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"Werkzeuge Gottes": Ergriffenheit und Bessenheit und ihre Transformationen im Pietismus

In the 1690s, a series of enthusiastic episodes rocked Pietist circles. Scholars have often pointed to Pietism's "heart religion" to explain these events. This essay demonstrates, however, that such experiences belonged to an older, firmly established cultural pattern in an Early Modern Europe in which a magical world view prevailed. Martin draws on dozens of texts, most previously overlooked by historians of Pietism, that document the continuity of this tradition from the sixteenth century into the Pietist era . She traces the integration of ecstatic events into Pietist conventicles and shows how Pietists adapted and transformed these older patterns to fit the new context of Pietism.

„Werkzeuge Gottes“: Ergriffenheit und Besessenheit und ihre Transformationen im Pietismus Einführung: Ergriffenheit und Besessenheit Pietisten glaubten, dass die Kriege, Heimsuchungen und natürlichen Katastrophen ihrer Zeit die Zeichen der Apokalypse seien, wie sie im Buch der Offenbarung vorausgesagt worden waren. Nach den prophetischen Büchern der Bibel sollten die „letzten Tage“ durch Katastrophen, aber auch durch Prophezeiungen und Visionen unter den Rechtschaffenden gekennzeichnet sein. In der Erwartung des Endes der irdischen Zeit fegte zu Beginn der 1690er Jahre bis in das 18. Jahrhundert eine Welle von charismatischen und prophetischen Aktivitäten durch Deutschlands pietistische Konventikel. Die Faktoren dieser enthusiastischen Wellen waren neben pietistischem Predigen über einen „inneren Kampf“, einem elitären Bewusstsein als Gottes „Auserwählte“ und dem Glauben an eine nah bevorstehende „Endzeit“ auch ein Repertoire an bestimmten Verhaltensmustern, die in dieser spezifischen kulturellen Situation zur Verfügung standen. Mit letzterem möchte ich auf einen großen Textkorpus zur göttlichen Ergriffenheit und dämonischen Besessenheit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hinweisen. Jeannine Blackwell: German Narratives of Women’s Divine and Demonic Possession and Supernatural Vision 1555-1800. In: Women in German Yearbook 16, 2000, 241-257. Übernatürliche Inbesitznahme einer Person war schon lange vor dem Pietismus ein etabliertes Muster, das von Zeitgenossen als eine von vielen Möglichkeiten akzeptiert wurde, übermenschliche Kräfte am eigenen Leib zu erfahren. Bis jetzt ist diese frühneuzeitliche Traditionslinie von der Pietismusforschung fast völlig vernachlässigt worden. Man hat die Ursache der ekstatischen Ereignisse im Pietismus in pietistischer Innerlichkeit oder auch im pietistischen Predigen über die „letzten Tage“ gesucht, ohne zu erkennen, dass solche charismatische Erscheinungen eine lange Vorgeschichte haben. Die Ereignisse im Pietismus waren Teil einer langen Tradition, die noch keine scharfe Trennung zwischen Religion und Magie zog. Im Folgenden möchte ich die Entwicklung dieses Phänomens nachverfolgen, von den älteren Berichten bezüglich der übernatürlichen Inbesitznahme des menschlichen Körpers über die Episode der „begeisterten Mägde“ im Pietismus bis hin zur Prophetie im Pietismus. Der Pietismus entstand in einer Zeit, in welcher die Öffentlichkeit glaubte, dass das Universum nicht nur von Menschen bevölkert sei, sondern auch von geistigen Wesenheiten, sowohl göttlichen als auch dämonischen. Es herrschte zu dieser Zeit noch ein magisches Weltbild vor. Deutschland hatte seit dem Mittelalter eine lange und ungebrochene Geschichte von göttlicher Ergriffenheit und dämonischer Besessenheit. Man glaubte, Gott oder der Teufel könne die Kräfte eines Menschen übernehmen, ihn in einen Trancezustand versetzen und manchmal sogar durch die Person sprechen oder handeln. Noch 1759 brach eine öffentliche Kontroverse über die Ekstasen der Anna Elisabeth Lohmann und ihre Kämpfe mit dem aufgeklärten Theologen Johann Salomo Semler aus. Gottlieb Müller: Grundliche Nachricht von einer begeisterten Weibesperson Annen Elisabeth Lohmannin [. . .]. Wittenberg 1759; Johann Salomo Semler: Abfertigung der neuen Geister und alten Irrtuemer [. . .] nebst theologischem Unterricht von dem Ungrunde der gemeinen Meinung von leiblichen Besitzungen des Teufels und Bezauberungen der Christen. Halle 1760; Anonym: Ein Advocat. Das bezauberte Bauermägdgen: oder Geschichte von dem jetzt in Kemberg bei Wittemberg sich aufhaltenden Landmädgen [. . .]. Breslau 1760; Blackwell, 253-55. An dieser Stelle möchte ich die Begrifflichkeit der Akteure problematisieren. In der englischsprachlichen Forschung hat sich der Begriff „Besessenheit“ (possession) als allgemeine Bezeichnung sowohl für göttliche wie auch für dämonische Inbesitznahme des Körpers durchgesetzt. Siehe z.B. Blackwell und Clark Garrett: Spirit Possession and Popular Religion: From the Camisards to the Shakers. Baltimore 1987. In der deutschen Forschung dagegen wird oft begrifflich zwischen der Inbesitznahme durch positiv besetzte Wesen wie Engel, Heilige oder auch Jesus und der Inbesitznahme durch negativ konnotierte Wesen wie Geister, Dämonen oder Teufel unterschieden. Ersteres wird in der Regel als „Ergriffenheit“, letzteres als „Besessenheit“ bezeichnet. Siehe z.B. Jürg Zutt (Hg.): Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkulturell-anthropologische und psychiatrische Fragen. Bern 1972, darin besonders der Artikel von Ernst Benz “Ergriffenheit und Besessenheit als Grundformen religiöser Erfahrung.” Wenn es sich um göttliche Anfälle handelt, sprachen Zeugnisse der Zeit auch von „Ekstasen“ oder „Entzückungen“. In den vorpietistischen Texten wie auch später im Pietismus wird beschrieben, wie die bloße Erwähnung von Gottes Liebe die betroffene Person in einem anderen Zustand versetzen konnte. Zeitgenossen wählten das Wort „besessen“ hauptsächlich um eine teuflische Inbesitznahme des menschlichen Körpers zu bezeichnen (manchmal auch als „Besitzungen“ des Teufels bezeichnet), weil Besessenheit stark mit dem verpönten katholischen Brauch des Exorzismus assoziiert wurde. Protestanten übten Exorzismus nur noch als rituellen Teil der Taufe aus (wegen der Erbsünde), aber auch diese Art Exorzismus ließ im Laufe des 17. Jahrhunderts stark nach. Nach 1699 haben August Hermann Francke und sein Kollege, Johann Anastasius Freylinghausen, Exorzismus nicht mehr als Teil einer Taufe praktiziert. Ein Brandenburger Edikt von 1664 erlaubte Eltern selbst zu entscheiden, ob sie die Praxis als Teil der Zeremonie haben wollten oder nicht. Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke, 1689-1704. Hrg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 2006, 617. Wie beladen der Begriff „besessen“ war zeigt ein Fall, in dem Kritiker des Pietimus versuchten, die Reformbewegung durch eine Assoziation mit dem Exorzismus zu diskreditieren. Der pietistische Pastor Christoph Matthias Seidel versuchte einem Kind zu helfen, das angeblich vom Teufel besessen war. Daraufhin warfen Orthodoxe Lutheraner den Pietisten vor, sie würden Exorzismen ausführen. In einer Schrift über seine Version der Ereignisse behauptete Seidel, er habe nur für das Mädchen gebetet und ihm Essen gegeben; weiterhin, dass er schließlich selbst beweisen konnte, dass die Besessenheit eine Fälschung war. Seidel versuchte sich von katholischen Zeremonien zu distanzieren, und seine Handlungen als die eines bemühten, aber vorsichtigen Pastors zu erklären. Weder Orthodoxe noch Pietisten leugneten die Möglichkeit dämonischer Besessenheit, aber sie waren uneinig, wie man damit umgehen sollte. Zu der literarischen Auseinandersetzung: Anonym [Johann Benedikt Carpzov? Gabriel Christoph Marquard?]: Ausführliche Beschreibung des Neuen Unfugs welchen die Pietisten [. . .]