Verwertung solcher Ereignisse zu einem Phänomen, das man als Verzerrung der gesellschaftlichen Wahrnehmung bezeichnen könnte. Die absolute Anzahl
schrecklicher Verbrechen hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nennenswert verändert, was sich jedoch verändert hat, ist ihre Wahrnehmung. Die Kindstötung in Mecklenburg-Vorpommern flackert über die bayerischen Bildschirme und umgekehrt und
die Massierung dieser kumulierenden Nachrichten wird subjektiv als absolute Zunahme wahrgenommen, mit der Folge, dass jeder, der irgendeine Verschärfung irgendwelcher Kontrollen oder Gesetze fordert, mit breiter öffentlicher Zustimmung
rechnen kann. Hinzu kommt die spezifische Art der Rahmung dieser Katastrophenberichterstattung. Es sind im wesentlichen immer zwei Stränge, die hier verfolgt werden:
zum einen eine Stilisierung der Täter, die als Monster vorgeführt werden und zum anderen eine Kritik an den Behörden, die das nicht verhindert hätten. Beides zusammen
schafft den Nährboden für eine Mentalität, die für weitere Verschärfungen anfällig ist.
3. Ökonomische Interessen
Als dritten Akteur kann man die Wirtschaft nennen. Die Sicherheitsbranche hat im
Vergleich mit anderen überdurchschnittliche Zuwachsraten. Die Versprechungen der
einschlägigen Forschung zu neuen Überwachungstechnologien erinnern oft an die Figur des Q in den James Bond Filmen, und viele der neuen Entwicklungen würden auch
nur auf der Leinwand funktionieren. Aber das ändert nichts daran, dass erstens entsprechende Förderprogramme aufgelegt werden und dass zweitens die verfügbaren
Technologien zum Einsatz kommen und an allen Ecken und Enden zusätzliches Überwachungs- und Sicherheitspersonal ein- und aufgestellt wird. Die Industrie interessiert
sich nicht primär für Sicherheit an sich, sondern für Sicherheit als ein Umsatz und
Aufträge generierendes Thema. Hier gibt es ein perfektes Zusammenspiel mit der Politik. So trat etwa der vor kurzem nach Italien zurückgekehrte EU-Justizkommissar
Frattini kurz vor dem Ende seiner Amtsperiode vor die Presse, um eine Reihe dringend
neuer technischer Überwachungssysteme für die Schengenaußengrenze anzukündigen. Und zufälligerweise waren diese Technologien gerade auch genau im Zentrum
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der Ausschreibung für Sicherheitsforschung im 7. Forschungsrahmenprogramm der
EU. Das heißt also: die Politik lässt sich im Vorfeld von den Technologieexperten der
Industrie beraten, was theoretisch im Bereich Sicherheit und Kontrolle möglich ist,
propagiert das dann öffentlich als Notwendigkeit mit der Folge, dass diese Technologien bei der nächsten Ausschreibung für Forschungsaufträge als dringend notwendig
förderungswürdig erachtet werden.
Zusammenfassend ergibt sich hier also folgende Situation: Es existieren eine Reihe
von Interessenskonstellationen, die genuin nichts mit Sicherheitsfragen zu tun haben,
die aber das Thema Sicherheit nutzen, um Dinge voranzutreiben, die in völlig anderen
Kontexten stehen. Die Politik kann sich mit Hilfe des Themas Sicherheit diffuse Massenloyalität sichern und den Eindruck erwecken, ihr Output hätte auch einen Impact.
Die Medien haben damit ein Thema, das immer schlagzeilenträchtig ist. Und eine
Reihe von Akteuren aus dem wirtschaftlichen Bereich sieht hier ein profitables Investitionsfeld, das es mit politischer Unterstützung zu beackern gilt. Das schafft die
Grundlage für die Inszenierung von Sicherheitsfragen in der Öffentlichkeit.
