Vorwort zur Reihe Humanprojekt
Die gegenwärtigen Fortschritte der Wissenschaften, für die exempla-
risch der erfolgreiche Abschluss des Humangenomprojekts steht, stellen
die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen mit einer wohl
selten zuvor erfahrenen Dramatik. Vielfältige neue Einsichten fordern
beständig dazu auf, das Menschen- und Weltbild zu überdenken und
nach der Einbindung des Menschen in den Zusammenhang der Natur
zu fragen.
Dieser Aufforderung kommt die interdisziplinäre Schriftenreihe
Humanprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur nach. Es wird eine
Plattform für Diskussionsbeiträge geschaffen, die auf eine den Bedin-
gungen der Gegenwart angemessene Anthropologie hinarbeiten. Dabei
werden verschiedene Wissenschaften zu Wort kommen, um die Frage
nach dem Menschen in der größtmöglichen Breite zu bearbeiten. Es
geht somit um Beiträge zur Verständigung des Menschen über sich
selbst und damit um eine letztlich unabschließbare Aufgabe: ein Hu-
manprojekt.
Dieser erste Band der Reihe enthält ausgewählte Beiträge, die im
Rahmen der Arbeitsgruppe Humanprojekt an der Berlin-Brandenburgi-
schen Akademie der Wissenschaften diskutiert wurden. Die hier ab-
gedruckten Aufsätze stellen überarbeitete und erweiterte Fassungen der
mündlichen Vorträge dar.
Berlin, im Juli 2007 Detlev Ganten
Volker Gerhardt
Julian Nida-Rümelin
Inhalt
JAN-CHRISTOPH HEILINGER
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
I. Empirie und Kausalität
JENS G. REICH
Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
ANDREAS V. M. HERZ
Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? . . . . . . . . . . . . . . 35
MARTIN HEISENBERG
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung . . 43
C. GIOVANNI GALIZIA
Der Homunkulus und die Zeit. Warum die Neurophysiologie
die Frage des freien Willens nicht lösen kann . . . . . . . . . . . . . . . 59
RANDOLF MENZEL
Entscheiden mit implizitem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
JULIA FISCHER
Metakognition bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
MICHAEL A. STADLER
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . 117
FERDINAND HUCHO
Die Ursachen der Freiheit. Signaltransduktion als Grundlage
von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
GERHARD ROTH
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 149
II. Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit
KRISTIAN KÖCHY
Selbstreferentialität. Die methodologischen Vorgaben der
kognitiven Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem . . . . . 179
VIII Inhalt
MATHIAS GUTMANN
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung . . 209
JULIAN NIDA-RÜMELIN
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen . . . . 229
MICHAEL PAUEN
Ursachen und Gründe. Zwei zentrale Begriffe in der Debatte
um Naturalismus und Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
JULIAN NIDA-RÜMELIN
Ursachen und Gründe – eine Replik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
GEERT KEIL
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung . . . . . . . . . . . . . 281
GEORG NORTHOFF
Freiheit und Einbettung in die Umwelt – ein relationales
neurophilosophisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
OLAF L. MÜLLER
Die Diebe der Freiheit. Libet und die Neurophysiologen
vor dem Tribunal der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
III. Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit
EVA-MARIA ENGELEN
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel . . . 367
BIRGIT RECKI
Technik und Natur. Eine neue Dialektik der Aufklärung oder:
Wie es der weißen Frau möglich wird, den Affen zu lieben . . . . 391
NORBERT MEUTER
Natur und Kultur der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
MATTHIAS JUNG
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus . 435
VOLKER GERHARDT
Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung
an eine Naturgeschichte der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit
JAN-CHRISTOPH HEILINGER
Die Frage nach der Freiheit beschäftigt die Menschen schon lange.
Dabei wird der Begriff Freiheit jedoch auf unterschiedliche Weise ge-
braucht. In einem Sinne ist Freiheit die Möglichkeit zur Selbstbestim-
mung unabhängig von dem Willen eines anderen. In einem anderen
Sinne ist Freiheit die Möglichkeit, bestimmte Handlungen aus einem
Spektrum von Optionen seinem eigenen Wunsch gemäß umsetzen zu
können. In wieder einer anderen Hinsicht besteht Freiheit darin, dass
wir unseren eigenen Willen selbständig formen und dass wir bei dieser
Herausbildung unseres eigenen Willens nicht festgelegt sind. Die ver-
schiedenen Verwendungen des Wortes Freiheit deuten darauf hin, dass
es sich bei der Freiheit um ein Phänomen handelt, das nicht nur schwer
zu erklären, sondern auch nicht leicht zu beschreiben ist. Erkennbar
wird dies auch durch die zahlreichen Verbindungen, die das Wort
Freiheit eingehen kann: Es wird von Willens- und Handlungsfreiheit,
Herrschafts- und Gedankenfreiheit, von Freiheitsgraden, Freiheitsstrafe
und Ellenbogenfreiheit gesprochen.
In den Diskussionen der letzten Jahre wird ein besonderes Augen-
merk auf die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen gerichtet.
Dabei soll geklärt werden, ob unser Wille selbst – also unser hand-
lungsleitendes Wollen und die eigenständige Entscheidungsfähigkeit –
durch bestimmte Faktoren festgelegt ist oder ob wir selbst diejenigen
sind, die unseren Willen bestimmen. Das Problem der Willensfreiheit ist
jedoch kein neues und die aktuellen Debatten können auf Positionen
zurückgreifen, die schon in der Antike vertreten wurden. Moritz
Schlick klagt im Jahr 1930 angesichts der anhaltenden Diskussionen
über die Willensfreiheit darüber, dass immer noch „soviel Papier und
Druckerschwärze an diese Sache verschwendet werden“ und erklärt das
Problem insgesamt für eine überflüssige „Scheinfrage“ (Schlick, 1930,
155). Dennoch ist es dem Menschen offenkundig immer wieder ein
dringendes Anliegen, sich mit der Frage nach der eigenen Freiheit, nach
der Freiheit seines Willens und der Möglichkeit der Freiheit seiner
Handlungen, auseinanderzusetzen.
2 Jan-Christoph Heilinger
In der Gegenwart erfährt die Diskussion um die Freiheit des Willens
derzeit eine Herausforderung durch die jüngeren Einsichten der Ge-
netik und der Neurowissenschaften. Die Gene und die neuronalen
Verschaltungen in unserem Gehirn seien – so heißt es – dafür verant-
wortlich, dass aufgrund ihrer naturgesetzmäßigen Organisiertheit und
Determiniertheit das Verhalten und auch der verhaltenssteuernde Wille
der Menschen durch Gene und neuronale Prozesse determiniert seien.
Unser Bewusstsein, unser Wollen und unser Verhalten seien durch die
in unserem Körper, insbesondere dem Gehirn, ablaufenden Prozesse
getragen und festgelegt. Auf diese Weise wird die Möglichkeit tat-
sächlicher menschlicher Freiheit und Verantwortung infrage gestellt.
Häufig wird in den Debatten von einer recht einfachen Dichotomie
ausgegangen: Auf der einen Seite wird behauptet, dass durch die neuen
Einsichten aus Genetik und Neurowissenschaften die Möglichkeit der
menschlichen Freiheit insgesamt hinfällig geworden sei, während an-
dererseits die Ansicht vertreten wird, dass sich in den neuen experi-
mentellen Ergebnissen kein Widerspruch zur Möglichkeit menschlicher
Freiheit erkennen lasse. Während die einen Freiheit als eine Illusion zu
entlarven versuchen, halten die anderen dafür, dass die subjektive
Überzeugung, frei wollen und handeln zu können, durch die neuen
Einsichten nicht gefährdet sei.
Ausgehend von den Einsichten, die sich durch die neueren Un-
tersuchungen und Experimente ergeben haben, wird bisweilen auch die
Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes gefordert. Wir seien nun,
so heißt es, aus naturwissenschaftlichen Gründen genötigt, unsere
„herkömmlichen Überzeugungen“ grundsätzlich zu hinterfragen und
ggf. aufzugeben.1 Doch hier besteht noch Klärungsbedarf und schon die
Fragen, was überhaupt genau ein Menschenbild ist und welches konkret
unser herkömmliches Menschenbild ist, sind nicht eindeutig beant-
wortet. Die aktuellen Debatten haben bislang jedenfalls vor allem eines
gezeigt: dass es dem Menschen immer noch ein Bedürfnis ist, Dru-
ckerschwärze für die ausführliche Diskussion dieser Frage zu verwen-
den. Ob die alte Frage nach der Möglichkeit und der Bestimmung
menschlicher Freiheit damit ihrer Klärung näher gekommen ist, steht
auf einem anderen Blatt.
1 In Deutschland haben vor allem Gerhard Roth (Roth, 2001, 2003) und Wolf
Singer (Singer, 2003) zu den Debatten beigetragen – vgl. dazu überblicksartig
Gehring, 2004. Die Diskussionen über die Freiheit des Willens, die auch in den
Feuilletons geführt wurden, sind teilweise dokumentiert in Geyer, 2004.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 3
Die in diesem Band versammelten Beiträge verstehen sich nicht als
bloße Fortführung der Debatten der letzten Jahre, sondern versuchen
darüber hinaus einen anderen Ansatz. Hier wird nicht von einer ein-
fachen Dichotomie ausgegangen, die entweder radikal für oder radikal
gegen die Möglichkeit von Freiheit argumentiert. Stattdessen wird ein
methodischer Pluralismus erprobt, in dem besonderes Gewicht auf einer
evolutionären Theorieperspektive liegt.2 So kann ein gegebenes Phä-
nomen – wie die menschliche, subjektive Erfahrung von Freiheit – als
Ergebnis von Entwicklungen und Transformationen angesehen und
verstanden werden. In diesem Licht erscheinen die radikal vorge-
brachten Antworten, es gebe Freiheit, bzw. es gebe sie nicht, zu ein-
fach: Ungleich interessanter ist es, in phylo- wie ontogenetischer
Hinsicht den Bedingungen, Elementen und (Vor-)Formen dessen
nachzugehen, was wir Menschen subjektiv als Freiheit erfahren und
leben können. Insgesamt können damit auch – entgegen einer einfachen
Dichotomie – verschiedene Grade von Freiheit anerkannt werden.
Damit wird die Debatte um die menschliche Freiheit in den Kon-
text des Lebendigen und in den umfassenden Zusammenhang der Natur
eingeordnet. Wenn es Freiheit gibt, muss gezeigt werden können, wie
sie sich unter den Bedingungen der Natur entwickelt hat und wie sie
unter den Gesetzmäßigkeiten der Natur bestehen kann. Gelingt es, die
Eigenständigkeit lebendiger Systeme in ihrer spezifischen Gesetzmä-
ßigkeit genauer zu fassen, wäre es in der Folge möglich, die Selbstor-
ganisation des Lebendigen mit der Selbstbestimmung gesellschaftlich
handelnder Personen behutsam zu parallelisieren. Auf diesem Wege
kann eine Annäherung biologischer und sozialer Beschreibungsverfah-
ren erzielt werden. So ließe sich die (sich stets in sozialer Selbstbe-
stimmung äußernde) menschliche Freiheit als eine irreduzibel komplexe
Form lebendigen Verhaltens ausweisen. Damit hätte die Freiheit einen
Ort in der Evolution des Lebens. Das Ergebnis einer solchen Unter-
suchung ließe sich dann als „Naturgeschichte der Freiheit“ bezeichnen.
Darauf abzielend sind die hier versammelten Beiträge von einer
besonderen Breite. Der jüngste Streit über die menschliche Willens-
freiheit wurde im Wesentlichen zwischen Neurowissenschaftlern und
Philosophen, gelegentlich auch unter Einbeziehung von Juristen und
Theologen ausgefochten. Aus der systematischen Perspektive einer
2 Mit Blick auf die Evolution des Bewusstseins hat Merlin Donald einen ähnli-
chen Versuch unternommen (Donald, 2002). Untersuchungen zur Evolution
der Freiheit finden sich außerdem bei Daniel Dennett (bes. Dennett, 2003).
4 Jan-Christoph Heilinger
„naturgeschichtlichen“ Betrachtung erweist sich aber die Beschäftigung
mit verschiedenen Entwicklungsstufen des Lebens, die über die Aus-
einandersetzung mit dem menschlichen Gehirn hinausgeht, als fruchtbar
und notwendig. Sie kann nicht allein von den Neurowissenschaften
geleistet werden. So wird hier – neben den wichtigen Beiträgen aus der
Neurobiologie, den Kognitionswissenschaften und der Philosophie –
ein besonderes Augenmerk auf Formen der Verhaltenssteuerung und
Entscheidung bei „niederen“ Organismen und (nicht-menschlichen)
Tieren gelegt. Dies ist mit der Überzeugung verbunden, etwas über die
Entwicklung menschlicher Fähigkeiten in Erfahrung bringen zu kön-
nen. Allerdings wird nicht allein die naturwissenschaftliche Grundlage
des Phänomens Freiheit erläutert, es werden vielmehr auch Überle-
gungen über die sozialen und kulturellen Kontexte und Bedingungen
von Freiheit in die Diskussion einbezogen. Auf diese Weise soll die
enge Fokussierung auf ein vermutetes Primat der Neurowissenschaften
zur Erklärung der Willensfreiheit aufgebrochen werden. Der „Tyrannei
des Mikroskopischen“3 wird so der größere Zusammenhang der Natur
gegenübergestellt.
Damit bietet der vorliegende Band keine Wiederholung geführter
Diskussionen über die menschliche Willensfreiheit. Er ist auch nicht als
Kommentar zu einer älteren Debatte zu verstehen, sondern ordnet die
Freiheitsfrage in einen neuen, wesentlich erweiterten Kontext ein.
Angelegt ist vorliegender Band als ein Beitrag zu einem umfassenden
Verständnis von Freiheit – im Rahmen der Natur und nicht im Ge-
gensatz zu ihr. Das übergreifende Ziel der Arbeit an einer Naturge-
schichte der Freiheit besteht darin, etwas zur Verständigung über die
Stellung des Menschen im Zusammenhang der Natur beizusteuern,
indem die Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften in Bezug auf ihre
Bedeutung für den Menschen analysiert, kritisch hinterfragt und sub-
stantiell ausgewertet werden. Dem Anliegen der Schriftenreihe „Hu-
manprojekt“ gemäß – nämlich angesichts der neuen Erkenntnisse der
Wissenschaften die Stellung des Menschen in der Natur zu bestimmen –
ist die Beschäftigung mit der Naturgeschichte der Freiheit somit ein
erster Schritt.
3 John Dupré spricht von einer „tyranny of the microscopic“ und argumentiert
vehement gegen einen „imperialistic scientism“ (Dupré, 2001, 109).
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 5
Freiheit als Problem
Die Verständigung darüber, was als Freiheit bezeichnet werden soll,
stellt die erste wichtige und keineswegs einfache Herausforderung dis-
ziplinärer wie interdisziplinärer Arbeit dar. Die vielfältige Verwendung
des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten – genannt wurden schon
Willens- und Handlungsfreiheit, Herrschafts- und Gedankenfreiheit,
Freiheitsgrade etc. – zeigt dies deutlich an. Zugleich lässt sich erkennen,
dass Freiheit in einem starken, auf Menschen anwendbaren Sinn kein
genuiner Begriff der Naturwissenschaften ist. Einige grundlegende
Unterscheidungen werden hier vorgestellt, um in das Problem einzu-
führen, auch wenn die Debatten mittlerweile einen Komplexitätsgrad
erreicht haben, der jede Übersicht verkürzt erscheinen lässt.
Eine erste Unterscheidung innerhalb der philosophischen Debatten
über die menschliche Freiheit liegt darin, dass die Handlungsfreiheit von
der Willensfreiheit geschieden wird. Diese Abgrenzung ist deshalb be-
sonders wichtig, weil sich hier häufig Verwechslungen auftun. Hand-
lungsfreiheit besteht, kurz gesagt, darin, dass wir – frei – tun können,
was wir tun wollen, wohingegen Willensfreiheit sich darin äußern soll,
dass wir auch unser eigenes Wollen frei bestimmen können. Diese
Unterscheidung ist seit langem im Umlauf, wird aber trotzdem immer
wieder missachtet. Beide Formen der menschlichen Freiheit seien hier
kurz gesondert eingeführt und diskutiert.
Handlungsfreiheit betrifft die natürliche und soziale Umwelt des
Individuums. Ob ein Individuum eine bestimmte Handlung ausführen
kann oder nicht, ob die Lebenswelt dem Individuum Widerstand und
Hindernis ist oder stattdessen eine bestimmte Handlung erlaubt oder
sogar unterstützt, ist eine Frage der Handlungsfreiheit. So ist eine Ge-
fangene per definitionem nicht handlungsfrei zu gehen, wohin sie
möchte. So bin ich auch nicht handlungsfrei in meiner Handlungsab-
sicht, Berge zu versetzen oder mich unsichtbar zu machen. Hand-
lungsfreiheit ist also in besonderem Maße situations- und kontextab-
hängig und betrifft damit die Strukturen der Realität, die uns umgibt, in
sozialer, materialer und logischer Hinsicht.
Die Willensfreiheit hingegen betrifft nicht die Ebene der das Indi-
viduum umgebenden Realität, sondern das Individuum selbst. Die
Frage, ob der Mensch Willensfreiheit hat, lässt sich unabhängig davon
beantworten, ob der Mensch in einem engen Gefängnis gehalten wird
und mit seiner Handlungsabsicht, Berge zu versetzen, an Grenzen stößt.
Vielmehr geht es um die Frage, ob der Wille selbst – also das hand-
6 Jan-Christoph Heilinger
lungsleitende Wollen sowie die Entscheidungsfähigkeit – frei oder in-
nerhalb bestimmter Grenzen festgelegt und determiniert ist, so dass
unser subjektives Empfinden von Freiheit lediglich eine Illusion dar-
stellt.
Die aktuellen Debatten über die Freiheit des menschlichen Willens
gehen von einer bestimmten Interpretation neuerer Erkenntnisse der
Naturwissenschaften aus, die als Herausforderung für die Existenz von
menschlicher Willensfreiheit angesehen wird. Diese beruht auf der
heute weitgehend unstrittigen Einsicht, dass mentale Zustände auf
materialen (Gehirn-) Zuständen basieren. Die Herausforderung für die
menschliche Willensfreiheit ergibt sich dann aus zwei einander
scheinbar widersprechenden Aussagen:
1. Das menschliche Wollen ist nicht festgelegt, sondern wird vom
Wollenden selbst bestimmt.
2. Das menschliche Wollen basiert auf Gehirnzuständen, und das Ge-
hirn ist Teil der naturgesetzmäßig bestimmten (determinierten)
Welt.
Die beiden Aussagen werden in einen Gegensatz zueinander gebracht:
Wenn Naturgesetzmäßigkeiten die Abläufe im Gehirn steuern, gebe es
keinen Raum mehr für die Selbstbestimmung, die Autonomie und die
subjektive Verantwortung des Individuums. Das subjektive Gefühl der
Freiheit ist in diesem Verständnis bestenfalls eine Illusion.
Exemplarisch verdeutlicht wird dies zumeist anhand der von Ben-
jamin Libet erstmals bereits im Jahr 1983 publizierten Experimente.4
Libet untersuchte die zeitlichen Verhältnisse zwischen (1) dem Mo-
ment, in dem sich ein Individuum für eine Bewegung entschied (hier
das Drücken eines Knopfes), (2) der Zeitdauer der Übermittlung des
Nervensignals vom Gehirn an die Muskeln und (3) dem Zeitpunkt, zu
dem die Bewegung ausgeführt wurde. Während man intuitiv wohl den
Ablauf der drei Elemente in der genannten Reihenfolge erwarten
würde, konnte Libet zeigen, dass bereits vor dem subjektiv erlebten
Moment der Entscheidung für eine Handlung die Übermittlung des
Nervensignals vom Gehirn schon vorbereitet und eingeleitet worden
war. Die gemessenen Hirnaktivitäten (das sogenannte Bereitschaftspo-
tential) gingen dem subjektiv gewahrten Willensentschluss im Durch-
schnitt um ca. 300 Millisekunden voraus.
4 Vgl. dazu Libet et al., 1983, und Libet, 1985, 2005.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 7
In einer die Debatten dominierenden Interpretation der Libet-Ex-
perimente werden diese immer wieder herangezogen, um die subjektiv
erfahrene Freiheit als eine Illusion darzustellen und damit die Mög-
lichkeit menschlicher Freiheit insgesamt zu bezweifeln. Wenn das Ge-
hirn unabhängig vom Bewusstsein schon vor der bewusst getroffenen
Willensentscheidung eine Handlung eingeleitet habe, so lautet die
vorherrschende Interpretation dieser Experimente, könne unmöglich
der eigene Willensentschluss die Ursache der Handlung sein. Diese
Experimente könnten daher zeigen, so wird weiter behauptet, dass die
bewusste Entscheidung für eine Handlung an der Auslösung der
Handlung nicht beteiligt sei, sondern diese lediglich begleite.5 Weil im
Gehirn aber alles „mit rechten Dingen“ zugehe, also gemäß den Na-
turgesetzen, zeige dies deutlich, dass das Gefühl von menschlicher
Freiheit lediglich eine Illusion darstelle.
Doch die Verteidiger der Freiheit haben Gegenargumente gegen
diese Deutung der Libet-Experimente vorgebracht, die insgesamt die
These von der Unvereinbarkeit menschlicher Freiheit mit naturge-
setzmäßigen Zusammenhängen infrage stellen. Damit wird keineswegs
die Gültigkeit der Experimente und der naturwissenschaftlichen Un-
tersuchungen bezweifelt. Diese sind nicht unbedingt falsch, vermutlich
aber schlichtweg unvollständig zur Untersuchung der menschlichen
Freiheit. Diese Vermutung basiert auf dem Zweifel daran, dass eine
derart einfache Versuchsanordnung etwas so Komplexes wie die Frei-
heit auf angemessene Weise untersuchen kann. Im Folgenden werden
kurz vier Klassen von Gegenargumenten angesprochen. Diese kritisie-
ren die Versuchsanordnungen und einfachen Interpretationen der
Versuchsergebnisse und zielen damit darauf ab zu zeigen, wie
menschliche Freiheit gerade unter den Bedingungen der Natur und ihrer
Gesetzm!ßigkeit möglich ist und sich wirklich entwickeln konnte.
a) Was ist ein Naturgesetz, wie (streng) gelten Naturgesetze? Naturgesetze
werden heute selbst von Physikern nicht mehr als unumstößliche
ewige Zwänge angesehen, sondern gelten lediglich unter ceteris-
paribus-Bedingungen und als Probabilitätsgesetze.6 So zeigt etwa das
5 Libet räumt dem Bewusstsein allerdings eine Art „Veto-Funktion“ ein, eine
vom Gehirn eingeleitete Handlung noch zu stoppen. Damit wird deutlich, dass
Libets eigene Interpretation seiner Experimente nicht auf eine grundlegende
Leugnung der Willensfreiheit abzielt.
6 Nancy Cartwright (Cartwright, 1983) hat überzeugend dafür argumentiert, dass
einfache physikalische Gesetze – beispielsweise das Gesetz der Gravitation – nur
8 Jan-Christoph Heilinger
so genannte Drei-Körper-Problem, dass selbst eine recht einfache
Versuchsanordnung keine präzisen Vorhersagen über zukünftige
Zustände des Systems erlaubt. Schon damit kann die Möglichkeit
einer einfachen gesetzmäßigen Bestimmung und Determination
menschlichen Verhaltens ausgeschlossen werden.
b) Lassen sich lebendige Organismen unter gesetzm!ßige Beschreibungen fassen
oder verlangt das Leben nach einer anderen Beschreibungsweise? Für Or-
ganismen, selbst für einfache Organismen, lassen sich die Aus-
gangsbedingungen gar nicht herstellen, die für eine einheitlich ge-
setzmäßige Bestimmung der ablaufenden Vorgänge notwendig wäre.
In einem Organismus sind Ursache und Wirkung aufgrund des
hyperkomplexen Zusammenspiels vielfältigster Abläufe gar nicht
hinreichend voneinander zu unterscheiden, um die Rede von einer
einfachen Verursachung zu rechtfertigen.7 Lebendiges verfügt über
eine Eigendynamik, über Spielräume variabler Reaktion, die sich in
Selbstorganisation und Spontaneität Ausdruck verleiht.8
c) In welchem Zeitrahmen finden freie menschliche Willensentscheidungen
statt? Genuine menschliche Entscheidungen, über deren Freiheit wir
befinden wollen, finden nicht innerhalb von Sekunden oder Milli-
sekunden statt, sondern innerhalb von Minuten, Stunden oder noch
längeren Zeiträumen. Die Reduktion einer komplexen menschli-
chen Entscheidungskette auf ein einzelnes Glied entspricht zwar den
in Laboratorien untersuchbaren Einheiten, ist jedoch der Komple-
xität menschlichen Handelns und Verhaltens schlichtweg nicht an-
gemessen.9
d) Was genau untersuchen die Libet-Experimente? Insgesamt muss sogar
bezweifelt werden, ob mit der gesamten Versuchsanordnung Libets
tatsächlich etwas über den freien Willen in Erfahrung gebracht werden
unter strengen ceteris-paribus-Bedingungen zutreffen. Diese Bedingung ist
jedoch nicht erfüllbar. Also sind wir weit davon entfernt, die universelle
Wahrheit dieser physikalischen Gesetze anzuerkennen, vielmehr erweisen sie
sich – wie Cartwright pointiert feststellt – generell als falsch. Fundamentale
theoretische Gesetze treffen bestenfalls auf Modelle zu. Vgl. zur Diskussion
dieser Ansicht im Zusammenhang von Handeln und Verursachen Keil, 2000.
Zur Diskussion über den Status von Naturgesetzen vgl. Hampe, 2005.
7 Auch die Rede von der „causal completeness“ stellt hier keine angemessene
Alternative dar. Vgl. dazu Dupré, 2001, 154–187.
8 Vgl. dazu Gerhardt, 1999, 148–186 und Dupré, 2001, 13.
9 Anschauliche Beispiele finden sich in der Literatur. Bieri (Bieri, 2001) diskutiert
das Freiheitsproblem etwa anhand des Protagonisten aus Dostojewskis „Ver-
brechen und Strafe“, Raskolnikow. Vgl. auch Donald, 2002, 46–91.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 9
kann. Die Ausführung einer Handlung (das Drücken eines Knopfes)
in dem Moment, wenn eine Person „den Drang“ („the urge“) dazu
verspürt – diese Formulierung findet sich bei Libet –, ist schließlich
gerade keine Handlung aufgrund einer freien Willensentscheidung.
Tatsächliche willentliche Handlungen basieren nicht auf einem
empfundenen Drang, sondern auf Gründen.10 Hier scheint ein
grundlegendes Missverständnis vorzuliegen, was überhaupt mit
„Wille“ gemeint sein kann. Die Reduzierung des Willens auf den
„Drang“ (dessen zeitliches Auftreten im Experiment gemessen und
in Bezug zum Auftreten des Bereitschaftspotentials und zur Aus-
führung der Handlung gesetzt wird) verfehlt jedenfalls das grundle-
gende Problem. Man könnte also vermuten, dass die einzige
Handlung, in der die Freiheit oder Unfreiheit des Willens der
Versuchsteilnehmer zum Ausdruck kommen konnte, darin bestand,
an dem Experiment überhaupt teilzunehmen.
Trotz dieser Kritikpunkte hat sich im Anschluss an die Libet-Experi-
mente und ihre neueren Wiederholungen11 eine fruchtbare Debatte
entsponnen, die Erkenntnisse über diejenigen Abläufe im Gehirn zutage
gefördert hat, die bei der Handlungs- und Verhaltenssteuerung eine
Rolle spielen. Die Beweiskraft der Experimente muss jedoch kritisch
beurteilt werden: Für eine definitive Widerlegung der Willensfreiheit
sind sie ungeeignet. Das Problem der Freiheit – das ergibt sich aus dem
bisher Gesagten – lässt sich nicht auf einzelne Abläufe im Gehirn, wie
etwa das experimentell untersuchte Bereitschaftspotential, herunter-
brechen. Bei einer angemessenen Untersuchung des Phänomens muss
daher stets der Kontext eines funktionstüchtigen Systemzusammenhangs
berücksichtigt werden. Zwischen der Scylla der Determination und der
Charybdis der Zufälligkeit hindurch wird nach Abläufen in der Natur
zu suchen sein, die – unter den Bedingungen der Natur – lebendigen
Organismen Spielräume eröffnen, innerhalb derer sie sich aus eigenem
Impuls verhalten können. Sollten sich solche finden lassen, wäre damit
auch ein Verständnis von menschlicher Freiheit als Selbstbestimmung
aufgrund eigener Gründe ohne Widerspruch zum Ganzen der Natur
verständlich. Mit der Kritik an den Libet-Experimenten wurde jedoch
noch keine positive Argumentation f"r eine solche Möglichkeit von
10 Die Ansicht, dass in den Libet-Experimenten Gründe nicht gemessen würden,
vertritt auch Lutz Wingert (Wingert, 2004).
11 Die neueren Wiederholungen der Libet-Experimente durch Haggard/Eimer,
1999, wurden viel diskutiert.
10 Jan-Christoph Heilinger
(menschlicher) Freiheit geliefert. Diese soll mit der Rekonstruktion
einer Naturgeschichte der Freiheit, die die Bedingungen des Lebens
berücksichtigt, versucht werden.
Naturgeschichte und Geschichte der Natur
Der Begriff Naturgeschichte ist kein geläufiger Terminus in den Debatten
über die Freiheit des menschlichen Willens. Daher muss erklärt werden,
in welcher Hinsicht er hier verwendet wird. Mit Blick auf den üblichen
Gebrauch des Begriffs Naturgeschichte lassen sich zwei Aspekte er-
kennen, die für unsere Vorgehensweise von Belang sind (Kambartel,
1984). Zum einen versteht man unter Naturgeschichte die Entwicklung
der Phänomene, die als Natur bezeichnet werden. Auch wenn der
Begriff der Natur seinerseits facettenreich und notorisch schwer zu
definieren ist,12 lassen sich darunter weitgehend unkontrovers in einem
umfassenden Sinne der Kosmos, die Erde und das Leben fassen, deren
Entstehung und Entwicklung aus der Perspektive der Naturgeschichte
untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in diesem Zu-
sammenhang die Entwicklung des Lebens auf der Erde, dessen Natur-
geschichte seit Darwin als Evolution bezeichnet werden kann. Dieser
erste Aspekt stellt somit die Entwicklungsdimension der Natur in den
Mittelpunkt.
Der zweite Aspekt des Begriffs Naturgeschichte ist heute geläufig,
wenn man an die Museen für Naturgeschichte oder Naturkunde wie
etwa das Londoner Natural History Museum denkt. Hierunter verbergen
sich vor allem klassifizierende Sammlungen, die die zahlreichen Phä-
nomene, die sich in der Natur finden lassen, ordnen und vorstellen.
Selbst wenn der Biologie – mit Botanik und Zoologie – eine promi-
nente Stellung in diesem Zusammenhang zugesprochen werden kann,
beteiligten sich auch zahlreiche andere Disziplinen an diesem Geschäft:
Geologie, Mineralogie, Paläontologie, aber auch Astronomie und
Physik. Dieser zweite Aspekt des Begriffs Naturgeschichte basiert auf
einer langen Tradition, die sich auf den ursprünglichen griechischen
Gebrauch des Wortes Rstoq_a (historia) zurückführen lässt. Dieser stand
nämlich weniger für eine Darstellung der in der Zeit geordneten Ab-
läufe und Entwicklungen, sondern vielmehr für die bloße Beschrei-
12 Die Probleme, die mit der Definition des Begriffs der Natur und dem Konzept
der Natürlichkeit verbunden sind, behandelt Birnbacher, 2006.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 11
bung, die Sammlung und das Berichten von Phänomenen. Dabei
spielten Begründungen und Erklärungen eine gänzlich untergeordnete
Rolle.13
Diese beiden Aspekte des Begriffs Naturgeschichte zeigen in ihrer
sachlichen Zusammengehörigkeit an, in welche Richtung auch unser
Vorhaben zielt: Mit der Absicht, die Entwicklung und die tatsächliche
Bestimmung eines ausgezeichneten menschlichen Charakteristikums –
das wir am eigenen Leib erfahren und als Freiheit bezeichnen – zu
verstehen, werden daher in methodischer Hinsicht phänomennahe
differenzierte Beschreibungen ebendieser Entwicklung in ihren ver-
schiedenen Stadien herangezogen. In der Überzeugung, dass der
Mensch auch mit seinen besonderen Eigenschaften ein lebendiges
Naturwesen unter anderen lebendigen Wesen ist, ist mit der Betrach-
tung der Entwicklung des Lebendigen die Hoffnung auf mögliche Er-
klärungen spezifisch menschlicher Eigenschaften verbunden.
Naturgeschichte der Freiheit
Der methodische Ausgangspunkt einer derart verstandenen Naturge-
schichte ermöglicht es, die Debatten über die Freiheit des Willens aus
dem Korsett neurowissenschaftlicher Experimente zu befreien, die
häufig auf einem zu engen Verständnis der Beweiskraft von Kausaler-
klärungen beruhen.14 Schließlich wird mit der Freiheit ein Phänomen
untersucht, das gar nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern nur
unter Berücksichtigung eines ganzen Organismus, der sich in einer
sozialen und natürlichen Umwelt orientieren und verhalten muss,
überhaupt angemessen beschrieben werden kann.15 Die Blickerweite-
13 Vgl. die voluminöse „Historia naturalis“ von Plinius d. Ä., entstanden um 79
n. Chr., eine eindrucksvolle Sammlung und Zusammenfassung des naturwis-
senschaftlichen Wissens der Antike mit enzyklopädischem Anspruch (Plinius
d. Ä., Hist. nat.).
14 Gegen ein solches Verständnis von Kausalerklärungen vertritt Dupré – im
Anschluss an Cartwright, 1983 – überzeugend die These: „a reasonable me-
taphysics of causality presents no special difficulties for the idea of human
autonomy“ (Dupré, 2001, 177).
15 Auch innerhalb der Neuro- und Kognitionswissenschaften gewinnt die Ein-
sicht an Bedeutung, dass eine rein computationale Analyse der im Gehirn
ablaufenden Prozesse unzureichend ist. So wird die Auseinandersetzung mit
dem Konzept embodied embedded cognition (EEC) zunehmend wichtiger – auf-
schlussreich dazu Anderson, 2003, 2007, i. Ersch. Wenn sich diese Einsicht nun
12 Jan-Christoph Heilinger
rung auf den Kontext – den physischen Organismus als Kontext der
neuronalen Abläufe und die soziale wie physische Umwelt als Kontext
des interagierenden Organismus – erlaubt „in naturgeschichtlicher
Absicht“ eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Phänomen
Freiheit: Freiheit wird nicht allein im menschlichen Gehirn gesucht,
sondern die Umstände und Bedingungen, die Freiheit allererst ermög-
lichen, werden auch dort aufgespürt und untersucht, wo sie noch nicht
in der weiter entwickelten Form menschlicher Freiheit vorliegen.
Freiheit in diesem Sinne bezieht sich somit weniger auf die Möglichkeit,
dass ein Individuum auch anders hätte handeln können. Vielmehr geht
es hier um die Möglichkeit von Autonomie, verstanden als diejenige
Form von Selbstbestimmung, die es erlaubt, ein handelndes Individuum
(den „Agent“) in einem starken Sinn als Urheber einer Handlung an-
zusehen.
Der Mensch als ein lebendiges und soziales Wesen wird dement-
sprechend seine Freiheit nicht durch Analysen des Gehirns allein ver-
stehen lernen, sondern – wenn überhaupt – nur durch transdisziplinäre
Untersuchungen, die einen Bogen vom Gehirn als einem Organ eines
ganzen Organismus, der in Kontexte eingebunden ist, hin zu psycho-
logischen und historisch-soziologischen Analysen spannen. Dies erklärt,
warum auf der Suche nach einer Naturgeschichte der Freiheit auch
schon evolutionäre Entwicklungsschritte der Phylogenese des Men-
schen in den Blick zu nehmen sind, etwa indem im Tierreich oder bei
anderen Erscheinungen von Lebendigem nach Elementen und Bedin-
gungen von Freiheit gesucht wird. Damit ist eine Konzeption von
Freiheit angestrebt, die davon ausgeht, dass Freiheit nicht unabhängig
von der Umwelt in absoluter Reinform vorliegen kann, sondern ein
graduierbares Phänomen ist, dessen Grade jedoch – auch empirisch –
untersucht und bestimmt werden können.16 In gewisser Hinsicht ließe
auch auf der Ebene der neuronalen Prozesse durchsetzt, gilt sie umso mehr für
den ganzen Menschen: Ausgehend von „the fundamental biological fact that
Homo sapiens is a social animal“ führt Dupré aus: „the causal capacities most
characteristically and uniquely human are capacities that derive not solely from
the internal structure of humans, or human brains, but that depend essentially
on the relationship between an individual and society“ (Dupré, 2001, 181).
16 Dies gilt nicht nur für die Sphäre der Natur, sondern insbesondere für die
lebensweltliche Sphäre menschlichen Handelns: „Wir sind […] in unseren
lebensweltlichen Zuschreibungen von Rationalität, Freiheit und Verantwor-
tung Gradualisten, es gibt ein Mehr oder Weniger an Rationalität, Freiheit und
Verantwortung.“ (Nida-Rümelin, 2005, 186).