. o.O. 1707, 18-19; Christoph Matthias Seidel: Warheit und Unschuld Welche Der ungenandte Autor Von Unfug der Pietisten mit Fälschlicher Anführung eine Casus von einen besessen ausgeschriehenen Mägdlein zu Hartmansdorff [. . .]. o.O. 1693, 3-7; Anonym: Wahre Umständliche Erzehlung von Dem Mägdlein zu Hartmannsdorff obig Penig / wie solches einige Zeit vor Besessen gehalten [. . .]. Jena 1694, A2v-A5r. Trotz ihrer Abscheu gegen den Exorzismus glaubten viele Menschen weiterhin an das Phänomen der dämonischen Besessenheit. Die Bibel erzählte von Propheten, die vom heiligen Geist erfüllt waren, aber auch von „unreinen Geistern“. Nach der Schrift trieb Jesus selbst solche Dämonen aus befallenen Menschen aus. Sowohl Luther als auch Jesus mussten sich gegen Vorwürfe verteidigen, sie würden sich mit schwarzer Magie beschäftigen oder seien selbst von bösen Kräften beherrscht. Außderdem führten in beiden Fällen Unterstützer wie auch Kritiker die Vorfälle als Beweis von Heiligkeit bzw. von Schlechtigkeit an. Zu Besessenheit in der Bibel: Johannes Dillinger: Beelzebulstreitigkeiten: Besessenheit in der Bibel. In Dämonische Besessenheit: Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens. Hg. v. Hans de Waardt, Jürgen Michael Schmidt, H.C. Erik Midelfort, Sönke Lorenz u. Dieter R. Bauer. Bielefeld 2005, 37-62. Zu Luther und Besessenheit, s. de Waardt, Dämonische Besessenheit, passim. Einfache Menschen der frühen Neuzeit trugen oft Amulette oder nutzten besondere Kräuter, um bösen Kräfte von sich fern zu halten, aber auch gebildete Bürger des späten 17. Jahrhunderts glaubten noch, dass Menschen von unsichtbaren und übermächtigen Kräften umgeben waren. Mediziner jener Zeit untersuchten die Ähnlichkeiten und Unterschiede göttlicher Ergriffenheit und dämonischer Besessenheit, was zeigt, dass die Mediziner die beiden Phänomene als eng miteinander verbunden, wenn nicht sogar als identisch ansahen, obwohl sie unterschiedliche Begriffe für die beiden Zustände wählten. Gottfried Büching, ein Student des pietistischen Arztes Friedrich Hoffmann, schrieb seine Dissertation über die Mechanismen der göttlichen Ergriffenheit und dämonischen Besessenheit und untersuchte die Unterschiede zwischen den beiden Zuständen. Büchings Forschung beruht auf die Vorstellung, dass winzige „Geister“ körperliche Funktionen wie die Bewegungen der Muskeln ausführen. Er sieht keinen Grund, warum größere Mächte wie Gott und Satan ähnliches nicht bewerkstelligen könnten. Die Dissertation ist in der Universitätsbibliothek in Halle, wo Büching studierte, vorhanden. Gottfried Büching. DISPUTATIO INAUGURALIS MEDICO-PHILOSOPHICA, De POTENTIA DIABOLI IN CORPORA. Dissertation, Universität Halle, 1703. Eine deutsche Übersetzung wurde später anonym (nur mit Büchings Initialen versehen) veröffentlicht. [Büching, Gottfried.]. G.B.M.D. Philosophische Untersuchung / Von Gewalt und Wirckung des Teuffels In Natürlichen Körpern. Franckfurt u. Leipzig 1704. Spätere Editionen des Werks geben Friedrich Hoffmann als Author des Buches an, ohne Büching zu erwähnen. Viele andere Studenten Hoffmanns haben über medizinische Aspekte der Besessenheit und Ergriffenheit geforscht; ihre Dissertationen sind ebenfalls in Halle vorhanden. Diese Ansicht wurde zweifellos dadurch verstärkt, dass Personen, die bereits eine von beiden Erfahrungen gemacht hatten, häufig auch durch die zweite Gruppe von Wesenheiten heimgesucht wurden. Die vorpietistischen Texte zu göttlicher und dämonischer Inbesitznahme beschrieben ein spontanes Phänomen, welches entweder völlig unerwartet auftrat oder durch ein katalytisches Ereignis wie einen Kirchenbesuch oder ein dringliches Gebet ausgelöst wurde. Während solcher Anfälle verfielen die Personen normalerweise in einen Trancezustand, in dem sie lange Zeit vor sich hin starrten. Häufig sangen sie religiöse Lieder oder rezitierten Bibelstellen und manchmal sprachen sie mit für die Anwesenden unsichtbaren Wesen oder umarmten diese sogar – diese Wesen offenbarten sich später als Engel, Apostel oder sogar Christus selbst. Die Ergriffenen blieben unbeeinflusst von ihrer physikalischen Umgebung und reagierten auf nichts, nicht einmal auf einen Stich mit einer Nadel. In einigen Fällen wird berichtet, dass die Ergriffenen sehr lange ohne Wasser, Nahrung oder Schlaf aushalten konnten, was manche Zeitgenossen als Beweis für den übernatürlichen Ursprung dieser Vorkommnisse ansahen. Ältere Literatur berichtet ähnliche Fällen von Ergriffenen, die Essen und Schlaf nicht bräuchten: Anonym: Eine uberaus Wunderliche Historia und Geschichte, wie Gott der Herr in vorgangnem und jetztgem 74. Jahre, ein junges Megdelein, ohn Speise und Tranck, etliche Monden lang, beim leben erhalten hat und noch erhalten thut. Dortmund 1574; Anonym: Gründtlicher Bericht und Anzaig einer warhafften Histori, . . .  ein Meydlein siben Jar lang weder gessen noch getruncken, und doch von Gott wunderbarlicher weyß bey leben erhalten. Augsburg 1585; Huldrich Christianus. Drey Propheceyung / Bedeutung / Warnung und Vermahnung / [. . .], Darinnen eine Jungfraw Catharina Künen genant. In zehen Jahren / nicht geschlaffen / nicht gessen (sp!) / nicht getrunken hat / wie es mit derselben gangen und noch jetzt geht . . . . o.O. 1606. Dämonische Besessenheit teilte viele Eigenschaften mit der göttlichen Ergriffenheit. Auch hier schien der Besessene in einer „anderen Welt“ zu sein und nichts um sich herum zur Kenntnis zu nehmen. Aber statt friedvoll und ruhig dazusitzen oder religiöse Lieder zu singen, schlugen die Besessenen wild um sich und schrien, als ob sie in einen physischen Kampf mit für die Anwesenden unsichtbaren Wesen verwickelt seien – diese Wesen wurden später als Dämonen, Geister oder sogar der Satan selbst identifiziert. Unter der Macht des Bösen redeten die Besessenen wirres Zeug oder fluchten. Sowohl in göttlicher Ergriffenheit wie auch in dämonischer Besessenheit, offenbarte das „Werkzeug“ manchmal die Namen von böswilligen Personen in der Gemeinde. Wie bereits oben bemerkt, erlebten die gleichen Personen oft beiderlei Arten dieses übernatürlichen Kontakts. Die Befallenen sprachen von den beiden Erfahrungen mit ähnlichen Begriffen und verstanden sie oft als einen „Kampf“ zwischen Gott und dem Teufel. Bezeichnenderweise waren die meisten der Besessenen in den vorpietistischen Texten Frauen, besonders Frauen aus den unteren Schichten. Auch die oben zitierte Literatur zu Anna Elisabeth Lohmann passt in dieses Schema. Vgl. die folgende ältere Literatur zur Besessenheit und Ergriffenheit, die von Mägden, Bauerfrauen, u.d.g. handelt: Anonym: Gründtlicher und wahrhaffter Bericht was sich am tag Küngundis den 3. Martii / zwischen etlichen Dienstmägdlein auffm Feldt / [. . .] für ein wunderliche erschröckliche Geschicht sic / verloffen und zugetragen. Nürmberg 1567; Anonym: Wunderbarliche und warhaffte Geschicht / Wie sich ein armes Weib / mit zwei kleinen Kindern erhenckt / und durch sonderbare schickung Gottes wider frisch und gesund worden ist. o.O., [ca. 1700]; Die besessene Magd von Lebuß. In: Eberhard David Hauber. Bibliotheca sive et Scripta magica. Gründliche Nachricht und Urtheile von solchen Büchern und Handlungen, welche die Macht des Teufels in leiblichen Dingen betreffen. 