III. Inszenierungen und Reaktionen
Wenn man sich mit öffentlicher Inszenierung von Sicherheitsfragen beschäftigt, dann
sollte man immer einen weiteren Bereich im Auge haben als die derzeit sehr hoch gehängte »terroristische« oder sog. »islamistische« Bedrohung. Auch die immer wieder
im trivialen Bereich der Lebenswelt skandalisierten Fälle von Kindstötung, sexuellem
Missbrauch oder Vernachlässigung gehören hierher. Ebenso die hochkochenden Themen wie steigende Jugendgewalt oder Drogen- und Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen. Eine wichtige Rolle spielen hier im übrigen auch jene zugeschalteten Experten,
die mit dem Pathos wissenschaftlicher Objektivität aus jeder sozialen Mücke in vier
Minuten Sendezeit einen moralunternehmerischen Elefanten machen. Auch hier werden Gefahren stilisiert und staatlicherseits Sicherheitsversprechen gegeben, die nicht
eingehalten werden, aber dennoch gravierende Wirkungen haben.
Die zentrale Frage lautet aber: warum und wie funktioniert diese Inszenierung und
welche Folgen hat sie im weiteren gesellschaftlichen Kontext?
Ich halte es für sinnvoll, hier zu unterscheiden zwischen der relativ kleinen Sphäre
der informierten und kritischen Experten, die an der Entwicklung des Sicherheitsstaats
professionell interessiert sind, sich entsprechend informieren und politisch engagieren
(1.) und dem, was man gemeinhin als die »allgemeine Öffentlichkeit« bezeichnet (2.).
1. Die Position der Experten
In der Szene der aufmerksamen, die Entwicklung verfolgenden Kritiker muss man
sich vor allen Dingen vor zwei Mechanismen hüten, die man als präventive Paranoia
und a-historische Dauererregung bezeichnen könnte. Beide können ihre Wirkung bei
der Inszenierung von Sicherheitsfragen entfalten.
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a) Präventive Paranoia
Präventive Paranoia kann entstehen, wenn man die Möglichkeiten der Sicherheitsapparate überschätzt und etwa die theoretischen Möglichkeiten von Überwachungstechnologien, über die im Rahmen sicherheitspolitischer Strategien diskutiert wird, für
bare Münze nimmt. Es ist subjektiv vollkommen verständlich, dass der öffentliche
Raum etwa aus der Sicht eines Jugendlichen, der sich in einem Umfeld bewegt, für das
sich die Sicherheitsbehörden interessieren, im Wesentlichen aus Überwachungskameras und Kontrollstellen besteht, an denen man sich auszuweisen hat. Und natürlich es
gibt genügend Belege, dass man als Angehöriger einschlägiger Kreise immer wieder
einmal mit dem Schlimmsten zu rechnen hat.
Die Folge ist dann sehr häufig eine Art übervorsichtige Haltung der Selbstzensur,
die jede Form der Kommunikation und öffentlichen Bewegung unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Überwachung deformiert. Diese Haltung ist in bestimmten
Kreisen weit verbreitet und lässt sich gezielt strategisch nützen. Bringe ich etwa neben
einigen echten Videokameras Attrappen an, so wirken diese im Sinne der präventiven
Paranoia und Verunsicherung ebenso wie die echten. Inszeniere ich einige wirkliche
Überwachungsaktionen, über die großflächig und skandalträchtig berichtet wird, so
wirkt die Berichterstattung insofern, als ein jeder sich fragt, ob er selbst nicht auch bereits Objekt der Überwachung ist oder demnächst werden könnte. Ein amerikanischer
Journalist in der New York Times hat dies in Anlehnung an das Internet zutreffend als
Security 2.0 bezeichnet.
Nicht die reale Überwachung wirkt, sondern der – natürlich immer durch Beispiele
und Belege untermauerte – Glaube, dass sie stattfindet. Dieser Mechanismus ist als
präventive Kraft des Nichtwissens für den Bereich der Kriminalitätskontrolle vielfach
beschrieben worden und vieles spricht dafür, dass er im Bereich der Inszenierung von
Sicherheitspolitik ebenfalls wirkt.
b) A-historische Dauererregung
Der zweite Mechanismus, der mir hier im Hinblick auf die Szene der Kritiker der Sicherheitspolitik wichtig erscheint, ist die Haltung, die ich in Ermangelung einer besseren Formulierung provisorisch als a-historische Dauererregung bezeichnen möchte.