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 13
sich vorsichtig von einer Art „Baustein-Theorie“ der Freiheit reden,
wobei jedoch zu betonen ist, dass sich in jedem Organismus der Grad
seiner Freiheit nicht allein aus der additiven Zusammenführung seiner
Teile erklären lässt. Selbst wenn Elemente der Freiheit individuell er-
kannt werden können, bedarf es immer des Zusammenspiels derselben
in einem komplexen Organismus, der auf vielfältige Weise mit seiner
Umwelt interagiert. Doch zum Verständnis der stärker ausgeprägten
Formen von Freiheit ist es erhellend, die weniger ausgeprägten Formen
und ihre zugrunde liegenden und ermöglichenden Elemente zu un-
tersuchen.
Dieser Ansatz rechtfertigt, ja erzwingt ein vielfältiges Vorgehen und
integriert unterschiedliche Methoden. Begriffliche Analysen, etwa sol-
cher Termini wie „Ursache“, „Grund“ und „Motiv“, helfen, Klarheit
über den Untersuchungsgegenstand zu erlangen. Studien mit Primaten
oder anderen Lebewesen tragen dazu bei, das Zusammenspiel ver-
schiedener Faktoren in einem Organismus – auf materialer und ko-
gnitiv-mentaler Ebene – zu untersuchen. Und auch die Untersuchung
einzelner Zellen, die etwa in neuronalen Netzen organisiert sind, oder
die Betrachtung der Abläufe innerhalb einzelner Zellen vermögen zur
Klärung des Untersuchungsgegenstandes beizutragen. Mit der Natur-
geschichte der Freiheit wird jedoch insgesamt gegen jede mögliche
Bevorzugung einer einzigen Vorgehensweise argumentiert und darauf
hingewiesen, dass erst unter Einbeziehung aller genannten Perspektiven
eine den Phänomenen angemessene Untersuchung überhaupt möglich
ist. Das Problem der Freiheit lässt sich nicht alleine in den Domänen der
Philosophie oder der Naturwissenschaften verorten, es übergreift alle
Disziplinengrenzen. Freiheit betrifft den Menschen als Ganzen und
berührt damit alle Wissenschaften, die für das Selbstverständnis des
Menschen von Bedeutung sind. Der Versuch der Rekonstruktion einer
Naturgeschichte der Freiheit stellt somit ein umfassendes und interdis-
ziplinäres Unterfangen dar, zu dem hier ein Beitrag geleistet werden
soll.
Der methodisch angemessene, weitere Blick, der hier mit dem
Stichwort ,Naturgeschichte‘ bezeichnet werden soll, betrachtet Freiheit
als ein Phänomen, das sich entwickelt hat und das über mentale wie
materiale Dimensionen gleichermaßen verfügt. Damit werden sowohl
dualistische als auch monistische oder reduktionistisch orientierte Po-
sitionen abgelehnt. Naturalisierungsversuche sind durchaus heuristisch
angebracht und tragen viel zum Verständnis bei – freilich dürfen dabei
keine relevanten Differenzierungen gänzlich verloren gehen. Die
14 Jan-Christoph Heilinger
Grenzen des Naturalismus liegen im „Aufweis der Irreduzibilität be-
stimmter semantischer Gehalte“ (Keil, 1993, 15). Tatsächliches Ver-
stehen eines humanen Phänomens, etwa der Freiheit, kommt in dieser
Hinsicht nicht um einen epistemologischen Perspektivenpluralismus
umhin, der die mentale und die materiale, aber auch die soziale und
kulturelle Dimension gleichermaßen in den Blick zu nehmen vermag.
So kann die offenkundig eigene Dynamik des Lebendigen, und insbe-
sondere diejenige der menschlichen Existenz, akzeptiert und adäquat
analysiert werden. Somit besteht auch kein bisweilen vermuteter Wi-
derspruch zwischen Naturalismus und Humanismus.17 Vielmehr kann
mit Blick auf das spezifisch Menschliche die Stellung des Menschen in
der Natur untersucht und bestimmt werden.
Übersicht über die Beiträge
Empirie und Kausalität
Eröffnet wird der Band von zwei programmatischen Beiträgen aus
biologischer Perspektive zur Rolle der Kausalit!t in den Lebenswissen-
schaften. Eingangs hinterfragt Jens Reich die Bedeutung des Anspruchs
kausaler Erklärungen in der Biologie. Kausalität und Determiniertheit
sind zwar wichtige heuristische Mittel, die in biologischen Experi-
menten großen Erkenntnisgewinn herbeiführen können. Gleichwohl
muss ihr Erklärungsanspruch begrenzt werden und darf nicht zu einem
„metaphysischen Postulat“ werden. Mit Blick auf die Debatten um die
menschliche Willensfreiheit und auf eine angemessene Untersuchung
des Bereichs des Lebendigen offenbaren sich die Beschränkungen
kausaler Erklärungen. Hier sind aufgrund der Hyperkomplexität der
untersuchten Prozesse und Organismen mit bestimmten (mentalen)
Eigenschaften kausale Erklärungsmuster schlichtweg unzureichend.
Damit ist eine zentrale Fragestellung des vorliegenden Bandes aufge-
zeigt: Wie lassen sich mit den Methoden der exakten Naturwissen-
schaften die Vorgänge des Lebendigen überhaupt angemessen be-
schreiben? Ein gut konzipiertes Experiment treibt jedenfalls, so Jens
Reich, „dem Leben das Leben aus“.
17 Darauf hat auch Nida-Rümelin deutlich hingewiesen (Nida-Rümelin, 2006,
bes. 28–35).
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 15
Andreas Herz unterzieht in seinem Beitrag die These vom „neuro-
nalen Determinismus“, mit dem die Behauptung der Unmöglichkeit
von Willensfreiheit gestützt werden soll, einer kritischen Überprüfung.
Zentrale Eigenschaften neuronaler Prozesse – insbesondere ihre Sto-
chastizität – führen ihn zu der Gegenthese, dass die Dynamik des Ge-
hirns insgesamt mit dem neuronalen Determinismus inkompatibel ist.
Dies erlaubt die Einschätzung, dass es für Organismen von Vorteil sein
kann, die Stochastizität neuronaler Dynamik zum Erschließen neuer
und besserer Handlungsoptionen zu nutzen. Eine kognitive Strategie,
die sich auf diese Weise im Verlauf der Evolution entwickelt hat,
empfinden wir subjektiv als Willensfreiheit.
Anschließend an diese theoretischen Klärungen werden empirische
Naturforschungen in den Blick genommen. Martin Heisenberg reflektiert
über die Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung.
Damit greift er die These der kausalen Unterbestimmtheit der Welt auf,
ohne daraus eine Verletzung der Physik abzuleiten. Vielmehr postuliert
Heisenberg die Existenz der Freiheit als Tatsache, an der Lebewesen
„mehr oder weniger“ Anteil haben können. Dies veranschaulicht er
anhand der Verhaltensbiologie der Tiere, wo sich Freiheit als wesent-
liches Element des Verhaltens in Form eines hohen Autonomiegrades
schon bei niederen Tieren zeigen kann. In dieser Hinsicht ist Freiheit
eine Eigenschaft eines bestimmten Zustandes, den wir Lebewesen zu-
schreiben können. Mit Blick auf die Freiheit genannte Qualität
menschlichen Verhaltens untersucht Heisenberg die Aspekte Urheber-
schaft und Entscheidung anhand der Fliege Drosophila.
Giovanni Galizia wendet sich nach einem Hinweis auf typische
Schwierigkeiten interdisziplinärer Arbeit und einem Plädoyer für einen
vorsichtigen Begriffsgebrauch zwischen den Wissenschaften der Be-
stimmung von Kompetenzen und Grenzen der Neurowissenschaften
zu. Dabei stellt er fest, dass sich zwar einzelne (freie) Entscheidungen
einer naturwissenschaftlichen Erklärung entziehen, dass aber die zu-
grunde liegenden Mechanismen sehr wohl einen wichtigen Gegenstand
der Neurobiologie darstellen. Im Folgenden widmet er sich der Frage,
wie Tiere Entscheidungen treffen und veranschaulicht seine Überle-
gungen anhand von Experimenten mit Bienen, in denen diese ein be-
stimmtes Verhalten erlernen. Mit Blick auf die problematische Frage
nach dem Bewusstsein bei Tieren weist Galizia auf grundlegende
Schwierigkeiten mit diesem Phänomen hin: Bewusstsein ist weder an
einen bestimmten Zeitpunkt noch an einen bestimmten Ort gebunden
16 Jan-Christoph Heilinger
und daher naturwissenschaftlich schwer zu untersuchen. Gleichwohl
plädiert er für die Annahme menschlicher Willensfreiheit.
Der Rolle des impliziten Wissens bei Entscheidungen geht Randolf
Menzel nach. Untersucht werden in diesem Zusammenhang die Ver-
bindung zwischen implizitem und explizitem Wissen sowie die Orga-
nisationsformen impliziten Wissens und die Auswirkungen desselben
auf die Verhaltenssteuerung. Eine zentrale Rolle spielt hier das Ar-
beitsgedächtnis, dessen drei wesentliche Funktionen – Prädiktion, Se-
lektion und Entscheiden – von Menzel unter Berücksichtigung der
ihnen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen analysiert werden.
Auf dieser Basis zeigt Menzel, dass die „Reichhaltigkeit und Komple-
xität der nicht bewusst werdenden Gehirnaktivitäten“ Raum für das
Gefühl einer bewussten und freien Willensentscheidung bestehen lassen.
Dieses Gefühl gründet somit gerade in der Unkenntnis der implizit
ablaufenden Operationen. Dennoch gilt es, die gegenwärtigen Grenzen
der Erkenntnis zu respektieren. Bevor die Biologie zu einem abschlie-
ßenden Urteil hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit kommen kann,
muss sie sich weiterhin mit der Suche nach den proximaten und ulti-
maten Ursachen von Wille und Freiheit befassen.
Julia Fischer thematisiert in ihrem Beitrag die Frage, ob Tiere nicht
nur kognitive Fähigkeiten zeigen, sondern darüber hinaus auch über
Metakognition verfügen, also Wissen über das eigene Wissen (und das
Wissen anderer) haben. Während heute allgemein angenommen wird,
dass Tiere über kognitive Fähigkeiten verfügen, sind Studien über die
Fähigkeit zur Metakognition noch recht selten. Für den Versuch, eine
Naturgeschichte der Freiheit nachzuzeichnen, spielt Fischers Hinweis
auf die evolutionären Ursprünge der Metakognition eine wichtige
Rolle. In Auseinandersetzung mit aktuellen Studien über metakognitive
Fähigkeiten bei Delphinen und Primaten und über die Verbindung von
Metakognition mit exekutiven Kontrollprozessen bei Tieren (etwa se-
lektive Aufmerksamkeit, Entscheidungen in Konfliktsituationen, Feh-
lerüberwachung und Impulskontrolle) kommt Fischer zu dem Schluss,
diese ermöglichten differenziertere Verhaltenssteuerung und damit
„womöglich auch größere Freiheitsgrade im Verhalten“. Somit trägt die
Untersuchung der Metakognition bei Tieren zum Verstehen (evoluti-
onär) zunehmender Freiheitsgrade bei.
Michael Stadler geht auf die Experimente von Benjamin Libet aus
dem Jahr 1983 (und ihre neueren Wiederholungen) ein und unterzieht
ihren Erklärungsanspruch einer kritischen Prüfung. Dabei stellt er fest,
dass vor allem aufgrund der problematischen Vermischung von physi-
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 17
kalischer und subjektiver Zeit, die über eine unterschiedliche Struktur
verfügen, der Geltungsanspruch der Experimente infrage gestellt wer-
den muss. Dagegen konzipiert Stadler ein den Libet-Experimenten
ähnliches Experiment, das aber auf die subjektive Zeitmessung ver-
zichtet und von einem umfassenderen psychophysischen Ansatz ausgeht.
Hierbei konnte eine Überlagerung des negativen Bereitschaftspotenzials
durch ein positives ereigniskorreliertes Potenzial nachgewiesen werden.
Ein Hinweis auf das zentralnervöse Biofeedback zeigt darüber hinaus
noch die Möglichkeit einer intraphänomenalen Beeinflussung zentral-
nervöser Vorgänge an, die in Libets Experimenten ebenfalls nicht
hinreichend berücksichtigt worden waren. Für die Frage nach der
Verantwortlichkeit für Handlungen haben die Libet-Experimente und
ihre neueren Ergänzungen zu einer differenzierteren Betrachtung ge-
führt, keinesfalls aber wird mit ihnen die Verantwortung des Menschen
für seine Handlungen unter Berufung auf die im Gehirn ablaufenden
Prozesse völlig abgeschafft.
Zwei weitere Aufsätze wenden sich den biologischen und neurologi-
schen Grundlagen von Freiheit und Verhalten zu. Ferdinand Hucho
zeichnet in seinem Beitrag die Signaltransduktion auf der molekularen
Ebene als eine Grundlage von Verhalten und damit als eine mögliche
Ursache von Freiheit aus, selbst wenn Freiheit, wie Hucho schreibt,
kein originärer Begriff der Naturwissenschaften sei. Freiheit in diesem
Sinne ist lediglich eine während der Evolution zunehmende neue
Qualität einer rein physikalischen Welt, eine emergente Eigenschaft
hyperkomplexer Systeme (Organismen), deren Grundbausteine – vor
allem Gene und Proteine – auf vielfältige Weise miteinander inter-
agieren. Hucho plädiert mit dieser Beschreibung dafür, Freiheit, Be-
wusstsein und Verhalten als biologisch zu erklärende Phänomene an-
zusehen. Diese These stützt er mit Belegen, die er durch die Analyse
zweier Entwicklungsschritte am Anfang der Evolution (Signaltrans-
duktion und Informationsspeicherung bei Einzellern) und durch einen
Blick auf unsere genetisch nächsten Verwandten (die Schimpansen)
gewinnt.
Der Beitrag von Gerhard Roth beginnt mit einer Kritik an einem
„starken“ Begriff der Willensfreiheit, den jedoch heute niemand mehr
ernsthaft vertreten könne. In Abgrenzung dazu entwickelt Roth eine
kompatibilistische Position, die von der Vereinbarkeit eines abgewan-
delten Willensfreiheitsbegriffs mit einem „motiv-deterministischen“
Ansatz ausgeht. Ziel seiner Studie ist es zu untersuchen, ob ein solcher
kompatibilistischer Begriff mit dem heutigen Stand der Naturwissen-
18 Jan-Christoph Heilinger
schaften verträglich ist. Ein Blick auf die Evolution zeigt, dass die drei
zentralen Fähigkeiten, die einen solchen kompatibilistischen Freiheits-
begriff kennzeichnen, im Verlauf der Entwicklung des menschlichen
Gehirns ausgebildet wurden. Diese sind die Fähigkeiten, (1) aufgrund
eigener Motive handeln zu können, (2) sich verschiedene Handlungs-
optionen und ihre Konsequenzen vorstellen und zwischen den Optio-
nen wählen zu können sowie (3) sich Ziele setzen und nach deren
Verwirklichung streben zu können. Anhand zentraler Ereignisse der
Hirnevolution stellt Roth die Herausbildung dieser Fähigkeiten dar, was
ihn – in Abschwächung früher von ihm vertretener Thesen – zu dem
Schluss führt, dass es zwar kein vollständig rationales menschliches
Handeln geben könne, dass aber gleichwohl innerhalb eines durch die
Persönlichkeit festgesetzten Rahmens menschliches Handeln frei sein
könne.
Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit
Die nächste Sektion des Bandes wendet sich den Bedingungen und
Konzeptionen von Freiheit zu. Kristian Kçchy eröffnet diese Sektion mit
einem Beitrag über das Problem der Selbstreferentialität, in dem die
methodologischen Vorgaben der kognitiven Neurowissenschaften mit
Blick auf das Freiheitsproblem auf den Prüfstand gestellt werden. Auf
diese Weise soll die Kompetenz der Biowissenschaften, einen Beitrag zu
einer „Naturgeschichte der Freiheit“ zu leisten, bestimmt werden.
Grundlegender geht es jedoch auch um die Bestimmung der Voraus-
setzungen jeglicher naturwissenschaftlicher Versuche, mentale Phäno-
mene zu untersuchen und zu erklären. Ausgangspunkt der Überle-
gungen Köchys ist die Diagnose einer prinzipiell selbstreferentiellen
Struktur bei der naturwissenschaftlichen Analyse des Lebendigen: Ein
lebendiges und daher selbstreferentielles System untersucht andere le-
bendige und daher selbstreferentielle Systeme und befindet sich damit in
einem besonderen Maße in einem selbstreferentiellen Akt. Akteur,
Mittel und Gegenstand der Analyse sind selbstreferentielle Systeme und
Beziehungen. Damit spricht Köchy explizit das Spannungsverhältnis
zwischen einer beschreibenden Außenperspektive und der Introspek-
tion an, welches eine zentrale Schwierigkeit in interdisziplinären De-
batten darstellt, die den zu untersuchenden (z. B. mentalen) Phänome-
nen aus beiden Perspektiven gerecht zu werden versuchen. Köchy
schließt mit einem Plädoyer dafür, die selbstreferentiellen Bedingungen
der neurowissenschaftlichen Forschungen stärker zu berücksichtigen.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 19
In einem weiteren Beitrag, der die Voraussetzungen einer „natur-
geschichtlichen“ Betrachtung der Freiheit zu klären versucht, setzt sich
Mathias Gutmann mit dem Verhältnis von Evolution und Naturge-
schichtsschreibung auseinander. Gutmann fragt hierbei, ob eine solche
Betrachtung den Begriff der Freiheit nicht bereits voraussetzt. In dieser
Absicht analysiert er die Grundzüge der Darwinschen Evolutionstheo-
rie, deren Entstehung er in ihrer engen Verbindung mit dem Modell der
künstlichen Züchtung vorstellt (bei Darwin dann: „natürliche Zucht-
wahl“). Mit seinen Ausführungen stützt Gutmann die anthropologische
These vom Menschen als einem geschichtlichen Wesen und versteht
Geschichte ihrerseits als reflexive Selbstartikulation des Menschen. In
diesem Sinne ist die Rede von einer „Evolution der Freiheit“ ein
metaphorischer Ausdruck für die Bestimmung des geschichtlichen
Wesens Mensch und damit die Voraussetzung für die Herausbildung
einer Theorie der Evolution.
Julian Nida-R"melin vertritt in seinem Aufsatz die These, dass
menschliche Freiheit aufgrund der naturalistischen Unterbestimmtheit
von Gründen – insbesondere von Handlungsgründen – existiert. Dies
gilt, weil Gründe nicht ohne einen Rest in Ereignisse und Zustände
zerlegt werden können, die naturwissenschaftlicher Forschung zu-
gänglich sind. Der Begründungszusammenhang, in dem ein handelndes
Individuum steht, stellt ein komplexes System dar, in dem naturalisti-
sche Erklärungen allein schlicht zu kurz greifen. Schließlich verfügen
handelnde Menschen über ,konative epistemische Einstellungen‘, also
begründete Stellungnahmen, die sie selbst mit Distanz reflektieren
können und die menschliche Freiheit und Verantwortung verständlich
machen. Damit argumentiert Nida-Rümelin für einen epistemischen
Kompatibilismus, insofern die naturwissenschaftlichen Erklärungen der
naturalistisch beschreibbaren Welt nicht für unzutreffend erklärt,
gleichzeitig aber Gründe aus dieser Beschreibung ausgeschlossen wer-
den, da sie nicht komplett naturalisierbar sind. Dementsprechend ver-
tritt Nida-Rümelin einen ontologischen Libertarismus, der vehement
für die Annahme der Existenz menschlicher Freiheit plädiert.
Michael Pauen vertritt in seinem Beitrag, der von einer kritischen
Auseinandersetzung mit der Position Nida-Rümelins ausgeht, die
These, die häufig getroffene Unterscheidung zwischen Ursachen und
Gründen liefere kein adäquates Freiheitskriterium und keinen prinzi-
piellen Einwand gegen den Naturalismus. Gleichwohl argumentiert er
dafür, dass die menschliche Fähigkeit, sich im Überlegen und Handeln
durch Gründe leiten zu lassen, eine notwendige und prinzipiell erfüll-
20 Jan-Christoph Heilinger
bare Bedingung menschlicher Freiheit darstellt. In kritischer Ausein-
andersetzung mit anderen Positionen der jüngeren Freiheitsdebatten
schlägt Pauen schließlich vor, nicht die Handlungswirksamkeit von
Gründen für die Unterscheidung zwischen freien und unfreien Hand-
lungen heranzuziehen, sondern stattdessen das Kriterium der persönli-
chen Präferenzen einzuführen. Dieses umfasst neben rationalen Grün-
den gleichzeitig auch Emotionen und Bedürfnisse einer Person. Eine
tatsächlich von den konstitutiven Präferenzen einer Person ausgehende
Handlung ist in diesem Sinne eine selbstbestimmte und damit freie
Handlung.
Julian Nida-R"melin reagiert auf die Kritik Pauens mit einer Replik,
die einige zusätzliche Erläuterungen seiner Position beinhaltet und dabei
die im ersten Beitrag aufgestellten Thesen erneuert.
Geert Keil verteidigt in seinem Beitrag den Libertarismus gegen
verschiedene „Mythen“, die mit Blick auf diese Position im Umlauf
sind. Der Libertarismus ist diejenige Position innerhalb der Debatten
um die menschliche Freiheit, die den Willen für frei, den Determinis-
mus für falsch und damit den Inkompatibilismus für zutreffend hält. Keil
benennt vier Typen von Argumenten gegen diese Konzeption – den
Mythos der Unbedingtheit, des Dualismus, des unbewegten Bewegers
sowie den Mythos der Lücke – und zeigt, inwiefern diese unzutreffend
sind. Anschließend setzt er sich mit einem schwerer wiegenden Argu-
ment gegen den Libertarismus auseinander (dem so genannten Zu-
fallseinwand), das nicht restlos widerlegt werden kann. Keil schließt
seinen Beitrag mit kritischen Ausführungen über die Möglichkeit einer
evolutionären Auseinandersetzung mit der Freiheit, die – zumindest für
den Libertarismus – keine bedeutsame Annäherung an das philosophi-
sche Problem der Willensfreiheit und insgesamt keine genuin philoso-
phische Fragestellung sei. Zwar ist eine Graduierbarkeit des Phänomens
Freiheit in mehrerlei Hinsicht anzunehmen, der positive Beitrag der
Philosophie im Bemühen um eine naturgeschichtliche Rekonstruktion
der Freiheit muss sich jedoch auf begriffliche Präzisierungen in kon-
struktiver wie kritischer Absicht beschränken.
Das Anliegen des Beitrags von Georg Northoff besteht darin, ein
relationales, neurophilosophisches Modell von Freiheit zu entwickeln.
Willensfreiheit, verstanden anhand der Kriterien der Verfügbarkeit von
Alternativen und anhand des Gefühls der Urheberschaft, stehe – so wird
häufig behauptet – im Widerspruch zum Determinismus. Letzterer lege
auch das Gehirn und die darin ablaufenden neuronalen Prozesse fest.
Gegen diese Position entwickelt Northoff sein relationales Modell von
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 21
Freiheit, in dem die unterschiedlichen Prozesse in der Beziehung zwi-
schen dem Organismus – einschließlich seines Gehirns – und der den
Organismus umgebenden Umwelt als zentral für die Möglichkeit der
Freiheit betrachtet werden. Freiheit heißt dann die Möglichkeit, ver-
schiedene bzw. alternative Organismus-Umwelt-Relationen entwi-
ckeln und erleben zu können. Diese These erläutert Northoff u. a. unter
Bezugnahme auf das Konzept der selbstreferentiellen Prozessierung und
veranschaulicht diese am Beispiel eines Alkoholabhängigen. Northoff
schließt seinen Beitrag mit erkenntniskritischen Bemerkungen über die
Grenzen unseres Wissens in Bezug auf die Freiheit, die durch die
Speziesabhängigkeit und die autoepistemische Limitation unserer Un-
tersuchungen festgelegt werden.
Im Beitrag von Olaf M"ller stehen die Experimente von Libet
stellvertretend für einen Typus neurowissenschaftlicher Forschung, der
mit empirischen Mitteln versucht, etwas über menschliche Freiheit
herauszufinden. Als metaphysisches Problem entzieht sich aber die
Freiheit einer solchen Betrachtung. Den empirischen Forschungser-
gebnissen möchte Müller eine philosophische Herausforderung entge-
gensetzen, indem er ein extremes Gedankenexperiment entwirft. Er
beschreibt zunächst hypothetisch die Situation eines Subjekts, das auf-
grund seiner naturwissenschaftlichen Überzeugungen berechtigterweise
einen durchgängigen kausalen Determinismus im Gehirn postuliert und
dessen Libet-Experimente für alle seine Handlungen fatal ausgehen.
Daraufhin zeigt er, dass die deterministische Neurowissenschaft in dieser
gedachten Situation gar nichts für oder gegen die Entscheidungsfreiheit
des Subjekts aussagen kann, weil sich die Entscheidungen des hypo-
thetischen Subjekts nicht dort abspielen, wo die Naturwissenschaft
hinzielt, sondern in einem Bereich jenseits dieser Naturwissenschaft.
Müller schreibt, sie fallen „ins gute alte Arbeitsgebiet der Metaphysik“.
Dieses Hilary Putnams Gedankenexperimenten verpflichtete Vorgehen
verweist darauf, dass die dominierende Deutung der neurobiologischen
Experimente auf starken naturalistischen Voraussetzungen beruht, die
jedoch nicht alternativlos sind. Somit bleibt entgegen einer die Freiheit
leugnenden Auslegung der Libet-Experimente die Annahme der Exis-
tenz menschlicher Freiheit als legitime Alternative bestehen.
22 Jan-Christoph Heilinger
Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit
Die letzte Sektion vorliegenden Bandes wendet sich Elementen einer
Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit zu. Eva-Maria Engelen prüft in
ihrem Beitrag die These des streng deterministischen Weltbildes, dass
alles Geschehen in der Welt nach Regeln ablaufe. In dieser Absicht
wendet sie sich der spezifischen Frage zu, ob sich Tiere ausschließlich
gemäß bestimmten Regeln bewegen, oder ob sie, wenn vielleicht auch
innerhalb bestimmter Grenzen, selbst Kontrolle über ihre Bewegungen
haben. Einen wichtigen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage
findet Engelen im Phänomen der „Impulskontrolle“. Diese ist als eine
Vorstufe der menschlichen Freiheit (als Selbstbestimmung aus eigenen
Gründen) zu verstehen. Nach begrifflichen Klärungen der Termini
„Notwendigkeit“, „Regelhaftigkeit“ und „Freiheit“ wendet sich En-
gelen dem Phänomen des Spiels bei Tieren zu. Ihre zentrale These
lautet: Spielen, das sich auch schon bei Tieren findet, ist Ausdruck von
Freiheit. Damit schlägt sie einen Ausgangspunkt für eine naturge-
schichtliche Betrachtung der Freiheit vor. Die Verbindung zur Sphäre
menschlicher Freiheit stellt Engelen abschließend mit Friedrich Schiller
her, denn dieser schreibt bekanntlich, der Mensch „ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt.“
Der Beitrag von Birgit Recki nimmt den Film King Kong von Peter
Jackson aus dem Jahr 2005 zum Anlass, um anhand der filmischen
Darstellung vier Schritte auf dem Weg zunehmender Vermenschli-
chung des Protagonisten nachzuzeichnen, in denen das Phänomen
„Spiel“ eine zentrale Rolle einnimmt. Auf der Basis einer „ersten
Regung“ von Freiheit – der „Befreiung vom bloßen Eindruck zum
artikulierten Ausdruck“ – sind diese vier Schritte der Menschwerdung
(1) das Wahrnehmen spielerischen Handelns bei anderen, (2) der Re-
spekt vor der Entscheidung und dem Willen des anderen, (3) das Er-
proben des eigenen (Handlungs-) Spielraums und (4) die Kontemplation
als freies Spiel der Erkenntniskräfte. Damit zeigt Recki, wie der Film als
Veranschaulichung anthropologischer Theoreme verstanden werden
kann: Nicht nur wird die genannte These vom Spiel als Medium der
Menschwerdung thematisiert, sondern der Film taugt – aufgrund seiner
realistischen Illusionsqualitäten – zugleich auch als Illustration eines
Naturalismus der Freiheit.
Norbert Meuter bemüht sich um eine Annäherung zwischen den
Perspektiven der Natur- und der Kulturwissenschaften bei der Aus-
einandersetzung mit dem Freiheitsbegriff. Der Perspektivendualismus ist
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 23
vor allem in pragmatischer Hinsicht gerechtfertigt und sollte daher nicht
ontologisch verstanden werden. In der Absicht, zu einer beide Per-
spektiven umfassenden „Metasprache“ beizutragen, sucht Meuter nach
möglichen gemeinsamen Bezugspunkten. Auf Seiten der Naturwis-
senschaften erläutert er daher – u. a. am Beispiel von Primaten, ihrem
Spiel und ihrem Symbolisierungsvermögen – die Komplexität neuro-
naler Systeme und sozialer Verhaltensweisen. Bezüglich der Kultur der
Freiheit erinnert Meuter an die in den einschlägigen jüngeren Frei-
heitsdebatten nicht berücksichtigte (lebensphilosophische) Konzeption
von Henri Bergson, die um die positive Bedeutung des Symbolischen
für die Prozesse der Identitätsbildung und Selbstbefreiung angereichert
werden kann. Der theoretische Rahmen für produktive interdisziplinäre
Forschung besteht daher nach Meuter maßgeblich in der Evolutions-
theorie als gemeinsamer Basis und in der Berücksichtigung der Eigen-
dynamik kultureller Symbolisierungen.
Matthias Jung diagnostiziert in den neueren interdisziplinären De-
batten zur Willensfreiheit eine explanatorische Weltverdoppelung und
dementsprechend eine missglückte Verständigung darüber, worin ei-
gentlich das Explanandum der Diskussionen besteht. Jung plädiert daher
für eine „dichte Beschreibung“ des untersuchten Phänomens, die der
Teilnehmerperspektive bei der Identifizierung des Explanandums – kei-
neswegs auch zwangsläufig bei dessen Erklärung – einen normativen
Vorrang einräumt. In dieser Absicht präsentiert er die Perspektive des
klassischen Pragmatismus als eine alternative Lesart. Hier lässt sich eine
Aufwertung lebensweltlicher Erfahrung und sinnhafter Strukturen in-
nerhalb eines evolutionistischen Rahmens finden. Der Pragmatismus,
wie Jung insbesondere anhand von John Dewey zeigt, betrachtet die
Naturgeschichte der Freiheit als einen kontingent-ergebnisoffenen
Prozess, in dem die Entwicklung der basalen Selektivität hin zu einer
echten Wahl vollzogen wird. Hiermit wird ein gemeinsamer Bezugs-
punkt für Philosophie und Neurowissenschaften angeboten.
Im Beitrag von Volker Gerhardt wird die Frage nach der Naturge-
schichte der Freiheit ausdrücklich in den Kontext der Frage nach dem
Leben gestellt. Gerhardt beginnt mit einer an Alltagserfahrungen an-
knüpfenden kleinen Phänomenologie der Freiheit, die das individuelle
Bewusstsein der Freiheit und Lebendigkeit betont. Ein solches Frei-
heitsbewusstsein ist grundsätzlich jedoch nur unter den Bedingungen
der Naturgesetzmäßigkeit denkbar. Eine Betrachtung der eigenen Dy-
namik des Lebendigen am Beispiel des Organismus – der hoch komplex
organisiert ist, auf vielfältige Weise mit der Umwelt interagiert und in
24 Jan-Christoph Heilinger
dem reflexive Prozesse ablaufen – führt Gerhardt zu seiner These von
der natürlichen Freiheit. Diese nimmt in der Spontaneität der Selbst-
organisation ihren Anfang und führt schließlich zur menschlichen
Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen. Bei alldem gilt
jedoch, dass der Kontext des Lebens und die Eigenarten des Lebendigen
allererst die Bedingungen schaffen, unter denen einen Naturgeschichte
der Freiheit zu verstehen ist. Somit erweist sich das Leben als das im
Vergleich zur Freiheit vorrangige Problem.
Danksagung
Mein herzlicher Dank für Diskussionen und kritische Anmerkungen zur
Einleitung gilt Volker Gerhardt, Matthias Jung, Asmus Trautsch und
besonders Verina Wild. Elke Witt und Nicole Wloka haben engagiert
und kompetent die gesamte editorische Arbeit an den Texten unter-
stützt und vorangetrieben. Im Verlag haben Gertrud Grünkorn, Renate
Mannaa und Christoph Schirmer die Entstehung des Bandes mit Rat
und Tat begleitet, und in der Akademie wäre die Arbeit der AG Hu-
manprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur ohne die Unterstüt-
zung von Renate Neumann und Regina Reimann undenkbar gewesen.
Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!
Bibliographie
Anderson, Michael L. (2003): Embodied Cognition: A Field Guide. In: Arti-
ficial Intelligence (149), 91 – 130.
Anderson, Michael L. (2007, i. Ersch.): How to Study the Mind: An Intro-
duction to Embodied Cognition. In: Santoianni, Flavia/Sabatano, Claudia
(Hg.): Brain Development in Learning Environments: Embodied and Perceptual
Advancements. London: Cambridge Scholars Press.
Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. #ber die Entdeckung des eigenen
Willens. München/Wien: Hanser.
Birnbacher, Dieter (2006): Nat"rlichkeit. Berlin/New York: de Gruyter.
Cartwright, Nancy (1983): How the Laws of Physics Lie. Oxford: Oxford
University Press.
Donald, Merlin (2002): A Mind so Rare. The Evolution of Human Consciousness.
New York: Norton.
Dupré, John (2001): Human Nature and the Limits of Science. Oxford: Oxford
University Press.
Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit 25
Gehring, Petra (2004): Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und die welt-
bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft. In: Philosophische Rund-
schau (51), 273 – 293.
Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualit!t. Stutt-
gart: Reclam.
Geyer, Christian (Hg.) (2004), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der
neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Haggard, Patrick/Eimer, Martin (1999): On the Relation Between Brain Po-
tentials and the Awareness of Voluntary Movements. In: Experimental Brain
Research (126), 128 – 133.
Hampe, Michael (Hg.) (2005): Naturgesetze. Paderborn: Mentis.
Kambartel, Friedrich (1984): Artikel „Naturgeschichte“. In: Ritter, Joachim
(Hg.): Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel: Schwabe, 526 –
527.
Keil, Geert (1993): Kritik des Naturalismus. Berlin/New York: de Gruyter.
Keil, Geert (2000): Handeln und Verursachen. Frankfurt am Main: Klostermann.
Libet, Benjamin (1985): Unconscious Cerebral Initiative and the Role of
Conscious Will in Voluntary Action. In: The Behavioral and Brain Sciences
(VII), 529 – 539.
Libet, Benjamin (2005): Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Libet, Benjamin/Gleason, Curtis A./Wright, Elwood W./Pearl, Dennis K.
(1983): Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of
Cerebral Activities (Readiness Potential): The Unconscious Initiation of a
Freely Voluntary Act. In: Brain (106), 623 – 642.
Nida-Rümelin, Julian (2005): #ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2006): Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel.
München: C.H. Beck.
Plinius der Ältere (Hist. nat.): Naturkunde (lateinisch-deutsch). Hg. und übersetzt
von Roderich König. Darmstadt 1973 – 2004: Heimeran.
Roth, Gerhard (2001): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard (2003): Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Schlick, Moritz (1930): Wann ist der Mensch verantwortlich? In: Schlick,
Moritz: Fragen der Ethik. Frankfurt am Main 1984: Suhrkamp, 155 – 166.
Singer, Wolf (2003): Ein neues Menschenbild? Gespr!che "ber Hirnforschung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wingert, Lutz (2004): Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten mit dem
Bionaturalismus. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfrei-
heit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
194 – 204.
I. Empirie und Kausalität
Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie
JENS G. REICH
Kausalit!t und Determiniertheit sind heuristische Annahmen, die der Sinn-
haltigkeit biologischer Experimente dienen. Ihre Setzung als metaphysisches
Prinzip im Bereich des Mentalen ist nicht "berzeugend begr"ndet.
Mit den neuen neurobiologischen Verfahren ist es möglich geworden,
Bewusstseinsvorgänge, die zuvor nur über den Weg der Reportage aus
der Perspektive der ersten Person studiert werden konnten, der direkten
Untersuchung aus der Perspektive der dritten Person zugänglich zu
machen. Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung und mehr noch die
Aussichten in die Zukunft, die sie eröffnen, haben zu einem erheblichen
Naturalisierungsschub bei der Aufklärung psychologischer und philo-
sophischer Probleme geführt, der eine lebhafte Kontroverse ausgelöst
hat.
Ein zentraler Streitpunkt dieser Debatte ist die Frage, ob bewusst
erwogene Entscheidungen und ihre Umsetzung in Handlungen frei sein
können. Immer wieder wird argumentiert, dass neuronale Prozesse ihr
Korrelat in Gehirnprozessen haben und ihrem Wesen nach determiniert
ablaufen. Die Freiheit von Willensentscheidung und Handlungsent-
schluss sei deshalb ein subjektiv konstruiertes Phänomen. Die Mög-
lichkeit, Kausalketten aus dem Bewusstsein heraus in Gang zu setzen, sei
ebenso illusionär wie die Vermutung, man könne wirklich auch anders
gehandelt haben, hätte sich anders entschieden können. Die zur Debatte
stehenden Vorgänge laufen im modular organisierten, massiv parallel
informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerk des Gehirns ab.