3 Bände. 2. Ausgabe. Lemgo 1739-1745 (Band 3: 493-99); Eine wahrhaffte Geschicht, welche an einer Magd geschehen. In Hauber (Band. 1: 592-613); Anonym: Ein Advocat. Das bezauberte Bauermägdgen. In: Anonym: Magica, Daß ist: Wunderbarliche Historien Von Gespensten und mancherley Erscheinungen der Geister . . . . Eisleben 1597; Anonym: Von einer besessenen Magd / zu Frankfurt an der Oder. In Magica (76r-77r). Als Ausnahme aber: Anonym: Warhafft- und Erschröckliche Geschicht / So sich unlängst zwischen Einer Adelichen Gottsförchtigen Frauen und einem Gespenst in dem Jenaischen Ambt Alstedt [. . .] Regensburg 1684. Die meisten Beispiele von ergriffenen bzw. besessenen adligen Frauen, die ich gefunden habe, handelten von Frauen in katholischen Gegenden. Vgl. z.B. Sebastian Khueller. Kurtze unnd warhafftige Historia / von einer Junck-frawen / wölche mit etlich und dreissig bösen Geistern leibhaftig besessen / [. . .] / im Ertzhertzogthumb Osterreich under der Ens / inn beysein viler vom Adel / unnd ander ehrlichen leut [. . .]. München 1574. Das Buch enthält auch viele Berichte über die Ekstasen von Nonnen. Wenn der Körper einer Person ein „Werkzeug“ für übernatürliche Kräfte werden soll, erfordert dieses das totale Erlöschen der Individualität. Dieser radikale Verlust der Subjektivität stand im Konflikt zur kulturellen Erwartung gegenüber Männern in der frühen Neuzeit, die – ungeachtet der Umstände – die Kontrolle über ihre Fähigkeiten behalten sollten. Eines der wenigen Beispiele vorpietistischer Berichte zu erwachsenen Männern, die Ekstasen erfuhren, geschah in dem Kontext eines Aufrufs, Kirche und Gesellschaft zu reformieren: Anonym: Engelische Erscheinungen / Offenbahrungen und Gesichte so dreyen Christlichen Personen / einem Schulmeister in der Pfalz / einem Pfarherren im Marggraffthumb Anspach / und einer Jungfrawen zum Gretzlas in Böhmen zu unterschiedlichen Zeiten wiederfahren / vom Zustande des Römischen Reichs / unnd der Christlichen Kirchen / Wie nemlich GOTT das unbußfertige Wesen unnd Leben in Deutschland straffen / seine Gläubigen auß der Verfolgung erretten / und die Feinde seines Wortes unnd Nahmens vertilgen und zu Schanden machen wollte. o.O. 1630. Die Situation war ähnlich für aristokratische Frauen, die als mächtig angesehen wurden und sich auch so verstanden. Selbstverständlich nannten sich manchmal religiöse Frauen und Männer aller Gesellschaftsschichten „Werkzeuge“ Gottes, aber die kulturellen Identitäten von Adeligen beiderlei Geschlechts und Männern allgemein erlaubten gewöhnlicherweise keine simple „Besessenheit“. Im Gegensatz dazu war es für die Menschen in der frühen Neuzeit viel einfacher, Frauen der unteren Schichten als ein reines „Werkzeug“ zu sehen. Den Frauen selbst erlaubten diese Erfahrungen, sich über die hierarchischen Strukturen hinwegzusetzen, die normalerweise ihren Wirkungskreis begrenzten. Die Benachteiligung auf den Bereichen der Religion, Ökonomie und Bildung wurden zweitrangig, wenn der Körper der Frau während der Ergriffenheit bzw. der Besessenheit zum Platz des kosmischen Kampfes zwischen Gut und Böse wurde. Die Betroffenen in den vorpietistischen Texten waren zwar fast immer Frauen, ihre Erfahrungen aber wurden meistens von Männern niedergeschrieben. Gebildete männliche Gönner, häufig Theologen oder Mediziner, schrieben die Erlebnisse ungebildeter „entzückter“ bzw. „besessener“ Frauen auf, interpretierten und veröffentlichten sie. Diese männlichen Unterstützer zogen normalerweise Schlüsse über die Bedeutung dieser Erlebnisse, welche die bestehenden Autoritäten provozierten. Orthodoxe Vertreter der Kirche und zivile Behörden fochten deshalb häufig die Wahrhaftigkeit der übernatürlichen Ereignisse oder ihre Interpretationen an und führten literarische Kleinkriege mit den Verteidigern der „Ekstasen“. Der „rechte“ Umgang mit dem Phänomen diente als „Beweis“ für die rechtgläubige Kirchen- oder Zivilpolitik. Auf diese Art und Weise wurde die körperliche Inbesitznahme von Frauen für ideologische Konflikte oder Machtkämpfe instrumentalisiert. Die geläufigen Muster der göttlichen und dämonischen Inbesitznahme waren somit bereits etabliert, bevor die charismatischen Ereignisse im Pietismus begannen, ebenso die Art und Weise, wie männliche Mitstreiter die übernatürlichen Erlebnisse von Frauen förderten oder anfochten. Außerdem ging die charismatische und prophetische Phase im Pietismus von Mitteldeutschland aus, einer Region, die auf eine reiche Geschichte von Ekstasen und Besessenheiten zurückblicken konnte, und die eine Fülle an vorpietistischer Literatur dazu hervorbrachte. Vgl. die folgenden Titel zu Ereignissen in Mitteldeutschland vor den Anfängen des Pietimus: Anonym: Extract eines Schreibens auß Braunschweig / wegen eines Stummgebornen Mägdleins bey 18. Jahren alt / in dem Stifft Halberstatt bürtig / Welche den 23. Augusti 1630 redent worden / und was sie Propheceyet und außgesagt hat, etc. o.O. 1630.; Anonym: Ein kurtz Bedencken / Was von dem betrübten Zustande der Besessenen in Spandaw / und von den Engelischen Erscheinungen zuhalten [. . .]. Braunschweig 1609. Von einer besessenen Madg / zu Frankfurt an der Oder (1597). In: Magica (76r-77r), zitierte oben; Anonym: Speculum Constantiae et Poenitentiae Cotbusinanum, [. . .] was sich zu Cottbus in Nieder Laußitz / mit einem jungen Mägdlein / noch nicht eilff Jahr alt / den 4. Februarii, und folgende Tage hernach / begeben und zugetragen. Leipzig 1624; Anonym: Warhafft- und Erschröckliche Geschicht [ . . .] einem Gespenst in dem Jenaischen Ambt Alstedt [. . .] (1684); Ulrich Brenner: Eine Gedenckwirdige und glaubhafftige Historia / von einem Mägdlein / welchem ein Gesicht / in gestalt eines kleinen Mannes mit weissen Kleidern angethan / etlich gepregt Silber in einem Walde ein Meilweges von Quedlinburgk zum Thal genennet gewiesen und verehret hat. o.O. 1605; Marcus Buchold: Ausführliche Propheceyung / So zu Wasserleben geschehen / ein halbe Meile von Wernigeroda / von einem Mägdlein / so vber Feld hat gehen wollen, und jhm ein Engel begegnet ist [. . .]. o.O. 1630; Huldrich Christianus: Drey Propheceyung [. . .], so sich den 4. tag Junii Anno 1605 zu Hall in Sachsen zugetragen hat . . .  . o.O. 1606; Anonym: Zwo warhafftige Beschreibungen. Die erste Von der Propheceyung, welche sich begeben und zugetragen hat zu Magdeburg in Sachsen . . . . Magdeburg 1613. Der tägliche, körperliche Umgang mit dem Herrn bzw. mit dem Herrn des Dunklen gehörte zur Kultur der frühen Neuzeit und deshalb auch zum frühen Pietismus. Die Anfänge des Enthusiasmus im Pietismus Die Erfahrungen von drei Mägden initiierte eine Reihe von enthusiastischen Vorfällen in den mitteldeutschen Städten Erfurt und Halle sowie in den Städten des Harzes, was Ekstasen und Prophezeiungen für eine Zeitlang zum Hauptfokus des Pietismus machte. Vgl. dazu Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie: Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Hrg. v. Hartmut Lehmann, Paul Raabe, Udo Sträter u. Johannes Wallman, Tübingen 1996, 21-33. Die charismatischen Ereignisse riefen Animositäten gegenüber den Pietisten hervor, erzeugten aber auch Interesse und zogen neue Teilnehmer für die pietistischen Konventikel an. Die „drei begeisterten Mägde“, Catharina Reinecke in Halberstadt, Anna Maria Schuchart in Erfurt und Magdalena Elrichs in Quedlinburg, waren alle ungebildete Dienstmädchen, die in pietistischen Haushalten arbeiteten. Alle