Seit den Siebziger Jahren hört man immer wieder, Deutschland oder Europa oder die
westlichen Gesellschaften seien auf dem Weg in den Überwachungsstaat. Bei jeder
neuen Welle von Gesetzesänderungen wird diese rhetorische Figur bemüht. Selten
hört man die Diagnose, dass wir den Überwachungsstaat bereits längst haben, dass im
Namen vermeintlicher Sicherheitsbedrohungen bereits alles und jeder überwacht werden kann und die rechtlichen Möglichkeiten für weitere Überwachungen bereits vorhanden sind. In Anlehnung an die Ökonomie könnte man sagen, der Grenznutzen zusätzlicher Überwachungsmaßnahmen wird immer geringer, wohingegen das Pathos
der Erregung – zumindest bei den Kritikern – mehr oder weniger konstant bleibt. Auch
hier hat man es in gewisser Weise mit einer Folge der präventiven Paranoia zu tun,
gleichsam auf der Zeitachse abgetragen. Neue Gesetzesinitiativen entfalten zunächst
und zuallererst symbolische Wirkung über die Aufregung, die sie bei ihren Kritikern
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hervorrufen. Wenn ich mich in kritischer Absicht echauffiere und in schöner Regelmäßigkeit immer vor dem heraufziehenden Sicherheitsstaat warne, dann muss ich mich
irgendwann fragen lassen, was von diesen Warnungen zu halten ist, wenn sie einerseits das Exzeptionelle beschwören und andererseits gleichzeitig zur Routine werden.
Man sollte bei all der Erregung über den demnächst endgültig heraufziehenden Sicherheitsstaat immer im Auge haben, dass wir den Überwachungs- und Polizeistaat in
der Schublade schon seit langem haben. Aber wie gesagt »in der Schublade«. Und es
wäre nicht das schlechteste, wenn man den Gesetzgeber aufforderte, in dieser Schublade gelegentlich einmal auszumisten!
c) Dilemmatische Situation
Beide Aspekte verbinden sich für die kritische Auseinandersetzung mit der Politik der
Inneren Sicherheit zu einem Dilemma, das sich zunächst als doppelte Gefahr von
Überdramatisierung einerseits oder Verharmlosung andererseits darstellt. Nehme ich
alles für bare Münze, so gehe ich möglicherweise einer politischen Rhetorik auf den
Leim, die mein Verhalten im Sinne der kritisierten Politik beeinflusst; verharmlose
ich, kann es sein, dass Dinge durchgesetzt werden, die man eigentlich hätte verhindern
müssen. Die Frage, was der Fall ist, lässt sich im Bereich der Sicherheitspolitik nur
schwer beantworten. Und jede Art der Antwort hat weitreichende Folgen. Oder anders
formuliert: je nachdem, wie ich die Realität interpretiere, ändert sich nicht nur mein
Verhalten, sondern auch auf der kollektiven Ebene der Zustand des Gemeinwesens.
Was die Sicherheitspolitik in erster Linie erreicht, ist jenseits aller vermeintlichen oder
realen Wirkungen ihrer Maßnahmen eine Kolonisierung der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Legitimerweise über Sicherheit sprechen können nur die Sicherheitsbehörden und auf deren Diagnosen ist der Alltagsverstand weitgehend angewiesen. Egal
welche Evidenz man im Alltag herbeibringen kann, sie kann die Bedrohungsszenarien
nicht wirkungsvoll widerlegen. Ich werde auf diesen Punkt später noch näher eingehen.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Souverän bei der Lektüre der von ihm verabschiedeten Gesetze gar nicht mehr nachkommt. Wer regelmäßig die einschlägigen Infodienste verfolgt, wird schnell feststellen, dass die Maschine sowohl der Legislative
wie der Exekutive auf Hochtouren läuft. Angefangen vom Abbau der Verteidigerrechte über Entmachtung des Datenschutzes bis hin zur Legalisierung präventiver
Maßnahmen der großflächigen Überwachung bei äußerst niedrigschwelligen Verdachtsmomenten. Wer versucht, für all diese Entwicklungen auch nur für kurze Zeit
eine über die engeren Expertenkreise hinausgehende Aufmerksamkeit zu finden, der
muss ebenso verkürzen, dramatisieren, zuspitzen und vereinfachen wie es diejenigen
tun, die für diese Politik werben (und sie in aller Regel auch durchsetzen). Wer gehört
werden will als Kritiker, der wird sich unter den Bedingungen einer medialen Öffentlichkeit mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne der gleichen Strategien bedienen, wie
jene, die er kritisiert – mit dem Risiko auf paranoide Gefährdungsdiagnosen mit Gegenparanoia zu reagieren.