Eingeräumt wird, dass diese Prozesse so komplex sind, dass es auf lange
Zeit hin und vielleicht für immer unmöglich sein wird, sie genau zu
verstehen und vorherzusagen. Das jedoch ist eine Entscheidung, die
nicht „aus dem Lehnstuhl heraus“ vorentschieden werden kann, son-
dern nur als Ergebnis des Forschungsprogramms, das den Phänomenen
eine natürliche Beschreibung geben soll. Wenn dies gelungen sein wird,
dann wird für die geheimnisvolle kausale Kraft des Bewusstseins ebenso
wenig Raum sein wie im vergleichbaren Fall für die „vis vitalis“, wenn
die physikochemische Beschreibung der Physiologie etwa der Leber-
30 Jens G. Reich
oder Nierenfunktion vollständig sein wird. Bewusstsein und freier Wille
sind dann alltagstaugliche Zusammenfassungen von emergenten Ma-
kroeigenschaften komplexer Vorgänge auf der physikochemischen
Mikroebene.
Ebenso wie die meisten anderen Biologen bin ich fasziniert von
dem Forschungsprogramm, das kognitive und Bewusstseinsprozesse mit
objektiven neurobiologischen Verfahren studiert. Wir werden in den
kommenden Jahrzehnten viel Neues erfahren. Es wird auch viel
Denkstoff für Anthropologen, Psychologen und Philosophen geben.
Konzepte wie die Einheit des individuellen Selbstbewusstseins etwa
oder die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption (Kant,
1968, B 132) wird man auf dem Hintergrund der neuen Tatsache
darstellen müssen, dass es im Gehirn keine cartesische Bühne für diese
Einheiten gibt.
Verwunderlich erscheint mir allerdings die Leichtigkeit, mit der wir
Biologen als Teilnehmer dieser Diskussion dazu neigen, die kausale
Determination von einem methodisch-heuristischen Prinzip, das wir
erfolgreich bei der Gewinnung und Ordnung von Wissen voraussetzen,
in ein metaphysisches Postulat umsetzen. Ich meine, wir überziehen
seinen Geltungsbereich.
Diese letzte Aussage möchte ich in mehrerlei Hinsicht diskutieren und
erläutern:
1) Kausaler Determinismus ist methodische Voraussetzung jeder bio-
logischen Erkenntnis ( jeder?).
2) Wir leiten unser heuristisches Kausalprinzip aus dem Programm der
Reduktion von Biologie auf klassische physikochemische Grundla-
gen ab, ohne dass wir uns auf die modernen Probleme in diesen
Fächern einlassen.
3) Das vom Physikalismus abgezogene Determinismusprinzip ist nur
nach a-biologischer Zurichtung des biologischen Objekts ver-
wendbar.
4) Die empirische Unterfütterung des Determinismusprinzips reicht
nicht aus, um weitreichende metaphysische Folgerungen plausibel zu
machen.
Zu 1): Es gibt hervorragende biologische Erkenntnis ohne Inan-
spruchnahme des Determinismus-Postulates. Die klassische Biologie
nahm zunächst die Welt, wie sie uns erscheint, und beobachtete. Dieser
heute absterbende oder in den Hintergrund rückende Zweig der Bio-
Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie 31
logie bedurfte überhaupt nicht des Postulats, dass jeder Ablauf auch
anders verlaufen könnte. Der Anatom ebenso wie der „Naturalist“
beschrieben die Strukturen und Bewegungen, die sie sahen, und
konnten ihnen trotz ihrer Regelhaftigkeit durchaus das Erscheinungs-
bild des nicht notwendig Ablaufenden lassen. Einer der Gipfelpunkte
dieser Epoche waren die „Vögel Amerikas“ von John James Audubon –
prächtige Zeichnungen und Gemälde von lebenden Tieren in der Il-
lusion der Spontaneität ihres vitalen Verhaltens (Audubon, 1994). Nach
Ursachen und Wirkungen wird da nicht gefragt: Stattdessen wird die
Kreation wundervoller Phänomene durch die Natur als Kunstwerk
beschrieben.
Auch die gesamte Evolutionslehre war zu Anfang eine historische
Beschreibung dessen, was vorgefallen war. Sie begann mit den Fossili-
enfunden vergangener Lebensformen, mit gigantischen Reptilien z. B.,
die es zu historischer Zeit nie gegeben hatte, und legte eine sich selbst
definierende Zeitskala über die Phänomene (z. B. zur Frage, wie lange
es gedauert haben mag, bis eine offensichtlich durch Ablagerung ent-
standene Kalkschicht entstanden war). Mit Hilfe von Zeitzuordnung
und Phänomenologie betrieb man Naturgeschichte, ganz analog wie der
Historiker aus Zeitangaben und erinnerten Ereignissen Universalge-
schichte ableitet. Selbst Darwins Evolutionstheorie konnte die kausale
Beschreibung nur induktiv und extrapolierend einführen, nämlich in
Form seines universellen Ausleseprinzips. Sie blieb jedoch offen, da er
die verursachenden Agenten für die beobachtete universelle Variation
nicht ausfindig machen konnte.
Zu 2): Determinismus als methodisch notwendiges Postulat trat erst mit
dem Siegeszug der experimentellen Biologie in den Vordergrund. Um
glaubwürdig zu sein, muss ein biologisches Experiment wiederholbar
sein. Hinter dem Postulat der Reproduzierbarkeit steht daher denk-
notwendig das Postulat der Determiniertheit, nämlich dass sich natür-
liche Prozesse im Experiment so einrichten lassen, dass sie determiniert
ablaufen. Wo das nicht vollständig gelingt, versieht man die Aussage mit
statistischen Schwankungsbreiten und anderen Spezifikationen, die das
Postulat der Determiniertheit vor Falsifizierung schützen. Eine nicht
reproduzierbare Aussage wird ins Reich der grundlosen Spekulation
oder bestenfalls der Hypothesen verwiesen.
Die experimentelle Methode ist Teil des Reduktionsprogramms
von Biologie auf physikochemische Elementarwelt. Das Determinis-
muspostulat, das dieses Programm mit sich bringt, setzen wir unkritisch
32 Jens G. Reich
als metaphysisches Prinzip an und sehen über die epistemischen und
ontologischen Probleme der modernen Physik hinweg. In der Quan-
tenmechanik zieht sich das Postulat auf die Aussage zurück, dass die
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen und nicht deren Realisierung
streng determiniert sei. Es gibt sogar Wissenschaftler, die das Kausali-
tätsprinzip der unbelebten Welt ablehnen (wie Bertrand Russell, oder
vor ihm Ernst Mach: „In der Natur gibt es keine Ursache und keine
Wirkung“ (Mach, 1988)). Es gibt andere Wissenschaftler, die den ge-
setzesstrengen Determinismus bestreiten (z. B. N. Cartwright „How the
Laws of Physics lie“ (Cartwright, 1983)). Gegen den strengen kausalen
Determinismus ist also bereits in Physik Skepsis angebracht oder zu-
mindest Erklärungsbedarf anzumelden.
Zu 3): Das gut konzipierte Experiment treibt zuvor dem Leben das
Leben aus. Es konstruiert eine geschlossene Teilwelt, die plausibel als
von der gesamten Biosphäre und des sonstigen Universums hinreichend
isoliert angesehen werden darf, und bemüht sich um die Herstellung
einer möglichst ausnahmslosen Sukzessionsbeziehung zwischen Auslöser
und Effekt. Es gibt kein Experiment, das eine Aussage der Natur, wie sie
ist, ermöglicht, sondern eine Aussage, die ihr abgepresst wurde. Oft
kann man die Natur zur Antwort zwingen und diese „verwenden“ – oft
jedoch weicht die Natur geschickt einer klaren Antwort aus.
Beim interpretierenden Übergang vom Experiment in die natürli-
che Welt verflüchtigt sich die Kausalität. Den isolierten Vorgang kann
ich noch plausibel als kausale Sukzessionsbeziehung beschreiben, im
gesamten System gelingt das nicht mehr. Das ist übrigens bereits in der
klassischen Physik der Fall. Jeder der unzähligen Himmelskörper übt die
Gravitationskraft auf jeden anderen aus, und jeder ist Ursache der Be-
schleunigung aller anderen und damit seiner eigenen. So auch in der
Biologie: In dem gigantischen Netzwerk von „wechselwirkenden“
Faktoren, den Genen, den Genprodukten, den niedermolekularen or-
ganischen Effektoren, den membranösen Strukturen und dem osmo-
tisch-ionischen wässrigen Milieu, in dem alles Leben sich abspielt, ist für
die gradlinige kausale Interpretation kein Platz mehr. Die Schwierigkeit
liegt nicht nur darin, dass die vorhandenen Kausalketten so komplex
sind, dass Vorhersagen unsicher bis unmöglich werden, analog zum
chaotischen Verhalten des Wetters oder zum nicht-linearen Dreikör-
perproblem in der Physik. Es trifft nicht zu, dass zwar die Vorhersag-
barkeit leide, die Kausalität aber intakt sei, sondern schon deren Kon-
struktion funktioniert überhaupt nicht. Die Imputation von Kausalität
Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie 33
erscheint als reine Willkür im Auge des Betrachters. Schon die ein-
fachste Regulationsschleife hat einen Zweig, in dem Vorwärts-„wir-
kung“ stattfindet, die durch Rückwärts-„wirkung“ begrenzt wird. Es ist
beliebig, was man hier als Ursache und was als Wirkung klassifiziert,
zumal noch dazu alles Geschehen nicht als Sukzession erscheint, son-
dern im „steady-state“ jedes lebenden Systems gleichzeitig stattfindet.
Die mathematische Beschreibung mit der Zeit als laufender Meister-
variable und Evolution nach Setzung von Anfangs- und Randbedin-
gungen ist nur dort adäquat, wo das biologische Experiment als phy-
sikalisierter Sonderfall vorliegt. In jeder auf Ganzheitlichkeit zielenden
Betrachtung, also der eigentlich adäquaten eines biologischen Systems,
müssen wir rekursive Abbildungen von Zustandsfunktionen sowie
implizite funktionale Beziehungen zwischen Parametern und Varia-
blenzuständen einführen, wo die Definition von Ursache und Wirkung,
also von unabhängigen und abhängigen Größen, reduktionistische
Willkür bedeutet. Auf die Spitze formuliert: Es gibt keine metaphysi-
sche Kausalität, sondern nur die heuristische und dabei notwendig re-
duktionistische Anwendung des Kausalprinzips als Beschreibungsform
des experimentellen Ansatzes.
Zu 4): Die Schwierigkeit, von den unzähligen Einzelbefunden auf eine
kohärente und schlüssige Gesamtsicht zu kommen, dokumentiert die
„Unschärferelation“, dass jedes Experiment die Natur verändert oder
von ihr hinreichend isoliert ist. Wie immer die Synthese einst gelingen
oder misslingen mag, die Übertragung des heuristischen Prinzips der
kausalen Bestimmtheit aus der experimentellen Sphäre in den mentalen
Bereich ist eine metaphysische Setzung, die nicht zwingend ist.
Ich behaupte also, dass das kausale Gesetzesprinzip in der Biologie
sowohl empirisch wie theoretisch unzureichend fundiert ist. Seine
Extrapolation in die unüberschaubar komplexe Welt der menschlichen
Bewusstseinsphänomene ist nicht zulässig. Dies könnte sich ändern – ich
bin kein Mystiker, der ihnen die objektive Erklärbarkeit prinzipiell
abspräche. Ignoramus – Ignorabimus: Das erste trifft zu, und das zweite
ist Vermutung.
34 Jens G. Reich
Bibliographie
Audubon, John J. (1994): Die Vçgel Amerikas. Hanau: Werner Dausien.
Cartwright, Nancy (1983): How the Laws of Physics Lie. Oxford/New York:
Oxford University Press.
Kant, Immanuel (1968): Kritik der reinen Vernunft. Berlin/New York: Akade-
mie Verlag.
Mach, Ernst (1988): Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion?
ANDREAS V. M. HERZ
Zusammenfassung
Verschiedentlich ist die Meinung geäußert worden, dass Willensfreiheit
allein schon deshalb eine Illusion sein muss, weil bewusste wie unbe-
wusste Entscheidungen vollständig durch neuronale Prozesse bestimmt
und diese deterministischen Gesetzen unterworfen seien. Im folgenden
Beitrag wird dieser auch als „Neuronaler Determinismus“ bekannte
Denkansatz im Hinblick auf seine physikalische Plausibilität und logi-
sche Stringenz hin betrachtet. Dabei wird deutlich, dass die zugrunde
liegenden Annahmen aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar
sind. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Fragen der Wil-
lensfreiheit werden kurz angerissen und ein pragmatischer Lösungsan-
satz im Rahmen der Evolutionären Spieltheorie skizziert.
1. Alle neuronalen Prozesse unterliegen
thermischen Fluktuationen
Lebensvorgänge laufen bei Temperaturen oberhalb des absoluten
Nullpunktes ab. Damit sind sie thermischen Schwankungen ausgesetzt
und müssen in letzter Konsequenz als stochastische Prozesse beschrieben
werden. Die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses
gehorchen dabei zwar deterministischen Gesetzen; ob das Ereignis je-
doch auch eintritt, und wann dies geschieht, ist unvorhersagbar. Zu-
sätzlich stellt ein Organismus kein abgeschlossenes System dar, sondern
steht andauernd mit seiner beliebig hochdimensionalen Umwelt in
Verbindung. Aus beiden Gründen kann die zukünftige Entwicklung
eines Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangs-
bedingungen nicht exakt vorausgesagt werden.1
1 In einem komplementären Ansatz leitet J.R. Searle diese Erkenntnis aus der
Quantennatur der Welt ab (Searle, 2001). Sein Ansatz ist radikaler und damit
36 Andreas V. M. Herz
Thermische Fluktuationen mögen sich in großen Systemen nähe-
rungsweise herausmitteln und deshalb auf den ersten Blick nicht sichtbar
sein, sie sind jedoch dennoch immer vorhanden. Diese Situation ist in
gewisser Weise mit der Erkenntnis vergleichbar, dass Quanteneffekte
selbst in makroskopischen Systemen existieren. Damit kann die Struktur
der Welt prinzipiell nicht mit Konzepten der klassischen Physik erklärt
werden (siehe unter anderem Baumann/Sexl, 1984), vollkommen un-
abhängig von der Tatsache, dass viele makroskopische Prozesse auch
ohne Quantenphysik präzise beschrieben werden können: Es ist eben
ein fundamentaler qualitativer Unterschied, ob das Plancksche Wir-
kungsquantum von Null verschieden ist oder nicht, seine Größe wirkt
sich „nur“ darauf aus, wie offensichtlich Quanteneffekte sind. In ähn-
licher Weise ist es von grundlegender Bedeutung, dass Lebensvorgänge
bei von Null verschiedenen absoluten Temperaturen ablaufen und
deshalb als nicht-deterministische Prozesse begriffen werden müssen.
Nervensysteme sind jedoch nicht nur prinzipiell als Systeme mit
stochastischer Dynamik aufzufassen; die thermischen Fluktuationen sind
so groß, dass sie direkt in physiologischen Experimenten messbar sind.
Dies betrifft insbesondere die Erzeugung von Aktionspotentialen und
die synaptische Übertragung dieser Nervensignale (siehe unter anderem
Johnston/Wu, 1994; Schneidmann et al., 1998). In beiden Fällen
können selbst unter optimalen experimentellen Bedingungen Schwan-
kungen von Versuchsdurchgang zu Versuchsdurchgang auftreten. Der
Grund für diese Variabilität liegt darin, dass sowohl die Erzeugung eines
Aktionspotentials als auch die Ausschüttung von Neurotransmittern aus
einem synaptischen Vesikel keine kontinuierlichen Vorgänge sondern
„Alles-oder-Nichts“ Prozesse sind: Ein neuronales Aktionspotential
wird entweder erzeugt oder nicht erzeugt, ein synaptisches Vesikel
entweder entleert oder nicht entleert. In beiden Fällen handelt es sich
um sprunghafte Übergänge zwischen diskreten Zuständen. Damit
auch umfassender als der hier vorgestellte Zugang, der mir dennoch aus zwei
Gründen vorteilhafter erscheint: Zum einen wird das gleiche Ziel erreicht – die
Erkenntnis, dass die zukünftige Entwicklung der inneren Zustände eines Or-
ganismus nicht exakt vorhersagbar ist – ohne dass konzeptionell schwierige
Gedankengänge der Quantenphysik zu Hilfe gezogen werden müssen. Zum
anderen sind thermische Fluktuationen unter Normalbedingungen so groß, dass
sie makroskopisch messbare Konsequenzen in neuronalen und anderen biolo-
gischen Systemen haben. Die grundlegende Notwendigkeit einer stochasti-
schen Beschreibung von (verhaltens-)physiologischen Prozessen ist damit auch
intuitiv verständlich.
Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? 37
können selbst geringste thermische Schwankungen zu makroskopischer
Variabilität führen. Dieses Phänomen muss bei jedem Schwellenwert-
Prozess mit stochastischen Komponenten auftreten, und ist dann be-
sonders stark ausgeprägt, wenn das System in der Nähe seiner Schwelle
operiert. Umgekehrt wirkt sich die Variabilität von Schwellenwert-
Prozessen umso weniger aus, je weiter entfernt das System von der
Schwelle operiert. Damit können beispielsweise elektronische Schalt-
elemente durch entsprechendes Design mit einer beliebig kleinen
Fehlerrate operieren. Doch kann die Variabilität nie exakt auf Null
heruntergedrückt werden.
An dieser Stelle mag man sich fragen, ob die stochastische Natur
neuronaler Prozesse nur ein unerwünschter Nebeneffekt der Tatsache
ist, dass Lebensprozesse nicht am absoluten Nullpunkt stattfinden. Oder
sind Fluktuationen unter funktionellen Gesichtspunkten vielleicht sogar
hilfreich? In letzter Zeit haben sich eine ganze Reihe von Wissen-
schaftlern mit dieser Frage auseinandergesetzt und in verschiedenen
Organismen Hinweise dafür gefunden, dass viele neuronale Prozesse
nicht fern sondern in unmittelbarer Nähe der betreffenden Schwellen-
werte ablaufen. Diese Beobachtung betrifft auch Nervenzellen der
Großhirnrinde, die unter in-vivo Bedingungen knapp unterhalb der
Schwelle zur Auslösung von Aktionspotentialen operieren. Dieser
Netzwerkzustand ist dynamisch ausbalanciert, so dass kleine Fluktua-
tionen durch Rückkopplungseffekte verstärkt und große Aktivitäts-
schwankungen gedämpft werden. Damit führen selbst identische äußere
Stimuli zu von Reizwiederholung zu Reizwiederholung deutlich un-
terschiedlichen Antworten (Destexhe/Contreras, 2006).
Einige Forscher argumentieren sogar, dass eine stochastische Dy-
namik in idealer Weise geeignet sei, um die probabilistische Natur
sensorischer Information in neuronalen Systemen zu repräsentieren und
mit früheren Gedächtnisinhalten zu verrechnen (Ma et al., 2006):
Sinneseindrücke geben oft nur ein unvollständiges und mit Unsicher-
heit behaftetes Bild der Umwelt. Man denke nur an eine Autofahrt, bei
der man in dichten Nebel oder starken Regen geriet. In diesen Situa-
tionen müssen unzuverlässige Signale unserer Sinnesorgane mit früher
gespeicherter Information abgeglichen werden. Oft muss sogar die
Verlässlichkeit des sensorischen Signals selbst (im Vergleich zum Vor-
wissen) abgeschätzt werden, um erfolgreich agieren zu können. Aus der
Technik ist weiterhin bekannt, dass stochastische Algorithmen bei der
Lösung schwieriger Optimierungsprobleme große Vorteile gegenüber
deterministischen Varianten bieten, da Barrieren um lediglich lokal
38 Andreas V. M. Herz
optimale Lösungen mit Hilfe zufälliger Schwankungen überwunden
werden können. Einige dieser Algorithmen lassen sich direkt auf Mo-
delle neuronaler Netzwerke abbilden (Hopfield/Tank, 1985). Bei all
diesen komplexen Entscheidungsprozessen könnte eine intrinsisch
stochastische Repräsentation im Nervensystem von Vorteil sein, was
dann auch erklären würde, warum viele neuronale Prozesse in der Nähe
von Schwellenwerten ablaufen. Doch selbst wenn sich diese Interpre-
tation als unzulänglich herausstellen sollte, bleibt die Tatsache, dass die
neuronale Dynamik des Gehirns aus prinzipiellen Gründen stochasti-
schen Fluktuationen ausgesetzt ist und diese Fluktuationen von be-
trächtlicher Größe sind.
2. Die Dynamik des Gehirns ist inkompatibel
mit neuronalem Determinismus
Wenn aber neuronale Prozesse thermischen Fluktuationen unterliegen,
dann kann die Dynamik des Gehirns nicht als deterministischer Prozess
aufgefasst werden. Vielmehr muss sie als probabilistischer Vorgang
verstanden werden. Da sich die Fluktuationen nicht exakt herausmitteln
können, betrifft diese einfache Erkenntnis alle Ebenen neuronaler Or-
ganisation – von subzellulären Prozessen bis zu Erregungsmustern des
gesamten Gehirns. Dies bedeutet insbesondere, dass Versuche, die
Entscheidungsprozessen zugrunde liegenden neuronalen Abläufe als
deterministische Vorgänge zu beschreiben, nicht haltbar sind. Als Bei-
spiel für diese trotz ihrer Unzulänglichkeit immer wieder propagierte
Sicht sei das folgende Zitat genannt:
Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt,
fortwährend nach den je optimalen Verhaltensoptionen zu suchen. Sie
wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer Architektur durch
genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt
wurden. Um zu entscheiden, stützen sie sich auf eine ungemein große Zahl
von Variablen: auf die aktuell verfügbaren Signale aus der Umwelt und
dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch
emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In dutzenden, räum-
lich getrennten aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Er-
regungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft, und,
falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem
es schließlich einen Sieger geben wird. Das Erregungsmuster setzt sich
durch, das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht. Dieser
distributiv angelegte Wettbewerbsprozess kommt ohne übergeordneten
Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? 39
Schiedsrichter aus. Er organisiert sich selbst und dauert solange an, bis sich
ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als
Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der
vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die Oberhand gewinnt, ist
demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweils
unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns.
Falls diese Bedingungen Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche
Folgezustände erlauben, dann können auch zufällige Schwankungen in der
Signalübertragung zum Tragen kommen und dem einen oder anderen
Zustand zum Sieg verhelfen. (Singer, 2004)
Der vorletzte Satz der zitierten Passage ist ganz im Geist des Determi-
nismus der klassischen Mechanik gehalten, in der die zukünftige Ent-
wicklung eines abgeschlossenen Systems durch seine Dynamik („spe-
zifische Verschaltung“) und Anfangsbedingungen („Gesamtzustand des
Gehirns“) eindeutig festgelegt ist. Entscheidungsprozesse werden also
auf neuronale Vorgänge zurückgeführt, ohne dass deren stochastische
Natur berücksichtigt würde – der zentrale Fehlschluss im „neuronalen
Determinismus“. Dieser Zugang widerspricht nicht nur den eingangs
beschriebenen Fakten, er wird zudem im letzen Satz des Zitats sofort
wieder relativiert, wo nun doch die Existenz von „zufälligen Schwan-
kungen“ eingeräumt wird. Diesen soll aber nur in ausgewählten Si-
tuationen („gleich wahrscheinliche Folgezustände“) eine verhaltensre-
levante Bedeutung zukommen, eine Einschränkung, die physikalisch
gesehen unverständlich bleibt.
Das Konzept des „neuronalen Determinismus“ scheint demnach
ungeeignet, menschliche Entscheidungsprozesse zu beschreiben: Dieses
Konzept ist weder mit physikalischen Erkenntnissen verträglich noch ist
es ohne innere Widersprüche. Damit kann der neuronale Determinis-
mus vor allem auch nicht dafür eingesetzt werden, die subjektiv er-
fahrene Willensfreiheit als Illusion zu entlarven. Vielmehr ist der
„Neuronale Determinismus“ selbst eine Illusion.
Zur Vollständigkeit sei noch erwähnt, dass, selbst wenn das Gehirn
ein deterministisches System wäre, dieses aufgrund der vielen Rück-
kopplungsschleifen und starken Nichtlinearitäten mit hoher Wahr-
scheinlichkeit ein im mathematischen Sinn chaotisches System wäre,
und damit in seiner dynamischen Entwicklung nicht vorhersagbar:
„Auch wenn das Gehirn deterministisch funktioniert, ist es in seiner
Komplexität niemals vollständig beschreib- und verstehbar.“ (Rösler,
2004). Doch ist dieser Aspekt von nachrangiger Bedeutung, da das
Gehirn permanent thermischen Fluktuationen ausgesetzt ist und daher
prinzipiell nicht als deterministisches System aufgefasst werden kann.
40 Andreas V. M. Herz
3. Neuronale Fluktuationen,
Handlungsspielräume, Willensfreiheit
Nachdem gezeigt ist, dass das Konzept eines neuronalen Determinismus
aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist, stellt sich die Frage,
welche Konsequenzen die prinzipielle Unbestimmtheit neuronaler
Prozesse für die Diskussion der Willensfreiheit hat. Unbestimmtheit und
Freiheit sind ja zwei unterschiedliche Dinge.
Wenn man (wie im neuronalen Determinismus) davon ausgeht, dass
Bewusstsein, Gefühle und Willensakte durch neuronale Vorgänge be-
dingt sind – eine sehr starke Annahme, die hier aber nicht weiter
hinterfragt werden soll – ergibt sich folgendes Bild: Wegen der Un-
bestimmtheit neuronaler Vorgänge ist auch das verhaltensrelevante
Ergebnis eines Entscheidungsprozesses nicht eindeutig festgelegt. In
„einfachen“ Fällen, bei denen für eine von zwei oder mehreren Ent-
scheidungsoptionen deutlich mehr (neuronal repräsentierte) Argumente
sprechen, wird die Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit dieser
unter den gegebenen Bedingungen besten Option folgen. Wegen der
auf allen Ebenen neuronaler Organisation auftretenden Fluktuationen
muss dies jedoch nicht unbedingt so sein. Zufällig können andere und in
ihren Konsequenzen schlechtere Entscheidungsalternativen realisiert
werden, was subjektiv im Nachhinein als Fehlentscheidung empfunden
werden mag. Zu diesen „einfachen“ Fällen zählen viele Entschei-
dungsvorgänge des alltäglichen Lebens: Es spricht beispielsweise einiges
dafür, eine stark frequentierte Straße nicht blindlings zu Fuß zu über-
queren.
Komplexere Entscheidungsaufgaben zeichnen sich dadurch aus, dass
alternative Handlungsoptionen schwerer bezüglich ihrer Vor- und
Nachteile eingeschätzt werden können. Dies kann daran liegen, dass die
Anzahl der entscheidungsrelevanten Komponenten steigt, das Wissen
über diese Komponenten nicht verlässlich ist oder die Konsequenzen
der verschiedenen Handlungsoptionen nicht übersehen werden kön-
nen. Geht man wie schon weiter oben davon aus, dass Entschei-
dungsprozessen neuronale Vorgänge zugrunde liegen, so bedeutet dies,
dass bei komplexen Aufgaben viele neuronale Repräsentationen akti-
viert werden und so die Variabilität von Entscheidungen stark anwächst.
Unabhängig von ihrer Komplexität steht der Ausgang einer Entschei-
dung also nie eindeutig fest; mit zunehmender Komplexität wird es aber
immer wahrscheinlicher, dass eine ungünstige Handlungsoption zur
Ausführung kommt.
Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? 41
Dieses prinzipielle Unvermögen, in schwierigen Situationen opti-
male Entscheidungen verlässlich zu treffen, stellt eine starke Ein-
schränkung der Anpassungsfähigkeit eines biologischen Organismus dar.
Interne neuronale Bewertungssysteme erlauben es jedoch (auch wenn
sie selbst ebenfalls fehlerhaft sind), die Vor- und Nachteile früherer
Entscheidungen zu analysieren und darauf aufbauend Lernprozesse zu
initiieren, die die Wiederholung einer „falschen“ Entscheidung zwar
nicht ausschließen, sie aber deutlich verringern können. Die aktive
Exploration verschiedener Handlungsoptionen wird dabei durch die
stochastische Natur neuronaler Prozesse unterstützt und trägt zusammen
mit Lernprozessen dazu bei, zukünftige Fehlerraten zu verringern.
Es ist damit für einen Organismus von Vorteil, über Mechanismen
zu verfügen, die die Stochastizität neuronaler Dynamik geschickt nut-
zen, um neue und bessere Handlungsoptionen zu eröffnen. In diesem
Sinn könnte im Lauf der Evolution schrittweise eine kognitive Strategie
entstanden sein, die wir selbst als Willensfreiheit empfinden: Die
prinzipielle neuronale Unbestimmtheit von Entscheidungsprozessen
muss dann nicht mehr fatalistisch als eine uns aufgezwungene Willkür
empfunden werden, sondern kann subjektiv als Chance interpretiert
werden, in zukünftigen Situationen neue Wege einzuschlagen (auch
wenn diese nur teilweise unserer Kontrolle unterliegen). Daraus ergibt
sich eine grundlegend veränderte motivationale Situation, die Lern-
prozesse gezielt fördern und so die Wahrscheinlichkeit nachteiliger
zukünftiger Entscheidungen verringern kann.
Es wäre eine interessante Herausforderung, zu untersuchen, unter
welchen Umständen das hier skizzierte Szenario eine im Sinne der
Evolutionären Spieltheorie (Maynard Smith, 1982) „evolutionär stabile
Strategie“ darstellt: Könnte es gar sein, dass allein schon die Annahme
einer eigenen Willensfreiheit dem einzelnen Individuum auf lange Sicht
Vorteile verschafft, die von alternativen Verhaltensstrategien nicht
übertroffen werden können? Dann wäre jeder schlecht beraten, der
aufhörte, von Freiheit zu reden, selbst wenn diese vielleicht letztlich nur
eine Illusion ist.
Post Scriptum: Unbefriedigend bleibt im jetzigen Ansatz, dass aus
dem rein pragmatischen Konstrukt „Freiheit“ keine Handlungsverant-
wortung abgeleitet werden kann. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass
hier eine umfassende Analyse der oben angesprochenen Lernprozesse
unter Berücksichtigung ihres sozialen Kontextes neue Einsichten liefern
wird.
42 Andreas V. M. Herz
Dank
Volker Gerhardt danke ich herzlich für die Einladung zu einem Vortrag
im Rahmen der Arbeitsgruppe „Humanprojekt – Zur Stellung des
Menschen in der Natur“ und sein beharrliches Drängen, zentrale
Punkte des Vortrags in schriftliche Form zu gießen. Wolf Singer bin ich
für das lebhafte Gespräch zum Thema „Neuronaler Determinismus“ am
Rande der 94. International Titisee Conference „The dynamical brain“
(Boehringer Ingelheim Fonds, November 2006) dankbar, Benedikt
Grothe, Peter Hammerstein, John-Dylan Haynes, Michael Pauen und
Dominik Perler für kritische und überaus hilfreiche Anmerkungen zu
früheren Versionen des hier vorgelegten Textes.
Bibliographie
Baumann, Kurt/Sexl, Roman U. (1984): Die Deutungen der Quantentheorie.
Braunschweig: Vieweg.
Destexhe, Alain/Contreras, Diego (2006): Neuronal Computations with
Stochastic Network States. In: Science (314), 85 – 90.
Hopfield, John J./Tank, David W. (1985): Neural Computation of Decisions
in Optimization Problems. In: Biological Cybernetics (52), 141 – 152.
Johnston, Daniel/Wu, Samuel M. (1994): Foundations of Cellular Neurophysiol-
ogy. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Ma, Wei J./Beck, Jeffrey M./Latham, Peter E./Pouget, Alexandre (2006):
Bayesian Inference with Probabilistic Population Codes. In: Nature Neu-
roscience (9), 1432 – 1438.
Maynard Smith, John (1982): Evolution and the Theory of Games. Cambridge:
Cambridge University Press.
Rösler, Frank (2004): Es gibt Grenzen der Erkenntnis – auch für die Hirn-
forschung! In: Gehirn und Geist (6), 32.
Schneidmann, Elad/Freedman, Berry/Segev, Idan (1998): Ion Channel Sto-
chasticity may be Critical in Determining the Reliability and Precision of
Spike Timing. In: Neural Computation (10), 1679 – 1703.
Searle, John R. (2001): Free Will as a Problem in Neurobiology. In: Philosophy
(72), 298.
Singer, Wolf (2004): Entscheidungsgrundlagen: Keiner kann anders als er ist.
Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (6), 33.
Naturalisierung der Freiheit
aus Sicht der Verhaltensforschung
MARTIN HEISENBERG
Naturgesetz und Zufall
Im 19. Jahrhundert, als die Wirklichkeit noch als vollständig determi-
niert angesehen werden und man sich vorstellen konnte, dass es für alles
lückenlose Ursachen gäbe, jede Veränderung also vom Beginn bis zum
Ende des Universums im Prinzip zu jeder Zeit feststünde, war es na-
heliegend, ja vielleicht sogar denknotwendig, die Freiheit im Protest
gegen diese Doktrin oder als „Alleinstellungsmerkmal“ des Menschen
mit der Verletzung der Naturgesetze in Verbindung zu bringen. Da
aber, wie uns die Physik des 20. Jahrhunderts lehrt, die Fäden von
Ursachen und Wirkungen wegen der Quantenunbestimmtheit nicht
von Anfang bis Ende durchgehen, sondern anfangen und abreißen, muss
man heute die Verletzung der Physik als Bedingung für Freiheit nicht
mehr fordern. Was immer wir unter Willensfreiheit verstehen, die
Zukunft ist offen. Es kann objektiv einen Unterschied für den Lauf der
Welt machen, ob wir uns Mühe geben oder nicht.
Mir ist bewusst, dass der Widerstand gegen die Ursachenlosigkeit
unter den Philosophen immer noch groß ist. Aber die Annahme, man
könne das Plancksche Wirkungsquantum unterlaufen, d. h. es gäbe
unterhalb der Elementarteilchen noch eine weitere Ebene der Analyse,
auf der man eines Tages z. B. die konkrete hinreichende Ursache für das
einzelne Ereignis im b-Zerfall werde finden können, ist in der Physik
intensiv diskutiert worden. Man denke nur an Einsteins berühmtes
„Gott würfelt nicht!“. Heute sind die meisten Physiker der Meinung,
die Annahme einer solchen weiteren Ebene sei mit der Physik unver-
einbar, und die Suche danach wurde eingestellt. Ich finde die Ursa-
chenlosigkeit nicht so skandalös, wenn ich mir klar mache, dass die
Physik eine Abstraktion ist, und mir die schier unendliche Kreativität
dieses Daseins vergegenwärtige. Das verbissene Festhalten an der Vor-
stellung, nichts geschehe ohne hinreichende Gründe, ist das Relikt einer
44 Martin Heisenberg
schon seit 100 Jahren überwundenen Fehlinterpretation der Naturwis-
senschaften. Ich werde jedenfalls die mögliche Ursachenlosigkeit von
Ereignissen für meine weiteren Ausführungen voraussetzen. Freiheit
macht nur unter dieser Prämisse Sinn.
Zufall und Freiheit
Erst wenn man den Determinismus ganz und gar abgeschüttelt hat, kann
die Freiheit wieder selbstverständlich werden. Sie ist Teil unserer
Wirklichkeit, eine Qualität des Lebens, ein Element unserer Existenz.
Sie gibt es einfach, wie es Gedanken, die Temperatur oder das Licht
gibt. So wie der Zufall an allen Vorgängen in der belebten und unbe-
lebten Natur seinen Anteil hat, einmal mehr, einmal weniger, so haben
die Lebewesen mehr oder weniger Anteil an der Freiheit. Wir schreiben
Lebewesen Zustände zu, und zu den Eigenschaften solcher Zustände
gehört die Freiheit. Man entlässt einen Vogel, der sich ins Haus verirrt
hat, in die Freiheit. Man spürt die Freiheit nicht wie Kälte oder
Schmerz, aber man reagiert auf den Mangel oder Überfluss dieser ele-
mentaren Bedingung unseres Daseins äußerst empfindlich. Zu viel und
zu wenig davon können Gewalt, Angst oder Depression auslösen. Dem
Gefühl der Freiheit lässt sich nicht immer trauen, aber eine Welt ohne
Freiheit lässt sich nicht denken. Wäre denn z. B. das Denken selbst ohne
Freiheit möglich? Kann sich nicht jemand einfach Freiheit nehmen,
außer man tötete ihn? Die Freiheit steht nicht zur Disposition, trotz der
verbreiteten Zweifel unter Neurobiologen (vgl. Roth, 2004; Singer,
2006).
Freiheit als Thema der Biologie
Nicht erst die Soziologie, Pädagogik, Ökonomie oder Jurisprudenz,
sondern auch die Humanbiologie würde ihrem Gegenstand nicht ge-
recht werden, wenn sie die Freiheit im menschlichen Verhalten aus-
zuklammern oder zu leugnen versuchte. Schon in der Verhaltensbio-
logie der Tiere lässt sich die Freiheit nicht übersehen. Im Gegenteil: Aus
diesem Thema kann man Gewinn für die biologische Forschung ziehen.
Ich will im Folgenden Beispiele aus der Gehirn- und Verhaltensfor-
schung schildern, die schon bei Tieren die Freiheit als wesentliches
Element des Verhaltens erkennen lassen. Vielleicht können meine
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 45
Ausführungen dazu beitragen, unter Biologen und Gehirnforschern die
verbreiteten Missverständnisse über Freiheit zu beseitigen.