drei Frauen waren eingebettet in die Ideenwelt und Sprache der pietistischen Haushalte, in denen sie arbeiteten. Um pietistische Konzepte wie „Wiedergeburt“ oder „Bußkampf“ zu verstehen, griffen die Frauen und die Pietisten ihrer Umgebung auf ein älteres Repertoire religiöser Erfahrung zurück. Ende November 1691 behauptete Catharina Reinecke, dass sie eine Bekehrung erlebt habe. Die Magd diente in einem Haushalt in Halberstadt, in dem sich häufig Pietisten zu einem Konventikel versammelten. Reinecke arbeitete in dem Haushalt der Familie Präetorius in Halberstadt. Daher war sie vertraut mit den pietistischen Begriffen „Bekehrung“ und „Wiedergeburt“. Schon bald nach ihrer Zuwendung zur pietistischen Religiosität wurde Reinecke ernsthaft krank. Während ihrer Krankheit erlebte sie intensiv die Anwesenheit Gottes. Danach begann sie sogenannte „Entzückungen“ zu erleben, sobald jemand Gottes Liebe oder Gnade in ihrer Anwesenheit erwähnte. Während dieser Anfälle starrte Reinecke wie bezaubert, weinend in den Raum und schien jemanden für die Anwesenden Unsichtbaren zu umarmen. Die Ereignisse sind in Berichten und Briefen von ihrem Pastor aufgenommen worden. Andreas Achilles an die Hof-Rätin, AFSt/H C331, 16a. Sie sind auch in Eigentliche Nachricht von Dreyen Begeisterten Mädgen, abgedruckt. Es handelt sich um Briefe an Francke und seinen Kollegen Joachim Justus Breithaupt, die über die übernatürlichen Erfahrungen von Reinecke, Elrichs und Schuchart berichteten. Der Orthodoxe Leipziger Prediger, Gabriel Christoph Marquard, wollte mit der Veröffentlichung der Briefe den Pietismus diskreditieren. Die Veröffentlichung vermittelte den Eindruck, Francke selbst hätte die Briefe publiziert, obwohl er eine Veröffentlichung nie vorgesehen hatte: Eigentliche Nachricht von Dreyen Begeisterten Mädgen [. . .] zusammen getragen von M. August Herman Francken / der Zeit Pastore zu Glaucha vor Halle. o.O. 1692; Nr. 8; vgl. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, 120-21. Die Nachricht von der Ekstase der Reinecke verbreitete sich schnell in pietistischen Kreisen und schon bald geschah Ähnliches in benachbarten Städten. Am 1. Dezember 1691 beklagte Anna Maria Schuchart sich bei ihrem Arzt, dass sie über Tage hinweg mit einem „Gespenst“ gekämpft hätte. Zu Schuchart, s. Witt, 33-39; Mori, 122-26; Friedrich de Boor: Anna Maria Schuchart als Endzeit-Prophetin in Erfurt 1691/92. In PuN 21, 1995, 148-183. Schuchart arbeitete zu dieser Zeit bei Johann Gottfried Schmaltz, einem Juristen, der in pietistischen Kreisen aktiv war (zu Schmaltz, vgl. Mori, 122-23); Lucinda Martin: Women’s Religious Speech and Activism in German Pietism. Dissertation: University of Texas, 2002,114ff. Ihre Visionen hatten begonnen, als Schuchart zu Gott betete „ihr Herz zu verändern“. Die Magd hatte auch Alpträume, in denen sie lang und hart mit dem Teufel rang, aber am Ende gewann. Johann Baptist Crophius nimmt die Ereignisse auf und weist auf eine „Veränderung ihres Herzens“ hin (AFSt/H D92, Bl. 239-251, hier 239. Der Bericht ist datiert Halle, 24. November 1692). Schucharts Visionen und Träume waren Manifestationen des pietistischen Schemas für Erlösung. Die Kämpfe der Magd mit dem Geist und dem Teufel verkörpern den Bußkampf, und ihr „Sieg“ über den Teufel steht für den Durchbruch. Schuchart musste Pietisten zugehört haben, die in Länge den inneren Kampf der Seele diskutierten. Dennoch erlebte sie es nicht nur als einen metaphysischen, sondern auch als einen sehr physischen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Kämpfe mit Geistern und Dämonen waren bekannte Probleme im frühneuzeitlichen Europa, und seit dem Mittelalter war es gängige Praxis, zunächst festzustellen, ob das Verhalten der betroffenen Person eine natürliche oder übernatürliche Ursache habe, denn die Symptome konnten auch auf Krankheiten wie „Melancholie“ oder „Hysterie“ zurückzuführen sein. 1614 legte die katholische Kirche Regeln fest, die Geistliche anwenden mußten, bevor sie einen Exorzismus unternehmen durften. Die Rituale Romanum rät Priester zu prüfen, ob die Betroffenen nicht eher unter einer natürlichen Krankheit wie „schwarzer Galle“ litten. Das Dokument listete die Symptome einer wahren Besessenheit auf, unter anderem Zungenreden, Kenntnis der Zukunft und übernatürliche Stärke. Die Rituale Romanum ist noch in Kraft und wurde vor kurzem überarbeitet (Rituale Romanum. De exorcismus et supplicationibus quibusdam. In: Notitiae. Commentarii ad nuntia de re liturgica edenda cura Consilii ad Exsequendam Constitutionem de Sacra Liturgia 35, 1999, 137-156). Weiteres dazu in de Waardt, 10-11, 29. Anna Maria Schucharts Zustand wurde daher zuerst von einem Mediziner behandelt. Schucharts Arzt, Justus Vesti, versuchte eine Reihe von medikamentösen Behandlungen, aber der Zustand der Magd verschlechterte sich. Der pietistische Arzt berichtete, dass sie begann in Trance oder manchmal sogar in Ohnmacht zu fallen. Schuchart klagte, dass Gott ihr während dieser Anfälle enthüllte, wer in ihrer Gemeinde fromm und wer verdammt sei. Sie erlebte auch blutende Stigmata auf ihren Händen und sang während ihrer „Ekstasen“ vom kommenden „Letzten Gericht“. Dass sie auf Hochdeutsch sang, obwohl sie normalerweise nur Thüringer Dialekt sprechen konnte, wurde von Augenzeugen als weiterer Beweis für den göttlichen Ursprung ihres Zustands gesehen. Ähnlich wie Reinecke und Schuchart erlebte auch die dritte der „drei begeisterten Mägde“ die pietistische Betonung des inneren Kampfes der Seele als eine göttliche Ekstase. Am 9. Dezember 1691 berichtete Magdalena Elrichs, eine Magd aus Quedlinburg, eine Ergriffenheit in der Kirche erlebt zu haben. Elrichs arbeitete für den Hofdiakon, Johann Heinrich Sprögel, und seine Ehefrau, Susanna Margaretha Sprögel. Die Sprögels waren führende Pietisten in Quedlinburg, und Konventikel trafen sich häufig in ihrem Haus. Im Herbst 1691 hatte August Hermann Francke eine Predigtreise durch die Städte des Harzes gemacht und für zwei Wochen in Sprögels Haus übernachtet. J.H. Sprögel schrieb sofort an Francke, um ihm die Ereignisse mitzuteilen (Brief datiert 15. Dez. 1691, AFSt / H C331 16d; s. auch AFSt/H C331 16c u. Eigentliche Nachricht, Nr. 3, Nr. 10; vgl. Mori, 121-22). Zu Franckes 1691 Aufenthalt bei den Sprögels, vgl. Witt, 40. Des Weiteren waren die Sprögels eng mit Andreas Achilles, einem pietistischen Pastor in Halberstadt, befreundet, der die ekstatischen Erfahrungen der Catharina Reinecke aufgezeichnet hatte. Achilles war mit A.H. Francke seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Leipzig befreundet. Im Januar 1690 nahm Achilles seine Arbeit als Pastor im Heiliggeistspital in Halberstadt auf. Bald initierte er Konventikel und begann Anhänger anzuziehen. Von 1704 bis zu seinem Tod 1721 arbeitete er in Franckes Waisenhaus in Halle (vgl. Doug Shantz: Politics, prophecy and Pietism in the Halberstadt conventicle. In: Confessionalism and Pietism: Religious Reform in Early Modern Europe. Hg. v. Fred van Lieburg. Mainz 2006: 129-147, hier 131-135). Magdalena Elrichs berichtete, dass sie sich durch das Gewicht ihrer Sünden überwältigt gefühlt und inbrünstig um Gnade gebetet hatte. Dann, erzählte sie, nahm sie etwas in Besitz, so dass sie nicht länger wusste was mit ihr geschah; sie sah Licht und Helligkeit, dann eine Vision von Jesus, weinend, umringt von Engeln. In den folgenden Wochen hatte Elrichs viele dieser charismatischen Erlebnisse – bis zu viermal am Tag – während