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2. Die Position der Öffentlichkeit
Ich hatte eingangs auf die Rolle der Bilder hingewiesen und möchte jetzt nochmals
darauf zurückkommen. Es ist die herausragende Fähigkeit der Politik mit solchen Bildern zu operieren, wenn es um die Inszenierung von Sicherheitsfragen vor dem Publikum der allgemeinen Öffentlichkeit geht. Das betrifft nicht nur die Phantombilder von
vermeintlichen Tätern, denen man das Böse bereits in die Physiognomie hineinretuschiert hat und die anlässlich spektakulärer Vorfälle über die Bildschirme flimmern.
Vielmehr handelt es sich hier um eine Dramaturgie der Verunsicherung, die auch über
Bilder transportiert wird. Mediale Verunsicherung und triviale Erinnerung sind zwei
der zentralen Mechanismen, mit denen Sicherheitsfragen für die breite Öffentlichkeit
inszeniert werden.
a) Mediale Verunsicherung
Mediale Verunsicherung funktioniert im Wechselspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem. Plakativ sichtbar sind die Opfer: man zeigt uns schreckliche Bilder von Verletzten und die Phantombilder der Täter, in deren Gesicht alle Vorurteile der Physiognomie bestätigt werden: Genau so sehen sie aus! Oft genügt aber auch nur das Bild einer
Reisetasche, in der, so erfahren wir, der Tod für Hunderte von Menschen lauert, denn
sie enthält eine Bombe, die der Täter in einem voll besetzten Zug zur Explosion bringen wollte. Aber diese Bilder sind nur ein Verweis auf das, was wir noch nicht sehen,
auf das, was unsichtbar ist.
Und am Unsichtbaren setzt der Sicherheitsstaat mit seiner Inszenierung der Überwachung an. Er will das Unsichtbare sichtbar machen. Es ist die Fantasie der umfassenden Transparenz, der eindeutigen Identifizierbarkeit, der sofortigen Verortung und
Verfolgbarkeit, die diese Politik befeuert.
Nicht umsonst ist die Videokamera zum Symbol des Sicherheitsstaats geworden.
Der Blick des Großen Bruders aus tausend Augen wacht über die immer gefährdete
Wirklichkeit, der Blick des Scanners auf den maschinenlesbaren Ausweis stellt sicher,
dass man der ist, für den man sich ausgibt. Und damit wird vonseiten des Sicherheitsstaates ein Versprechen gegeben, ein Versprechen, dass die Welt lesbar, verständlich,
berechenbar mit einem Wort: sicher gemacht werden kann.
Hier klärt sich im Übrigen auch ein viel diskutiertes Paradox, das Heribert Prantl mit
dem wunderbaren Begriff der Orwellness bezeichnet hat. Der Exhibitionismus der zu
Nutzern degradierten Bürger, die sich gegenüber einer unsichtbaren Öffentlichkeit im
virtuellen Raum hemmungslos zu entblößen scheinen, lässt sich nämlich auch als Versuch verstehen, sichtbar zu werden. In einer Welt, die zusehends nicht mehr lesbar ist,
in der die Zeichen des Alltags opak werden, ist jede Information, die mir sagt, wer
mein Gegenüber ist, mit wem ich es zu tun habe, ein Gewinn an Vertrautheit und damit Sicherheit. Man stellt sich vor im Forum des Cyberspace, indem man sich entblößt
und hofft, dass der oder die Anderen das ebenfalls tun und dass damit so etwas entsteht, das wie sozialer Zusammenhalt aussieht. Das subtile Zusammenspiel von Öffentlichkeit und Privatsphäre wird im virtuellen Raum weitgehend aufgelöst und diesen Zerfall macht sich die mediale Verunsicherung zunutze. Die kulturell tief sitzende
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Reziprozitätserwartung der gegenseitigen Identifikation in face-to-face-Situationen
wird im virtuellen Raum gleichsam zur Nötigung, sich zu entblößen. Und wer sich
dieser Nötigung entzieht, gerät in Verdacht.