Wenn man den Determinismus nicht ganz abgeschüttelt hat, kann
die Beschäftigung mit den Naturgesetzen leicht zu der Vorstellung
führen, dass alles, was prinzipiell der naturwissenschaftlichen Betrach-
tung entgeht, nicht eigentlich Teil der Wirklichkeit sein könne. Aus
dieser Einstellung resultiert m. E. oft die oben erwähnte Ablehnung der
Freiheit unter Naturwissenschaftlern.
Das Argument gegen die Freiheit scheint mir etwa so zu lauten:
Alles Abwägen von Gründen geschieht im Gehirn. Dort gibt es Ner-
venzellen, Botenstoffe und Ionenströme. Was man mit diesem Inventar
im Prinzip machen kann, wissen wir schon. Es kommen dabei nur
Verursachungen vor, und sollte aufgrund der Quantenmechanik doch
einmal etwas unverursacht geschehen, so wäre das der reine Zufall. Aber
weder verursachte Handlungen noch solche, die durch einen Zufalls-
prozess im Gehirn ausgelöst wurden, bezeichnen wir als frei. Und etwas
Drittes gibt es nicht. Zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall ist kein Platz
für etwas Drittes. Wenn es nicht die Gründe sind, die einer der
Handlungsalternativen den Zuschlag verschaffen, kann es nur der Zufall
sein.
Das Erlebnis der Freiheit ist keine Illusion
Wer die Freiheit im Verhalten ablehnt, bezeichnet das Erlebnis der
Freiheit in der Regel als Illusion (Wegner, 2002). Illusionen kennen wir
z. B. aus Zaubervorstellungen oder aus der Sinnesphysiologie. Dort
spielen sie eine wichtige Rolle. Wir bezeichnen die Deutungen von
eigenen Erfahrungen als Illusionen, wenn sie im Widerspruch zu einem
großen in sich konsistenten Verbund anderer Erfahrungsdeutungen
stehen. So z. B. die Halluzinationen, die sich mit unzähligen Erfah-
rungen anderer, wie auch mit anderen Erfahrungen der Patienten selbst,
nicht in Einklang bringen lassen. So wird auch nicht das Erlebnis der
Freiheit in Frage gestellt, sondern seine Deutung als wirkliche Freiheit
in unseren Handlungen. Aber mit welchen anderen Erfahrungsdeu-
tungen sollte die der relativen Handlungsfreiheit im Konflikt stehen?
Die Erfahrung, dass nichts ohne Gründe geschehe, kann hier sicher
nicht angeführt werden. Sie gibt es nicht. Das entsprechende Postulat ist
46 Martin Heisenberg
ein theoretisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts.1 Wir erleben oft Er-
eignisse ohne hinreichende Gründe und die Physik bescheinigt uns seit
der Quantenmechanik, dass das keine Illusion sein muss. In Wirklich-
keit ist die überwältigende Erfahrung, dass wir fast immer ohne hin-
reichende Gründe handeln. Unser Verhalten ist so „fehlerfreundlich“,
dass selbst ein völlig unvorhersehbarer neuer Grund im letzten Moment
noch berücksichtigt werden kann. So zufallsdurchtränkt wie die Er-
gebnisoffenheit ist auch schon das Abwägen von Gründen. Die Erfah-
rung von relativer Handlungsfreiheit kann also nicht als Illusion ein-
gestuft werden, weil es keinen anderen Erfahrungsschatz gibt, zu dem
sie in Widerspruch steht.
Naturgesetze und Einmaligkeit
Die Naturgesetze sind nicht die Natur. Unser persönliches Dasein ist ein
existenzielles Ereignis, ein Einzelfall. In den Umständen, in denen wir
leben, sind wir mit der Bewältigung von lauter Einzelfällen beschäftigt.
Unsere Wahrnehmungen und Gefühle, unsere Gedanken und Erinne-
rungen, unser Bewusstsein und unsere Freiheit sind zunächst solche
singulären Lebensmomente. Sie gibt es einfach, wie es diesen Baum und
jenen Bach, diese Wolke oder den Abendstern gibt. Das ist der meta-
physische Hintergrund, vor dem sich das Dasein abspielt. Untrennbar
davon, aber doch erst in zweiter Linie, können wir unser Dasein re-
flektieren, unsere Erfahrungen in Begriffe fassen, darüber nachdenken,
miteinander reden und schließlich auch Wissenschaft betreiben.
Selbst wenn in der naturwissenschaftlichen Mikroanalyse der
Handlungsfreiheit nur Verursachungen und Zufälle auftreten, ist die
Handlungsfreiheit deswegen nicht weniger wirklich. Auch bei der
Mikroanalyse der Temperatur finden wir nur die Bewegung von
Atomen und Molekülen. Wer würde behaupten, dass es die Temperatur
deswegen in Wirklichkeit nicht gäbe. Dann könnte man uns ja auch den
Schmerz ausreden, der ja „in Wirklichkeit“ nur eine Kette physiolo-
gischer Vorgänge im Gehirn sei. Handlungen können in Wirklichkeit
unfreie und freie Handlungen sein.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass viele Menschen immer noch eine
Verletzung der Physik als notwendige Bedingung von Handlungsfrei-
1 Ältere theologische Vorstellungen der Allmacht Gottes seien hier übergangen,
so interessant sie in diesem Zusammenhang auch sind.
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 47
heit ansehen. Es macht m. E. keinen Sinn anzunehmen, wir könnten
mit jedem Willensakt die Physik aus den Angeln heben. Mir ist noch
kein seriöser Gehirnforscher begegnet, der zur Begründung der
Handlungsfreiheit im Gehirn nach Verletzungen der Physik sucht. Wir
nehmen immer nur Verursachungen und Zufälle an. Eine Verletzung
der Physik ist, wie gesagt, seit der Quantenmechanik nicht mehr nötig.
Um diese kurze Positionierung zusammenzufassen: Die Willens-
freiheit lässt sich nicht durch naturwissenschaftliche Befunde im Gehirn
widerlegen. Freiheit hat mit Risiko und Möglichkeit zu tun. Es geht
darum, dass wir, die Akteure, existenzielle Subjekte sind. „Bin so frei!“
sagt der Wiener.
Was ist diese Qualität menschlichen Verhaltens, die wir Freiheit
nennen? Ich will vier Aspekte nennen: Die Urheberschaft, das Wollen, die
Entscheidung und die Gedankenfreiheit. In der Verhaltensbiologie oder
Bio-Psychologie können alle diese Aspekte untersucht werden. Es
versteht sich, dass wir im Gehirn immer nur Verursachungen und
Zufälle am Werk finden werden, vermutlich in faszinierendem Zu-
sammenspiel. Dieses Zusammenspiel könnte sich bei der ergebnis-
offenen Abwägung von Gründen in menschlichen Angelegenheiten als
unentwirrbar erweisen. Ich will aber auch nicht bei den Psychologen
„wildern“, sondern lieber Beispiele aus meinem Erfahrungsbereich
bringen – der Gehirnforschung an der Fliege Drosophila. Zwei so
wichtige Elemente unserer Freiheit wie die Urheberschaft und die Ent-
scheidung findet man schon bei den niederen Tieren.
Urheberschaft
Würde nichts ohne hinreichende Ursachen geschehen, wäre es unsin-
nig, jemandem Urheberschaft zuzuschreiben. Wo sollte man die un-
endliche Kette der Verursachungen durchtrennen? Ist jedoch die Ur-
sachenlosigkeit erst einmal zugestanden, können die Gründe vollständig
im jeweiligen Individuum liegen. Mit dieser theoretischen Klarstellung
wollen wir uns dem raffinierten Gemisch von Gründen und Zufällen
zuwenden, das wir Urheberschaft nennen. Dazu muss ich weit ausho-
len.
Die Gene sichern den Entwicklungsweg vom befruchteten Ei bis
zum ausgereiften Gehirn. Viele Gene sind dabei unentbehrlich, ohne sie
bricht die Entwicklung zusammen. Man kann vom genetischen Ent-
wicklungsprogramm sprechen, wenn man dabei z. B. an das Programm
48 Martin Heisenberg
eines Kindergeburtstags denkt. Der Ablauf muss immer wieder kon-
trolliert, gebündelt, stabilisiert und mit Information versorgt werden. Im
genetischen Programm der Gehirnentwicklung gibt es aber auch Fle-
xibilität und Freiräume. Eine durch einen Unfall abgestorbene Ner-
venzelle kann u. U. durch eine andere ersetzt werden. Der Embryo passt
sich frühzeitig an die jeweiligen Lebensumstände an und in jeder Ent-
wicklung sorgen kleine und größere Zufälle für die Einmaligkeit des
jeweiligen Lebewesens, selbst bei eineiigen Zwillingen mit gleichem
Erbgut. Die Gene sind weitgehend dafür zuständig, dass aus dem Ei
einer Meise wieder eine Meise entsteht, aus dem eines Finken ein Fink.
Im Zeitalter der Genomik haben die Gene viel von ihrem mysti-
schen Flair verloren. Im Prinzip glauben wir zu verstehen, was die Gene
für das Gehirn und das Verhalten leisten. Jedes Gen ist die Bauvorschrift
für ein oder mehrere Proteine. Diese bestimmen direkt oder im Ver-
bund mit dem Stoffwechsel die Eigenschaften der Zellen. Mit der
Entstehung höherer Lebewesen haben die Zellen vielfältige Formen der
Kommunikation untereinander entwickelt. Viele Nervenzellen sind
zusätzlich auf besonders rasche Signalübertragung im Bereich von
Millisekunden spezialisiert.
Eine der Errungenschaften dieser Kommunikation sind Nerven-
netze aus einigen Dutzend oder einigen tausend Zellen, die Sequenzen
von Muskelaktivierungen programmieren können, die der Verhaltens-
forscher als Verhaltensmodule kennt, wie das Greifen des Säuglings, die
Silben des Vogelgesangs oder die rhythmische Bewegung der Beine
beim Laufen. Manche Module, wie der Herzschlag, dauern von der
Embryonalzeit bis zum Tod. Andere, wie das Zuschlagen der Kiefer des
Krokodils, dauern nur Bruchteile von Sekunden. Einige können parallel
zueinander ablaufen, wie Gehen und Singen, einige verhindern sich
gegenseitig, wie Schlafen und Klavier spielen, wieder einige schließen
notwendig aneinander an, wie das Landemanöver des Vogels, der nur so
das Fliegen beenden kann, usw. Das Leben von Tieren und Menschen
ist von Anfang bis Ende ein fortlaufendes Geflecht solcher Verhaltens-
module. Viele dieser Verhaltensakte sind stereotyp, wie die Lautmuster
der meisten Insekten und vieler Vögel. Andererseits können auch Tiere
schon lernen, Verhaltensmodule zu Sequenzen zusammenzusetzen und
ihren Ablauf zu perfektionieren.
Andere Nervennetze kontrollieren das Auftreten und die Fein-
struktur dieser Bausteine, indem sie z. B. Hormone in die Körperflüs-
sigkeiten oder Modulatoren direkt in das Nervensystem abgeben.
Wieder andere bereiten die Kontrollnetzwerke mit vorverarbeiteten
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 49
Daten auf ihre Kontrollfunktionen vor und passen das ganze System
mittel- und langfristig den Umständen und den damit verbundenen
wechselnden Erwartungen an die Zukunft an. Diese Kontrolle ist
weich, d. h. sie verändert die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten
der Verhaltensmodule.
Eine der ursprünglichsten Wurzeln der Verhaltensfreiheit ist der
hohe Grad der Autonomie von Lebewesen. Fast alle Prozesse, die in
einem Organismus ablaufen, beziehen sich auf den Organismus selbst.
Der Austausch mit der Umgebung erscheint im Vergleich dazu zweit-
rangig. Eine kleine Veränderung der Temperatur führt zu einer Fülle
von Vorgängen im Organismus, die dafür sorgen, dass ihm daraus kein
Nachteil erwächst. Organismen unterhalten Heerscharen von Schutz-
maßnahmen gegen Fremdeinwirkung, nicht nur als Reaktionen, son-
dern auch als Vorsorge. Ein Beispiel für diese Autonomie ist die Fä-
higkeit, zwischen selbst- und fremdverursachten Sinnesreizen zu un-
terscheiden. Die Autonomie ist der entscheidende Grund, warum Or-
ganismen Urheber sein können. Sie können von sich aus Verhaltens-
module aktivieren, ohne Anstoß von außen. Für das Gehirn gilt in ganz
besonderem Maße, dass es vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist.
Diese initiale Aktivität werden wir gleich noch ausführlicher betrachten.
Hinsichtlich ihrer Verhaltensfreiheiten stellen autonome Wesen
höchst spezifische Ansprüche an ihr Erbgut. Genetische Fehler können
die Autonomie einschränken, die Menge der Verhaltensoptionen ver-
kleinern, aber auch das Verhalten erratischer machen und damit die
Qualität des Entscheidungsprozesses beeinträchtigen. Mit anderen
Worten, unsere Gene ermöglichen einerseits überhaupt erst unsere
Freiheit, andererseits begrenzen sie sie und können sie in krassen Ein-
zelfällen auch weitgehend verhindern.
Über die Freiheit des Ortes
Kaum etwas hat das Verhalten so sehr geformt wie die Fortbewegung
im Raum. Als Hinweis auf die Verhaltensfreiräume, die sich durch die
Fortbewegung auftun, wird Niels Bohr sinngemäß mit dem Ausspruch
zitiert, man könne kein Auto bauen, das nur von Hamburg nach Bre-
men zu fahren in der Lage wäre. Die Freiheit des Ortes geht vermutlich
bis auf die Frühphase der Evolution zurück, als der Wettbewerb zwi-
schen chemischen Verbindungen durch den Wettbewerb zwischen
Membranbläschen abgelöst wurde, die frei im Wasser der Urmeere
50 Martin Heisenberg
suspendiert waren. Die Tiere haben dieses Prinzip der örtlichen Un-
gebundenheit nicht aufgegeben, im Gegensatz zu den ortsfesten
Pflanzen. Dadurch kann sich für die Tiere einerseits die Umgebung viel
schneller und radikaler ändern als für Pflanzen, andererseits besitzen sie
ein einzigartiges Mittel dieser Herausforderung zu begegnen: die aktive
Fortbewegung. An die Freiheit des Ortes lassen sich die beiden Fragen
„Frei wovon“ und „Frei wozu“ sinnvoll stellen. Tiere sind frei von
einem bestimmten Ort, und sie sind in der Lage, Orte aufzusuchen. Die
Struktur des Raumes bedingt, dass kleinste Unterschiede in der Rich-
tung nach einer gewissen Zeit der Vorwärtsbewegung zu weit ausein-
ander liegenden Orten führen.
Tiere sind im Prinzip aktiv, und nur deswegen können sie auch
passiv sein. Unsere Sprache verfügt über eine aktive Form des Verbs, die
in der Regel angibt, dass ein Wesen aus seiner Autonomie heraus und
von sich aus initial etwas tut (Heisenberg, 1983). Die Amsel pickt an
einem Wurm, die Schildkröte springt ins Wasser. Unter dem Einfluss
des Determinismus war aus der initialen Aktivität heimlich eine Re-
aktivität gemacht worden. Nach dem Motto: „Von nichts kommt
nichts!“ hatte die Verhaltensforschung versucht, die initiale Aktivität als
mangelndes Wissen des Beobachters wegzuerklären. Aber so wie heute
noch die Motorik ihre Unabhängigkeit von der Sensorik dadurch do-
kumentiert, dass sie jener in der Entwicklung ein wenig vorausgeht, so
war vermutlich auch in der Naturgeschichte die Entwicklung der
Motorik von der Sensorik zunächst unabhängig, weil schon allein die
Verbreitung im Raum aktive Mobilität evolutionär begünstigte. Wie
dem auch immer gewesen sein mag, die initiale Aktivität ist ein
Grundelement der Freiheit des Ortes und überhaupt der Verhaltens-
freiheit.
Verhaltensmodule können, wie gesagt, ohne Anstoß von außen
aktiviert werden (Heisenberg/Wolf, 1979), was nicht heißt, dass diese
Aktivierung keine physiologischen Ursachen hätte. Nur muss sie auch
ein Element des Zufalls enthalten. Die Aktivierung antwortet nicht auf
einen Reiz oder ein anderes Verhalten, sondern sucht nach einer
Antwort, nach noch unbekannten Wirkungen, die neue Möglichkeiten
eröffnen. Verhalten um zu…, das nennt man im Fachjargon operant.
Darunter fallen die verschiedensten Formen des Suchens und Auspro-
bierens. Operantes Verhalten gehört zu den elementarsten Grundlagen
des Verhaltens überhaupt (Wolf/Heisenberg, 1991).
Im Ausprobieren erklärt sich das Verhalten nicht aus seinen Ursa-
chen, sondern aus seinen Konsequenzen. Das Tier muss seinen Zustand
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 51
vor und nach dem Verhaltensakt mit einem erstrebten Zustand ver-
gleichen. Verringert sich der Abstand zwischen dem aktuellen Zustand
und dem erstrebten, setzt das Tier das Verhalten fort, vergrößert er sich,
bricht es das Verhalten ab und probiert etwas anderes. Beim Auspro-
bieren kann das Tier etwas über die Folgen seines Verhaltens lernen und
damit u. U. später unangenehmen Situationen zuvorkommen. Diese
Leistung wird operante Konditionierung genannt und kann bei Droso-
phila in den verschiedensten Versuchsbedingungen studiert werden.
Entscheidung
Man kann der Meinung sein, schwierige moralische Entscheidungen
treffen zu können sei eine rein menschliche, soziokulturelle Leistung.
Wenn man hier die Betonung auf die Moral legt, mag das so zutreffen.
Trotzdem muss gelten, dass unser Gehirn das Abwägen von Gründen
ermöglicht. Wir können also – mit Blick auf eine mögliche Naturge-
schichte der Freiheit – die Verhaltensbiologie fragen, was sie über die
Entscheidung weiß. Die Antwort ist überraschend: Die Organisation
der Entscheidung ist stammesgeschichtlich vermutlich so alt, dass wir sie
fast überall im Tierreich vorfinden. Tiere können nicht nur Verhal-
tensmodule initial aktivieren, sondern auch Vorgänge im Gehirn, so
z. B. Repräsentationen der möglichen Folgen von Verhaltensoptionen,
um sie mit möglichen Folgen anderer Verhaltensoptionen zu verglei-
chen. Ein Beispiel, aus dem hervorgeht, dass schon im Drosophila-Ge-
hirn Verhaltensmodule angeborenermaßen mit ihren möglichen Kon-
sequenzen repräsentiert sind, ist die sogenannte schnelle Phototaxis, die
Flucht zum Licht.
Wenn nichts Dringendes ansteht, putzen Fliegen sich. Dabei spielen
die Flügel eine wichtige Rolle; stäubt man sie ein, verlängert sich das
Flügelputzen – Flugbereitschaft ist offenbar sehr wichtig. Warum ren-
nen die Fliegen in engen, dunklen Röhren zum Licht, wenn man sie
erschreckt? Vermutlich, weil sie dort wegfliegen können. Auf dem
Boden, im Dunkeln lauert Gefahr. Sie verraten uns mit ihrer Flucht
zum Licht, dass ihnen die Konsequenzen des eigenen Verhaltens
„einprogrammiert“ sind. Diese Schlussfolgerung wird erst so richtig
deutlich, wenn man die Flügel mit einem winzigen Tropfen Zucker-
wasser oder Klebstoff zusammenklebt. Das Laufen wird dadurch nicht
beeinträchtigt. Aber die Flucht zum Licht findet nicht statt. Egal wie
man den Gebrauch der Flügel verhindert, durch Amputation, Muta-
52 Martin Heisenberg
tionen in den Flugmuskel-Proteinen oder Blockade des Flugkontroll-
netzwerks, wenn das Fliegen nicht funktioniert, flüchtet die Fliege nicht
zum Licht, und sie hat auch keinen Anlass das zu tun (erwähnt in
Heisenberg/Wolf, 1984).
Entscheidungen setzen also offenbar initiale Gehirnaktivität voraus.
Diese kann man bei Drosophila direkt sichtbar machen: Die Fliege kann
z. B. ihre Aufmerksamkeit selektiv auf bestimmte Stellen in ihrem
Sehfeld lenken. Meist folgt sie mit ihrer Orientierung rasch nach. Aber
das können wir experimentell verhindern. Im folgenden Versuch hängt
sie starr an einem Messgerät, das die Drehmomente aufzeichnet, mit
denen sie im freien Flug ihre Rechts- und Linkskurven ausführen
würde. Wenn man in dieser Situation links von der Fliege einen
schwarzen Balken hin und her bewegt, versucht die Fliege dieser Be-
wegung mit charakteristischen Manövern zu folgen, die sich in den
beiden Phasen, in denen der Balken sich mit der Flugrichtung der Fliege
beziehungsweise gegen sie bewegt, unterscheiden. Wiederholt man das
Experiment auf der anderen Seite, beobachtet man das entsprechende
Verhalten, welches sich im Drehmoment natürlich spiegelsymmetrisch
zeigt. Nun kommt der entscheidende Versuch: Wir präsentieren der
Fliege jetzt zwei Balken, einen links, einen rechts, symmetrisch zur
Mittelachse, und bewegen diese Balken im Gleichtakt hin und her,
immer zusammen nach vorn und nach hinten. Was macht die Fliege?
Sie bezieht sich mit ihren Flugmanövern eine Weile lang auf den einen
Balken, dann auf den anderen. Sie blendet wechselnde Teile des Seh-
feldes aus (Wolf/Heisenberg, 1980). Das Fliegengehirn generiert also
von selbst, d. h. unabhängig vom Verhalten und von spezifischen Sin-
nesreizen, hoch geordnete, verhaltensrelevante Aktivität.
Ziele
Wenn Tiere ausprobieren, haben sie auch Ziele. Damit können Tiere,
wie wir, Absichten und Wünsche, vielleicht auch in bescheidenem
Maße Hoffnungen haben. Der Regenwurm probiert aus, wo er am
besten durch das Erdreich dringt, der Vogel, ob ein neuartiges Material
sich für sein Nest eignet. Dabei muss dem Vogel ein Ziel vorschweben,
so primitiv diese „Vorstellung“ sein mag. Auch die Fliege Drosophila
probiert aus, wie sie z. B. eine bekömmliche Umgebungstemperatur
finden oder ihren Flug stabilisieren kann. Das wird in einem Versuch
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 53
besonders deutlich, der ursprünglich in der Humanpsychologie entwi-
ckelt worden ist und dort Berühmtheit erlangt hat.
Es ist das sogenannte Umkehrbrillen-Experiment. Die Probanden
müssen eine Brille tragen, die z. B. rechts und links vertauscht, und
müssen damit zu leben lernen. Am Anfang des Experiments werden sie
von Helfern geführt, bis sie in der Lage sind, die krassesten Fehler in
ihrer visuomotorischen Koordination zu vermeiden. Stellen Sie sich
vor, Sie trügen eine solche Brille. Sie stünden hier und wollten sich
einer freundlichen Dame links von Ihnen zuwenden. Die sähen Sie
jedoch mit der Umkehrbrille auf der rechten Seite und während Sie sich
dorthin wendeten, verschwände sie rechts aus Ihrem Blickfeld. Das
Experiment ist so berühmt, weil man sich an die Brille gewöhnt. Nach
ein paar Tagen mit sehr unangenehmen Erlebnissen hört man auf, sich
daran zu stören, dann merkt man nicht mehr, dass rechts und links
vertauscht sind, außer wenn man danach gefragt wird, und schließlich,
nach einer Woche, ist links wieder links und rechts rechts, selbst wenn
man auf die Brille aufmerksam gemacht wird. Was lehrt uns dieses
Experiment? Z.B., dass die Wahrnehmung ein ganzheitlicher Vorgang
ist. Der Sehsinn ist im Streben nach erfolgreicher Orientierung im
Raum und nach Konsistenz der Summe der anderen Erfahrungen un-
tergeordnet.
Mit den Fliegen kann man ein ganz ähnliches Experiment durch-
führen. Wir hängen sie wieder an besagtes Messgerät, wo sie sich nicht
drehen können, ihre Drehversuche aber aufgezeichnet werden. Aber
jetzt bauen wir das Messgerät zu einem Flugsimulator aus. Ein Com-
puter errechnet aus den Messwerten, wie schnell sich die Fliege drehen
würde, wenn sie frei wäre und bewegt das Panorama, in dem die Fliege
hängt, entsprechend in die andere Richtung. Im Flugsimulator führt
also ein Drehversuch nach rechts zu einer Drehung des Panoramas nach
links und umgekehrt. Dann setzen wir der Fliege im Flugsimulator
sozusagen die Umkehrbrille auf. Das geht mit einem einfachen Schalter
in der Steuerungselektronik. Jetzt führt plötzlich ein Drehversuch der
Fliege nach rechts zu einer Drehung des Panoramas ebenfalls nach rechts
und damit passiert der Fliege das, was vorhin dem Herrn auf dem Po-
dium mit der Dame im Zuschauerraum passiert ist. Die Fliege versucht,
sich auf eine Landmarke zuzudrehen, und diese verschwindet auf der
gleichen Seite nach hinten aus dem Blickfeld.
Auch die Fliege lernt, sich mit ihrer neuen Situation zu arrangieren
und nach ca. 40 Minuten ist sie wieder „Herrin der Lage“ (Heisenberg/
Wolf, 1984). Sie hat gelernt, dass sie sich der Landmarke zuwenden
54 Martin Heisenberg
kann, wenn sie das entgegengesetzte Flugmanöver macht, das sie nor-
malerweise durchführen würde. Das konnte sie nur durch Ausprobieren
herausfinden. Setzt man ihr die Umkehrbrille wieder ab, ist sie für einen
kurzen Moment verwirrt, kehrt dann aber rasch in ihre normale Ver-
haltensweise zurück. Auf die Frage, wo im Gehirn die initiale Aktivität
entsteht, die dem Tier das Ausprobieren ermöglicht, sind wir noch auf
Spekulation angewiesen. Im Verdacht steht jedoch eine Region in der
Mitte des Gehirns, der so genannte Zentralkomplex.
Wie reagiert eine Fliege, der man die Entscheidung schwer macht?
Fliegen im Flugsimulator wurden mit Bestrafungen konditioniert, be-
stimmte Flugrichtungen relativ zu Landmarken zu vermeiden. Die
Landmarken unterschieden sich durch ihre Form und ihre Farbe. Ein
blaues „T“ etwa war „gefährlich“, ein umgedrehtes grünes „T“ „si-
cher“. Das konnten die Fliegen rasch lernen, und schon eines der beiden
Parameter, Form oder Farbe, reichten aus, der Fliege die sichere
Flugrichtung zu weisen. Nun wurden aber für den Test die Formen und
Farben umgekehrt kombiniert (Tang/Guo, 2001). Auf einmal waren
die aufrechten Ts grün und die umgedrehten blau. Was tun? Die
Fliegen entschieden sich einmal so, das nächste Mal anders. Das Ex-
periment war so eingerichtet, dass im Mittel alle Fliegen zusammen in
ihrem Verhalten die erwartete Pattsituation widerspiegelten. Das ei-
gentlich Interessante an diesem Experiment zeigte sich, als die Wis-
senschaftler die Reizstärke der Formen oder Farben im Test variierten.
Sobald die Farben auch nur eine Nuance weniger rein waren, richteten
sich die Fliegen nach den Formen, wenn dagegen die Formen auch nur
eine Spur weniger unterschiedlich waren, richteten sich die Fliegen
nach den Farben. Entgegen aller Erfahrungen aus früheren Versuchen
zogen die Fliegen in diesem Konfliktfall auf einmal die Reizstärken der
Testmuster für ihre Entscheidung mit heran. Die Zuverlässigkeit der
Reize, die ohne die Pattsituation fast belanglos gewesen wäre, bekam
eine entscheidende Bedeutung. Dieses Beispiel beleuchtet ein Funkti-
onselement der Entscheidung, das sich offenbar bei Fliegen wie Men-
schen findet: In schwierigen Entscheidungssituationen werden weitere
Kriterien in die Abwägung einbezogen. Man kann ahnen, welche in-
teressanten Zusammenhänge uns erwarten, wenn wir eines Tages in die
Verhaltensbiologie der Entscheidung tiefer eindringen können. Man
wird die wichtigsten Kriterien finden, die die Philosophen an eine freie
Entscheidung stellen: Keine Fremdbestimmung und keine unmittelba-
ren Sachzwänge, d. h. es muss Verhaltensoptionen mit hinreichend
günstiger Prognose geben. Zu einer freien Entscheidung gehört auch,
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 55
dass sie ohne zu große Fehler und Nachlässigkeiten in den Abwä-
gungsvorgängen zustande kommt.
Andere Verhaltensfreiheiten des Menschen
Andere Verhaltensfreiheiten – wie das Wollen und die Gedankenfrei-
heit – habe ich hier ausgeklammert. Beide fallen nicht in meine Fach-
kompetenz. In beiden wird ein anderes Verhaltenselement zentral, der
soziale Bezug. Wenn wir nach dem „Frei wovon“ und „Frei wozu“
fragen würden, müssten wir über die Beziehungen in der Gruppe und
in größeren Sozietäten reden. Aber beide Themen zeigen die Wucht,
die von dem in die Welt gesetzten Verhaltensakt ausgehen kann. Des
Menschen Wille ist sein Himmelreich. Er versetzt Berge. Die Trennung
von Wollen und Tun wird schon bei unseren Haustieren deutlich, z. B.
wenn eine Katze sich überlegt, ob sie auf eine Mauer springen soll. In
der Sozietät ist der Wille des Einzelnen zunächst nur eine Stimme in
einem Konzert von Willensäußerungen. Um seinen Willen durchzu-
setzen, muss man sich in dieses Kräftespiel einfügen. Wer seinen Willen
in der Gruppe durchgesetzt hat, trägt eine erhöhte Verantwortung für
das Gelingen der gemeinsamen Aktion. Das Wollen ermöglicht einem
die nachträgliche (wenn auch nicht reale, so doch mentale und soziale)
Revision der Entscheidung. Man kann unterscheiden, was man tun
wollte und was man getan hat. Genauer: In der Rekapitulation der
Handlung verschafft einem die Trennung von Wollen und Tun die
Möglichkeit, die Entscheidung im Licht ihrer Konsequenzen noch
einmal zu vollziehen.
Wieder ein ganz neues Kapitel ist die Gedankenfreiheit. Philipp II.
meinte zu wissen, warum er in seinem Reich keine Gedankenfreiheit
zulassen konnte. Einmal in die Welt gesetzt, lassen sich Gedanken u. U.
nicht mehr unterdrücken. Aber die meisten hinterlassen kaum eine
Spur, sind verflogen, noch ehe sie zur Rede gerinnen konnten. Wie frei
sind Gedanken? Woher kommen sie? Woher kommt der Einfall, von
dem der, der ihn hat, selbst überrascht wird? Gibt es Gesellschaften, in
denen zwar Meinungsfreiheit, aber keine Gedankenfreiheit herrscht?
Beide Themen, die Willens- und die Gedankenfreiheit, könnten wie
die Entscheidungsfreiheit zentrale Themen der Gehirn-, Verhaltens-
und Psychobiologie sein.
56 Martin Heisenberg
Zusammenfassung
In der Freiheit finden wir uns vor. Wir können versuchen, die biolo-
gischen Voraussetzungen dieses Befundes zu verstehen. Die Diskussion
der letzten Jahre über Handlungs- und Willensfreiheit ist von den
Nachwirkungen des Determinismus geprägt. Meine Pointe ist, dass wir
mit der Überwindung des Determinismus nicht mehr um die Ursa-
chenlosigkeit im Verhalten kämpfen müssen, sondern gerade das äußerst
subtile Gefüge von Ursachen und Zufällen zum Thema machen kön-
nen. Freiheit ist möglich, weil sie der Physik und Chemie des Gehirns
nicht widerspricht.
Als Beispiele für Verhaltensfreiheiten habe ich Urheberschaft, Wollen,
Entscheidung und Gedankenfreiheit erwähnt, mich dann aber nur mit der
Urheberschaft und der Entscheidung beschäftigt. Die Urheberschaft
verdankt sich dem hohen Autonomiegrad tierischer Organismen. Die
Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Individuum Ver-
haltensoptionen offen stehen, zwischen denen es selbst abwägen muss.
Abwägen zwischen Verhaltensoptionen bedeutet, dass die möglichen
Folgen der zur Verfügung stehenden Verhaltensweisen repräsentiert,
aktualisiert, verglichen und bewertet werden und dass die initiale Ak-
tivierung des Verhaltens von dieser Abwägung abhängig gemacht wird.
Die Entscheidungsfreiheit ist eine Freiheit von Fremdeinflüssen, die f"r
eine verantwortliche Güterabwägung genutzt wird. Alle diese Eigen-
schaften kann man im biologischen Zusammenhang diskutieren und an
Tieren beobachten. In der allgemeinen Organisation tierischen Ver-
haltens zeigen sich die Urheberschaft und die Grundelemente der
Entscheidung. Schon niedere Tiere sind initial aktiv und können aus-
probieren. Sie haben Ziele und Verhaltensoptionen, die in ihrem Ge-
hirn durch ihre möglichen Folgen repräsentiert sind.
Freiheit ist überall im Verhalten von Tieren und Menschen zu
entdecken. Sie ist für die Organisation des Verhaltens so wichtig, dass
die Verhaltensforschung nicht umhin kann, sie zu thematisieren, auch
wenn die Freiheit uns dabei auf der Mikroebene nur in unpersönlicher
Verkleidung als Zufall entgegentritt. Die naturwissenschaftliche Erfor-
schung der (naturalisierten) Freiheit wird unser Erleben der Freiheit
beeinflussen. Wir werden klarer sehen, was Handeln frei macht.
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 57
Bibliographie
Heisenberg, Martin (1983): Initiale Aktivität und Willkürverhalten bei Tieren.
In: Naturwissenschaften (70), 70 – 78.
Heisenberg, Martin/Wolf, Reinhard (1979): On the Fine Structure of Yaw
Torque in Visual Flight Orientation of Drosophila melanogaster. In: Journal
of Comparative Physiology A (130), 113 – 130.
Heisenberg, Martin/Wolf, Reinhard (1984): Vision in Drosophila. Genetics in
Microbehavior. Berlin/Heidelberg/New York: Springer.
Roth, Gerhard (2004): Das Problem der Willensfreiheit aus Sicht der Hirn-
forschung. In: Debatte (1), 83 – 92.
Singer, Wolf (2006): Neurobiologische Anmerkungen zum Freiheitsdiskurs.
In: Debatte (3), 17 – 26.
Tang, Shiming/Guo, Aike (2001): Choice Behavior of Drosophila Facing
Contradictory Visual Cues. In: Science (294), 1543 – 1547.
Wegner, Daniel M. (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massa-
chusetts: MIT Press.
Wolf, Reinhard/Heisenberg, Martin (1980): On the Fine Structure of Yaw
Torque in Visual Flight Orientation of Drosophila melanogaster II. Visual
Attention. In: Journal of Comparative Physiology A (140), 69 – 80.
Wolf, Reinhard/Heisenberg, Martin (1991): Basic Organization of Operant
Behavior as Revealed in Drosophila Flight Orientation. In: Journal of
Comparative Physiology A (169), 699 – 705.
Der Homunkulus und die Zeit.
Warum die Neurophysiologie die Frage
des freien Willens nicht lösen kann
C. GIOVANNI GALIZIA
Zur Frage nach der Evolution der Freiheit und nach der Funktion des
Bewusstseins berichte ich aus dem Blickwinkel meiner eigenen Diszi-
plin, nämlich den Neurowissenschaften.1 Ich werde dabei auf vier As-
pekte eingehen:
1. Die Rolle einzelner Disziplinen im interdisziplinären Diskurs.
2. Das Ausmaß der Kompetenz und die Grenzen der Neurowissen-
schaften.
3. Die Frage, wie Tiere Entscheidungen treffen.2
1 Auch in den Neurowissenschaften – wie in jeder anderen Disziplin – werden
durchaus unterschiedliche Positionen bezogen. Meine Stellungnahme kommt
aus den Neurowissenschaften, aber ich spreche nicht für alle Neurowissen-
schaftler.
2 In jedem interdisziplinären Diskurs kann die Wahl eines Wortes zu Missver-
ständnissen, manchmal zu Abwehrreaktionen und gelegentlich zu direkter
Ablehnung eines Gedankenganges führen, ohne dass diese Reaktion durch den
Inhalt der Abhandlung begründet wäre. Ein solches Wort ist „Entscheidung“.
Für viele ist „Entscheidung“ ein intentionaler Akt und setzt damit Bewusstsein
voraus. Der Satz „ein Tier entscheidet sich“ würde also voraussetzen, dass ein
Tier Bewusstsein hat. Ein Leser, der a priori dem Tier Bewusstsein abstreitet,
würde ab dieser Stelle den Text nicht mehr wohlwollend, sondern ablehnend
lesen. Ein Leser, der die Bewusstseinsfrage offen lässt, würde ab dieser Stelle
jede Argumentation über Bewusstsein für zirkulär halten, da die Wortwahl
schon eine Stellungnahme impliziert. Leider habe ich aber kein Wort gefunden,
das nicht entweder für manche ein Bewusstsein impliziert oder gerade ein
Bewusstsein ausschließt (etwa „Reaktionsmechanismus“). Hinzu kommt, dass
innerhalb der Neurowissenschaften „Entscheidung“ ausdrücklich nicht Inten-
tionalität impliziert. Bei Menschen kann man von „bewusster Entscheidung“
und „unbewusster Entscheidung“ sprechen oder sich bei Entscheidungen fra-
gen, ob sie intentional waren oder nicht (was nicht ginge, wenn das Wort per se
schon die Intentionalität voraussetzen würde). Bei Tieren können wir beob-
achten, dass in einer Verhaltenssituation, in der mehrere Verhaltensweisen
(sagen wir A, B und C) möglich sind, ein Tier eine Verhaltensweise ausführt –
es hat sich für ein Verhalten entschieden. Wir sagen „das Tier hat sich für A
60 C. Giovanni Galizia
4. Die Tatsache, dass „Bewusstsein“ weder zeitlich noch räumlich zu
verorten ist.