denen sie ruhig mit gefalteten Händen dasaß und in die Ferne starrte. Genau wie in Schucharts Fall wurde ein medizinischer Experte gerufen. Während der Untersuchung vermutete der Arzt, Friedrich Hoffmann, zunächst die Ursache in einer „weiblichen“ Fehlfunktion wie passionibus hystericis, mens laborire, Melancholei oder Phantasei – aber schon bald verwarf er diese Möglichkeiten. Er beobachtete die Magd und stach sie sogar mit einer Nadel, um eine Reaktion auszulösen – aber vergeblich. Hoffmann folgerte daraus, dass die Ereignisse göttlichen Ursprungs sein müssten. Der pietistische Arzt war so überzeugt von der göttlichen Eigenschaft des Zustands der Elrichs, dass er ein Gutachten über den Fall verfasste und es veröffentlichte. Dass Ärzte wie Hoffmann und Vesti aber auch Kirchenmänner wie Sprögel and Achilles in solchen Fällen konsultiert wurden, zeigt, wie unklar die Grenzen zwischen frühneuzeitlicher Wissenschaft, Religion und Magie waren. Friedrich Hoffmann: Friderici Hoffmanni, D. Medic. Electoral. Brandenburg. Unlängst gestelltes Teutsches JUDICIUM Von quedlinburgischen Magd Magdalenen An Hn. Sprögeln / diac. Aul. Qvedl. entgegen geseßet seiner Lateinischen Epistolarischen Dissertation an Herrn D. VVEDELIUM. Consil. &c. Anno. o.O. 1692. Vgl. Witt, 33-38; Mori, 122ff. Eine charismatische Gemeinschaft In der vorpietistischen „Besessenheitsliteratur“ ist die Besessene bzw. die Ergriffene ein isoliertes Phänomen, das fast einem Heiligen gleicht. Dennoch war die Ergriffene im Kontext des Pietismus nicht ein über die Gesellschaft erhobenes Individuum, sondern ein Mitglied einer elitären Gesellschaft. Pietisten verstanden sich selbst als die „Wiedergeborenen“, als Gottes „Auserwählte“, als die „wahre Kirche“, ja als „Zion“. Die charismatischen Erlebnisse der drei „begeisterten Mägde“ schienen dies alles zu bestätigen und ermutigten die Pietisten trotz aller Schwierigkeiten. Die Pietisten glaubten, Gott versuche mit ihnen zu kommunizieren. Daher reiste schon eine Woche nachdem Magdalena Elrichs ihre Vision in der Kirche erlebt hatte eine Gruppe Halberstädter Pietisten mit Catharina Reinecke nach Quedlinburg zu einer Gruppen-Versammlung. Nach Achilles, dem Halberstädter Pastor, erlebten die beiden Frauen zwei Tage hindurch „fast continuirlich“ tranceähnliche Zustände. Achilles Brief an A.H. Francke, Quedlinburg, 15. Dez. 1691, gedruckt in Eigentliche Nachricht, Nr. 1. Der Quedlinburger Pastor Sprögel berichtete, dass am Sonntag über 300 und am Montag 100 Menschen kamen, um die beiden Frauen zu sehen. Sprögels Brief an Francke, Quedlinburg, 15. Dez. 1691, gedruckt in Eigentliche Nachricht, Nr. 3. Die Vorstellung, Gott würde den „Wiedergeborenen“ Botschaften schicken, verbreitete sich, und bald multiplizierten sich solche Vorfälle, bis nicht weniger als 40 Teilnehmer von pietistischen Konventikeln berichteten, dass Gott von ihnen Besitz ergriffen hätte. Nach Mori, 132. Außerdem schlossen die Enthusiasten ab 1692 auch eine Zahl von männlichen Pietisten ein, wie den Quedlinburger Goldschmied Heinrich Kratzenstein. Sogar Kinder waren unter den „Werkzeugen“. Viele ältere Berichte von Ekstasen und Besessenheiten erzählen von den charismatischen Erfahrungen von Kindern. S.z.B. Tobias Seiler: Daemonomania / Ueberausschreckliche Historia von einem zwellfjährigen Jungfräulein [. . .]. Wittenberg 1605; wie auch die folgende schon oben zitierte Werke: Anonym: Speculum Constantiae [. . .] mit einem jungen Mägdlein / noch nicht eilff Jahr alt [. . .]; Anonym: Zwo warhafftige Beschreibungen mit einer Jungfrawen von 11. Jahren. In einem Brief von 1692 an Philipp Jacob Spener schreibt August Hermann Francke von einem siebenjährigen Jungen in Magdeburg, der Visionen erlebte hätte; in seiner Antwort erzählt Spener Francke von einem vierzehnjährigen Mädchen, das vier Wochen lang weder Essen noch Wasser zu sich genommen hatte und dem während dieser Zeit Jesus erschienen war. Franckes Brief an Spener ist datiert Halle, 22. März 1692 (gedruckt in Gustav Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes enthaltend den Briefwechsel Franckes und Speners. Halle 1861, 224); Speners Brief an Francke ist datiert 2. April 1692 (Kramer, 226-27). Dennoch hatten Frauen weiterhin die meisten Visionen. Da mehr und mehr Menschen charismatische Erlebnisse hatten und da sich die Beziehungen mit den Behörden verschlechterten, wurden die Ereignisse auch aggressiver. Die Pietisten glaubten, das Letzte Gericht sei nahe und die Schmähungen, die sie von den Behörden zu ertragen hatten, seien nur eine Bestätigung der biblischen Vorhersagen über die „Letzten Tage“. Der Quedlinburger Pastor Johann Heinrich Sprögel schrieb Francke, dass die Visionen seiner Magd eine Erfüllung des biblischen Buches Joel seien, welches vorhersagt, dass sogar Sklavinnen in den letzten Tagen prophezeien würden. Eigentliche Nachricht, Nr. 3; Joel 3. Auch Francke sah die sogenannten „Extraordinären“ als Vorboten von Gottes Königreich. In einem Brief von 1694 an A.H. Francke erinnert ihn die Prophetin, Adelheid Sybille Schwartz, an seine frühere Interpretation der Ereignisse. Nach Schwartz hatte Francke gesagt, „Es haben uns erschrecket etliche weiber, der unseren, die da sagen, der H[eiland]. ist nahe. Ja! Wahrlich ist Er nahe!“ Ich zitiere nach Witt, 38. Chiliastische “wiedergeborene” Pietisten versuchten in ihren Konventikeln Gott unmittelbar zu erkennen und zu erleben. Ihre Versuche waren im Prinzip eine Art Gruppenmeditation, in der das alte Phänomen der Ergriffenheit in ein Gruppenerlebnis transformiert wurde. Eine zeitgenössische Beschreibung erklärt, wie Ekstasen aus einer stillen Andacht enstanden, und vergleicht die Konventikel mit den Treffen der Quäker (Ausführliche Beschreibung, 161). Im Herbst 1692 begannen nicht nur Individuen sondern auch Gruppen von Pietisten charismatische Vorfälle während ihrer Konventikel-Versammlungen zu erleben. In einem Fall hatte eine Pietistin, Agnes Grafner, eine Vision während einer Versammlung in Gotha. Sie schrie auf, dass sie Jesus und die Engel sehen könne, woraufhin ein anderer Teilnehmer, der Theologie-Student Johann Conrad Keßler, in einen ekstatischen Zustand fiel und herausschrie „Herr Jesu, Dein bin ich“. Mori,152. Des Weiteren bezeugten Gruppenmitglieder, dass Grafner in der Luft geschwebt sei und dass der ganze Raum gebebt habe, so dass ein Krug vom Regal fiel. Ausführliche Beschreibung, 79. Vgl. auch Johann Heinrich Callenberg, AFSt/H F30d, 360. Andere Gruppen-Erlebnisse geschahen um die gleiche Zeit in anderen Städten. Während einer Versammlung in Halle fiel die Erfurter Magd Anna Maria Schuchart in eine Trance, was einen ähnlichen Zustand bei anderen Anwesenden auslöste. Bei einer anderen Gelegenheit behaupteten drei Frauen Schuchart Blut schwitzen gesehen zu haben. Erfurter Pietisten beriefen an demselben Abend eine Versammlung ein (23. Oktober 1692) und erlebten die gleiche Vision. AFSt/H D92, 242f. Auf den Fersen der Gruppen-Visionen in Halle folgten ähnliche Berichte aus Quedlinburg. Die dortigen Pietisten behaupteten, dass Anna Eva Jacobs Blutstropfen ausgeschwitzt und geweint hätte. Ausführliche Beschreibung, 111. Zeugnisse berichteten, dass Blut auf Jacobs Stirn in Form einer Dornenkrone und auf ihren Händen in Form von rätselhaften Buchstaben erschien. Jacobs konnte weder lessen noch schreiben, aber Adelheid Sybille Schwartz, die es konnte, berichtete, dass die Buchstaben W und O dreimal auf der einen Hand und die Buchstaben I.H.S. auf der anderen Hand erschienen waren (Ausführliche Beschreibung, 111-112, Witt, 42, Mori, 153, Martin Schulz: Johann Heinrich Sprögel und die pietistische Bewegung Quedlinburgs. Diss. Phil. Halle 1974. 