b) Triviale Erinnerung
Ich hatte als einen zweiten Mechanismus der Inszenierung von Sicherheit die Strategie
der trivialen Erinnerung genannt. Wer heute sich im öffentlichen Raum bewegt, wird
an allen Ecken an die gefährdete Sicherheit erinnert. Das beginnt mit den permanent
wiederholten Lautsprecherdurchsagen auf Bahnhöfen und Flughäfen, die dazu auffordern, das Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen zu lassen oder verdächtige Gepäckstücke dem Sicherheitspersonal zu melden. Es setzt sich fort über die diversen körperlichen Durchsuchungen in Flughäfen, die regelmäßigen Passkontrollen in den
Fernzügen und endet bei der demonstrativen Präsenz uniformierten Personals in Fußgängerzonen, den überall in der Öffentlichkeit angebrachten Hinweisen auf Videoüberwachung und den auch im Privatbereich zu findenden Ankündigungen von Sicherheitsmaßnahmen der Hausbesitzer und Wohnungsmieter.
Hier wirkt eine paradoxe Psychologie, die sich in diversen Studien immer wieder
bestätigt. Die niedrigschwelligen Zeichen der Überwachung vermitteln das Gefühl
von Sicherheit, indem sie durch ihre Präsenz zuerst an die grundlegende Unsicherheit
erinnern. Gleichsam in einem Atemzug wird dabei an den Grund erinnert, der die
Überwachungsmaßnahmen erforderlich macht. Es ist die gleiche Logik wie beim
Arztbesuch: Die Untersuchungsergebnisse des Internisten wirken beruhigend, nachdem die Untersuchung selbst zunächst ein banges Gefühl der Unsicherheit über den eigenen Gesundheitszustand hervorgerufen hat. Glücklich diejenigen, die jede Arztpraxis meiden!
Der strategische Witz an dieser Konstellation ist ihre hermetische geschlossene
Konstruktion: Der Sicherheitsstaat gewinnt seine Einheit in der Differenz von Kontrasten wie Sicherheit vs. Unsicherheit oder Sicherheit vs. Freiheit. Bewegt man sich
in diesen polaren Feldern, dann gibt es kein Auskommen. Man ist gefangen in einer
Art Nullsummenspiel, das eine falsche Geschlossenheit suggeriert: Mehr von diesem
bedeutet weniger von jenem und damit basta.
Man könnte hier eine Reihe weiterer Mechanismen analysieren, die in der sozialen
Dramaturgie das Thema Sicherheit am Kochen halten und es bei Bedarf zum Brodeln
bringen. Aber es handelt sich, so die Ausgangsüberlegung, um Inszenierungen. Inszenierungen, mit denen vermittelt werden soll, die Sicherheitspolitik in ihren vielfältigen
Facetten von der freiheitsbeschränkenden Gesetzgebung bis hin zur technisch-personellen Aufrüstung der Sicherheitsapparate im öffentlichen Raum diene einem klar definierten Zweck und habe segensreiche Wirkung, für die man als Bürger Einschränkungen hinnehmen müsse.
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IV. Wirkungen und Nebenwirkungen
Das aber ist, wie man leicht sehen kann, nicht der Fall. Betrachtet man die Wirkungen
der Inszenierung von Sicherheitspolitiken aus etwas distanzierterer Perspektive, so fallen einem eine Reihe anderer Phänomene auf.
Bei der Analyse der Wirkung von Sicherheitspolitiken sollte man im Hinblick auf
die Effekte unterscheiden zwischen Maßnahmen, die, wie etwa die Telefonüberwachung, relativ aufwändig sind, symbolischer Gesetzgebung, die den Polizeistaat in der
Schublade immer weiter legalisiert, aber im Alltag nicht wahrnehmbar ist und solchen
Maßnahmen, die man dauerhaft und nachhaltig in den Alltag implementieren kann.
Die Legalisierung technischer Maßnahmen lässt sich dabei als Ironie der rechtsstaatlichen Selbstbindung der Exekutive rekonstruieren. Da sich die Exekutive an die gesetzlichen Vorgaben gebunden fühlt, gleichzeitig aber einen nahezu unersättlichen Bedarf nach immer weiteren Möglichkeiten der Überwachung und des Zugriffs hat, wird
aus jedem einzelnen Anlass sofort ein Gesetz, das dann für längere Zeit, wenn nicht
unbeschränkt, in Kraft bleibt, auch wenn es praktisch kaum angewendet wird.