Letzteres hat unter anderem zur Folge, dass unsere umgangssprachliche
Verwendung des Begriffs „Bewusstsein“ in den Neurowissenschaften
nicht brauchbar ist. Der Begriff „Bewusstsein“ und auch der Begriff
„Freiheit“ sind neurobiologisch nicht so definierbar, wie sie in der
Philosophie verwendet werden. Auch hier herrscht jedoch keine Ei-
nigkeit über den angemessenen Begriffsgebrauch. Um Missverständnisse
zu vermeiden, sollten diese Begriffe in den Neurowissenschaften mit
großer Vorsicht benutzt werden.
1. Die Rolle einzelner Disziplinen
im interdisziplinären Diskurs
Im Antrag für den vom BMBF geförderten Forscherverbund „Funk-
tionen des Bewusstseins“3 findet sich folgender Satz: „In Bezug auf
hervorragende Interdisziplinarität, die eine Chance hat, die mit Si-
cherheit auftretenden Schwierigkeiten der terminologischen Verstän-
digung über die Fachgrenzen hinaus zu meistern, sind wir der Über-
zeugung, dass die erste Voraussetzung der beteiligten Wissenschaftler
disziplinäre Exzellenz sein muss. Nur mit hinreichender fachlicher
Kompetenz innerhalb der einzelnen Disziplin stellt sich die nötige
Souveränität ein, die Terminologie der eigenen Disziplin zu hinterfra-
gen und für neue Einflüsse zu öffnen, ohne dabei die Verbindung zur
ursprünglichen Ausgangsdisziplin zu verlieren.“ (Gerhardt/Heilinger,
2005) An den diesem Sammelband zugrunde liegenden Treffen betei-
ligten sich Philosophen, Psychologen, Psychiater, Neurowissenschaftler,
Biologen – eine weit gefasste Gruppe, und noch andere Disziplinen
könnten mitreden, etwa Theologen, Mystiker oder auch nachdenkliche
entschieden“ („the animal has decided for A“ – das Fehlen des reflexiven „sich“
im Englischen macht diese Wortwahl im angelsächsischen Sprachraum weniger
kompromittierend). Die Frage nach dem Bewusstsein und der Freiheit ist in-
nerhalb der neurowissenschaftlichen Sprachwahl vom Wort „Entscheidung“
entkoppelt. In diesem Sinne verwende ich in meinem Text „Entscheidung“
und vertraue auf die geistige Flexibilität bei den Lesern mit anderen diszipli-
nären Wurzeln.
3 Die Forschergruppe Funktionen des Bewusstseins arbeitet seit 2006 an der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Der Homunkulus und die Zeit 61
Nichtintellektuelle. Diese Vielfalt hat Konsequenzen für den Diskurs,
der zwischen den Beteiligten stattfindet.
Wir denken über das Gleiche nach: „Bewusstsein“. Aber wir
sprechen andere Sprachen, denn unsere Wissenschaften haben andere
Fragestellungen, gehen von anderen Grundlagen aus und bauen auf
unterschiedlichen Methoden auf. Darum ist es gerade im interdiszipli-
nären Diskurs nötig, die Voraussetzungen jeder Disziplin klar zu be-
nennen. Ich bin kein Philosoph, wenngleich ich gerne philosophischen
Beiträgen lausche und aus meiner Laienposition heraus mitphiloso-
phiere. Trotzdem ist mir klar, dass ich die philosophischen Beiträge
nicht mit der Tiefe durchdringen kann, die jemand hat, der oder die
über Jahre hinweg philosophisch geschult wurde. Ich denke, dass dies
auch in der anderen Richtung gilt: Wir stoßen im interdisziplinären
Diskurs an Grenzen.4 Hiermit meine ich nicht die intellektuellen
Grenzen der Beteiligten. Wohl sind es zum Teil Grenzen, die durch
ungleiches Wissen entstehen. Vor allem aber sind es konzeptionelle und
methodische Grenzen, die tiefer greifen. Die Philosophie ist eine
nachdenkliche Wissenschaft, auch dann, wenn sie sich an der Realität
orientiert. Die Neurowissenschaften sind eine rein empirische Wis-
senschaft, auch wenn wir gelegentlich nachdenken. In dem Moment, in
dem wir uns auf der Basis unseres neurowissenschaftlichen Wissens ein
Bild über philosophische Fragen machen, verlassen wir aber den Boden
der Neurowissenschaften. Ich sage das nicht negativ wertend, im Ge-
genteil: Ich denke, dass gerade diese Grenzüberschreitungen notwendig
sind und das Potenzial bieten, Neuland zu betreten. Aber ich sage es
einschränkend: Es muss klar sein, dass Erkenntnisse, die durch solche
Exkurse gewonnen werden, nicht aus der Neurobiologie kommen.
Wenn also, um ein Beispiel zu nennen, die Willensfreiheit von einem
Neurobiologen negiert wird, so geschieht das nicht in seiner Funktion
als Neurobiologe, sondern als Philosoph, der auf der Basis seiner neu-
4 Die oben erwähnte Problematik bei der Wortwahl („Entscheidungen“) ist ein
gutes Beispiel. Hier müssen wir beim Zuhören die Definition der anderen
Disziplin akzeptieren, beim Sprechen sollten wir aber die eigene Definition
benutzen und nicht versuchen, eine uns fremde zu nehmen. Im interdiszipli-
nären Diskurs ist die Flexibilität auf der Seite der Zuhörer gefragt. Darin un-
terscheidet sich der interdisziplinäre Diskurs grundsätzlich von der Populari-
sierung der Wissenschaften: Bei allgemeinverständlichen Vorträgen muss die
Flexibilität auf der Seite des Redners gegeben sein.
62 C. Giovanni Galizia
robiologischen Kenntnisse argumentiert.5 Vielleicht kann man ihn einen
Neurophilosophen nennen. Um solche Grenzziehungen treffen zu
können, müssen die Grenzen klar definiert sein.
2. Wo sind die Kompetenzen,
wo die Grenzen der Neurowissenschaften?
Die Neurowissenschaften sind eine rein empirische Wissenschaft: Nur
das Experiment und die Reproduzierbarkeit haben Autorität, nur an
dieser empirischen Beobachtung lässt sich die Qualität neurowissen-
schaftlicher Aussagen messen. Jede gebildete Theorie ist nur so gut, wie
sie mit experimentellen Daten, die nach der Theoriebildung erhoben
wurden, kompatibel ist. Ziel der Neurowissenschaften ist es, die
Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. Wir sind eingebettet in den
Naturwissenschaften, und alles was wir machen, muss nach „unten“
kompatibel sein – „unten“ in Anführungsstrichen, denn damit ist keine
Hierarchie, aber wohl eine Inklusivität gemeint. Keines unserer Mo-
delle darf zur Biochemie im Widerspruch stehen, so wie nichts aus der
Biochemie im Widerspruch zur Chemie sein darf und diese wiederum
nicht im Widerspruch zur Physik. Dies ist die Neurowissenschaft, die
ich hier vertrete. Die Inklusivität der Naturwissenschaften heißt aber
nicht, dass der Physiker der bessere Neurowissenschaftler ist. Aus dem
Anspruch auf Widerspruchsfreiheit mit der Physik entsteht kein An-
spruch der Physik auf Vereinnahmung der Neurowissenschaften.
Wofür sind die Neurowissenschaften nun die „unteren“ Diszipli-
nen? Das sind zum Beispiel die Psychologie und die Soziologie. Ich
denke, die Neurowissenschaften sollten sich in Bescheidenheit üben:
Wir können nicht die Soziologie ersetzen, selbst wenn wir verlangen
können, dass Befunde aus der Soziologie nicht im Widerspruch zu den
neurobiologischen Grundlagen sein dürfen. Und wir müssen an das
5 Dieses Beispiel hinkt in dieser verkürzten Form. Gäbe es eine aus neurobio-
logischer Sicht eindeutige Definition von „Willensfreiheit“, dann wäre die
Aussage falsch, denn die Neurobiologie könnte innerhalb ihrer Disziplin über
die Willensfreiheit forschen. Kann es aber keine neurobiologische Definition
geben (weil jede Definition nur tautologisch möglich wäre), so ergibt sich die
obige Aussage. Ich benutze diese hier also als Vorgriff auf den nächsten Ab-
schnitt, in dem ich argumentiere, dass es für die „Willensfreiheit“ eben keine
Definition aus der Neurobiologie geben kann, da diese methodisch an eine
statistische Analyse gebunden ist.
Der Homunkulus und die Zeit 63
Selbstbewusstsein der anderen Disziplinen appellieren, denn oft sind es
gar nicht die Neurowissenschaftler, die sich aufdrängen, sondern z. B.
Journalisten und Hobbywissenschaftler, die meinen, dass alles
Menschliche mit der Gehirnforschung erklärbar sein muss.
Um ein Beispiel zu nennen: Immer wieder kommt es vor, dass aus
sportlichen, religiösen oder politischen Anlässen heraus Menschen-
mengen eine große zerstörerische Kraft entwickeln. Viele würden den
einzelnen Menschen in einer solchen Menge den freien Willen ab-
sprechen. Kann ich das neurobiologisch begründen? Natürlich sind in
jedem dieser Gehirne bestimmte Areale aktiv, Botenstoffe und Hor-
mone werden ausgeschüttet, Schwellwerte in einzelnen Zellen sind so
eingestellt, dass dieses Verhalten entsteht – aber genauso gut könnte ich
sagen, dass bestimmte Wasserstofforbitale mit bestimmten Sauerstoff-
orbitalen interagieren. Auf dieser Betrachtungsebene können wir den
Kern des Geschehens nicht auf befriedigende Weise beschreiben und
untersuchen. Um zu verstehen, was in Amok laufenden Menschen-
massen passiert, ist die geschichtswissenschaftliche Sprache und die
Sprache der Soziologen der Analyse von Neurowissenschaftlern über-
legen.6
Die Grundfesten der Neurowissenschaften liegen in der Empirie.
„Nihil est in intellectu quod non fuerit prius in sensu“ lautet der
Grundsatz des Sensualismus, einer Form des Empirismus. Hinzu
kommt, dass ein Befund in dieser Hinsicht nur dann glaubwürdig ist,
wenn er wiederholt werden kann. Die Statistik ist unser wichtigstes
Werkzeug: Wir untersuchen nur Phänomene, die zuverlässig repro-
duzierbar sind. Was nicht statistisch signifikant ist, fällt aus unserem
Horizont heraus. Was nicht statistisch signifikant belegbar ist, darüber
6 Was für eine Erklärung kann aus den verschiedenen Disziplinen kommen? Die
Soziologie könnte zum Beispiel verstehen, unter welchen Bedingungen in
einer Menschenmasse Gewaltbereitschaft entsteht. Dies ist eine Ebene, auf der
wir durch die gewonnenen Erkenntnisse solche Bedingungen gezielt vermei-
den können (oder auch Konfliktanschürer solche Bedingungen erzeugen
können, um gezielt Gewalt zu erreichen). Die nächste Ebene – die Psychologie
des Einzelnen – ist schon schwieriger. Auf neurobiologischer Ebene könnte die
Erkenntnis darin liegen, dass ein bestimmter Botenstoff A, wenn er in Areal X
ausgeschüttet wird, die Gewaltbereitschaft erhöht, und man könnte die phy-
siologischen Bedingungen erforschen, unter denen dies passiert. Und man will
wohl wissen, welche Wasserstoffbrückenbindungen dabei gebildet werden,
wenn man noch weiter die Disziplinkette verfolgt. Wohl sind die verschie-
denen Erklärungsebenen gleich „wahr“, und doch ist für das Verständnis der
Situation die soziologische Erklärung im Allgemeinen die nützlichere.
64 C. Giovanni Galizia
können wir nichts aussagen: Uns ist Wittgensteins Satz in die Seele
geschrieben: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man
schweigen“ (Wittgenstein, 1963, 115) – dies beziehen wir gerne auf uns
Naturwissenschaftler. Dies gilt für alle experimentellen Wissenschaften.
Wir können den Zufall mathematisch beschreiben, und wenn wir einen
Versuch machen, dann beurteilen wir das Ergebnis durch einen Ver-
gleich mit dem errechneten Zufallsergebnis. Dadurch wissen wir, mit
welcher Wahrscheinlichkeit das Versuchsergebnis ein Zufallsergebnis ist
und mit welcher (komplementären) Wahrscheinlichkeit es nicht zufällig
ist. Um das machen zu können, müssen wir den Versuch öfter wie-
derholen.
Das hat eine ganz grundlegende Konsequenz: Die Einmaligkeit
entzieht sich dem Forschungsgegenstand einer empirischen Wissen-
schaft. Wir können Michelangelo nicht darum bitten, die Sixtinische
Kappelle ein zweites Mal auszumalen, um zu wissen, ob er sie auch
anders hätte ausmalen können. Und auch Beethovens Entscheidung,
einen Text von Schiller in einer Symphonie zu vertonen, ist nicht
wiederholbar. Wir können grundsätzlich nicht testen, ob es sich um
eine freie oder eine nicht-freie, ob es sich um eine bewusste oder eine
nicht-bewusste Entscheidung gehandelt hat. Dies gilt sowohl für die
Entscheidungsfreiheit einzelner Menschen als auch für die Entschei-
dungsfreiheit ganzer Gruppen: Die Entscheidung, diese Musik zur
Europäischen Hymne zu machen, ist nicht unter gleichen Bedingungen
reproduzierbar.7
Das heißt natürlich nicht, dass solche Phänomene nicht wissen-
schaftlich untersuchbar sind – wie Phantasie sich entwickelt und unter
welchen Bedingungen sie gedeiht, ist ein wichtiger Forschungsgegen-
stand der Psychologie. Viel Forschungsenergie befasst sich genau mit
dieser Problematik: Wie lassen sich aufschlussreiche Experimente ge-
stalten, die einmalige und nicht wiederholbare Ereignisse (wie etwa die
Phantasie, die Individualität einer Person oder eine freie Entscheidung)
in einen statistisch analysierbaren, methodisch reproduzierbaren Rah-
7 Mit diesen Ausführungen stehe ich in meiner Disziplin nicht alleine da. Im
Rahmen der Diskussionen im Humanprojekt hat Peter Hammerstein in seinem
Beitrag gesagt: „In der Biologie wird nicht über Freiheit geredet“, Andreas
Elepfandt hat das in der Diskussion präzisiert: „Freiheit ist nicht das Suchobjekt
der Biologie, weil hier die Regelmäßigkeit aufhört.“ Ferdinand Hucho hat
diese These folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Freiheit ist kein bio-
logischer Begriff“. Vgl. dazu den Beitrag von Ferdinand Hucho in diesem
Band.
Der Homunkulus und die Zeit 65
men zwängen.8 Während sich also die einzelne freie Entscheidung
grundsätzlich der naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht, so bleiben
die Mechanismen, die eine freie Entscheidung ermöglichen, durchaus
einer der wichtigsten Gegenstände auch der Neurobiologie. Das ist ein
feiner, aber wichtiger Unterschied. Auf diesem Gebiet stehen uns noch
große Herausforderungen bevor.
3. Was also kann die Neurowissenschaft?
Wie Tiere Entscheidungen treffen
Ich arbeite an Insekten und will deswegen einige Beispiele aus der Welt
der Bienen vorstellen. Bienen treffen tagtäglich Entscheidungen: Wel-
che Blüte wird angeflogen, welcher Heimweg wird geflogen. Soll eine
Biene lieber im Stock dem Hausdienst frönen und die Brut pflegen,
oder soll sie lieber hinaus in die Welt und Pollen oder Nektar sammeln?
Jede Biene muss sich einzeln entscheiden.9 Ob Bienen Bewusstsein
haben, wissen wir nicht, denn es gibt kein anerkanntes Experiment, das
uns eine Aussage darüber erlauben würde, ob Tiere Bewusstsein haben
– dazu ist die Definition von „Bewusstsein“ nicht eindeutig genug.
Auch wenn wir nicht wissen können, ob Bienen Bewusstsein haben,
können wir dazu eine Meinung haben, und ich denke, dass die meisten
8 Wir können durchaus untersuchen, wie viel Entscheidungsfreiheit in einem
Bild von Michelangelo oder in einem Bild von Jackson Pollock ist. So sind
kürzlich Verfahren entwickelt worden, die einen „echten“ von einem „fal-
schen“ Pollock unterscheiden können: Bei einem „echten“ Pollock folgen die
Muster einer fraktalen Geometrie, während man bei einem falschen Pollock
diese Regelmäßigkeit nicht findet. (Dieser Befund ist jedoch kürzlich wieder in
Frage gestellt worden.) Ist die Kontrolle, die Pollock offensichtlich über flie-
ßende Farbe ausübte, für uns eine nützliche Information, wenn wir über sein
Bewusstsein oder seinen freien Willen reden? Ich denke: nein. Dies „ich
denke“ basiert aber nicht auf meiner Kompetenz als Neurowissenschaftler,
denn es ist grundsätzlich sinnlos, für diese Frage auf kompetente Antworten aus
den Neurowissenschaften zu hoffen.
9 Über die Schwierigkeit mit dem Begriff „Entscheidung“ habe ich oben be-
richtet. Hier wird „Entscheidung“ sehr allgemein eingesetzt und beschreibt
Verhaltenssituationen, in denen verschiedene Verhaltensmöglichkeiten beste-
hen, von denen ein Tier eine realisiert. Was zur Ausprägung des einen und
nicht des anderen Verhaltens führt, ist genau der Gegenstand der Untersu-
chung: angeboren, reflexiv, erlernt, abwägend, aus Gründen heraus – welche
Faktoren zum Tragen kommen, soll durch die Wortwahl „Entscheidung“ nicht
vorweg genommen werden.
66 C. Giovanni Galizia
erwachsenen Menschen meine Meinung teilen, nämlich dass Bienen
kein Bewusstsein haben.10 Und trotzdem: Bienen treffen Entscheidun-
gen, und alles, was wir in der Neurobiologie lernen, spricht dafür, dass
dabei im Gehirn die gleichen Mechanismen wirken wie bei uns
Menschen, wenn wir Entscheidungen treffen. Das Erforschen der
Entscheidungsfindung bei Bienen kann uns also helfen, Entscheidungen
von Menschen besser zu verstehen.
Entscheidungen können auf angeborenem Wissen basieren (etwa
dass Bienen auf Blüten und nicht auf Steinen Nektar suchen) oder auf
erlerntem Wissen (etwa dass derzeit die Lindenblüten Nektar haben).
Nehmen wir das Beispiel einer erlernten Entscheidung, nämlich die, auf
eine bestimmte Blüte zu fliegen. Bienen sind blütenstet: Der Imker
beobachtet seinen Bienenstock, und wenn er sieht, dass die Bienen
gerade die Linden entdeckt haben, dann schleudert er schnell den alten
Honig aus und produziert reinen Lindenblütenhonig, denn jetzt werden
alle Bienen im Stock mit Vorliebe Linden ernten. Jede Biene einzeln
entscheidet sich jetzt für Lindenblüten. Diese Entscheidung führt zu
weiteren Entscheidungen: Kommt die Biene an eine Blüte, muss sie
entscheiden, ob dies eine Linde ist, um zu wissen, ob sie auf der Blüte
landen soll oder nicht. Das tut sie anhand der erkannten Merkmale der
Blüte: Aussehen und Duft. Derartige Entscheidungen können wir ex-
perimentell untersuchen. Wir können eine künstliche Wiese schaffen
und beobachten, wie lange eine Biene braucht, um eine bestimmte
Blüte zu besuchen oder um die Blüte abzulehnen.
Aus solchen Versuchen an frei fliegenden Bienen haben wir gelernt,
dass die Zeit, die die Biene für eine Entscheidung benötigt, nicht von
der Schwierigkeit der Aufgabe abhängt. Im Gehirn findet also für diese
Entscheidung – weiterfliegen oder bleiben – ein bestimmter Ablauf
statt, der nicht durch den Schwierigkeitsgrad der Duftunterscheidung
beeinflusst wird.
Was hier passiert, können wir genauer untersuchen. Wir können
unsere reduktionistische Schraube weiter andrehen, noch mehr Varia-
blen ausschalten, dem Tier weniger Freiheitsgrade lassen. Damit
schaffen wir Umstände, die zu besser reproduzierbaren Ergebnissen
führen, damit wir einen aussagekräftigeren statistischen Zugang haben.
Bienen können im Experiment einen Blütenduft auch lernen, wenn
sie nicht mehr fliegen. Dazu werden einzelne Bienen in Röhrchen
festgehalten. Wenn man einer Biene einen Duft anbietet, reagiert sie
10 Kinder sind da meist anderer Meinung.
Der Homunkulus und die Zeit 67
nicht, wenn man aber den Bienenrüssel mit Zuckerwasser berührt, so
löst dies den Rüsselreflex aus: Die Biene streckt den Rüssel aus und
leckt am Zuckerwasser, das für die Biene wie Nektar ist. Wenn man
nun einen Duft anbietet und gleich darauf das Zuckerwasser, so lernt die
Biene, dass auf Duft Zuckerwasser folgt. Und das nächste Mal, wenn
der Duft allein gegeben wird, streckt die Biene erwartungsvoll den
Rüssel aus, selbst wenn gar kein Zuckerwasser gegeben wird. Dies ist
eine klassische Konditionierung nach Pavlow. Grundlage für dieses
Lernen ist ein Reflex, und daher würden wir in diesem Zusammenhang
intuitiv nicht von einer freien Entscheidung reden. Die Biene hat ge-
lernt, dass das Ereignis „Duft“ das Ereignis „Zuckerwasser“ vorhersagt.
Sie reagiert auf den Duft damit, dass sie uns die Zunge entgegenstreckt.
Aber ganz so einfach ist das Bild nicht, denn die Bienen lernen nicht
zu 100 %, sondern nur zu einem Teil. Wenn wir also 100 Bienen
trainieren und dann alle testen, so wird nur ein Teil davon antworten,
und zwar mit einer Quote von ca. 70 %. Was ist passiert? Entweder 70 %
der Bienen haben gelernt und 30 % nicht. Vielleicht erlaubt es das
Experiment, „dumme“ und „intelligente“ Bienen zu unterscheiden,
und tatsächlich macht dies einen Teil der Antwort aus, aber eben nur
einen Teil. Die größte Komponente ist nämlich für den Beobachter
zufällig. Wenn wir die 70 % der Tiere, die auf den Duft reagiert haben,
erneut testen, finden wir denselben Prozentsatz von Antworten wie
zuvor. Ebenso, wenn man die restlichen 30 % einem erneuten Test
unterzieht. Mit anderen Worten: Eine Lernquote von 70 % bedeutet
nicht, dass 70 % der Tiere intelligenter sind und gelernt haben, sondern
dass jedes Tier einzeln mit 70 % Wahrscheinlichkeit auf den Duft mit
dem Rüsselreflex antworten wird. Von außen betrachtet hat also jede
Biene Entscheidungsfreiheit, mit dem Zungenreflex zu reagieren – oder
auch nicht. Hat die Biene einen freien Willen, trifft sie gar eine be-
wusste Entscheidung? Nicht nur die Antwort auf diese Frage entzieht
sich unserem Zugang, sondern die Frage selbst bewegt sich außerhalb
unserer Grenzen. Was wir aber sagen können ist, dass bei dieser Aufgabe
die „Freiheit“ klare statistische Grenzen hat. Wo diese Freiheit im
Gehirn entsteht – also wodurch die statistische Verteilung zustande
kommt – wissen wir noch nicht. Aber wir wissen schon einiges darüber,
was dabei im Gehirn passiert.
Wir können die Aktivität der Neurone, die auf einen Duftreiz
antworten, mit bildgebenden Verfahren messen. Die Aktivität in den für
Düfte zuständigen Neuronen ist die Voraussetzung dafür, dass die Biene
den Duft riecht. Diese Neurone sind Teil eines Schaltkreises von den
68 C. Giovanni Galizia
Sinneszellen über die neuronalen Netzwerke im Gehirn zu den Mus-
keln der Zunge, die das Lecken ausführen. Was tun diese Zellen, wenn
es keinen Duft gibt? Sind sie im schlafenden Zustand, still, bis zu einem
neuen Dufterlebnis? Mitnichten! Wir können auch ohne einen Reiz zu
präsentieren ihre Aktivität messen, und dann zeigt sich, dass ununter-
brochen praktisch alle Neurone aktiv sind. Bei solchen Messungen
schauen wir dem Gehirn in seiner Aktivität zu. Wäre dies ein
menschliches Gehirn, so würden wir sagen: Wir schauen dem Gehirn
beim Denken zu. Da wir nicht wissen, was „Denken“ für ein Tier
bedeutet (außer wir definieren „Denken“ so restriktiv, dass es nicht
mehr unserem Sprachgebrauch entspricht – wir haben es hier mit einer
ähnlichen begrifflichen Unschärfe zu tun wie beim „Bewusstsein“),
reden wir pragmatisch und etwas unpoetisch von „Spontanaktivität“
oder „Hintergrundaktivität“. Wir schauen also dem Gehirn bei seiner
Spontanaktivität zu. Ist diese Spontanaktivität zufällig oder ist sie ge-
ordnet? Können wir gar, wie Andreas Herz angeboten hat,11 in der
Stochastizität solcher Spontanaktivitäten die Grundlage für die Unvor-
hersagbarkeit einzelner Handlungen finden, also die Grundlage für die
Freiheit des Handelns? Wie gesagt, die Frage nach der Freiheit ist nicht
beantwortbar. Aber die Frage nach der statistischen Zufälligkeit ist
untersuchbar, und tatsächlich: Die Muster sind nicht zufällig. So finden
wir, kurz nachdem die Biene einen Duft gerochen hat, dass sich die
Folge der spontanen Muster stärker an dem gerochenen Duft orientiert.
Wohlgemerkt: Die spontane Aktivität bleibt in jedem Augenblick für
uns unvorhersagbar und chaotisch, aber sie ist mitnichten zufällig,
sondern folgt beschreibbaren statistischen Gesetzen. Ebenso ist es nicht
möglich vorherzusagen, ob die einzelne Biene, nachdem sie konditio-
niert wurde, den Rüssel herausstreckt, obwohl wir die Wahrschein-
lichkeit, mit der sie den Rüssel herausstreckt, benennen können.
Müssen wir also vor der Statistik kapitulieren oder können wir uns
doch tiefer in die mechanistischen Zusammenhänge hineinwagen? Ich
möchte letzteres anhand eines Beispiels versuchen. Ich habe schon er-
wähnt, dass Bienen im Stock viele Aufgaben übernehmen müssen. Das
Leben einer Biene ist wohl geordnet: Nach dem Schlüpfen sorgt sich
die junge Biene um das Innenleben im Stock, putzt und pflegt die Brut.
Später wird sie zur Wächterin, die am Stockeingang fremde Tiere
fernhält, eine Aufgabe, die sie vornehmlich aufgrund des Geruchs lösen
kann: Wer fremd riecht, gehört nicht dazu und wird abgestochen.
11 Vgl. den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band.
Der Homunkulus und die Zeit 69
Schließlich wird sie zur Sammlerin, fliegt aus und bringt Nektar und
Pollen mit nach Hause. Diese Stadien werden auch Kasten genannt.
Das geregelte Leben, bei dem das Alter die Kaste einer Biene be-
stimmt, lässt sich experimentell durcheinanderbringen. Wir können
Bienenstöcke so manipulieren, dass alle Bienen gleich alt sind, z. B. alle
jung und dem Alter nach im Innendienst. Das hat keine schwerwie-
genden Folgen: In einem wunderbaren Prozess der Selbstorganisation
ändern einige Bienen ihre Aufgaben und beginnen auszufliegen, um
Nektar und Pollen zu sammeln. Wie entscheidet die einzelne Biene
nun, was sie tun soll? Ist jede Biene gewissermaßen „frei“ in ihrer
Entscheidung, ihre Kaste zu ändern oder beizubehalten?
Als Experimentalisten können wir nur nach denjenigen Mechanis-
men suchen, die zu einer Entscheidungsfindung beitragen. Der Beitrag
dieser Mechanismen reduziert den Anteil, der von außen als „frei“
betrachtet werden kann, da er nicht erklärt ist. Dieses Verbleibende ist
Zufall, Varianz oder Freiheit – und selbst wenn wir diesen Teil statis-
tisch über viele Tiere hinweg beschreiben können, bleibt die Ent-
scheidung des Einzelnen immer eine Überraschung und somit nicht
erklärbar. Wie bei der Frage der individuellen Handlung entzieht sich
also der Beweis der Freiheit grundsätzlich dem Instrumentarium der
empirischen Wissenschaft.
Bei den Bienen kennen wir einige der Faktoren, die für das einzelne
Tier bei der Entscheidung auszufliegen oder im Innendienst zu bleiben
eine Rolle spielen. Nehmen Sie die experimentelle Situation, in der alle
Bienen gleich alt sind, das Alter also kein solcher Faktor ist. Unter
solchen Bedingungen lassen sich andere Faktoren untersuchen. Es gibt
ein Gen – das forager Gen – das hier eine große Rolle spielt: Jedes Tier
exprimiert dieses Gen, aber nicht alle in gleichem Maße. Tiere, die
dieses Gen stark exprimieren, neigen dazu, den Stock zu verlassen,
während die, die weniger davon exprimieren, eher im Inneren bleiben.
Man könnte sagen, das Gen regelt das Verhalten – aber auch dieses Gen
funktioniert nicht allein, sondern im Netzwerk mit anderen Genen und
vor allem im Zusammenspiel mit den anderen Individuen im Stock,
denn die Schwelle, die zu einer Entscheidung „Ausfliegen“ führt, ist
nicht durch das Gen selbst gegeben, sondern durch die Futterversorgung
im Stock sowie durch die Anzahl anderer Individuen, die schon im
Hausdienst tätig sind. Es ist etwa so wie in einer Wohngemeinschaft:
Die Schwelle, endlich die Teller zu waschen (auch das ist eine Ver-
haltensentscheidung, mal mehr, mal weniger bewusst, mal mehr, mal
weniger frei) ist bei jedem unterschiedlich und hängt von der Tages-
70 C. Giovanni Galizia
form, dem Geruch in der Küche, der Müdigkeit und vielem mehr ab.
Und doch: Es sind immer dieselben, deren Schwelle zum Abspülen als
erste überschritten wird.
Was ist dieses forager Gen, das die Entscheidungsschwelle bei Bienen
beeinflusst? Es kodiert ein ganz bestimmtes Enzym (eine cGMP-ab-
hängige Proteinkinase). Bei Bienen steuert dieses Gen die Lichtemp-
findlichkeit – und zwar nicht in den Sinneszellen, sondern im Gehirn.
Lichtempfindlichere Bienen bleiben lieber im Stock und erledigen den
Innendienst, während es die, bei denen das forager Gen stärker aktiv ist,
eher nach außen ans Licht zieht: Sie werden zu Sammlerinnen. Ein ganz
einfaches System, das in der Selbstorganisation des Stocks eine große
Wirkung zeigt.
Dieses Gen ist kein besonderes Bienengen, auch bei Fruchtfliegen
führt es zu unterschiedlichen Entscheidungen in der Futtersuche: Die
Fliegenlarven, die forager stärker exprimieren, wandern bei der Futter-
suche stärker umher als die Tiere, deren Aktivität in diesem Gen ge-
ringer ist. Hier haben wir also ein einzelnes Gen, das eine wichtige
Stellschraube im Entscheidungsprozess eines Tieres darstellt. Solche
Gene haben auch Menschen, und sie beeinflussen bei uns die
Schwellen, nach denen wir unser Verhalten steuern. Welches Gen an
den Schwellen für das Tellerwaschen in Wohngemeinschaften beteiligt
ist, muss noch untersucht werden. Es könnte sich durchaus um ein Gen
handeln, das die Geruchsempfindlichkeit beeinflusst und ganz ähnlich
wie forager wirkt.
4. Bewusstsein ist weder in einem Zeitpunkt
noch in einem Ort definierbar
Ich habe bei den Begriffen „Bewusstsein“ und „Freiheit“ darauf hin-
gewiesen, dass diese schlecht definiert sind und sie sich deswegen der
neurowissenschaftlichen Analyse entziehen. Die Problematik entsteht
auch dadurch, dass sich beide Begriffe im allgemeinen Verständnis als
etwas sehr Konkretes darstellen: Ich bin mir bewusst, dass ich frei handle.
Die Ich-Person und das Jetzt sind klare Bestandteile unserer Vorstellung
des Bewusstseins, und so wundert es nicht, dass mit Descartes einer der
einflussreichsten Denker des Abendlandes sich bei der Frage nach der
Ortung des Bewusstseins im Gehirn einen konkreten Ort dachte – das
Pinealorgan. Sicher hat er die Rolle des Bewusstseins immer in der
Der Homunkulus und die Zeit 71
Gegenwart gesehen – in der Gegenwart des „Jetzt“, also zu einem
bestimmten Zeitpunkt. Für Descartes gibt es einen Homunkulus im
Gehirn, der das Bewusstsein darstellt. Dieses Bild steht klar im Wider-
spruch zur heutigen neurobiologischen Forschung: Wenn es ein Be-
wusstsein gibt, egal wie es geartet sein mag, dann ist es weder an einem
Ort, noch an einem Zeitpunkt festzumachen.12
Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Was passiert, wenn
wir etwas bewusst und laut lesen? Prima facie beschreibt das Wort
„lesen“ das, was wir tun. Uns ist genau in dem Moment, in dem wir
einen Satz lesen, der Inhalt dieses Satzes, die Bedeutung der einzelnen
Wörter, der Zusammenhang der verschiedenen Sätze bewusst. Aber so
einfach ist es nicht: Wenn wir uns genau anschauen, was im Gehirn
passiert, stellen wir fest, dass verschiedene Vorgänge, die in unserem
Bewusstsein gleichzeitig ablaufen, in Wirklichkeit zeitversetzt sind,
ohne dass uns das einschränkt.
Wir sehen die Buchstaben mit den Augen. Die optische Information
gelangt aus der Netzhaut zuerst in den Thalamus und daraufhin in den
visuellen Kortex, was über 40 ms dauert und mindestens vier Synapsen
weit entfernt ist. Dann werden die Bilder in zwei parallel verlaufenden
Kaskaden im Gehirn verarbeitet. Schließlich formen die Sprachzentren
die Wörter, das motorische Zentrum kontrolliert – unter Einbezug
eines seitlichen Abzweigs im Kleinhirn – die Muskelbewegungen in
Mund und Rachen, und wir sprechen aus, was wir gelesen haben. Das,
was wir sprechen, ist nicht gleichzeitig mit dem, was wir sehen. Aber
hier hört der Vorgang nicht auf. Das ausgesprochene Wort wird vom
Ohr wahrgenommen. Wieder findet eine Kaskade von neuronalen
Ereignissen statt: Aus den Sinneszellen im Ohr über mehrere Schalt-
stellen bis zum akustischen Zentrum. Die Information vom akustischen
System, die identisch sein muss mit der aus dem optischen System,
kommt in Wirklichkeit erst viel später in gemeinsamen Gehirnarealen
an – und doch haben wir nicht das Gefühl, dass wir wie in einem Echo
alles zwei oder gar dreimal durchmachen: sehen, sprechen, hören.
Unser bewusster Eindruck ist, dass alles gleichzeitig stattfindet. Man
könnte sich vorstellen, dass wir nur einen dieser Eingänge wirklich
verarbeiten, doch das ist nicht der Fall: Die Verzögerung ist feststehend,
ähnlich wie im oben erwähnten Beispiel, bei dem die vor Blüten flie-
12 Michael Stadler hat in seinem Beitrag in diesem Band darauf hingewiesen, dass
die psychologische „Gegenwart“ kein Zeitpunkt ist, sondern ein Zeitraum, der
mehrere Sekunden lang dauert.
72 C. Giovanni Galizia
genden Bienen für ihre Entscheidung, entweder zu landen oder nicht zu
landen, ein festes Zeitintervall benötigen. Wenn wir diese zeitliche
Verzögerung manipulieren – also wenn wir die Ungleichheit stören –
dann gerät das ganze System durcheinander. Dies lässt sich experimentell
leicht zeigen: In einem solchen Experiment liest jemand einen Text in
ein Mikrophon und hört seine eigene Stimme in nach außen isolierten
Kopfhörern. Normalerweise kann man unter solchen Bedingungen sehr
gut vorlesen. Wenn die Stimme aber elektronisch verzögert kommt,
z. B. um 200 ms, so gerät der Leser ins Stottern und der Lesefluss wird
langsamer: Die zu falscher Zeit erfolgende akustische Rückkopplung
bringt den Leser durcheinander. Dieses Phänomen ist unter der Be-
zeichnung DAF für „delayed auditory feedback“ bekannt. Es wird in
der Sprachforschung eingesetzt, unter anderem in der Stottertherapie.