78). Was Schwartz als ein W und ein O interpretierte, war wahrscheinlich ein Alpha und ein Omega. Diese, wie die Buchstaben I.H.S. hatte Jacobs vielleicht in kirchlichen Kunstwerken gesehen. Ein pietistischer Arzt, Jakob Schmidt, beobachtete die Ereignisse und nahm sie auf. Der pietistischer Anwalt, David Hambürger, verfasste eine Verteidung für Jacobs (datiert Januar 1693), in der er behauptete, Jacobs hätte keine Kontrolle über das göttliche Bluten bzw. die Schriftzeichen auf ihrem Körper (Hamburgers Verteidigung ist gedruckt in: Ausführliche Beschreibung, 112). Mit dieser Nachricht begann Quedlinburg „Pilger“ anzuziehen, die das Wunder mit eigenen Augen sehen wollten. Im Winter 1692-93 versammelten sich einige der prominentesten Pietisten in Quedlinburg, unter anderen August Hermann Francke, Johann Wilhelm Petersen und Johanna Eleonora Petersen, Adelheid Sybille Schwartz, Anna Maria Schuchart, Agnes Graffner, Rosamunde Juliane von der Asseburg und Anna Eva Jacobs. Immer wieder traten während der Konventikel Ekstasen oder Visionen im Domino-Effekt auf. Von Ekstasen zur Prophetie Die charismatischen Ereignisse von 1691-93 entstanden im Kontext einer Gemeinschaft elitärer „Wiedergeborener“, die glaubte, das Letzte Gericht sei nah und Gott versuche mit seinen Auserwählten zu kommunizieren. Dabei spielte die einzigartige sozio-religiöse Form des Konventikels eine Schlüsselrolle. Diese Form verlieh Pietisten eine starke Gruppenidentität und ermöglichte die Transformation der Ergriffenheit des Einzelnen in ein Gruppenerlebnis. Die Integration von übernatürlichen Inbesitznahmen in den Konventikeln änderte die Richtung der pietistischen Bewegung. Konventikel wurden nun nicht nur Versammlungen von Gottes Auserwählten, sondern potenzielle Stätten für den direkten Kontakt mit dem Göttlichen. Gerade der Akt der Versammlung konnte einzelne Personen oder ganze Gruppen in einen charismatischen Zustand versetzen. In dieser aufgeladenen Atmosphäre entwickelte sich die visionäre Aktivität von einfachen „Ekstasen“ zu vollwertigen Prophezeiungen über die Zukunft. Die vorpietistische Literatur zu ergriffenen bzw. besessenen Personen betont das Fehlen der Individualität der Befallenen. Das „Werkzeug“ oder der „Behälter“ ist nicht mehr als eine Schale für die göttliche oder dämonische Energie, unfähig, das enthusiastische Verhalten zu kontrollieren oder auch nur dessen Bedeutung zu interpretieren. Die Ergriffenheit wie auch die Besessenheit besteht normalerweise aus puren Sinneseindrücken: diejenigen, die von übernatürlichen Kräften gesteuert werden, „sehen“ oder „hören“ Dinge, die andere nicht wahrnehmen können. Sie „fühlen“ die Umarmung von Jesus’ Armen oder alternativ die Umklammerung von Satans Krallen. Manchmal „schmecken“ sie sogar – auch die Quedlinburger Magd Magdalena Elrichs verweigerte Nahrung mit der Begründung, dass Jesus ihr bereits sein Blut zum Essen und Trinken gegeben habe. Sprögels Brief an Francke, Quedlinburg, 15. Dez. 1691, AFSt/H C331 16d; Eigentliche Nachricht, Nr. 3. Nach dem Bericht des Arztes, Vesti, Anna Maria Schuchart schien auch etwas zu „schmecken“ während ihrer Trance. Vgl. Mori, 124. Die „Behälter“ oder „Werkzeuge“ für diese Art der spürbaren Inbesitznahme waren meistens Frauen, gewöhnlich aus den untersten Gesellschaftsschichten. Im Gegensatz dazu waren diejenigen, die über einfache sinnliche Ergriffenheit bzw. Besessenheit hinaus Prophezeiungen erfuhren, gewöhnlich aus den höheren Ständen. Männer aller Gesellschaftsschichten, gebildete Bürger und Frauen von adeligem Rang tendierten zu dieser anspruchsvolleren Art der enthusiastischen Aktivität. Im Gegensatz zu den Entzückten schrieben Propheten ihre eigenen Erfahrungen häufig selbst nieder, interpretierten sie und reisten umher, um ihre Botschaft zu verbreiten. Obwohl sich Propheten auch als Gottes-„Werkzeug“ bezeichneten, um ihre Aktivitäten zu rechtfertigen, verschwand die Individualität des Subjekts nicht vollständig. Propheten verbanden ihre prophetischen Mitteilungen mit anderen Ereignissen in ihrem Leben in dem Glauben, dass Gott nicht nur durch prophetische Vorfälle und Träume kommuniziert sondern auch durch „Zeichen“. Die Erfahrungen von Propheten sind nicht auf Sinneseindrücke alleine begrenzt. Prophetische Botschaften bieten eine detaillierte narrative Entwicklung und sagen häufig die Zukunft voraus. Die göttlichen Inbesitznahmen in den frühen 1690er Jahren fanden zu einer Zeit statt, in der die Pietisten unter der Opposition der Behörden litten. Die visionären Bilder eines liebenden Gottes trösteten die Pietisten und halfen ihnen, sich ihren Gegnern zu stellen. Die charismatischen Aktivitäten alarmierten die Behörden jedoch und veranlassten sie, gegen den Pietismus mit erneuter Schlagkraft vorzugehen. Die frühsten Entzückungen bestanden aus freudigen und erhebenden Visionen. Wenige der Ergriffenen hatten dabei gesprochen; sie hatten eher gesungen. Nun, als die Spannungen zunahmen, empfingen einige „Werkzeuge“ angeblich von Gott gesandte Botschaften über eine Vernichtung der Gegner der Pietisten, die Auslöschung der gesamten Weltordnung oder den baldigen Beginn der Apokalypse. Die „drei begeisterten Mägde“ hatten sich noch auf isolierte Bilder bezogen, Schnappschüsse von Engeln, Jesus oder dem Teufel, nun aber begannen einige Ergriffene detailliertere Geschichten und Vorhersagen anstatt eines einfachen Bildes zu liefern – sie begannen zu prophezeien. Dennoch waren die meisten „Werkzeuge“ dieser anspruchsvolleren Art des enthusiastischen Verhaltens nicht fähig. Die „drei begeisterten Mägde“ konnten nicht lesen und schreiben, so dass sie nicht in der Lage waren ihre eigenen Visionen niederzuschreiben oder zu veröffentlichen. Ihnen fehlte auch das theologische, sprachliche und geschichtliche Wissen, um eine komplexere Interpretationen ihrer Erfahrungen vorzunehmen. Während Propheten häufig die Mittel hatten, zu reisen und so ihre Botschaften zu verbreiten, verbat der niedere soziale Rang der Mägde dies. Georg Heinrich Brückner, Anna Maria Schucharts Vermieter, beklagte sich, dass die Magd lieber ausgehen und mit ihren Bewunderern sprechen als ihre Hausarbeit machen würde. In einem Brief an August Hermann Francke schrieb Brückner über die Wunder, die Gott durch Schuchart bewirkte, äußerte aber auch seine Irritation über die fehlende Bescheidenheit der Magd. „Unsere Ecstatica muß immer zur Demut ermahnt und gehalten werden, damit sie sich nicht der göttlichen Offenbahrungen überhebe” (Brückner an Francke, Brief vom 13. Mai 1692, zitiert in Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1929, 1-55, hier 6). Während sie besessen war, konnte Schuchart die übliche gesellschaftlichen Grenzen zu einem gewissen Maß überschreiten; befand sie sich aber nicht in dieser Zustand, verlangte die Gesellschaft – einschließlich die Pietisten, – dass sie sich entsprechend ihres Standes verhielt. Vom „Werkzeug“ zur Prophetin: Anna Margaretha Jahn Obwohl die meisten „Werkzeuge“ nicht die materiellen und intellektuellen Fähigkeiten hatten, über ihren Status als einfache Ergriffene hinauszuwachsen, schafften es doch einige wenige mit der Unterstützung ihrer Gönner, die Entwicklung vom „Werkzeug“ zur Prophetin zu vollziehen. Anna Margaretha Jahn, Tochter eines armen