Betrachtet man etwa die Praxis der Überwachung des Fernmeldeverkehrs, so wird
schnell deutlich, dass solche Maßnahmen dermaßen aufwändig sind, dass sie bei aller
technischer Unterstützung großflächig nie zum Einsatz gelangen können. Aber das
Gesetz, das sie legalisiert, ist da und die Voraussetzung für die Anwendung sind meist
dermaßen diffus gefasst, dass auf der Ebene des Rechts von einer Einschränkung keine
Rede sein kann. Einschränkend wirkt hier nicht das Recht, sondern die faktischen
technischen und personellen Begrenzungen und wenn man Glück hat, das Augenmaß
und die Vernunft der Exekutive.
Die selbst deklarierte Logik der Sicherheitspolitik ist oft von bitterer Lächerlichkeit.
Nach jedem erfolgreichen Anschlag verbietet oder kontrolliert man die Mittel, derer
sich die Angreifer bedienten. Nach 9/11 begann man den Flugverkehr zu kontrollieren, als man einen Verdächtigen mit Flüssigsprengstoff fasste, wurden Zahnpastatuben
zu terrorverdächtigen Objekten und da man herausgefunden hat, dass auch Mobiltelefone und Computer als Kommunikationsmittel genutzt werden, werden auch die jetzt
überwacht. Ginge man mit der gleichen Konsequenz auch gegen die bekannt gewordenen Fehltritte der Sicherheitsbehörden vor, so müssten in jeder Ausnüchterungszelle,
in jedem Abschiebegefängnis großflächig Videokameras angebracht werden.
Offensichtlich sind die Paradoxien dieser Inszenierung. Die Logik des Terrorismus
funktioniert. Ein Staatswesen setzt sich mit Verweis auf terroristische Gefahren selbst
unter einen paranoiden Kontrolldruck, um den Drohungen zu begegnen, die man ihm
gegenüber ausspricht.
Ich möchte hier aber auf einige andere Wirkungen hinweisen, die eher auf der kulturellen Ebene zu beobachten sind.
1. Wiederbelebter Gehorsam
Ein Effekt der Inszenierung von Sicherheitsbedrohungen ist eine nostalgische Wiederbelebung des alten Verhältnisses von Bürger und Obrigkeit. Wir werden genötigt, uns
an erniedrigende Verhaltensweisen zu gewöhnen. Wer gelegentlich morgens am Flughttps://doi.org/10.5771/2193-7869-2008-3-322
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hafen in der Schlange steht, der kann beobachten, wie sich erwachsene Menschen aus
der Kaste der sogenannten Leistungsträger ohne Murren einer Prozedur unterziehen,
die ebenso lächerlich wie erniedrigend ist. Im Namen von Sicherheit kann man Dinge
fordern, die unter normalen Bedingungen sich kein Mensch gefallen lassen würde.
Die behauptete Bedrohung der Sicherheit setzt alle anderen Mechanismen außer
Kraft. Man denke sich etwa als Kontrastbeispiel den Straßenverkehr. Technisch ist es
möglich, ein Auto zu bauen, dass alle Sicherheitsfeatures in sich vereinigt. Dieses
Fahrzeug wäre doppelt so schwer und doppelt so teuer wie die gängigen Modelle und
würde an vielen Stellen in die »Freiheit« des Lenkers zugunsten seiner »Sicherheit«
eingreifen. Aber ein solches Modell wird nicht nachgefragt und daher ist es nicht auf
dem Markt. Vergleicht man diese Situation mit dem Bereich der staatlichen Sicherheitspolitik, so zeigt sich, dass den Bürgern hier keine Wahl gelassen wird. Ich kann
mich nicht entscheiden, mit einer Fluglinie zu fliegen, die mit geringeren Sicherheitsstandards im Sinne der Kontrolle der Passagiere arbeitet. Ich muss mich den Vorgaben
unterziehen, egal ob ich es als autonomer Konsument oder souveräner Bürger für sinnvoll und notwendig halte.