Es zeigt aber auch, dass unser bewusstes „Ich“ im Gehirn nicht in einem
einzigen Zeitpunkt zu verorten ist: Unser Gehirn funktioniert nicht wie
ein Computer, der sequenziell arbeitet. Es gibt kein Jetzt, sondern das
Jetzt ist ein – neuronal gesehen – ausgedehnter Zeitraum.13
Aus der Innenperspektive bleibt das Bewusstsein ein Zeitpunkt, der
notwendigerweise am Ende aller Gehirnaktivitäten, die mit der
Handlung zusammenhängen, stehen muss. Wenn Sie nach einem Glas
greifen, muss das bewusste Gefühl mit der Handlung und nicht mit der
Entscheidung zu handeln zusammenfallen, sonst würden Sie, wie beim
DAF, Entscheidung und Handlung zeitversetzt erleben und ins
„Handlungsstottern“ kommen. Die Gehirnströme, die am ehesten mit
„Bewusstsein“ korrelieren, können also nur nach denen kommen, die
am ehesten mit „Entscheidungsfindung“ korrelieren. Dies wird von
manchen dann so beschrieben, als sei das Bewusstsein eine aufgesetzte
Illusion. Wenn wir aber das Bewusstsein aus seinem Zeitpunkt befreien
und verstehen, dass es sich um eine Zeitspanne handelt, dann löst sich
der Widerspruch auf. Analog zur Relativität der Zeit in der physikali-
schen Welt muss auch der Zeitbegriff für das Bewusstsein relativiert
werden.
13 Darum ist das Libet-Experiment in seinen Grundannahmen falsch, denn es
macht überhaupt keinen Sinn, die Entscheidungsfindung in einen Zeitpunkt
quetschen zu wollen. Allerdings ist aus diesem Fehler der logische Schluss
unzulässig, dass die Schlussfolgerungen des Libet Experiments auch falsch sein
müssen. Wichtig ist: Selbst wenn wir individuell das Gefühl haben, dass wir uns
unserer selbst immer zum jetzigen Zeitpunkt bewusst sind, so ist das ein Irrtum.
Für das Gehirn ist „Jetzt“ eine Zeitspanne und kein Zeitpunkt.
Der Homunkulus und die Zeit 73
Ähnlich wie es keinen Zeitpunkt für das Bewusstsein gibt, ist es mit
dem Ort des Bewusstseins: Es hat keinen Ort; aus grundsätzlichen
Erwägungen heraus kann es keinen Ort für das Bewusstsein geben.
Wenn aber das Bewusstsein eine Netzwerkeigenschaft ist, die sich über
die neuronalen Netzwerke des Gehirns sowohl räumlich als auch zeit-
lich erstreckt, dann bedeutet das, dass es nicht sinnvoll ist, die Funktion
des „Bewusstseins“ des Gehirns getrennt von allen anderen Funktionen
des Gehirns, ja selbst des gesamten Körpers zu betrachten. Es hat einmal
jemand gesagt, er wisse nicht, wie viele Kriege ihre Ursache in einer
Magenverstimmung hätten. Mit anderen Worten: Die Peristaltikbe-
wegung des Darmes ist genauso ein Bestandteil im Entscheidungsprozess
einer Handlung wie unser Gefühl des Bewusstseins.
5. Zusammenfassung und Schlussbemerkung
Ich denke, wir haben einen freien Willen. Ich formuliere bewusst „ich
denke“ und nicht „ich weiß“, denn dies ist kein empirischer Befund.
Das Bewusstsein, so wie auch Moral und Ästhetik, haben sich in der
Evolution durchgesetzt, um bessere Entscheidungen im sozialen Kon-
text zu ermöglichen. Aber diese Aussage treffe ich nicht als Neuro-
wissenschaftler, sondern als denkender Mensch. Selbst die Evolutions-
biologie kann diese Aussage nicht belegen, denn um einen kausalen
oder auch nur korrelativen Zusammenhang nahezulegen, bräuchten wir
mehrere Arten, die wir vergleichen könnten. Doch Bewusstsein kennen
wir bisher nur beim Menschen.
Aus neurobiologischer Sicht lässt sich jedoch klar sagen, dass die
Willensfreiheit, die wir haben, nicht der freie Wille unseres bewussten
Ichs ist – denn solch ein Bewusstsein, das wie ein Homunkulus als
eigene Entität zu betrachten wäre, kann es nicht geben. Es ist der freie
Wille von uns als ganzer Person. Forschungsgegenstand und Aufgabe
der Psychologie ist es zu untersuchen, wie wir – als einzelne Menschen
– in bestimmten Situationen bestimmte Entscheidungen treffen. Wie
wir als Gruppen Entscheidungen treffen, wird von der Soziologie un-
tersucht. Die Konsequenzen dieser Einsichten für unser Denken über
uns selbst aufzuspüren, ist Aufgabe der Philosophie. Wie das Gehirn das
tut, das können die Neurowissenschaften eruieren – aber nicht be-
gründen, dass das Gehirn es tut. Damit wir über die Disziplinen hinweg
unsere Grenzen sehen und uns trotzdem über diese Grenzen hinweg
verstehen, benötigen wir den interdisziplinären Diskurs.
74 C. Giovanni Galizia
– Die Neurowissenschaften sind eine experimentelle und empirische
Wissenschaft – wenn sie diesen Boden verlassen, werden sie zu einer
anderen Disziplin, etwa der Neurophilosophie, und es gelten andere
Regeln.
– Tiere treffen – genauso wie wir Menschen – Entscheidungen, und in
manchen Fällen kennen wir die rückgekoppelten Entscheidungs-
netzwerke, zu denen Gene, Gehirne und Gemeinschaften beitragen.
– Sowohl „Freiheit“ als auch „Bewusstsein“ sind Begriffe, die innerhalb
der Neurowissenschaften nicht sauber definierbar sind und sich dem
Instrumentarium der Neurowissenschaften entziehen.
– Wir können aber beweisen, dass Bewusstsein weder an einem Ort
noch an einer Zeit festzumachen ist. Deswegen muss man anders über
Bewusstsein nachdenken, als es üblicherweise der Fall ist.
Bibliographie
Ben-Shahar, Yehuda (2005): The Foraging Gene, Behavioral Plasticity, and
Honeybee Division of Labor. In: Journal of Comparative Physiology A:
Neuroethology, Sensory, Neural, and Behavioral Physiology (191), 987 – 994.
Ditzen, Mathias/Evers, Jan-Felix/Galizia, C. Giovanni (2003): Odor Similarity
Does not Influence the Time Needed for Odor Processing. In: Chemical
senses (28), 781 – 789.
Galizia, C. Giovanni/Menzel, Randolf (2001): The Role of Glomeruli in the
Neural Representation of Odours: Results from Optical Recording Stu-
dies. In: Journal of Insect Physiology (47), 115 – 130.
Gerhardt, Volker/Heilinger, Jan-Christoph (2005): Funktionen des Bewusst-
seins. Antrag beim Bundesministerium für Bildung und Forschung zur
Einrichtung einer Forschergruppe (Ms.).
Howell, Peter/Archer, Alexander (1984): Susceptibility to the Effects of De-
layed Auditory Feedback. In: Perception & Psychophysics (36), 296 – 302.
Jones-Smith, Katherine/Mathur, Harsh (2006): Fractal Analysis: Revisiting
Pollock’s Drip Paintings. In: Nature (444), E9 – 10; discussion E10 – 11.
Menzel, Randolf/Giurfa, Martin (2001): Cognitive Architecture of a Mini-
Brain: The Honeybee. In: Trends in Cognitive Sciences (5), 62 – 71.
Menzel, Randolf/Müller, Uli (1996): Learning and Memory in Honeybees:
From Behavior to Neural Substrates. In: Annual Review of Neuroscience (19),
379 – 404.
Taylor, Richard P./Micolich, Adam P./David, Jonas (1999): Fractal Analysis of
Pollock’s Drip Paintings. In: Nature (399), 422.
Taylor, Richard P./Micolich, Adam P./Jonas, David (2006): Fractal Analysis:
Revisiting Pollock’s Drip Paintings (Reply). In: Nature (444), E10 – 11.
Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Entscheiden mit implizitem Wissen
RANDOLF MENZEL
Das Gehirn verfügt über viele Wissensformen. Für Geisteswissen-
schaftler ist es selbstverständlich, dass das Wissen bewusst zugänglich ist
und in Sprache ausgedrückt wird (deklaratives bzw. explizites Wissen).
Dies ist aber nur eine Wissensform. Eine Fülle von anderen Wissens-
formen wird als implizites Wissen bezeichnet, all jenes Wissen, das dem
Menschen nicht bewusst zugänglich ist, über das auch Tiere verfügen
und das unser Verhalten (inklusive unseres Denkens und unserer
Emotionen) in hohem Maße bestimmt. Ich stelle hier die Frage: Was
leistet das implizite Wissen und in welchem Bezug steht es zum ex-
pliziten Wissen? Wie ist es organisiert und wie steuert es Verhalten so,
dass zwischen zwei oder mehreren Optionen entschieden wird? Auf
welchen Ebenen der Kognition spielen sich Operationen an implizitem
Wissen ab? Es wird sich herausstellen, dass es angemessen ist, Begriffe
wie Planen, Wählen, Entscheiden nicht auf explizites Wissen zu be-
schränken. Dies ist für unser Nachdenken über die Naturgeschichte der
Freiheit in zweierlei Hinsicht von eminenter Bedeutung. Einmal wird
die Vorstellung korrigiert, dass nur bewusst werdende Vorgänge unsere
Entscheidungen bestimmen. Zum anderen werden die bewusst wer-
denden Entscheidungen in eine Kontinuität neuronaler Vorgänge ein-
gebettet, für die eine Dichotomie zwischen „freien“ bewussten Ent-
scheidungen und „unfreien“ vorbewussten Entscheidungen wenig Sinn
macht.
Um die Radikalität meines Ansatzes gleich zu Anfang deutlich zu
machen: Meine Argumente werden mich dazu führen, die Differen-
zierung in implizites und explizites Wissen als eine vorübergehende,
pragmatische und nicht grundsätzliche Unterscheidung von Wissens-
formen zu betrachten. Das hat weit reichende Folgen. So entfällt dann
auch die häufig zitierte Unterscheidung zwischen leichten und
schweren Problemen bei der Suche nach den Ursachen und Prozessen
des Bewusstseins. Allerdings werde ich ebenfalls aus pragmatischen
Gründen statt von „dem bewusst werdenden Teil der Gehirnarbeit“
abgekürzt von „Ich“ reden.
76 Randolf Menzel
Die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem (deklara-
tivem) Wissen, die in der kognitiven Neurowissenschaft heute eine
zentrale Rolle spielt, hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und begann
mit der Einsicht von Johannes Müller, wonach für jede Erfahrung eine
für das betreffende Sinnessystem spezifische neuronale Leitungsbahn
zuständig ist (er nannte das die „spezifische Nervenenergie“). Sein
Schüler Hermann von Helmholtz, der als erster die Leitgeschwindigkeit
der Aktionspotentiale maß, erklärte für den Sehsinn, dass ein Großteil
der geistigen Prozesse, die mit der visuellen Wahrnehmung und dem
Handeln zusammenhängen, auf unbewusster Ebene stattfinden. Diesen
Gedanken griff Sigmund Freud in seinen Traumdeutungen auf und
machte ihn zur zentralen Prämisse seiner psychoanalytischen Theorie.
Der englische Psychologe William James unterschied in seinem klassi-
schen Lehrbuch „The Principles of Psychology“ zwischen Gewohn-
heiten (unbewusstes, mechanisches, reflexhaftes Handeln) und Ge-
dächtnis (bewusste Handeln aus der Kenntnis der Vergangenheit)
( James, 1981). In der Mitte des 20. Jahrhunderts führte der Philosoph
Gilbert Ryle die Unterscheidung zwischen „Wissen wie“ (Kenntnis von
Fertigkeiten) und „Wissen was“ (Kenntnis von Fakten und Ereignissen)
ein (Ryle, 1969). Für die heutige Begriffsbestimmung, wie sie in der
Neurowissenschaft verwendet wird, ist die von Squire und Schacter
vertretene Differenzierung bedeutsam, in der zwischen bewusst erleb-
tem Erinnern (explizites oder deklaratives Gedächtnis), das sich beim
Menschen auf Orte, Objekte, Fakten und Ereignisse bezieht, und un-
bewusstem Erinnern (implizites oder prozedurales Gedächtnis), das
Habituation, Sensitivierung, Konditionierung, Wahrnehmungs- und
Bewegungsfertigkeiten umfasst, unterschieden wird (Squire, 1987;
Schacter, 1999). Diese Begriffsbestimmungen wurden wesentlich ge-
prägt durch Analysen neurologischer Patienten wie dem Patienten
H.M. (Milner et al., 1998), bei denen die Bildung des bewusst wer-
denden Langzeitgedächtnisses in Folge einer Zerstörung des Hippo-
kampus beeinträchtigt ist, aber das prozedurale Gedächtnis nicht gestört
ist. Letzteres beruht auf Funktionen anderer Gehirnstrukturen wie z. B.
der Amygdala beim Furchtlernen oder dem Striatum und Kleinhirn
beim motorischen Lernen. Auf der Grundlage solcher Struktur-Funk-
tionsbeziehungen lässt sich dieses Begriffspaar auch auf Säugetiere (und
über evolutive Argumente auf Vögel, Reptilen, Amphibien und Fische)
anwenden.
Ich werde in meinem Beitrag unter implizitem Wissen all jene
Wissensformen subsumieren, die beim Menschen unbewusst bleiben
Entscheiden mit implizitem Wissen 77
(oder wieder unbewusst werden, wie das bei vielen automatisierten
Wahrnehmungs- und Bewegungsleistungen der Fall ist), und über die
auch Tiere verfügen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass ich mich
zuerst in die Denkweise der Neurobiologie einklinken kann und die
Frage erst einmal offen lasse, ob es einen prinzipiellen Unterschied
zwischen Handeln mit impliziten oder expliziten Wissen gibt. Ich
werde am Ende meiner Ausführungen schließen, dass ich keine er-
kenntnistheoretisch begründbaren Argumente für eine solche Unter-
scheidung sehe. Die Begrifflichkeit erscheint mir ausschließlich prag-
matischer Natur, so etwa wie in der Neurowissenschaft zwischen
Willkürmotorik und nicht-willkürlicher Motorik unterschieden wird
und dann gezeigt wird, dass damit auf die unterschiedliche Beteiligung
von Gehirnarealen Bezug genommen wird. Das Gehirn mit seinem
impliziten Wissen passt Verhalten an neue Bedingungen an, erwartet
zukünftige Ereignisse und wählt Wahrnehmungs- und Handlungswei-
sen entsprechend den erwarteten Zuständen aus mehreren Optionen
aus. Dabei lernt das implizite Wissenssystem (fügt also neues Wissen
dem Gedächtnis zu), selektiert innere und äußere Zustände und ent-
scheidet, ohne dass uns von all dem etwas bewusst wird. Hierbei ver-
wende ich die Begriffe „Erwarten“, „Selektieren“, „Wählen“, „Ent-
scheiden“ nicht im übertragenen oder metaphorischen Sinne, sondern
genau so wie die Begriffe es in ihrer ursprünglichen Aussage ausdrü-
cken: nämlich, dass da ein „Etwas“ ist (das sind natürlich Teile des
Gehirns und ihre Verschaltungen), das die relevante Information ge-
speichert hat, diese situationsgerecht aufruft, über eine Ebene zur
Verhandlung zwischen erwarteten und bewerteten Optionen verfügt
und Wahrnehmungen wie auch Handlungen steuert. Im Verlaufe
meines Beitrages wird deutlich werden, warum es mir gerechtfertigt
erscheint, diese Begriffe ohne Einschränkung auf das implizite Wissen
anzuwenden. Ich werde am Schluss auf diese Frage nochmals eingehen.
1. Informationsquellen des impliziten Wissens
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie gehen eine Treppe hinunter,
plötzlich erschrecken Sie, weil Sie ins Leere treten. Viel später als Ihr
Körper (Gehirn, Muskel), der dem drohenden Stolpern und Hinfallen
entgegen gewirkt hat, wird Ihnen bewusst, dass „Sie“ keine weitere
Treppenstufe erwartet hatten, dass da aber eine war und „Sie“ deshalb
fast gestürzt wären, hätten „Sie“ nicht eine geschickte und schnelle
78 Randolf Menzel
Ausweichbewegung gemacht. Allerdings wird Ihnen das erst bewusst,
nachdem der ganze Vorgang längst abgelaufen ist und der Schrecken
Ihnen in die Glieder gefahren ist. Ihr bewusstes „Ich“ war an dem
ganzen Vorgang nicht beteiligt, weder beim Erwarten der weiteren
Stufe noch bei den schnellen Ausweichbewegungen. Erst der Schrecken
und der Rückblick auf das gerade Geschehene werden Ihnen bewusst.1
Wo kam also die Information über die Erwartung der weiteren Trep-
penstufe her und was hat die schnellen Bewegungen gesteuert? Na-
türlich war es Ihr Nervensystem, das aufgrund vorangegangener Lern-
erfahrungen all die komplexen Vorgänge beim Treppensteigen erlernte
und die entsprechenden Prädiktionen für die nächsten Bewegungsab-
folgen und Sinneserfahrungen erzeugte. Auch die schnellen Aus-
weichbewegungen hat Ihr Nervensystem mit rasanter Geschwindigkeit
und zum Vorteil für Ihre Knochen generiert.
Verhaltensbiologen haben in den letzten 150 Jahren Begriffssysteme
entwickelt mit denen die Quellen der Information, die für die Ver-
haltenssteuerung eingesetzt werden, erfasst werden. Ethologen betonen
die angeborenen Verhaltensweisen, die Auslösemechanismen, die un-
bedingten Reflexe, die rhythmischen Koordinationen, die genetische/
phylogenetische Vorbereitung von Lernvorgängen und die Spontaneität
der Verhaltensgenerierung nach inneren Bedürfnissen. All diese Quellen
der Information können wir als das „phylogenetische Gedächtnis“ zu-
sammenfassen, jenes Gedächtnis, das im Verlaufe der Evolution der
Spezies zukommt und das Gehirn mit Information ausstattet bevor in-
dividuelles Lernen einsetzt, und das auch Anweisungen enthält, wie und
was gelernt werden kann. Pavlov in Russland und die experimentellen
Psychologen in Amerika (erst Thorndike, dann Skinner, Hull und an-
dere) betonten den Informationsgewinn durch assoziatives Lernen.
1 An dieser Stelle möchte ich das gerade Gesagte in der unpraktischen Formu-
lierungsweise wiederholen, weil sie zutreffender wäre: Der Körper und sein
Gehirn gehen eine Treppe hinunter, plötzlich erschreckt der bewusst werdende
Teil des Gehirns, weil der Körper ins Leere getreten ist. Die Diskrepanz zwi-
schen Erwartungszustand des Gehirns und tatsächlichem Zustand der Welt
wurde von dem nicht bewusst machenden Teil des Gehirns schnell reguliert,
der Körper wurde am Abstürzen mit einer schnellen Ausweisbewegung ge-
hindert und erst viel später hat der bewusst machende Teil des Gehirns die
unzutreffende Vorhersage des nicht bewusst machenden Gehirns als Schrecken
registriert. Es ist offenkundig, warum wir mit dem jetzigen Kenntnisstand der
Neurowissenschaften und der Art der sprachlichen Mitteilung die pragmatische
Formulierung mit Bezug auf ein „Ich“ wählen.
Entscheiden mit implizitem Wissen 79
Stimuli und eigene Verhaltenweisen werden durch diesen Vorgang mit
prädikativer Stärke ausgestattet, die von der Kontiguität (der zeitlichen
Paarung der Ereignisse) und der Kontingenz (der Wahrscheinlichkeit
ihrer Paarung) abhängt. Damit dieses „Individualgedächtnis“ erweitert
werden kann, bedarf es einer Abweichung von der Erwartung: Nur das,
was nicht bereits sicher erwartet wird (vom Individualgedächtnis sicher
vorhergesagt wird), wird gelernt (Rescorla/Wagner, 1972). Diese Dif-
ferenzregel stellt die Grundlage für außerordentlich starke Theorien der
Verhaltensgenerierung dar, die zunehmend mit neuronalen Mechanis-
men untermauert werden (Schultz, 2006). Grundlage dieser Theorien
ist die Annahme, dass jede Verhaltensweise mit Bezug auf den erwar-
teten Effekt generiert wird, also vor ihrer motorischen Verwirklichung
„innerlich verhandelt“ wird. Bei einfachen Handlungsabläufen ist dies
ein neuronales Signal, das als Efferenzkopie (eine Kopie derjenigen
neuronalen Erregungsmuster, die an den motorischen Apparat geschickt
werden) die zu erwartende sensorische Konstellation nach Ausführen der
Handlung bereits enthält, vom zentralen Nervensystem generiert wird
und an neuronale Instanzen geschickt wird, in denen es mit den später
sich tatsächlich einstellenden sensorischen Rückmeldungen verglichen
wird. Für komplexere Verhaltensweisen ist die Ebene der „inneren
Verhandlung“ das Arbeitsgedächtnis, auf das ich unten eingehe.
„Inneres Verhandeln“ auf der impliziten Ebene spielt auch bei der
spontanen Generierung von Verhaltensweisen eine Rolle. Die Kon-
zepte der experimentellen Psychologen der amerikanischen Schule sind
letztlich daran gescheitert, dass sie die Spontaneität der Verhaltensge-
nerierung durch das Nervensystem ignorierten oder unterbewerteten.
Gehirne produzieren sinnvolle Verhaltensweisen auch ohne äußere
Auslöser, mögen dies so einfache Bewegungsabfolgen wie rhythmische
motorische Muster, erhöhte Sensibilität für bestimmte sensorische
Eingänge oder gerichtete Aufmerksamkeit sein. Hier soll nicht der Frage
nachgegangen werden, welche Ursachen diese Spontaneität des Gehirns
hat, obwohl dies eine spannende Thematik wäre und sich zeigen ließe,
dass es keinen Grund gibt, vom „radikalen Physikalismus“, wie ihn
Alfred Gierer in seinem Beitrag im Humanprojekt vertreten hat, ab-
zuweichen. Entscheidend für unsere Argumentation ist, dass solche
spontanen Aktionen und Wahrnehmungseinstellungen jeweils der ak-
tuellen inneren wie äußeren Situation des Menschen/Tieres angemessen
sind, dass also auch diese „innerlich verhandelt“ werden bevor sie sich
auswirken und dass sie durch Vergleich zwischen Erwartung aufgrund
80 Randolf Menzel
des vom Nervensystem generierten Signals und den Rückmeldungen
aus Umwelt und Körper angepasst werden.
Zwei Prinzipien wirken zusammen, um sinnvolles und eindeutiges
Verhalten und Wahrnehmung zu erzeugen, das oben genannte Prinzip
der Efferenzkopie und das der lateralen Hemmung, auf beide werde ich
noch eingehen. Im hungrigen Zustand zum Beispiel werden Erwar-
tungsbilder (-gerüche, -töne) für die Ernährung vom Gehirn generiert,
diese werden dann besonders sensibel und differenzierend wahrge-
nommen und von anderen Eindrücken durch spezifische Hemmung
hervorgehoben. Andere Wahrnehmungs- und Verhaltensoptionen
werden durch laterale Hemmung unterdrückt. Diese Mechanismen sind
zielorientiert, enthalten also Informationen über die erwarteten Um-
weltereignisse, werden vom Gehirn als Prädiktionen zukünftiger Er-
eignisse erzeugt, und alle Abweichungen in der Umwelt werden durch
Differenzbildung zur Efferenzkopie selektiv verstärkt.
2. Wie wird mit implizitem Wissen entschieden:
Die Rolle des Arbeitsgedächtnisses
Oben habe ich zwischen phylogenetischem und individuellem Ge-
dächtnis unterschieden. Für die neuronalen Mechanismen der Infor-
mationsspeicherung ist diese Differenzierung nicht bedeutsam. Für die
Verhaltenssteuerung über implizites Wissen ist es eher nebensächlich, ob
die Inhalte des Gedächtnisses mehr oder weniger aus dem phylogene-
tischen oder individuellen Gedächtnis stammen, da die neuronalen
Mechanismen, die für die Speicherung und Nutzung im Nervensystem
von Bedeutung sind, sich, nach all dem, was wir wissen, nicht grund-
legend unterscheiden. Im obigen Beispiel der unerwarteten Stufe
stammt die Erwartung aus dem Individualgedächtnis, während die
schnellen Schutzreaktionen überwiegend mit Informationen aus dem
phylogenetischen Gedächtnis gesteuert werden. Was uns von all dem im
Nachhinein bewusst wird, hängt nicht davon ab, aus welcher Infor-
mationsquelle die Reaktionen gesteuert wurden (allerdings wird es
Bereiche des phylogenetischen Gedächtnisses und des frühkindlichen,
erworbenen Gedächtnisses geben, die uns nicht bewusst zugänglich
sind, ebenjene, die Sigmund Freud so nachhaltig beschäftigt haben). Ich
werde daher im Weiteren von „dem“ Gedächtnis sprechen und dar-
Entscheiden mit implizitem Wissen 81
unter einen Informationsspeicher verstehen, der sich aus phylogenetisch
und individuell erworbener Information speist.
Das Gedächtnis ist keine einheitliche Funktion und hat keinen
einzelnen Ort im Gehirn. Vielmehr stellt es eine dynamische Eigen-
schaft des Nervensystems dar. Für unsere Gedankengänge sind folgende
Eigenschaften bedeutsam: (1) Gedächtnis entsteht durch Lernvorgänge,
in die phylogenetisches Gedächtnis mit eingeht (nicht alles kann gelernt
werden; bestimmte Lernvorgänge führen schnell, andere nur sehr
langsam zur Gedächtnisbildung, in manchen Entwicklungsphasen kann
ein Gedächtnis rasch und effektiv gebildet werden, in anderen nicht).
(2) Die Gedächtnisbildung ist ein dynamischer Vorgang, in dem sich die
selbstorganisierende Funktion des Nervensystems ausdrückt. Dies spie-
gelt sich in der zeitlichen Aufeinanderfolge von Kurz-, Mittel- und
Langzeitgedächtnis wider, denen verschiedene physiologische Mecha-
nismen und unterschiedliche Orte im Gehirn zukommen, und während
denen die Gedächtnisinhalte sowohl hinsichtlich ihrer Stabilität wie
auch hinsichtlich ihrer Inhalte verändert werden. (3) Gedächtnisinhalte
sind im Gehirn örtlich verteilt, wobei vor allem solche Lokalisationen in
unserem Zusammenhang von Interesse sind, die sich auf abgeleitete,
nicht direkt mit sensorisch-motorischen Leistungen zusammenhängen-
de Eigenschaften beziehen. Ein Beispiel hierfür wäre die Rolle des
Hippokampus beim Menschen für die Bildung (nicht aber die lang-
zeitige Speicherung) von deklarativem (explizitem) Gedächtnis. (4) Für
das Aufrufen aus dem Langzeitspeicher, den Vergleich mit der aktuellen
äußeren und körpereigenen Situation und das „Verhandeln“ von ziel-
gerichteten Optionen ist das Arbeitsgedächtnis zuständig.
Dem Arbeitsgedächtnis kommen folgende Funktionen zu (Abb. 1):
(1) Vorübergehender Speicher mit begrenzter Kapazität (Kurzzeit-Ge-
dächtnis); (2) Wechselseitige Kommunikation mit dem Referenzge-
dächtnis (Langzeit-Gedächtnis), wobei relevante Inhalte aus dem Re-
ferenzgedächtnis aufgerufen werden und solche aus dem Arbeitsge-
dächtnis ins Referenzgedächtnis übergeführt werden; (3) „Inneres
Verhandeln“ durch Produzieren von Verhaltensoptionen, die „inner-
lich“, d. h. auf der Ebene des Arbeitsgedächtnisses ausgeführt werden,
und deren erwartete Folgen mit den Zielvorgaben verglichen werden;
(4) Entscheiden nach wenigen oder vielen Iterationen des „inneren
Verhandelns“.
Auf der Verhaltensebene werden die Funktionen des Arbeitsge-
dächtnisses durch eine Reihe standardisierter Tests untersucht, zu denen
etwa das Vergleichslernen (matching-to-sample, MTS bzw. matching-
82 Randolf Menzel
Abb. 1: Schema der Verknüpfung des Arbeitsgedächtnisses mit dem Referenzge-
dächtnis und der Außenwelt.
to-non sample MTNS), der sternförmige Irrgarten und der serielle
Positionstest gehören. In all diesen Tests merkt sich ein Tier oder ein
Mensch einen Stimulus oder ein Verhalten für einige Zeit und richtet
sein folgendes Verhalten nach einer entsprechenden Regel aus. Beim
MTS Test besteht die Regel etwa darin, dass derselbe Stimulus zu
wählen ist, beim MTNS muss gerade ein verschiedener Stimulus ge-
wählt werden; im sternförmigen Irrgarten gilt die Regel, nicht wieder
den bereits gewählten Arm erneut zu wählen. Im seriellen Positionstest
drückt sich das Arbeitsgedächtnis darin aus, dass z. B. in Wortlisten oder
in Bilderfolgen die jeweils ersten und letzten Items besonders gut er-
innert werden. Das Arbeitsgedächtnis ist also nicht nur ein zeitlich
begrenzter Speicher, sondern enthält auch Regeln, nach denen Ent-
scheidungen an den Inhalten getroffen werden sollen. Dass die Regeln,
nach denen das Arbeitsgedächtnis seine Entscheidungen an Inhalten
fällt, die sprachlich zugänglich sind, nicht bewusst werden müssen, wird
z. B. mit folgender Beobachtung belegt: Versuchspersonen werden
lange Listen von Buchstaben gezeigt (etwa H D S S O H D F S S A H
D…), wobei nach einiger Zeit gefragt wird, welcher Buchstabe einem
anderen folgt. Die Versuchspersonen geben an zu raten und erkennen
keinerlei Struktur in der Buchstabenfolge, nennen aber solche Buch-
stabenfolgen häufiger, die einer Regel unterliegen (im obigen Beispiel,
dass auf H ein D folgt, dass auf S ein Vokal folgt und dass Vokale stets
von einem H gefolgt werden). Das Arbeitsgedächtnis wendet also im-
plizit Regeln an, nach denen seine Operationen verlaufen.
Die begrenzte Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses wird
durch die berühmte 7+/-2 Formel von Inhalten (items) charakterisiert.
Bereits 1890 wurde die „Intelligenz“ von Schülern von einem Lon-
doner Lehrer mit dem so genannten „digit span test“ untersucht, wobei
die Aufgabe darin bestand, vorher genannte Zahlenreihen rückwärts zu
wiederholen. Dabei ereichten „intelligente“ Schüler eine digit span von
Entscheiden mit implizitem Wissen 83
Abb. 2: Schema der Vernetzung des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley und Hitch
(1974).
6 – 7 (Baddeley, 1986). Heute weiß man, dass die so gemessene Ka-
pazität des Arbeitsgedächtnisses von der Komplexität der zu merkenden
Objekte abhängt (etwa bei Sehobjekten) und dass verschiedene Ge-
hirnregionen für abstrakte Objekte, wie Zahlen, und konkrete Objekte,
wie Sehobjekte, zuständig sind.
Baddeley und Hitch schlugen 1974 eine Struktur des Arbeitsge-
dächtnisses vor, die sie aus Beobachtungen und Messungen von
sprachlichem und visuellem Lernen beim Menschen ableiteten (Bad-
deley/Hitch, 1974) (Abb. 2).
Im Zentrum steht ihre Annahme, dass das Arbeitsgedächtnis Sub-
strukturen aufweist und dass diese in rückgekoppelter Weise mitein-
ander verknüpft sind. Diese Rückkopplungsschleifen können über die
Außenwelt laufen (äußeres Handeln) oder auf die „Innenwelt“ des
Gehirns beschränkt sein („inneres Handeln“). Letztere Schleifen dienen
in ihrem Modell den drei zentralen Funktionen des Arbeitsgedächt-
nisses, der Prädiktion, der Selektion und der Entscheidung.
Für diese zentralen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses lassen sich
korrespondierende neuronale Mechanismen angeben, die auf einer
elementaren Ebene als ursächlich für die damit beschriebenen Leistun-
gen betrachtet werden können. Hierauf will ich im Folgenden kurz
eingehen.
Pr!diktion: Wie bereits oben betont, nimmt jedes neuronale Kommando
zum Handeln bereits die Folgen des Handelns vorweg (Efferenzkopie),
ein Ausdruck des impliziten Erwartens der Folgen. Die Neurowissen-
schaft kennt eine riesige Anzahl von Beispielen. Ich will hier noch ein
im Anschluss an Helmholtz besonders detailreich untersuchtes Beispiel
nennen. Wenn Tiere und Menschen eine Augenbewegung (Sakkade)
84 Randolf Menzel
durchführen, dann erscheint ein Gegenstand anschließend auf einer
anderen Stelle der Retina und damit in einem anderen räumlichen
Bezug zu dem visuellen Referenzsystem im Auge und Gehirn. Das
Kommando, das die Sakkade auslöst, verstellt gleichzeitig die Raum-
wahrnehmung so, dass sie der erwarteten Raumverschiebung entspricht.
Diese Verstellung der Raumwahrnehmung lässt sich bis auf die Ebene
der rezeptiven Felder in der primären visuellen Kortex-Region ver-
folgen, in der nun die Position der rezeptiven Felder so verschoben
wird, dass sie der erwarteten nach der durchgeführten Augenbewegung
entspricht (Sundberg et al., 2006). Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil
man den Effekt im Selbstversuch gut feststellen kann: Bei leichtem
seitlichen Druck auf Ihren Augapfel fehlt diese Efferenzkopie und die
Welt bewegt sich, die neuronale Raumverstellung wird also nicht
prospektiv eingestellt. Ein weiterer Grund für die Wahl dieses Beispiels
ist, dass Helmholtz dieses Phänomen als Ausgangspunkt für seine oben
zitierte Schlussfolgerung von der Fülle der nicht bewusst werdenden
Vorgänge im Gehirn nahm.
Der Efferenzkopie-Architektur kann man eine sehr wichtige Rolle
bei der Identifikation des Gehirns mit seinem Körper, also der Gene-
rierung eines „Ichs“, zuschreiben. Diese Architektur führt notwendi-
gerweise zu einer Klassifizierung von Signalen als entweder extern oder
intern generiert und liefert damit die Grundlage, eine innere Verursa-
chung („Agency“) zu vermuten. Gäbe es nämlich keine Efferenzkopie-
Architektur, gäbe es auch keine Unterscheidungsmöglichkeiten zwi-
schen „Selbst“ und dessen Taten, und keine zwischen der Welt und
ihren Ereignissen.
Selektion: Wenn zwei oder mehrere Handlungs- oder Wahrneh-
mungsoptionen durch Aufrufen aus dem Referenzgedächtnis ähnlich
wahrscheinlich sind, dann muss eine Selektion erfolgen. Das elementare
Schaltprinzip wurde bereits genannt, die laterale Inhibition. Ich will
wieder nur ein Beispiel geben, das ebenfalls auf der neuronalen Ebene
beim Tier sehr genau untersucht wurde. In unserer Wahrnehmung ist
dies das Phänomen der Kippbilder. Sie kennen das Bild einer Vase,
deren Konturen auch als zwei gegenüberstehende Gesichter wahrge-
nommen werden können. Diese beiden Wahrnehmungen treten nie
gemeinsam auf, sondern kippen von dem einen in den anderen Zustand,
bei längerem Hinsehen häufig in einem regelmäßigen Rhythmus.
Vergleichbare Phänomene ließen sich aus dem motorischen Bereich
anführen, wenn es also darum geht, zwischen zwei möglichen Bewe-
Entscheiden mit implizitem Wissen 85
gungsabfolgen eine auszuwählen. Die neuronale Implementierung der
lateralen Inhibition lässt sich auf der Ebene der einzelnen Neurone, der
Netzwerke von Neuronen und der Verschaltung zwischen Arealen des
Gehirns verfolgen. Es handelt sich demnach um ein universelles Prinzip
mit dem im Nervensystem Eindeutigkeit erzeugt wird, eine Eindeu-
tigkeit, die grundlegend wichtig für die Verhaltenssteuerung ist, kann
doch zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur eines getan werden. Die so
erzielte Eindeutigkeit ist bei nahe beieinander liegenden Optionen
häufig mit einem rhythmischen Wechsel zwischen diesen Optionen
verbunden, eine Eigenschaft, die weiter unten nochmals von Bedeu-
tung sein wird.
Entscheiden: Vorraussetzung für eine Entscheidung ist die Wahl zwi-
schen zwei oder mehreren Optionen und ein Prüfen der Folgen dieser
Wahl ohne ein äußeres Handeln im Sinne eines Ausprobierens. Aus
dem oben Gesagten wird ersichtlich, dass dem Arbeitsgedächtnis bei
nahe beieinander liegenden Optionen ein zeitlicher Wechsel in der
neuronalen Aktualität der Optionen zur Verfügung steht, wie uns dies
etwa bei den Kippbildern in der Wahrnehmung zugänglich wird.
Entscheiden besteht nun auf der neuronalen Ebene des Arbeitsge-
dächtnisses darin, dass die nacheinander aktivierten Optionen die für sie
relevanten Handlungsabfolgen so auslösen, dass nur die Efferenzkopie
entsteht, nicht aber das motorische Muster ausgeführt wird. Die Effe-
renzkopie wird nun mit den Erwartungen verglichen, die aus dem
Referenzgedächtnis aufgerufen werden, wobei das Referenzgedächtnis
die Funktion der (inneren) Wirklichkeit übernimmt. Dieser Vergleich
führt nun zu einer spezifischen Aktivierung, und das tatsächliche Aus-
führen einer der Optionen wird mehr oder weniger wahrscheinlich.