Krämers in Halberstadt, begann Ende 1691 oder Anfang 1692 enthusiastische Anfälle zu erleben. Die ersten Aufzeichnungen Jahn betreffend dokumentieren, dass sie mit ihrem Pastor Johann Christophorus Wurtzler in Konflikt geriet, als sie nicht zugeben wollte, dass sie eine Sünderin sei. Nachdem er sich weigerte ihr die Absolution zu erteilen, verließ sie die ihr zugewiesene Kirche und begann die Kirche, in der der Pietist Andreas Achilles predigte, zu besuchen. Ausführliche Beschreibung, 122-23. Im Gegensatz zu ihrer Halberstädter Nachbarin Catharina Reinecke, die während ihrer Ergriffenheit in einen passiven, tranceartigen Zustand fiel, wies Jahn ein aggressiveres Verhalten auf. Als Behörden Jahns Mutter befragten, bezeugte sie, dass ihre Tochter während der Ekstasen blass wurde, dass ihre Hände zitterten, dass sie lächelte und auf ihre Brust schlug. Mori, 138. Nach den Aufzeichnungen hatte Jahn einmal in der Kirche „wie ein Hahn gekräht“ und „wie ein Ochse geblökt“, vielleicht als eine Form des Protestes, um einen Gottesdienst zu unterbrechen, den sie nicht billigte. Ausführliche Beschreibung, 122. Johann Heinrich Feustking, ein Kritiker des Pietismus, berichtet, Jahn habe ein anderes Mal in der Kirche geschrieen und in ihre Hände geklatscht, bevor sie in Ohnmacht fiel. Johann Heinrich Feustking: Historie und Beschreibung Der Falschen Prophetinnen, Quäkerinnen, Schwärmerinnen [. . .]. Frankfurt, Leipzig 1704, 221. Als sich nun Opposition gegen den Pietismus erhob, nahmen Jahns charismatische Anfälle einen neuen Charakter an. Sie begann, während ihren Ekstasen zu reden und Warnungen an Kritiker des Pietismus auszusprechen. Bei einer Gelegenheit leitete Jahn ein Gebet zu Beginn einer Versammlung eines pietistischen Konventikels, aber während des Gebetes holte sie die Stimme des Orakels ein: Jubel / Jubel / Jubel [ . . . ] Jubel dem Herrn in der Höhe / [ . . . ] frolocket / frolocket / [ . . . ] denn er heist Gott und keiner mehr [ . . . ] / Ja Vater / Ja Vater / so war es wolgefällig vor dir [ . . . ] mein mächtiger Arm soll die Lügner zerstreuen / [ . . . ] ich schone nicht / wer nicht in meiner Warheit erfunden wird / wird in den feurigen Pfuhl geworffen / ja / ja / ja / Ich der Herr Jehova habe es geredt / ich bin mit meinem Zion. Ausführliche Beschreibung, 133. Dieses Zitat zeigt deutlich die Transformation vom einfachen Gebet zur übernatürlichen Inbesitznahme und weiter zur Prophetie im Kontext eines Konventikels. Jahn beginnt mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen. Sie ermahnt die Gruppe, Gott zu loben. Dann plötzlich scheint sie eine Unterhaltung mit Gott fortzusetzen, obwohl die anderen weiterhin nur ihre Stimme hören („Ja Vater, Ja Vater . . . “). Das Ereignis nimmt eine dramatische Wendung, als Gott durch Jahn zu sprechen scheint: „mein mächtiger Arm . . . Ich der Herr Jehova habe es geredt“. Außerdem lässt Jahn wenig Zweifel, an wen sich die Botschaft richtet. „Ich mit meinem Zion“ drückt Gottes Solidarität mit den Pietisten aus, die sich selbst als Gottes auserwähltes Volk sahen, als „Zion“. Kurz vor Weihnachten 1692 starb Anna Margaretha Jahns früherer Pastor und Gegner Johann Christophorus Wurtzler. Jahn sagte voraus, dass er von den Toten auferstehen werde, sobald man eine ihrer prophetischen Botschaften in Anwesenheit seiner Leiche verlesen würde. Wurtzler starb 19. Dezember 1692. Am 22. Dezember sprach Jahn die Worte, die, wie sie glaubte, ihn wiederbeleben würden. Ausführliche Beschreibung, 125-130. Sie sagte auch voraus, dass Gott eine kranke Frau aus der jüdischen Gemeinde in Halberstadt heilen werde, sollte diese einer ihrer Ekstasen beiwohnen. Ausführliche Beschreibung, 131-138. Die Wiederbelebung war ein häufiges Thema in der älteren Literatur zu Ergriffenheit und Besessenheit, ebenso wie wundersame Heilungen. Zu Wiederbelebung vgl.: Eines Edelmans Weib so verstorben / Kömpt wieder zu ihm. In Magica (44r-45v); Anonym: Anonymous. Wunderbarliche und warhaffte Geschicht / Wie sich ein armes Weib / mit zwei kleinen Kindern erhenckt / und durch sonderbare schickung Gottes wider frisch und gesund worden ist. o.O. [ca. 1700]; [Anschau, Johannes]. Wundergeschicht / Offenbarung unnd gesichte / einer entzuckten Kindbetterin / welche zwelff stunden ist Todt gelegen / und vom Geist umher gefüret / darnach wider lebendig worden [. . .]. o.O. 1569. Der Glaube der Pietisten an die Möglichkeit solcher Vorkommnisse war nichts Außergewöhnliches; auch bei ihren Zeitgenossen war er weitverbreitet. Dass Jahn es wagte, solch kühne Behauptungen zu erheben, zeigt, wie überzeugt sie von dem göttlichen Status ihrer Erlebnisse war. Auch in ihrem Bekanntenkreis erhob sich kein Zweifel; die Halberstädter Pietisten schlossen sich ihren Anweisungen an. Sie schrieben Jahns Worte auf und schickten die Botschaft in das Haus des toten Pastors, im Glauben, sie würde ihn wieder zum Leben erwecken. Halberstädter Pietisten holten auch die jüdische Frau, von der Jahn gesprochen hatte, zur „Heilung“ ab. Diese Ereignisse versetzten die Halberstädter Behörden in Alarm, die daraufhin Jahn und Gebhard Levin Semler, der ihre Erfahrungen aufzeichnete, festnahmen. Semler wurde am Heiligen Abend 1692 verhaftet. Der Kanon Schlütte (Vorname mir unbekannt), der Jahns prophetische Botschaften auch aufgeschrieben hatte, wurde verwarnt. Ein Wächter wurde bestellt, Jahn bis nach Weihnachten, wann eine Untersuchung stattfinden sollte, im Auge zu behalten (Shantz, 136). Pietistischer Enthusiasmus und Tradition Die Pietisten wurden in ihren Kämpfen mit den Behörden durch Prophezeiungen gestärkt, die ihnen die Sicherheit verliehen, dass Gott selbst ihre Sache unterstütze. Ab 1693 wurde jedoch Prophetie für die Pietisten mehr ein Hindernis als eine Hilfe. Anführer der Bewegung wurden in Bezug auf die direkten Offenbahrungen und religiösen Äußerungen von Frauen immer skeptischer. Die Prophetinnen hielten an ihren Prophezeiungen fest, auch wenn diese nicht in Erfüllung gingen. Keine widerrief ihre Aussage oder leugnete die Göttlichkeit ihrer Erfahrungen. Einige behaupteten, die vorausgesagten Begebenheiten würden in der Zukunft noch stattfinden oder beriefen sich darauf, dass sie nur die Boten seien und den göttlichen Zweck hinter den Offenbahrungen nicht verstehen könnten. Wie auch immer, viele der ehemaligen Unterstützter dieser Frauen begannen, an dem göttlichen Ursprung ihres seherischen Redens zu zweifeln. Andere glaubten zwar im Privaten weiterhin an die betreffenden Frauen, waren aber nicht mehr bereit, sie öffentlich zu verteidigen. Aber die Abwendung vom Enthusiasmus hatte weniger mit unerfüllten Prophezeiungen als vielmehr mit dem harten Durchgreifen der Behörden zu tun. Prophetie fordert Gott – nicht weltliche Behörden – als die höchste Instanz; Prophetie ist ihrem Wesen nach anarchistisch. Die Behörden konnten eine Ideologie, die ihre Autorität unterminierte, nicht tolerieren, und sie handelten schnell, um ekstatische und prophetische Elemente im Pietismus zu unterdrücken. 