2. Selbstblockade
Ein zweiter paradoxer Effekt ist die Selbstblockade von Sicherungs- und Kontrollsystemen, die man in anderen Bereichen beobachten kann. Es liegt in der Natur der bürokratischen Logik der Überwachung und Kontrolle, dass sie Personen nach
Zuverlässigkeits- oder Gefährlichkeitskriterien sortiert. In Österreich gab es vor kurzem den weit über die Landesgrenzen hinaus skandalisierten Fall eines Mannes, der
seine Tochter über Jahre hinweg im Keller eingesperrt und mit ihr mehrere Kinder gezeugt hatte. Bei aller fürsorglichen Überwachung hatte dieser Mann alle Unbedenklichkeitsbescheinigungen all jener Behörden, deren Aufgabe es ist, solchen Fällen
vorzubeugen. Was sich hier zeigt, ist die qua Kontrolle eintretende Vertrauensseligkeit
im Angesicht möglicher Bedrohungen. Ähnliche Mechanismen kontraproduktiver
Wirkungen sind in vielen anderen sicherheitsrelevanten Bereichen beschrieben worden. So baut man heute etwa Atomkraftwerke mit wesentlich weniger technischen Sicherheits- und Kontrollmechanismen als noch vor zwanzig Jahren. Nicht dass die
Atomtechnologie für sich genommen sicherer geworden wäre. Vielmehr hat man aufgrund einer Analyse von Störfällen herausgefunden, dass durch vielfältige Überwachungssysteme keineswegs mehr reale Sicherheit erzielt wird, vielmehr entwickeln
diese Systeme mit zunehmender Komplexität eine ebenso große Störanfälligkeit wie
das zu überwachende System selbst. Bildlich formuliert könnte man sagen, die Kontrolle erstickt an ihrem eigenen Gewicht.
3. Semantische Verschiebungen
Abschließend sei noch auf einen dritten Aspekt hingewiesen, eine Entwicklung, die
eher schleichend vonstatten geht, und m.E. damit am gefährlichsten ist. Sicherheit
wird zu einer kulturellem Masterframe, zu einer Deutungsschablone, einer Linse,
durch die wir die Welt betrachten. Was das für Folgen haben kann, sieht man im
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Rückblick, wenn man sich die Karriere des Begriffs Sicherheit betrachtet. Noch in den
sechziger Jahren versteht man unter Sicherheit als politischer Kategorie im Wesentlichen Soziale Sicherheit. Es geht um die Absicherung vor den Risiken des Arbeitsmarkts, die Sicherung des materiellen Überlebens, die Gestaltung einer staatlich durch
verschiedene Versicherungssysteme abgesicherten Existenz.
Man fühlt sich hier an ein System kommunizierender Röhren erinnert: Mit der gleichen Vehemenz, mit der unter einem neoliberalen Regime Sicherheit als soziales Gut
abgebaut wird, propagiert man die Bedrohung einer atomisierten Gesellschaft von
Bürgern, die als Unternehmer ihrer Selbst von abstrakten und unsichtbaren Gefahren
umgeben sind, vor denen sie der Staat schützen muss. Das staatliche Sicherheitsversprechen hat also seinen Fokus verlagert. Das individuelle Überleben wird als Risiko
des Einzelnen gefasst und an seine Stelle tritt eine vermeintliche Gefahr, deren Verhinderung die freigesetzten Subjekte im Namen des zu verhindernden Bösen unter ein
neues Regime der präventiven Normalitätskontrolle zwingt.
Ich halte es nur für eine milde Stilisierung, wenn man Begriffspaaren wie Sicherheit
und Prävention auf absehbare Zeit eine ähnliche Karriere prophezeit wie wir sie am
Beispiel des Begriffs Umwelt in den letzten vierzig Jahren beobachten können. Das
führt mich zurück auf meine Ausgangsüberlegung. Gesellschaftliche Veränderungen
treten uns immer in der Form von Bildern und Metaphern gegenüber und jede gute
Gegenstrategie – so sie denn überhaupt eine Chance haben will, muss versuchen, sich
von der Logik dieser Bilder zu befreien. Wenn man nach den Regeln und der Logik
der Sicherheitspolitik spielt, dann hat man schon verloren. Diese Diagnose kann man
nach zwei Richtungen wenden: als Kapitulation vor der Macht hegemonialer Diskurse
oder als Aufforderung, die Dinge neu und anders zu denken. Letztlich wird es davon
abhängen, eine öffentliche Auseinandersetzung zu führen, die sich aus dem semantischen Käfig des Sicherheitsstaats befreit.
https://doi.org/10.5771/2193-7869-2008-3-322
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