Welche Hinweise für solch ein inneres Verhandeln an impliziten In-
halten auf der Ebene des Arbeitsgedächtnisses gibt es? In der Neuro-
wissenschaft wurde eine Reihe von Paradigmen experimentell über-
prüft, die einen Hinweis auf neuronale Korrelate des nicht bewussten
Entscheidens an Optionen geben. Eine lesenswerte Zusammenstellung
findet man bei Smith-Churchland (Smith-Churchland, 2002, 142–156).
Ein weiteres Beispiel sind die von Rizzolati gefundenen Spiegelneu-
rone. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass zwei Ge-
sprächspartner häufig die gleiche Körperhaltung einnehmen (Arme
verschränken, Hände in die Hosentaschen, etc.). Im inferioren parie-
talen Lobus (IPL), einem Bereich des prämotorischen Kortex, wurden
von Rizzolatti Neurone im Affengehirn (und neuerdings mit fMRI
86 Randolf Menzel
auch im menschlichen Gehirn) entdeckt, die er als Spiegelneurone
bezeichnete. Sie sind für die gleichen Arm-Hand-Bewegungen zu-
ständig, ob nun diese Bewegung von dem Tier ausgeführt werden oder
ob das Tier diese bei einem anderen Tier (oder beim Menschen) be-
obachtet (Rizzolatti/Craighero, 2004). Diese Neurone erhalten ihre
Eingänge von visuellen Neuronen im superioren temporalen Sulkus
(STS) und senden eine Efferenzkopie für geplante Aktionen zurück zu
den STS Neuronen, wo sie mit der erwarteten Bewegung verglichen
werden (Iacoboni, 2005), sie stellen also neuronale Implementierungen
von Entscheidungsstrukturen dar. Auch wenn die Bewegungen nicht
ausgeführt werden, sind sie aktiv und stellen Optionen für Handlungen
im sozialen Kontext zur Verfügung. Subjektiv zugänglich ist uns der
Vorgang des Entscheidens an impliziten Entscheidungsvorgängen bei
dem Phänomen des Namensuchens. Ihnen fällt ein Name oder Begriff
nicht ein. Sie sagen vielleicht, ,das blockiere ich gerade‘, geben die
Suche auf, und nach einer gewissen Zeit stellt sich der Name oder
Begriff wie von selbst ein, wenn Sie gerade nicht daran denken oder
bewusst danach suchen. Der Suchvorgang war also kein bewusster und
hat sich in ihrem Arbeitsgedächtnis „automatisch“ abgespielt.
3. Die globale Struktur des Arbeitsgedächtnisses
Die bisher genannten Teilfunktionen des Arbeitsgedächtnisses wurden
in einem Schema zusammengefasst, in dem den Teilfunktionen be-
stimmte Gehirnareale des Säuger- und Menschengehirns zugeordnet
werden (Abb. 3).
Zwei Schaltkreise sind für zwei Aspekte des Arbeitsgedächtnisses,
seine eher starren und seine hoch flexiblen Eigenschaften, zuständig: (1)
Die „modellfreien Systeme“, bei denen die Funktion des Auslesens aus
dem Referenzgedächtnis (mit seinen phylogenetisch und individuell
erworbenen Inhalten) im Vordergrund steht. Diese werden z. B. von
den Basalganglien (etwa dem Belohnungssystem im ventralen Teg-
mentum mit seinen Dopamin-Neuronen) dominiert. (2) Die „modell-
basierten Systeme“ im präfrontalen Kortex mit ihrem flexiblen Umgang
mit nur kurze Zeit zurückliegenden Ereignissen. In beiden Systemarten
ergeben sich die Funktionen des Arbeitsgedächtnisses aus den Ver-
schaltungen insbesondere über die rekurrenten Schleifen zwischen den
Gehirnarealen (Abb. 3). Die Dopamin-Neurone des ventralen Teg-
mentums passen sich z. B. nach der Differenzregel für Lernen (s.o.) an,
Entscheiden mit implizitem Wissen 87
Abb. 3: Die globale Struktur des Arbeitsgedächtnisses. Abkürzungen: DA System:
System der Dopamin Neurone im ventralen Tegmentum, Inf. priet.: Inferiorer
parietaler frontaler Kortex; Sup. temp.: Superiorer temporaler Sulkus.
integrieren über längere Zeit und stellen so ein Referenzgedächtnis für
die erwartete Belohnung einer geplanten Aktion dar (Daw et al., 2005).
Der präfrontale Kortex speichert kürzlich erfahrene Signal-Bewer-
tungszusammenhänge in Form von anhaltenden, hochspezifischen
neuronalen Erregungen (Wang et al., 2006; Fransen et al., 2006). Diese
neuronale Aktivität wird als das Substrat für zielgerichtete Lernvorgänge
betrachtet, bei denen ein „inneres Modell“ dem Lernvorgang zugrunde
liegt. Die rekurrenten Schleifen werden als das Substrat für die Ab-
schätzung der Sicherheit der Vorhersage angesehen. Je sicherer die
Vorhersage, je mehr also die einzelnen Instanzen in ihren Prädiktionen
übereinstimmen, desto rascher und mit höherer Wahrscheinlichkeit
wird entschieden und die Aktion ausgeführt. Je widersprüchlicher die
jeweiligen Meldungen sind, umso langsamer wird entschieden und
umso unterschiedlicher fallen wiederholte Entscheidungen aus (De-
haene et al., 1998).
Alle diese Überlegungen gelten für implizites Wissen. Wie wird nun
die Verbindung zum expliziten Wissen hergestellt? In Abb. 3 markiert
die gestrichelte vertikale Linie auf der rechten Seite den Kontakt zur
bewusst werdenden Ebene, ein Übergang, der noch weitgehend un-
bekannt ist. Ralph Schumacher2 beleuchtet dieses Problemfeld von
2 In seinem Vortrag im Rahmen der AG Humanprojekt am 16. Mai 2006.
88 Randolf Menzel
psychologischer Seite und betrachtet hierbei besonders die Rolle der
Aufmerksamkeit für den Übergang von nicht bewusst werdenden und
bewusst werdenden Vorgängen. Ich will hier nur auf zwei Aspekte
hinweisen. (1) In Verhaltensanalysen lässt sich zeigen, dass bei einem
stärkeren Priming (also dem unbewussten Wiedererkennen z. B. von
vorher gezeigten Bildern oder Abfolgen von Zahlen wie in dem oben
angegebenen Beispiel) auch das bewusste Erinnern an die Testobjekte
stärker ist. Daraus kann man schließen, dass die implizite Ebene des
Arbeitsgedächtnisses die explizite antreibt. (2) Die besondere Rolle des
Hippokampus beim Menschen für den Übergang von der impliziten auf
die explizite Ebene wird auch durch fMRI Studien belegt, die zeigen,
dass Bilder, die eine stärkere Aktivierung einer für Sehobjekte zustän-
digen Region des Hippokampus beim Lernen von Bildfolgen auslösen,
später besser bewusst erinnert werden. Daraus kann man ebenfalls
schließen, dass sich die Stärke des impliziten Wissens auf das explizite
auswirkt, möglicherweise im Sinne einer Schwellenfunktion. Die im-
pliziten Funktionen des Arbeitsgedächtnisses sind aber von denen des
expliziten Arbeitsgedächtnisses unabhängig.
4. Ebenen der Kognition mit implizitem Wissen
Nun könnte eingewandt werden, dass all diese Funktionen des impli-
ziten Verhandelns von Wissen elementare Formen der Kognition be-
treffen, so dass die hier vorgetragenen Argumente nicht wirklich für die
dem Menschen explizit zugänglichen Gehirnvorgänge relevant sind.
Um sich dieser Frage zu nähern, kann man verschiedene Forschungs-
strategien anwenden. Auf eine habe ich bereits am Ende des vorigen
Abschnitts hingewiesen: Man sucht nach Korrelaten für implizites
Verhandeln im Arbeitsgedächtnis (Priming, fMRI Studien) und fragt
dann, wie diese mit den bewusst werdenden Vorgänge zusammen
hängen. Oder man betrachtet die Zeitebene etwa so wie dies in den
berühmten Experimenten von Libet geschieht (Libet, 1990), bei denen
sich ergibt, dass ein elektrophysiologisch messbares Ereignis der bewusst
werdenden Entscheidung vorangeht. Oder man betrachtet die neuro-
nalen Bedingungen, die eine bewusst werdende Leistung verhindern, so
wie dies Crick und Koch mit dem Paradigma der binokularen Kon-
kurrenz getan haben (Crick/Koch, 2005). Hierbei werden den beiden
Sehfeldern unserer Augen zwei verschiedene Sehobjekte gezeigt (z. B.
horizontale und vertikale Streifen). Wir können unsere Aufmerksamkeit
Entscheiden mit implizitem Wissen 89
bewusst auf das eine oder andere Bild lenken. Hierbei stellt sich mit
fMRI heraus, dass die frontale und parietale Kortexregion in besonderer
Weise beteiligt ist (Lumer et al., 1998). Menschen mit einer Schädigung
in diesem Bereich haben Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe.
Ich möchte mit zwei Beispielen auf einen weiteren Zugang zu
dieser Frage eingehen. Hierbei stellt man die Frage, ob Tiere über
kognitive Leistungen verfügen, die wir aus unserer Introspektion ein-
deutig als bewusste Leistungen erfahren.
Episodisches Ged!chtnis: Tulving und Wheeler et al. prägten den Begriff
„episodisches Gedächtnis“ und beschrieben damit unser explizites
Wissen um frühere Ereignisse und das Wissen darum, dass es sich um
solche früheren Ereignisse handelt (Tulving, 1985; Wheeler et al.,
1997). Wichtige Aspekte dieses Gedächtnisses sind, was geschah, wann es
geschah und wo es geschah. Es lässt sich fragen, ob Tiere über ein solches
wann-, wo- und was-Gedächtnis verfügen. Clayton und Dickinson
nennen das ein „episodic like memory“ und zeigen, dass Eichelhäher
und andere Tiere, die Futter verstecken, über ein solches Gedächtnis
verfügen (Clayton/Dickinson, 1989). Sie erinnern sich nicht nur an
tausende von Futterverstecken, die sie angelegt haben, sondern auch,
wann sie welche Art von Futter (eine leicht verderbliche Mehlwurm-
larve oder ein dauerhaftes Futterkorn) versteckt haben. Darüber hinaus
beobachten sie andere Eichelhäher wenn diese Futter verstecken und
räubern die Verstecke aus. Das wiederum beobachten Tiere, wenn sie
Futter verstecken und merken sich, wer sie beobachtet hat (Dally et al.,
2006). Wenn sie erfahren, dass sie an einem bestimmten Ort zu einer
bestimmten Zeit hungrig sein werden, dann speichern sie dort ein an-
deres und mehr Futter als an einem Ort, an dem sie nicht hungrig sein
werden. Für diese Art von Gedächtnis übernimmt der Hippokampus
bei Vögeln wie bei Nagern und Menschen eine wichtige Rolle. Da der
Hippokampus beim Menschen eine essentielle Struktur für deklaratives
(explizites) Wissen ist, lässt sich vermuten, dass es zwischen dem epi-
sodischen Gedächtnis des Menschen und dem „episodic-like memory“
der Tiere keine prinzipiellen sondern nur graduelle Unterschiede gibt
(Suzuki, 2006).
Kausales Schließen: Tiere lernen aus der Kontiguität und der Kontigenz
von Ereignissen die kausalen Zusammenhänge dieser Ereignisse in der
Umwelt (s.o.). Haben sie aber auch ein Verständnis für solche kausalen
Zusammenhänge? Blaisdell et al. zeigten kürzlich, dass Ratten kausale
90 Randolf Menzel
Schlüsse nach dem Erlernen einfacher Dressuraufgaben ziehen, in denen
sie das Angebot von Futter entweder als Folge von selbst erzeugten
Signalen oder nicht von ihnen verursachten Signalen einzuordnen
hatten (Blaisdell et al., 2006). Dies bedeutet, dass die Tiere den kausalen
Zusammenhang zwischen der eigenen Aktion erkannten. Die kausale
Verknüpfung haben die Ratten nach mehrmaligen Lerndurchgängen
erschlossen. In anderen Situationen werden solche Zusammenhänge
ohne vorheriges Probieren erkannt. Berühmte Beispiele hierfür sind die
in allen Lehrbüchern der Verhaltensbiologie angeführten Schimpansen
von Wolfgang Köhler, die Stäbe zusammen stecken und Kisten auf-
einander türmen, um Futter zu erreichen. Ein anderes Beispiel sind die
Raben von Heinrich und Bugnyar (Heinrich/Bugnyar, 2005). Sie be-
obachteten Raben, die an ein Stück Fleisch gelangen, das an einem
Strick befestigt ist, indem sie schrittweise mit dem Schnabel den Strick
ein Stück hochziehen, dann diesen mit einem Fuß festhalten und die
Prozedur solange wiederholen bis sie das Futter erreichen. Dies tun sie
nicht, indem sie schrittweise das Verhalten erlernen, sondern beim
ersten Mal und mit vollständigem Ablauf aller komplizierten Bewe-
gungen.
Mit diesen Beispielen will ich das Argument vertreten, dass impli-
zites Handeln nach Strukturen erfolgt, die wir als charakteristisch, ja
geradezu als für bewusst werdendes Handeln reserviert erachten.
5. Erwarten, Planen, Entscheiden:
Eine abschließende Bemerkung
Neurobiologen argumentieren, dass explizite Willensentscheidungen
zur Gänze (oder in überwiegenden Teilen, darüber wird innerhalb der
Neurobiologie diskutiert) post-hoc-Erfahrungen sind, mit denen sich
die Teile des Gehirns, die das Substrat des bewussten Ichs darstellen, mit
seinem übrigen Gehirn und seinem Körper derartig innig identifizieren,
dass sich das bewusste Ich die alleinige Urheberschaft für alle Ent-
scheidungen zuschreibt (Smith-Churchland, 2002; Kandel, 2006;
Roth, 2001; Singer, 2004; Wegner, 2002). Wenn dem so ist, dann stellt
sich natürlich die Frage, wer verhandelt und entscheidet denn zur Gänze
(oder überwiegend), damit im Nachhinein eine solche Zuschreibung
erfolgen kann? Die hier vorgetragenen Charakterisierungen der Ope-
rationen an implizitem Wissen sollen verdeutlichen, dass die Reich-
Entscheiden mit implizitem Wissen 91
haltigkeit und Komplexität der nicht bewusst werdenden Gehirnakti-
vitäten genügend Raum für die als willentlich und als frei empfundenen
Entscheidungen geben. Es ist gerade diese Nicht-Kenntnis der impli-
ziten Operationen, die das Freiheitsgefühl erzeugt, und es muss gute
evolutive Gründe für diese Unabhängigkeit in der Wahrnehmung der
Aktionen des eigenen Gehirns gegeben haben. Möglicherweise stellt sie
eine Voraussetzung für die enge Identifikation zwischen einem Gehirn
und seinem Körper dar. Ich wollte weiterhin verdeutlichen, dass „in-
neres Verhandeln“ bei implizitem Wissen nicht mit einfachen Ursache-
Wirkungs-Gefügen gleichgestellt werden kann. Die Aktivierung ver-
schiedener, auch widersprüchlicher Gedächtnisinhalte, ihr iteratives und
zyklisches Aktivieren und Deaktivieren, die Vergleiche über rekurrente
Schleifen (Edelman, 1993, nennt dies die „reentrant loops“) und die
Spontaneität der neuronalen Netzwerke, angetrieben von Motivation
und Aufmerksamkeit kontrollierenden Gehirnstrukturen, bedingen
Ursachen-Wirkungs-Ketten, die einen Grad an Komplexität erreichen,
der uns zur Zeit Grenzen der Erkenntnis auferlegt. Ein Eindringen in
diese Ursachen-Wirkungs-Ketten wird zu einer Erweiterung, nicht zu
einer Verengung der Kenntnisse führen, gibt aber keinen Anlass zur
Annahme von nicht-physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Voraussetzung
für dieses Eindringen ist allerdings eine radikale Abkehr von einem
kartesianischen Dualismus und einer wie auch immer versteckten An-
nahme einer nur dem Menschen zukommenden geistigen Tätigkeit. So
ist es auch nicht angemessen, Begriffe wie „Wählen“, „Planen“, „Ab-
wägen“, „Verhandeln“, „Entscheiden“ auf die explizite und deklarative
Ebene zu begrenzen. Dies sind Eigenschaften des Gehirns im Umgang
mit allem Wissen, mag es nun als implizit oder explizit erfahren werden.
Die Erfahrung von Wille und Freiheit im Entscheiden sind wie alle
Gehirnleistungen Produkte der Evolution von Gehirnen. Insofern ist
auch die Frage, wie ausgehend von diesen Operationen die Empfindung
der Freiheit von eben denselben Operationen entsteht, eine originäre
neurobiologische Fragestellung. Biologen werden daher nach den
proximaten und ultimaten Ursachen suchen.
92 Randolf Menzel
Bibliographie
Baddeley, Alan D. (1986): Working Memory. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Baddeley, Alan D./Hitch, Graham (1974): Working memory. In: Bower,
Gordon H. (Hg.): The Psychology of Learning and Motivation: Advances in
Research and Theory. New York: Academic Press, 47 – 90.
Blaisdell, Aaron P./Sawa, Kosuke/Leising, Kenneth J./Waldmann, Michael R.
(2006): Causal Reasoning in Rats. In: Science (311), 1020 – 1022.
Clayton, Nicola S./Dickinson, Anthony (1989): Episodic-Like Memory Dur-
ing Cache Recovery by Scrub Jays. In: Nature (395), 272 – 274.
Crick, Francis C./Koch, Christof (2005): What Is the Function of the Claus-
trum? In: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences
(360), 1271 – 1279.
Dally, Joanna M./Emery, Nathan J./Clayton, Nicola S. (2006): Food-Caching
Western Scrub-Jays Keep Track of Who Was Watching when. In: Science
(312), 1662 – 1665.
Daw, Nathaniel D./Niv, Yael/Dayan, Peter (2005): Uncertainty-Based
Competition between Prefrontal and Dorsolateral Striatal Systems for
Behavioral Control. In: Nature Neuroscience (8), 1704 – 1711.
Dehaene, Stanislas/Kerszberg, Michael/Changeux, Jean-Pierre (1998): A
Neuronal Model of a Globe Workspace in Effortful Cognitive Tasks. In:
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America
(95), 14529 – 14534.
Edelmann, Gerald M. (1993): Neural Darwinism. In: Neuron (10), 115 – 125.
Fransen, Erik/Tahvildari, Babak/Egorov, Alexei V./Hasselmo, Micheal E./
Alonso, Angel A. (2006): Mechanism of Graded Persistent Cellular Activity
of Entorhinal Cortex Layer V Neurons. In: Neuron (49), 735 – 746.
Heinrich, Bernd/Bugnyar, Thomas (2005): Testing Problem Solving in Ra-
vens: String-Pulling to Reach Food. In: Ethology (111), 962 – 976.
Iacoboni, Marco (2005): Neural Mechanism of Imitation. In: Current Opinion
in Neurobiology (632), 632 – 637.
James, William (1981): The Works of William James: The Principles of Psychology.
Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Kandel, Eric R. (2006): Auf der Suche nach dem Ged!chtnis – Die Entstehung einer
neuen Wissenschaft des Geistes. München: Siedler Verlag.
Libet, Benjamin (1990): Cerebral Processes that Distinguish Conscious Expe-
rience from Unconscious Mental Functions. In: Eccles, John C./Creutz-
feld, Otto D. (Hg.): The Principles of Design and Operation of the Brain.
Bd. 78. Vatican City State: Pontificae Academiae Scientarum Scripta Varia,
185 – 202.
Lumer, Erik D./Friston, Karl J./Rees, Geraint (1998): Neural Correlates of
Perceptual Rivalry in the Human Brain. In: Science (280), 1930 – 1934.
Milner, Brenda/Squire, Larry R./Kandel, Eric R. (1998): Cognitive Neuro-
science and the Study of Memory. In: Neuron (20), 445 – 468.
Rescorla, Robert A./Wagner, Allan R. (1972): A Theory of Classical Con-
ditioning: Variations in the Effectiveness of Reinforcement and Non-
Entscheiden mit implizitem Wissen 93
Reinforcement. In: Black, Abraham H./Prokasy, William F. (Hg.): Clas-
sical Conditioning II: Current Research and Theory. New York: Appleton-
Century-Crofts, 64 – 99.
Rizzolatti, Giacomo/Craighero, Laila (2004): The Mirror Neuron System. In:
Annual Review of Neuroscience (27), 169 – 192.
Roth, Gerhard (2001): F"hlen, Denken, Handeln – Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ryle, Gilbert (1969): Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam.
Schacter, Daniel (1999): Wir sind Erinnerung – Ged!chtnis und Persçnlichkeit.
Reinbek: Rowohlt.
Schultz, Wolfram (2006): Behavioral Theories and the Neurophysiology of
Reward. In: Annual Review of Psychology (57), 87 – 115.
Singer, Wolf (2004): Neurobiologische Anmerkungen zum Freiheitsdiskurs.
In: Debatte (3), 17 – 26.
Smith Churchland, Patricia (2002): Brain-Wise: Studies in Neurophilosophy.
Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Squire, Larry R. (1987): Memory and Brain. New York/Oxford: Oxford
University Press.
Sundberg, Kristy A./Fallah, Mazyar/Reynolds, John H. (2006): A Motion-
Dependent Distortion of Retinotopy in Area V4. In: Neuron (49), 447 –
457.
Suzuki, Wendy A. (2006): Encoding New Episodes and Making them Stick.
In: Neuron (50), 19 – 21.
Tulving, Endel (1985): Memory and Consciousness. In: Canadian Psycho-
logy–Psychologie Canadienne (26), 1 – 12.
Wang, Yun/Markram, Henry/Goodman, Philip H./Berger, Thomas K./Ma,
Junying/Goldman-Rakic, Patricia S. (2006): Heterogeneity in the Pyra-
midal Network of the Medial Prefrontal Cortex. In: Nature Neuroscience (9),
534 – 542.
Wegner, Daniel M. (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massa-
chusetts: MIT Press.
Wheeler, Mark A./Stuss, Donald T./Tulving, Endel (1997): Toward a Theory
of Episodic Memory: The Frontal Lobes and Autonoetic Consciousness.
In: Psychological Bulletin (121), 331 – 354.
Metakognition bei Tieren
JULIA FISCHER
„Sie haben sich also f"r Antwort ,C‘ entschieden! Sind Sie sich auch ganz
sicher?“ Die Lichter senken sich, dramatische Musik wird eingespielt. Die
Kandidatin lehnt sich entspannt zur"ck, l!chelt und nickt: „Ja, ganz sicher“.
Solche oder ähnliche Szenen spielen sich tagtäglich im Vorabend-
programm des Fernsehens ab. Ob sich die Kandidatin in der Hoffnung
auf Geld und kurzfristigen Ruhm entspannt zurücklehnt oder nervös
auf ihrem Hocker hin und her rutscht, hängt vor allem davon ab, ob sie
meint, die Antwort zu kennen. Im Quiz geht es also nicht nur darum,
was die Kandidatin weiß, sondern auch, ob sie weiß, was sie weiß. Das
Wissen über das eigene Wissen – also die Fähigkeit zur Metakognition,
zur Reflektion des eigenen Informationszustands, gilt als eine wichtige
Grundlage für die Entstehung von Bewusstsein (Terrace/Metcalfe,
2005) und berührt damit verschiedene Disziplinen wie die Entwick-
lungspsychologie, die Evolutionsbiologie und auch die Philosophie.
Die frühe Forschung zur Metakognition beschäftigte sich vor-
nehmlich mit dem Metagedächtnis – der Beurteilung, ob man sich an
etwas erinnern kann oder nicht („es liegt mir auf der Zunge“, „feeling
of knowing“) – sowie den verschiedenen Strategien, gelerntes Wissen
abzurufen (Flavell, 1979; Nelson/Narens, 1990; 1994). Metakognition
gilt manchen Forschern als ein spezifisch menschliches Charakteristi-
kum;1 dies ist aber wie bei allen anderen als spezifisch menschlich
identifizierten Fähigkeiten wie Sprache, Werkzeuggebrauch oder Kul-
tur Gegenstand intensiver Debatte (s. z. B. Wallmann, 1992; Marks,
2002; Fischer, 2003; 2007, im Druck).
1 „One of the truly unique characteristics of human memory: its knowledge of
its own knowledge“ (Tulving/Madigan, 1970, S.477); „The ability to reflect
upon our thoughts and behaviors is taken, by some, to be at the core of what
makes us distinctively human“ (Metcalfe/Shimamura, 1994, xi)
96 Julia Fischer
Die evolutionären Ursprünge der Metakognition
Aus einer evolutionsbiologischen Perspektive stellt sich die Frage, ob
metakognitive Fähigkeiten – zumindest in rudimentärer Form – auch
bei Tieren2 entwickelt sind. Die üblichen Verdächtigen für solche
vergleichenden Analysen sind hier dem Menschen phylogenetisch nahe
stehende Taxa wie nichtmenschliche Primaten sowie Arten, die ein
komplexes soziales Leben haben, in einer variablen Umwelt leben und/
oder ein großes Gehirn besitzen, wie zum Beispiel Delphine oder
Rabenvögel.3
Eine wichtige Prämisse der Erforschung der metakognitiven Fä-
higkeiten von Tieren ist allerdings, ihnen überhaupt kognitive Fähig-
keiten zuzusprechen. Dies war nicht immer der Fall. Einen wesentli-
chen Anstoß zur Beschäftigung mit der Mentalität von Tieren gab
Darwin, der auch das Motiv der psychologischen Kontinuität zwischen
Mensch und Tier4 in die Diskussion einbrachte, welches die gesamte
Geschichte der Tierpsychologie durchzieht. Sein Zeitgenosse Georges
Romanes, der mit Darwin in den Jahren 1874 – 1877 einen ausge-
dehnten Briefwechsel führte, gilt als eigentlicher Vater der verglei-
chenden Psychologie. Romanes setzte wie Darwin auf Erkenntnis
durch Introspektion (Romanes, 1882; 1884).
Die experimentelle, hypothesengetriebene Forschung erlebte ihren
Aufschwung Anfang des 20. Jahrhunderts. 1911 veröffentlichte Edward
L. Thorndike sein Buch „Animal Intelligence“, in dem er die anek-
dotische Methode kritisierte.5 Thorndike gilt als einer der Begründer
der experimentellen Tierpsychologie und ebnete dem Behaviorismus
die Bahn. Ihm zufolge lernen Tiere ebenso wie Menschen dadurch, dass
sie Zusammenhänge zwischen Ereignissen registrieren. Sein Zeitgenosse
2 Für die Biologen unter den Lesern: „…bei anderen Tieren“.
3 Gemäß der „social brain hypothesis“ ist ein großes Gehirn Folge des Lebens in
einer komplexen sozialen Umwelt ( Jolly, 1972; Humphrey, 1976). Diese
Annahme genießt derzeit größere Aufmerksamkeit als die Vermutung, eine
frugivore Lebensweise und die damit verbundene aufwändige Suche nach den
verteilten Futterquellen könne die Entwicklung eines großen Gehirns erklären
(Harvey et al., 1980).
4 „Nevertheless the difference in mind between man and the higher animals,
great as it is, certainly is one of degree and not of kind.“ (Darwin, 1871, 495).
5 „Most the books do not give us a psychology, but rather a eulogy of animals.
They have all been about animal intelligence, never about animal stupidity.“
(Thorndike, 1911, 22).
Metakognition bei Tieren 97
John B. Watson publizierte zwei Jahre darauf das „Behavioristische
Manifest“ (Watson, 1913), in dem er die Ansicht vertrat, dass sich nur
das beobachtbare Verhalten von Tieren untersuchen lasse, nicht aber die
zugrunde liegenden internen Prozesse. Dieser Forschungsansatz wurde
erstmals von Edward Tolman angezweifelt, der nicht umhin kam,
Tieren Erwartungen und kognitive Karten – also mentale Repräsenta-
tionen ihres Raumes – zuzusprechen, um seine Forschungsergebnisse
erklären zu können (Tolman, 1932). Tolman postulierte außerdem
„intervenierende Variablen“, die zwischen der Wahrnehmung eines
Reizes und dem ausgeführten Verhalten geschaltet seien. Populär wurde
die Beschäftigung mit den mentalen Fähigkeiten von Tieren aber erst in
den 1960er/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der einset-
zenden kognitiven Revolution (Gardner, 1989).
Während also heute allgemein angenommen wird, dass Tiere über
kognitive Fähigkeiten verfügen und der Forschungszweig derzeit eine
Expansion erfährt (Vauclair, 1996; Tomasello/Call, 1997; Shettleworth,
1998; Wasserman/Zentall, 2006 – um nur einige zu nennen), gibt es
noch relativ wenige Studien, die sich mit der Frage der Metakognition
bei Tieren befassen. Einen Anschub erhielt die Beschäftigung mit den
metakognitiven Fähigkeiten von Tieren durch den 1978 erschienenen
Artikel „Does the chimpanzee have a theory of mind?“ von David
Premack und John Woodruff (Premack/Woodruff, 1978). Premack und
Woodruff führten in diesem Beitrag den Begriff „theory of mind“
(„Theorie des Geistes“) in die Diskussion ein, unter dem sie sowohl die
Zuschreibung von mentalen Zuständen zu anderen als auch die Zu-
schreibung von mentalen Zuständen zu sich selbst subsumierten.6 In der
Folge entwickelte sich die Begrifflichkeit allerdings so, dass sich
„Theorie des Geistes“ vornehmlich auf die Zuschreibung von mentalen
Zuständen zu anderen bezieht. Diskutiert wird hier, auf welche Weise
ein Wesen zu einer solchen Zuschreibung gelangen kann, zum Beispiel
ob dies eher auf abstrakten Überlegungen beruht oder durch eine Form
von Simulation vermittelt wird (Übersicht in Carruthers/Smith, 1996).
Der Begriff Metakognition bezieht sich heute in der Regel auf die
Zuschreibung von mentalen Zuständen zu sich selbst. Hier geht es um
die Entwicklung der Fähigkeit der Introspektion, der Selbstreflexion
und schließlich auch der Entstehung von Bewusstsein (Terrace/Met-
calfe, 2005). Der Begriff ,Metakognition‘ wird auch häufig mit John
6 „An individual has a theory of mind if he imputes mental states to himself and
others.“ (Premack/Woodruff, 1978, 515).
98 Julia Fischer
Flavell (Flavell, 1979) in Verbindung gebracht. Flavell nahm an, dass
Metakognition auf der Wirkung und Interaktion von vier verschiede-
nen Phänomenen beruht, nämlich metakognitivem Wissen, metako-
gnitiven Erfahrungen, Zielen (oder Aufgaben) sowie Aktionen (oder
Strategien).7 Die Forschung an Tieren widmet sich vornehmlich der
Frage nach metakognitivem Wissen (siehe aber Kornell et al., 2007).
Experimentelle Untersuchungen
der Metakognition bei Tieren
Während Kandidaten in Quiz-Shows einfach sagen können, dass sie sich
für Antwort ,C‘ entschieden haben, und auch viele Untersuchungen an
Menschen zur Frage der Metakognition sprachbasiert sind, gestalten sich
solche Tests an Wesen, die nicht sprachfähig sind, meist komplizierter.8
Eine große Herausforderung in diesem Gebiet ist daher die Entwick-
lung von Paradigmen, die für den Einsatz bei Tieren (und Kleinkindern)
geeignet sind (Shettleworth, 1998; Shettleworth/Sutton, 2003). Die
Analogie zur Quizshow allerdings ist durchaus gegeben, nur wird den
Tieren zunächst beigebracht, die Antwort durch Knopfdruck bekannt
zu geben. Dies ist leichter gesagt als getan – in den meisten Studien wird
der größte Teil der Zeit dafür aufgewendet, dem Tier eben dies bei-
zubringen. Aufwändiges Training bringt aber auch immer die Gefahr
mit sich, am Ende nicht abzufragen, was das Tier weiß, sondern was es
im Laufe des Trainings gelernt hat. Doch dazu später mehr.
Das Unsicherheitsparadigma
Wie also kann man sich der Frage der Metakognition nähern, wenn es
nicht möglich ist, die Probanden sprachlich zu befragen? Als Durch-
bruch in diesem Gebiet galt hier eine Studie von David Smith und
7 Flavell versuchte, mit diesem Artikel ein neues Forschungsgebiet anzustoßen.
Er konstatierte aber nicht nur ein Mangel an Forschung in diesem Gebiet,
sondern auch einen Mangel an Metakognition insgesamt („I am absolutely
convinced that there is, overall, far too little rather than enough or too much
metacognitve monitoring in this world.“; (Flavell, 1979, 910).
8 Eine Ausnahme ist Alex, der sprechende Graupapagei, der seit Jahren von Irene
Pepperberg untersucht wird (Übersicht in Pepperberg, 2000).
Metakognition bei Tieren 99
Kollegen. Die Autoren entwickelten das aus der psychophysikalischen
Forschung abgeleitete so genannte Unsicherheitsparadigma (Smith et
al., 1995). Ein wesentlicher Zweig der Psychophysik widmet sich der
Frage, welcher Reizunterschied gerade noch wahrnehmbar ist („just
noticeable difference“). Beispielsweise können Menschen je nach
Lautstärke bei etwa 2 kHz zwei aufeinander folgende Töne noch un-
terscheiden, wenn der Unterschied in der Frequenz 2 – 10 Hz beträgt
(Levine, 2000). Das so genannte Unsicherheitsintervall umfasst dem-
entsprechend diejenigen physikalisch verschiedenen Reize, die noch die
gleiche Empfindung auslösen. Verkompliziert wird die Feststellung des
Unsicherheitsintervalls durch die Tatsache, dass die Signalerkennung
und damit auch die Wahrnehmung eines Unterschiedes nicht einem
Stufenmuster folgt, bei dem beispielsweise jede Differenz über der
Unterscheidungsschwelle erkannt und jede Differenz unterhalb der
Schwelle nicht erkannt wird. Vielmehr streuen die Antworten: Es gibt
Fälle, in denen ein eigentlich erkennbarer Unterschied zwischen zwei
Reizen nicht erfasst wird („verpasst“), oder umgekehrt angeben wird, es
gebe einen Unterschied, obwohl faktisch kein wahrnehmbarer Unter-
schied besteht („falscher Alarm“). Hinzu kommen dann noch die je-
weiligen „richtigen“ Antworten, also die korrekte Erkennung eines
Unterschiedes bzw. keines Unterschiedes („Treffer“ bzw. „richtige
Ablehnung“). Die Festlegung von Unterscheidungsschwellen kann
darum nur statistisch erfolgen.
Will man das Unsicherheitsintervall bei einem Tier feststellen, muss
es dazu in der Regel trainiert („operant konditioniert“) werden. Auch
die hier vorzustellenden Studien bedienten sich in der Mehrzahl der
operanten Konditionierung. Zunächst wird das Tier belohnt, wenn es
bei der Präsentation eines Reizes zum Beispiel eine bestimmte Taste
drückt, und bei der Präsentation des anderen Reizes eine andere. Im
Experiment von Smith und Kollegen wurde ein Delphin (Tursiops
truncatus) belohnt, wenn er nach dem Vorspiel eines Sinus-Tons von
2100 Hz ein bestimmtes Symbol berührte, und beim Vorspiel eines
100 Julia Fischer
Abb. 1: Prozent der Reaktionen des Delphins. Grau unterlegt ist der Bereich des
Unsicherheitsintervalls. Verändert nach Smith et al., 1995.
Tons, der darunter lag, etwa bei 1900 Hz, ein anderes. In dieser Aufgabe
ging es also darum, zu entscheiden, ob ein angebotener Ton dem
Standard von 2100 Hz entsprach oder nicht. Bei einem „Fehler“ er-
folgte ein so genanntes „Time-Out“, das heißt, das Experiment wurde
abgebrochen. Erst nach einiger Zeit erhielt das Tier in einer neuen
Runde wieder die Möglichkeit, eine Belohnung zu erlangen. Zusätzlich
lernte der Delphin die Bedeutung eines dritten Symbols, des sogenannte
„Escape“ oder Abbruch-Symbols. Wählte er den Abbruch, so erhielt er
eine geringe Belohnung, ohne dass er die Unterscheidungsaufgabe hätte
lösen müssen. Um einem übermäßigem Gebrauch des Abbruch-Sym-
bols entgegenzuwirken, wurde die Belohnung bei häufigem Gebrauch
immer weiter reduziert, so dass es sich irgendwann nicht mehr „lohnte“,
immer nur das Abbruch-Symbol auszuwählen. Sobald der Delphin die
Funktion der verschiedenen Symbole bzw. die Konsequenzen ihrer
Auswahl gelernt hatte, konnte der eigentliche Test beginnen. Nun
wurden Frequenzen angeboten, die sukzessive immer näher an 2100 Hz
und zum Teil innerhalb des Unsicherheitsintervalls lagen.
Auch wenn das Verhalten des Delphins ebenso wie das der im
gleichen Paradigma getesteten Studenten bezüglich der Belohnungs-
maximierung suboptimal war, wählte er den Abbruch vorwiegend
dann, wenn der dargebotene Ton innerhalb des Unsicherheitsintervalls
lag. Smith und Kollegen zufolge hatte der Delphin (ebenso wie die
Studenten) sowohl Zugriff auf das Wissen darüber, ob ein angebotener
Ton dem Standard entsprach oder nicht, als auch auf das Wissen dar-
über, ob er sich dessen sicher war oder nicht. In letzterem Fall wählte er
den Abbruch. Smith und Kollegen folgerten, dass auch Delphine über
Metakognition bei Tieren 101
metakognitive Fähigkeiten verfügen, und sie stützten sich bei dieser
Interpretation erstens auf die Ähnlichkeit des Verhaltens der Studenten
und des Delphins und zweitens auf die Berichte der Studenten, die nach
dem Experiment angaben, sie hätten die Escape-Taste gedrückt, wenn
sie sich nicht sicher gewesen wären. Ob diese Übertragung zulässig ist,
soll später diskutiert werden.