1693 verhörten Behörden in Quedlinburg Anna Eva Jacobs, die behauptete, blutende Stigmata zu erleben. Andreas Achilles, der pietistischer Pastor in Halberstadt, floh aus der Stadt, um einen Konflikt mit den Behörden zu vermeiden, und verlor schliesslich seine Stelle. Einige Mitglieder von Konventikeln, in denen Prophetie stattfand, wurden verhaftet, andere aus der Stadt verbannt, mehrere verloren ihre Stellen. Pietisten in anderen Städten reagierten schnell, um sich und ihre Vorhaben zu schützen. Francke und Spener versuchten, enthusiastische Elemente in ihrem Kreis zu zügeln, außerdem stellten Francke und Breithaupt die Konventikel in ihren Häusern ein. Auch die pietistischen Ärzte, die die Ekstasen behandelt hatten, revidierten ihre medizinischen Gutachten. Friedrich Hoffmann hatte 1691 bezeugt, Magdalena Elrichs Ekstasen hätten einen übernatürlichen Ursprung. Hoffmann, JUDICIUM, 4v. Als die Kontroverse um Anna Margaretha Jahn wuchs, baten die Behörden Hoffmann, auch sie zu untersuchen. Jetzt befand Hoffmann, Jahns Trance seien die Folgen einer Krankheit (Catalepsis), nicht göttlicher Eingebung. Der pietistische Arzt veröffentlichte sein Ergebnis, aber im Vergleich zu dem früheren von Pietisten hochgelobten Befund über Elrichs, den er auf Deutsch publiziert hatte, veröffentliche Hoffmann das Gutachten zu Jahn lediglich auf Latein, was das Dokument auf eine kleinere gelehrte Leserschaft begrenzte. Als die Behörden 1693 begannen Pietisten zu verhaften, sagte Hoffmann zum dritten Mal über die Ekstasen aus. Nachdem Jahn verhaftet wurde, bezeugte Hoffmann vor einem Gericht, dass ihre Anfälle weder das Resultat göttlicher Eingebung noch einer Krankheit seien, wie er zuerst gedacht hatte; er war aber weiterhin der Ansicht, dass die Vorfälle einen übernatürlichen Ursprung hätten, sie seien nämlich ein Werk des Teufels. Ausführliche Beschreibung, 160-68. Die besondere Form des Konventikels erlaubte wichtige Transformationen des alten Musters der göttlichen und dämonischen Inbesitznahme. Die enthusiastischen Frauen erlebten oft die übernatürlichen Phänomene in Anwesenheit von anderen Ekstatikerinnen oder ihrem Mentor. Dies führte dazu, dass immer mehr Besucher der Konventikel selbst ekstatische Erlebnisse hatten, oder dass sie sich als Beteiligte den Frauen verbunden fühlten. Einige einfache „Werkzeuge“, wie die Analphabetin Anna Margaretha Jahn, konnten die üblichen Standesgrenzen sprengen, weil die pietistische Gemeinschaft sie als von Gott auserwählte Prophetinnen ansahen. Pietistinnen wie Johanna Merlau Petersen und Adelheid Sybille Schwartz, die über eine gewisse Bildung verfügten, agierten als Mentorinnen für andere enthusiastische Frauen, indem sie ihre Botschaften interpretierten und verbreiteten sowie ihnen Schutz und manchmal sogar Geld anboten. Dass Frauen als Mentorinnen wirkten, war ebenfalls ein Novum des Pietismus. Aber in den meisten Fällen waren Männer die entscheidenden Mentoren. Trancezustände oder Visionen fanden häufig in Anwesenheit bestimmter männlicher Anführer der pietistischen Bewegung statt, u.a. Johann Heinrich Sprögel, Andreas Achilles und August Hermann Francke. Immer wieder ergriff Gott Besitz von Frauen wenn August Hermann Francke anwesend war, bisweilen auch kurz nach seiner Abreise. Im Oktober 1692 bezeugte Francke die „Ekstasen” dreier Mädchen, denen er den Katechismus unterrichtete. Francke konnte den Ereignissen eine theologische Erklärung verleihen, und sein Ansehen als Geistlicher erhöhte den Status der Frauen. Vgl. Witt, 39-43; Martin, 112-123. Gleichzeitig erweckten die Ekstasen der enthusiastischen Frauen Interesse für den Pietismus, sie zogen neue Teilnehmer an und verliehen der Bewegung eine neue Bedeutung. Francke wurde für einige Zeit der Sprecher der ergriffenen Frauen. Er informierte andere Anführer der Bewegung über die Aktivitäten der vielen „Extraordinären”, mit denen er in Kontakt war, und er verteidigte die Frauen auch öffentlich, als sie angegriffen wurden. Theologen wie August Hermann Francke verwiesen auf ihre theologische Ausbildung und ihr kirchliches Amt, um die Eingebungen der Frauen zu interpretieren und zu verbreiten. Diese spektakulären Begebenheiten gaben den Reformrufen der pietistischen Anführer Gewicht und unterstützen damit die pietistische Kritik an der orthodoxen Kirche. Sogar Philipp Jakob Spener, der dem Enthusiasmus skeptisch gegenüber stand, erkannte die Wichtigkeit der Frauen für das Wachstum des frühen Pietismus. Er erkannte die Frauen nicht unbedingt als „Werkzeuge“ Gottes, aber sicherlich als Werkzeuge des Pietismus an; wie er anmerkte, hatten sie der Bewegung viel Aufmerksamkeit gebracht. Spener schreibt: „da vor 10 . . . jahren viel wesens wegen entzückter und begeisterter mägde gemacht worden / . . . je mehr man solche leute gefeyert . . . / so vielmehr ist mit ihnen vorgegangen / so bald man aber weniger wercks von ihnen gemacht / hat sichs bald algemach verlohren.“ Das Zitat ist vom 26. Juni 1703 (Philipp Jakob Spener. Letzte Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten 1711, Nebst einer Vorrede von Carl Hildebrand von Canstein.” In: Philipp Jakob Spener Schriften. Hrg. v. Erich Beyreuther. Hildesheim: Olms, 1987, Band XV, Teil 2, 5). So wie die Theologen, die die enthusiastischen Frauen unterstützten, verhalfen auch Ärzte der charismatischen Episode zur Glaubwürdigkeit, indem sie die Anfälle als „echt” und „nicht natürlichen Ursprungs” beurteilten. Wichtig ist, dass die Ärzte, die die Frauen behandelten, selber Teilnehmer in pietistischen Konventikeln waren. Justus Vesti, der Anna Maria Schuchart untersuchte, besuchte den von Franckes Kollegen Joachim Justus Breithaupt geführten Konventikel in Erfurt. Vgl. Mori, 38. Ein anderer Mediziner, Jakob Schmidt, diagnostisierte die Stigmata von Anna Eva Jacobs als göttlich. Schmidt und Jacobs nahmen an dem gleichen Konventikel in Quedlinburg teil. Ausführliche Beschreibung, 112. Ein weiterer Arzt, der in pietistischen Kreisen sehr aktiv war, Friedrich Hoffmann, wurde 1693 der erste Medizinprofessor der Universität Halle. Das Studium der Medizin in Halle betonte die Rolle der Psychologie in der Gesundheit und verwarf ein rein mechanistisches Verständnis des Körpers. Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung im Preussen im 18. Jahrhundert: das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000, bes. 57-83. Hoffmann wurde eine Art Experte für charismatische Fälle und begutachtete die „Ekstasen” mehrerer Frauen. Aber Theologen wie Sprögel, Achilles und Francke sowie die Ärzte Vesti, Schmidt, und Hoffmann hatten nie behauptet, selbst Ekstasen erlebt zu haben. Hätten sie dies getan, hätten sie ihre Positionen riskiert. In der Tat hatte Francke wegen seiner Rolle in der Konventikel-Bewegung schon seine Stelle in Erfurt verloren. Die ergriffenen Frauen aber liefen keine Gefahr, Stellen als Pastoren, Lehrer oder Ärzte zu verlieren, da es den Frauen ohnehin verboten war, solche Ämter innezuhaben. Die soeben dargestellten Geschehnisse im Pietismus folgten einer älteren Tradition der frühen Neuzeit: dem Muster eines passiven weiblichen „Werkzeugs”, dessen Erfahrungen von einer männlichen Autorität beglaubigt und anschliessend in Machtkämpfen mit anderen etablierten männlichen Autoritäten benutzt wurden. Im Grossen und Ganzen wurden in der frühen prophetischen Phase des Pietismus durch diese „Arbeitsteilung“ traditionelle Geschlechterrollen aufrechterhalten. Einige männliche „Werkzeuge“, die Ekstasen erlebten, und einige weibliche „Mentorinnen“, die andere enthusiastische Frauen förderten, stellen aber wichtige Ausnahmen dar. Bemerkenswert sind auch Fälle wie die der Anna Margaretha Jahn, die trotz ihrer bescheidenen sozialen Herkunft eine gefeierte Prophetin wurde. Diese Transformationen des alten Musters der Ergriffenheit und Bessessenheit sind, neben dem meditativen Konventikel als sozio-religiöser Form, Themen, die weitere Forschung benötigen.