Smith und Kollegen führten eine weitere Studie durch, bei der sie
das Unsicherheitsparadigma in einer anderen sensorischen Modalität
und bei einem anderen Taxon anwendeten (Smith et al., 1997). Sie
trainierten zwei Rhesusaffen (Macaca mulatta), Abel und Baker, visuelle
Reize zu unterscheiden. Als Standard diente hier ein Rechteck mit
einer gewissen Pixeldichte, als Alternativreize Rechtecke mit einer
geringeren Anzahl von hellen Pixeln pro Flächeneinheit. Auch hier gab
es für die Tiere die Möglichkeit, nicht zu entscheiden, ob es sich beim
angebotenen Reiz um den Standard oder die Alternative handelte,
sondern das Experiment abzubrechen und sich eine garantierte gerin-
gere Belohnung zu sichern. Die Ergebnisse entsprachen im Prinzip
denen, die am Delphin bzw. den Studenten gewonnen worden waren:
im Bereich des Unsicherheitsintervalls wählten Abel und Baker signi-
fikant häufiger die Abbruchmöglichkeit.
Problematisch bleibt an diesen Versuchen, dass sich das beobachtete
Verhalten auch einfacher erklären lässt, und zwar durch die Anwendung
der einfachen Regel ,wähle A bei einem hohen, B bei einem niedrigen
Ton und C bei Tönen, die dazwischen liegen‘. Mit anderen Worten:
Bei einer gleichzeitigen Präsentation des zu bewertenden Stimulus und
der Möglichkeit, den Versuch anzunehmen oder abzulehnen, reicht
eine einfache Wiedererkennung aus (Metcalfe, 2003). Überzeugender
als Tests, in denen der Stimulus und Abbruchmöglichkeit gleichzeitig
angeboten werden, seien deshalb Paradigmen, die auf die Abfrage von
Gedächtnisinhalten abzielten (Hampton, 2001).
Wissen, ob man sich erinnert
Robert Hampton ging dieser Frage in seiner viel beachteten Studie
„Rhesus monkeys know when they remember“ nach. Er trainierte dazu
zwei Rhesusaffen in einer so genannten „verzögerten Match-to-Sample“
Aufgabe (Hampton, 2001). Dabei wurde auf einem Bildschirm zunächst
ein Muster A (das Sample) angeboten, und nach einer Verzögerungszeit
eine Auswahl von vier Mustern A, B, C, D. Die Auswahl von A wurde
102 Julia Fischer
belohnt. Vor der Präsentation der Auswahl wurde jedoch ein Zwi-
schenschritt eingeschaltet, bei dem die Tiere die Möglichkeit hatten, zu
entscheiden, ob sie den Test zu Ende bringen oder abbrechen wollten.
Dadurch sollte abgefragt werden, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch
davon ausgingen, sich an das Sample zu erinnern. Erst wenn sie das
„Weiter“-Feld berührten, wurden die vier Testmuster auch angeboten.
Wenn die Tiere dagegen den Abbruch wählten, erhielten sie analog zu
den Smithschen Versuchen eine garantierte geringe Belohnung. In zwei
von drei Experimenten hatten die Tiere die Möglichkeit zum Abbruch,
im restlichen Drittel wurden sie gezwungen, die Auswahl zwischen den
Mustern A, B, C und D zu treffen, ohne die Möglichkeit zu haben, das
Experiment abzubrechen. Hampton sagte voraus, dass die Fehlerquote
in erzwungenen Versuchen signifikant höher sein sollte als in freiwillig
gewählten: Diese Vorhersage beruht auf der Annahme, dass die Tiere
nur dann freiwillig an dem Versuch teilnehmen würden, wenn sie an-
nahmen, sich an das Testmuster zu erinnern. Dies wurde von den Er-
gebnissen bestätigt. Zudem gab es einen deutlichen Effekt der Verzö-
gerungszeit: Je länger die Zeitspanne war zwischen der Präsentation des
Samples und der Frage danach, ob der Affe den Test annehmen wolle,
desto häufiger brachen die Affen den Versuch ab. Allerdings gab es hier
deutliche Unterschiede zwischen den beiden Individuen; darüber hin-
aus wiesen die Ergebnisse ein paar merkwürdige Inkonsistenzen auf.9
Dennoch gelten diese Versuche als ein Zeugnis dafür, dass zumindest
ein Affe in der Lage ist, seinen eigenen Kenntnisstand (hier das soeben
Gemerkte) abzufragen und zur Grundlage einer Handlung zu machen.10
Mit anderen Worten: Das Tier scheint expliziten Zugriff auf die ihm
zur Verfügung stehende Information zu haben.
9 So zeigte sich z. B. bei einem der beiden Affen, der in den Versuchen ohne
Verzögerungszeit signifikant schlechter in den erzwungenen Versuchen war,
bei den Versuchen mit Verzögerung keinen Unterschied mehr zwischen den
erzwungenen und den freiwilligen Tests.
10 Janet Metcalfe bemerkte (vor der Veröffentlichung der im Folgenden be-
schriebenen Tests von Son und Kornell) dazu: „the entire burden of the
conjecture that nonhuman animals are capable of metacognition rests on the
thin shoulders of a single rhesus monkey“ (Metcalfe, 2003, 351).
Metakognition bei Tieren 103
Affen in der Spielbank
Lisa Son, Nate Kornell und Herbert Terrace untersuchten, ob es auch
möglich ist, die Entschiedenheit zu quantifizieren, mit der ein Affe seine
Wahl trifft (Son/Kornell, 2005; Kornell et al., 2007). Sie trainierten
dazu zwei Rhesusaffen, Ebbinghaus und Lashley, in einem relativ
komplexen experimentellen Ablauf. Zunächst wurde den Affen eine
eher einfache Diskriminierungsaufgabe beigebracht, bei der auf einem
Bildschirm neun Balken angezeigt wurden. Einer dieser Balken war
länger als die anderen, und seine Auswahl wurde belohnt.11 Im nächsten
Schritt lernten die Tiere, dass sie zunächst Punkte sammeln mussten, die
bei einem gewissen Punktestand in materielle Belohnung in Form von
Futter umgewandelt wurden. Der jeweilige Punktestand wurde gra-
phisch durch einen mit Kugeln gefüllten Zylinder auf dem Bildschirm
dargestellt. Bei einer korrekten Wahl zeigte eine Animation, wie wei-
tere Punkte in den Zylinder fielen. Als nächstes wurden die Tiere damit
konfrontiert, dass ihnen auch wieder Punkte abgezogen werden
konnten, und zwar wenn sie eine falsche Wahl getätigt hatten, was sich
für die Motivation der Tiere als überaus problematisch erwies12.
Schließlich wurden sie mit der Möglichkeit des Wetteinsatzes vertraut
gemacht. Dazu wurden zwei Symbole („confidence icons“) präsentiert.
Die Auswahl des einen Symbols hatte zur Folge, dass die Tiere bei
richtiger Antwort zwei (in späteren Experimenten drei) Punkte ge-
wannen, bei falscher Antwort aber auch zwei (bzw. drei) Punkte ver-
loren. Wurde das andere Symbol gewählt, gewannen die Tiere in jedem
Fall einen Punkt. In den Tests waren Ebbinghaus und Lashley in
Durchgängen, in denen sie zuvor den hohen Einsatz gesetzt hatten,
signifikant besser als in den anderen Durchgängen (etwa 60 % korrekt
vs. 20 % korrekt). Die Autoren schlossen aus diesem Ergebnis, dass die
Tiere in der Lage sind, ihre Sicherheit zu quantifizieren. Es bleibt aber
fraglich, ob der Erkenntniswert wesentlich über den des Experiments
von Hampton hinausgeht, da nur zwei verschiedene Möglichkeiten des
Wetteinsatzes angeboten wurden, nämlich die garantierte geringe Be-
lohnung, die in den anderen Experimenten einem Abbruch entsprach,
11 Um sich klar zu machen, wie überaus fremd derartige Aufgaben für Affen sein
können, sei bemerkt, dass dieses Training ein volles Jahr in Anspruch nahm.
12 „When finishing the first session of punishment training, both monkeys seemed
almost stunned, staring at the reservoir on the screen for a while and showing
obvious frustration behaviors.“ (Son/Kornell, 2005, 308).
104 Julia Fischer
oder den hohen Wetteinsatz, der im Prinzip der Hampton‘schen
„Weiter-Taste“ entsprach.
In weiteren Experimenten waren die Tiere in der Lage, die Ein-
schätzung des eigenen Kenntnisstandes ohne weiteres Training auch auf
andere experimentelle Arrangements zu übertragen, in denen zum
Beispiel der größte oder kleinste Kreis ausgewählt werden musste
(Kornell et al., 2007). Schließlich wurden Ebbinghaus und Lashley noch
darauf trainiert, eine Aufgabe zu lösen, die insbesondere das Arbeits-
gedächtnis fordert. Zunächst wurden den Tieren sechs Photographien
gezeigt. Um die Aufmerksamkeit der Tiere aufrecht zu erhalten,
mussten sie jedes einzelne Bild auf dem Bildschirm berühren, bevor der
Versuch weiterlief. Anschließend erschienen neun Photographien auf
dem Bildschirm, von denen eine zuvor gezeigt worden war. Für die
Auswahl des bereits bekannten Bildes wurden die Tiere belohnt. Sobald
die Tiere ein gewisses Erfolgskriterium erreicht hatten, wurden zu-
sätzlich die confidence icons eingeblendet. Die beiden Rhesusaffen waren
ohne weiteres Training auch hier in der Lage, die confidence icons ent-
sprechend ihrer Entscheidungssicherheit zu verwenden. Auch in diesem
Experiment waren beide Tiere in den Durchgängen, in denen sie zuvor
den hohen „Wetteinsatz“ getätigt hatten, signifikant besser als in den
Durchgängen mit niedrigem Einsatz (Kornell et al., 2006, im Druck).
Das Modell von Nelson und Narens
Welche Erklärungen stehen derzeit für die beobachteten metakogniti-
ven Leistungen bei Tieren zur Verfügung? Eines der wichtigsten Mo-
delle, um metakognitive Prozesse zu beschreiben, stammt von Thomas
Nelson und Louis Narens (Nelson/Narens, 1990). Es galt ursprünglich
vor allem für Lern- und Gedächtnisprozesse. Nelson und Narens un-
terschieden zwischen der so genannten Objekt-Ebene und der Meta-
Ebene, wobei die Objekt-Ebene gewissermaßen den Informations-
speicher und die Meta-Ebene eine darüber geschaltete Instanz darstellt
(Abb. 2). Laut Nelson und Narens sind die beiden Ebenen durch zwei
Prozesse miteinander verbunden: Erstens speist die Objekt-Ebene In-
formation in die Meta-Ebene ein, wodurch der Zustand der Objekt-
Ebene beurteilt werden kann (im Original: Monitoring); zweitens übt die
Meta-Ebene Kontrolle über die Objekt-Ebene aus. Dies betrifft ins-
besondere die Frage nach der Steuerung weiterer Informationsaufnahme
Metakognition bei Tieren 105
Abb. 2: Modell metakognitiver Prozesse von Nelson und Narens („ein theoretischer
Mechanismus, bestehend aus zwei Strukturen [Meta-Ebene und Objekt-Ebene] und
zwei Beziehungen, die die Richtung des Informationsflusses charakterisieren“).
Nach Nelson/Narens, 1990, 126.
in die Objekt-Ebene.13 Eingebettet in dieses Modell ist die Annahme,
dass das Verhalten nicht direkt von der Objektebene gesteuert wird, wie
es bei einer reinen Reiz-Reaktionsbeziehung der Fall wäre, sondern
durch die Meta-Ebene vermittelt wird.
Abbildung 3 verdeutlicht das Zusammenspiel der verschiedenen
Beurteilungs- und Kontrollprozesse, die bei der Aufnahme, der Spei-
cherung und dem Abruf von Information eine Rolle spielen (sollen).
Die Kontrollprozesse beschreiben Aktionen, bei denen auf der Meta-
Ebene Aktionen initiiert werden, die den Informationsgehalt auf der
Objekt-Ebene verändern. Man stelle sich beispielsweise vor, man müsse
eine Reihe von Wörtern lernen, die auf Karten gedruckt sind. Die
Meta-Ebene kontrolliert, wie viel Zeit in jede Karte investiert wird.
Wird also auf der Meta-Ebene festgestellt, dass das Wort nun gespeichert
ist, kann die nächste Karte genommen werden. Per definitionem liefert
die Kontrollfunktion keine Information von der Objekt-Ebene an die
Meta-Ebene; aus diesem Grund muss das Modell durch den eingangs
erwähnten Beurteilungsprozess ergänzt werden, der logisch und viel-
leicht sogar psychologisch unabhängig vom Kontrollprozess ist (Nelson/
Narens, 1990; siehe auch Koriat, 1993).
Als ein Beispiel für die getrennte Verarbeitung auf der Objekt- und
der Meta-Ebene gilt das Phänomen der „Blindsight“ (Weiskrantz/
13 Es ist unschwer zu erkennen, wie sehr diese Vorstellungen von einem kyber-
netischen Denkansatz geprägt sind.
106 Julia Fischer
Abb. 3: Gedächtnismodell von Nelson und Narens. Die Abbildung zeigt die
„wichtigsten Stationen im theoretischen Gedächtnismodell […] und einige Bei-
spiele von Überwachungs- und Kontrollkomponenten“. Nach Nelson/Na-
rens, 1990, 129.
Warrington, 1975), welches manche neurologischen Patienten betrifft,
die Läsionen am visuellen Cortex erlitten haben. Diese Patienten
können zwar zum Beispiel einen Lichtpunkt auf einem Bildschirm
berühren; sie geben aber an, nichts zu sehen. „Blindsight“ wurde auch
an Affen untersucht (Cowey/Stoerig, 1995). Hierzu wurden die Tiere
darauf trainiert, entweder ein Quadrat auf einem Bildschirm zu be-
rühren, wenn dieses eingeblendet wurde, oder auf ein großes Rechteck
zu tippen, wenn nichts gezeigt wurde. Drei Tiere, deren visueller
(striater) Cortex der linken Hemisphäre operativ entfernt worden war,
berührten zwar die Quadrate, die ihnen im rechten Gesichtsfeld prä-
sentiert worden waren; sie tippten aber auch jedes Mal auf das große
Rechteck – mit anderen Worten, sie meinten, nichts gesehen zu haben.
Diese Dissoziation zwischen prozeduralem und deklarativem14 Ant-
wortverhalten wirft ein interessantes Licht auf die Form der Verbindung
zwischen verschiedenen Instanzen der Verarbeitung von Information.
Entsprechend den Vorstellungen von Nelson und Narens wäre hier
14 Fahrradfahren, Klavierspielen und andere automatisierte motorische Program-
me gelten als Resultat prozeduraler Lernprozesse. Prozedurales Verhalten kann
abgerufen werden, ohne dass man sich dessen gewahr wird. Deklaratives
Wissen bezieht sich dagegen auf faktische Zusammenhänge; im angegebenen
Beispiel also auf die Frage, ob man etwas gesehen hat oder nicht.
Metakognition bei Tieren 107
davon auszugehen, dass der „Überwachungsprozess“ beeinträchtigt ist,
die Abfrage des Inhaltes der Objekt-Ebene durch die Meta-Ebene also
gestört ist. Eine Klärung der zugrunde liegenden Mechanismen des
Phänomens der Blindsight wird vermutlich auch dazu beitragen, die
postulierten Kontroll- und Beurteilungsprozesse bei metakognitiven
Leistungen zu erhellen. Ein Großteil der Forschung und alle bislang
erwähnten Studien an Tieren beschäftigten sich mit der Beurteilung des
eigenen Wissens, also der Frage des Monitorings. Wie aber steht es um
metakognitive Kontrollprozesse? Hierzu liegt meiner Kenntnis nach
bislang erst eine Studie vor. Kornell, Son und Terrace (Kornell et al.,
2007) testeten dazu zwei Rhesusaffen, Macduff und Oberon, die beide
jahrelange Erfahrung mit dem Lernen von Bildsequenzen hatten, die
ihnen am Bildschirm dargeboten wurden. In diesen Tests wurden den
Tieren jeweils vier Bilder angeboten, die sie in einer vorgegebenen
Reihenfolge berühren sollten. Normalerweise mussten die Tiere diese
Reihenfolge durch Versuch und Irrtum lernen – wenn sie also das Bild
A zufällig zuerst berührten, bekamen sie ein kurzes positives Feedback;
tippten sie jedoch zuerst auf C, erfolgte ein Time-Out. Eine Belohnung
erhielten sie erst, wenn sie eine ganze Sequenz korrekt erfasst hatten.
Dieses Verfahren wurde nun dahingehend modifiziert, dass die Tiere
sich einen „Tipp“ geben lassen konnten. Wenn sie einen solchen
Hinweis verlangten, blinkten kurz vier Linien an dem Bild auf, das sie
als nächstes zu berühren hatten. Allerdings musste ein solcher Hinweis
auch bezahlt werden, denn nur für selbständig gelöste Sequenzen gab es
ein „highly desirable M&M candy“, während nach der Anforderung
eines Hinweises lediglich ein einfaches „banana pellet“ geliefert wurde.
Oberon und Macduff ließen sich mit zunehmender Treffsicherheit
immer seltener einen Hinweis geben, und wenn sie die Serien bereits
kannten, verzichteten sie fast immer darauf. Offensichtlich verfügten
zumindest diese beiden Rhesusaffen auch über metakognitive Kon-
trolle: Sie wussten, ob sie die richtige Reihenfolge kannten.
Während die auf dem Unsicherheitsparadigma beruhenden Studien
zur Metakognition bei Tieren problematisch sind und die Ergebnisse
mit großer Wahrscheinlichkeit auch einfacher erklärt werden können,
zeigte zumindest einer der beiden von Hampton getesteten Affen sowie
die vier von Son und Kornell untersuchten Tiere ein Verhalten, welches
auf metakognitive Kapazitäten hinweist. Rhesusaffen scheinen also über
eine wie auch immer geartete Instanz zu verfügen, die differentielles
Verhalten in Abhängigkeit vom Zugriff auf das Wissen bzw. die Erin-
108 Julia Fischer
nerung hervorbringt; und dies umfasst sowohl Beurteilungs- als auch
Kontrollaspekte.
Suchen, Sehen und Wissen
Alle bislang erwähnten Studien waren mit einem außerordentlichen
Trainingsaufwand verbunden, wodurch nicht immer ausgeschlossen
werden kann, dass bestimmte Verhaltensneigungen durch die Experi-
mente selbst erst erzeugt werden (vgl. Problem der Erfolgsmaximierung
im Unsicherheitsparadigma). Um dieser Kritik zu begegnen und au-
ßerdem einen etwas natürlicheren Zugang zur Untersuchung der Me-
takognition zu finden, verwendeten Josep Call und Malinda Carpenter
(Call/Carpenter, 2001) ein sehr einfaches Paradigma. Hier wurde
kleinen Kindern im Alter von zweieinhalb Jahren sowie Schimpansen
und Orang-Utans die Möglichkeit gegeben, zwischen zwei oder drei
Röhren auszuwählen, von denen eine die Belohnung enthielt – Futter
für die Affen und kleine Aufkleber für die Kinder. In einigen Versuchen
konnten die Versuchsteilnehmer sehen, in welcher Röhre die Beloh-
nung versteckt wurde, in anderen nicht. Es bestand aber in manchen
Versuchen die Möglichkeit, noch zusätzliche Information einzuholen,
und kurz in die Röhren hineinzugucken, bevor die Wahl getroffen
wurde. Kaum überraschend schauten die Teilnehmer öfter nach, wenn
sie zuvor nicht beobachten konnten, in welcher Röhre die Belohnung
versteckt worden war. Call und Carpenter zufolge suchten sowohl die
Kinder als auch die Tiere gezielt nach Information, wenn sie unsicher
waren – dies sei indirekte Evidenz dafür, dass die Probanden wüssten,
was sie wissen (siehe auch Hampton et al., 2004). Allerdings gab es auch
hier kritische Stimmen. Kornell und Kollegen (Kornell et al., 2007)
bemerkten, die Tiere (bzw. Kinder) hätten auch einer einfachen
Suchstrategie (in einem neuen Kontext) folgen können, bei der sie
einfach die Regel befolgen, solange zu suchen, bis sie wissen, wo die
Belohnung steckt.15
Tatsächlich müssen fast alle Tiere über Mechanismen verfügen, die
steuern, ob weitere Informationen eingeholt werden müssen, bevor
eine bestimmte Handlung vollzogen werden kann. Ein anschauliches
Beispiel liefern hierfür die Honigtopfameisen (Myrmecocystus mimicus),
15 „They did not have to know what they knew. Instead they simply needed to
know where the food was. If not, they searched for it“ (Kornell et al., im
Druck).
Metakognition bei Tieren 109
die sich nicht nur von selbst gesammeltem Futter ernähren, sondern
auch regelrechte Raubzüge durchführen, bei denen sie die Vorräte
(Speichertiere) und Puppen anderer Kolonien an sich bringen. Treffen
Vertreterinnen zweier Kolonien im Gelände aufeinander, so betasten sie
sich gegenseitig und stellen anhand einer geeigneten Stichprobe fest, ob
die eigene Kolonie in der Mehrheit ist oder nicht. Tiere, die in der
Überzahl sind, gehen zum Angriff über; die anderen ziehen sich zurück
(Hölldobler/Wilson, 1994). Auch für die Steuerung dieses Verhalten
muss es eine Instanz geben, die darüber wacht, ob genügend Informa-
tion vorliegt, oder ob weitere Interaktionen nötig sind, um zu ent-
scheiden, ob man in der Unter- oder Überzahl ist. Vermutlich würde
hier jedoch niemand auf den Gedanken kommen, die Ameisen ver-
fügten über metakognitive Fähigkeiten. Es muss also jeweils geklärt
werden, inwiefern sich (vermeintlich kognitive) Leistungen mögli-
cherweise auch durch relativ einfache assoziative Lernvorgänge oder
eine Kombination verschiedener einfacherer kognitiver Module (s. z. B.
Fischer et al., 2004; Kaminski et al., 2004) erklären ließen.16
Insgesamt ist aber zu konstatieren, dass sich das von Call und Car-
penter gewählte Suchverhalten schlecht dafür eignet, metakognitive
Prozesse zu beleuchten, da es – wie Kornell und Kollegen bemerkten –
eher Ausdruck einer Motivation ist, das Suchverhalten so lange aufrecht
zu erhalten, bis die „Endhandlung“, zum Beispiel das Fressen, vollzogen
werden kann. Allerdings zeigen solche Vergleiche, wie problematisch es
ist, von einer phänomenologischen oder funktionalen Ähnlichkeit eines
Verhaltens auf eine strukturell ähnliche Repräsentationen zu schließen –
eine prominente Vorgehensweise, wenn es sich um die Untersuchung
von Affen oder Delphinen handelt (siehe hierzu auch die Kritik von
Povinelli et al., 2000; Povinelli/Vonk, 2003).
Metakognition und exekutive Kontrollprozesse
Fernandez-Duque, Baird und Posner (Fernandez-Duque et al., 2000)
verglichen metakognitive Prozesse mit anderen kognitiven Kontroll-
prozessen wie selektiver Aufmerksamkeit, Entscheidungen in Kon-
fliktsituationen, Fehlerüberwachung und Unterdrückung von Impul-
16 „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a
higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise
of one that stands lower in the psychological scale“ (Morgan, 1906, 53).
110 Julia Fischer
sen. Sie betonten die grundsätzliche Ähnlichkeit kognitiver Kontroll-
prozesse und versuchten, die beiden bislang relativ unabhängig von-
einander laufenden Forschungszweige (Metakognition und exekutive
Kontrolle) zusammen zu führen. Eine zunehmend wirksame exekutive
Kontrolle verschiedener kognitiver Prozesse ermöglicht letztendlich ein
differenziert gesteuertes Verhalten und womöglich auch größere Frei-
heitsgrade im Verhalten. Die Unterdrückung spontaner Impulse, die
Abfrage und mögliche Deliberation verschiedener Handlungsoptionen
ergänzt den in der Stammesgeschichte beobachtbaren Übergang zu so
genannten „offenen Programmen“ bei langlebigen Tieren, die in einer
sich wandelnden Umwelt leben. Im Gegensatz zu „geschlossenen
Programmen“, bei denen die Entwicklung und der Einsatz verschie-
dener Verhaltensmuster(ketten) mehr oder weniger genetisch festgelegt
sind, basieren offene Programme vor allem auf der Disposition zu ler-
nen. Dies ermöglicht eine Anpassung des Verhaltens innerhalb der In-
dividualentwicklung. Komplexere kognitive Leistungen und damit auch
größere Freiheiten bei der Lösung von Problemen entstehen phyloge-
netisch also aus der Kombination der Fähigkeit (und Notwendigkeit) zu
lernen und andererseits einer immer feineren Steuerung und Überwa-
chung der Lernvorgänge selbst. Die Untersuchung der metakognitiven
Fähigkeiten von Tieren kann zwar nichts über die „Evolution der
Freiheit“ aussagen, da „Freiheit“ kein innerhalb der Biologie fassbares
Konzept darstellt, wohl aber etwas über die zunehmenden Freiheits-
grade im Verhalten.
Offene Fragen
Inwiefern sind nun metakognitive Fähigkeiten mit phänomenalem oder
gedanklichem Bewusstsein verknüpft? Kornell und Kollegen zufolge
können die von ihnen getesteten Tiere metakognitive Beurteilungen
vornehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein (siehe auch Reder/
Schunn, 1996). Auch Menschen könnten metakognitive Beurteilungen
leisten, bevor sie in der Lage seien, diese auch dem Bewusstsein zu-
gänglich zu machen und verbal zu äußern. Stellt man sich Bewusstsein
als eine emergente Eigenschaft vor, die aus der (mehrfach geschach-
telten) Repräsentation repräsentierten Wissens hervorgeht (also weitere
Meta-Ebenen eingezogen werden), könnten die Prozesse, die Meta-
kognition hervorbringen, gewissermaßen das Strickmuster für die
Entstehung von Bewusstsein liefern.
Metakognition bei Tieren 111
Unklar bleibt bislang, inwieweit metakognitive Prozesse Voraus-
setzung für die Entwicklung einer Theorie des Geistes sind. Josep Call
beklagte die fehlende Verbindung dieser beiden Forschungszweige und
sah das von ihm und Carpenter (Call/Carpenter, 2001) eingesetzte
Paradigma als einen möglichen Zugang zu der Frage, wie Tiere Sehen
mit Wissen verbinden – sowohl bei sich selbst als auch bei anderen
(Call, 2003). Aus den dargelegten Gründen gilt die erwähnte Studie
aber als wenig aussagekräftig. Bislang gibt es meiner Ansicht nach kei-
nen überzeugenden Nachweis dafür, dass Tieraffen anderen Artgenos-
sen Wissen oder Wünsche zuschreiben (Tomasello/Call, 1997; siehe
aber Tomasello et al., 2003 für eine Diskussion der Fähigkeiten von
Menschenaffen). Auch scheinen Affen keine Intentionen zu haben,
andere Gruppenmitglieder über irgendetwas zu informieren (Seyfarth/
Cheney, 2003). Der positive Befund bezüglich der metakognitiven
Fähigkeiten bei Affen legt den Schluss nahe, dass die beiden Komplexe
Metakognition und Theorie des Geistes nicht notwendigerweise mit-
einander verknüpft sind. Handelt es sich bei den beschriebenen meta-
kognitiven Prozessen tatsächlich um eine Zuschreibung von Wissen zu
sich selbst, so scheint sich dies phylogenetisch vor der Fähigkeit ent-
wickelt zu haben, auch anderen Wissen zuzuschreiben. Somit könnte
Metakognition eine Vorstufe für die Entwicklung einer Theorie des
Geistes sein. Andererseits berichteten Lockl und Schneider (Lockl/
Schneider, 2006), dass sich bei Kindern im Vorschulalter eine Vorstel-
lung von den mentalen Zuständen anderer vor ihren (verbalen) meta-
kognitiven Fähigkeiten entwickelt. Da sich die experimentellen Para-
digmen in der genannten Studie von den hier vorgestellten Untersu-
chungen an Tieren erheblich unterscheiden, bleibt unklar, ob diese
allein den möglichen Widerspruch zwischen den phylogenetischen und
ontogenetischen Befunden erklären können. Wünschenswert wären in
jedem Fall weitere vergleichende Untersuchungen, die sich einer ähn-
lichen Methodik bedienen.
Interessanterweise spielt bei der gesamten Diskussion über Meta-
kognition die emotionale Bewertung von Situationen als Zugang zur
Frage der Entscheidungssicherheit in der Forschung bislang nur eine
untergeordnete Rolle. In den in Behavioural and Brain Sciences erschie-
nenen Kommentaren zur Arbeit von Smith und Kollegen (Smith et al.,
2003) beispielsweise geht kein einziger der Autoren auf die mögliche
Rolle oder Funktion von Emotionen bei der Beurteilung von un-
certainty oder beim feeling of knowing ein – obwohl doch schon der
Name des Phänomens diese Frage nahe legt. Und auch Flavell beschrieb
112 Julia Fischer
einen möglichen introspektiven Zugang zur Metakognition explizit als
ein Gefühl: „An example would be the sudden feeling that you do not
understand something another person just said“ (Flavell, 1979, 906). Da
Emotionen wieder mehr wissenschaftliches Interesse auf sich ziehen,
wird sich vielleicht bald jemand der Frage annehmen, inwieweit
emotionale Bewertungen von Situationen Zugang zum eigenen Infor-
mationszustand vermitteln (siehe dazu Engelen, 2003; Naqvi et al.,
2006).
Introspektion als Falle
Wer sich mit dem Phänomen der Metakognition beschäftigt, fängt
unweigerlich an, in sich selbst hineinzuhorchen. Wie kommt man zu
der Gewissheit, etwas eigentlich zu wissen, sich im Moment aber par-
tout nicht daran erinnern zu können? Wie entscheidet man, ob alle
Formen des unregelmäßigen Verbs jetzt wirklich gelernt worden sind?
Introspektion bleibt ein mächtiger, ja fast unvermeidbarer Mechanis-
mus, Hypothesen über mentale Vorgänge zu bilden. Es sollte jedoch
klar geworden sein, dass die Übertragung von durch Introspektion
gewonnenen Erkenntnissen auf andere Organismen erkenntnistheore-
tisch höchst problematisch bleibt, seien es andere Menschen oder Tiere.
Auch wenn Analogieschlüsse in der Alltagspsychologie typisch sind, so
bleiben sie erstens konzeptuell schwach, da sie lediglich auf der Über-
tragung von Verhältnissen beruhen; und zweitens sind sie nicht immer
gerechtfertigt, da sich – wie gezeigt – hinter einer ähnlichen Phäno-
menologie ganz unterschiedliche Mechanismen verbergen können
(Povinelli et al., 2000). Die Neigung zur Übertragung von durch In-
trospektion gewonnenen Erkenntnissen der kognitiven Grundlagen von
Verhalten ist dazu bei der Untersuchung der nächsten lebenden Ver-
wandten – wenig überraschend – ein Vielfaches höher als bei der
Untersuchung des Verhaltens von Wasserläufern oder Honigtopfamei-
sen. Erschwert und moralisch aufgeladen wird die Debatte dadurch, dass
es in den Studien, in denen der Mensch einbezogen wird, auch un-
weigerlich um das Selbstverständnis des Menschen geht. Mit der De-
finition dessen, was den Menschen ausmacht, sind nolens volens
Werturteile verbunden (Marks, 2002). Forscher, die postulieren, eine
bestimmte Fähigkeit sei dem Menschen vorbehalten, sehen sich dem
Vorwurf ausgesetzt, ihr Anliegen sei lediglich, dem Menschen als
„Krone der (evolutionären) Schöpfung“ seinen Platz auf dem Thron zu
sichern. Umgekehrt wird es zum Forschungsziel, den Menschen von
Metakognition bei Tieren 113
eben diesem Thron zu stoßen und die Gemeinsamkeiten im Verhalten
von beispielsweise Mensch und Schimpanse zu betonen (McGrew,
2004). Die immer wiederkehrende Frage ist, ob etwaige Unterschiede
zwischen Tier und Mensch graduell oder diskontinuierlich, bzw.
quantitativer oder qualitativer Natur seien. Der prominenteste Vertreter
der kontinuierlichen Sichtweise ist – wie erwähnt – Charles Darwin,
und seine Annahme steht im Einklang mit der Beobachtung, dass bei
der Entstehung von Arten das Prinzip der kontinuierlichen Verände-
rung gilt. Bestehendes wird nur leicht abgewandelt, und die Neuer-
findungen von Arten, die „de novo“ Synthese komplexer mehrzelliger
Organismen ist in der Natur nicht beobachtet worden (die synthetische
Biologie eröffnet hier allerdings ganz neue Perspektiven). Andererseits
stellen zum Beispiel Punktmutationen diskrete Ereignisse dar, die
durchaus qualitative Folgen haben können – die Frage der Kontinuität
bleibt entsprechend schwierig zu entscheiden und muss jeweils spezi-
fiziert werden, indem zum Beispiel die Skala berücksichtigt wird oder
der Zeithorizont. Bei all dem sollte man außerdem daran denken, dass
sich die Frage nach Gemeinsamkeiten nicht von der Frage nach den
Unterschieden trennen lässt.
Danksagung
Ich danke Elisabeth Scheiner, Ricarda Schubotz, Brunhild Ritzenhoff
und Christoph Teufel für Diskussionen und die kritische Durchsicht des
Manuskripts.
Bibliographie
Call, Josep (2003): On Linking Comparative Metacognition and Theory of
Mind. In: Behavioral and Brain Sciences (26), 341 – 342.
Call, Josep/Carpenter, Malinda (2001): Do Apes and Children Know what
They Have Seen? In: Animal Cognition (4), 207 – 220.
Carruthers, Peter/Smith, Peter K. (1996): Theories of Theories of Mind. Cam-
bridge: Cambridge University Press.
Cowey, Alan/Stoerig, Petra (1995): Blindsight in Monkeys. In: Nature (373),
247 – 249.
Darwin, Charles (1871): The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex.
London: John Murray.
Engelen, Eva-Maria (2003): Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Rolle des
Gef"hls bei den Leistungen der Vernunft. Göttingen: Vandenhoeck & Ru-
precht.
114 Julia Fischer
Fernandez-Duque, Diego/Baird, Jodie A./Posner, Michael I. (2000): Aware-
ness and Metacognition. In: Consciousness and Cognition (3), 324 – 326.
Fischer, Julia (2003): Vokale Kommunikation bei Nichtmenschlichen Primaten:
Einsichten in die Urspr"nge der Menschlichen Sprache? Leipzig: Universität
Leipzig.
Fischer, Julia (2007, im Druck): Natürlich Kultur? In: Hüttemann, Andreas
(Hg.): Zur Deutungsmacht der Naturwissenschaften. Paderborn: Mentis.
Fischer, Julia/Call, Josep/Kaminski, Juliane (2004): A Pluralistic Account of
Word Learning. In: Trends in Cognitive Sciences (8), 481.
Flavell, John H. (1979): Metacognition and Cognitive Monitoring: A New
Area of Cognitive Developmental Inquiry. In: American Psychologist (34),
906 – 911.
Gardner, Howard (1989): Dem Denken auf der Spur. Stuttgart: Klett Cotta.
Hampton, Robert (2001): Rhesus Monkey Know when They Remember. In:
Proceedings of the National Academy of Science of the United States of Ameri-
ca–Biological Sciences (98), 5359 – 5362.
Hampton, Robert R./Zivin, Aaron/Murray, Elisabeth H. (2004): Rhesus
Monkeys (Macaca mulatta) Discriminate between Knowing and not
Knowing and Collect Information as Needed before Acting. In: Animal
Cognition (7), 239 – 246.
Harvey, Paul H./Clutton-Brock, Tim/Mace, Georgina M. (1980): Brain Size
and Ecology in Small Mammals and Primates. In: Proceedings of the National
Academy of Science of the United States of America–Biological Sciences (77),
4387 – 4389.
Hölldobler, Bert/Wilson, Edward O. (1994): Journey to the Ants: A Story of
Scientific Exploration. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Humphrey, Nicholas K. (1976): The Social Function of Intellect. In: Bateson,
Patrick P.G./Hinde, Robert A. (Hg.): Growing Points in Ethology. Cam-
bridge: Cambridge University Press, 303 – 317.
Jolly, Alison (1972): The Evolution of Primate Behaviour. New York: Macmillan.
Kaminski, Juliane/Call, Josep/Fischer, Julia (2004): Word Learning in a Do-
mestic Dog: Evidence for ,Fast Mapping‘. In: Science (304), 1682 – 1683.
Koriat, Asher (1993): How Do We Know That We Know? The Accessiblity
Model of the Feeling of Knowing. In: Psychological Review (100), 609 – 639.
Kornell, Nate/Son, Lisa K./Terrace, Herbert S. (2007): Transfer of Metacognitive
Skills and Hint Seeking in Monkeys. In: Psychological Science (18), 64 – 71.
Levine, Michael W. (2000): Fundamentals of Sensation and Perception. Oxford/
New York: Oxford University Press.
Lockl, Kathrin/Schneider, Wolfgang (2006): Precursors of Metamemory in
Young Children: The Role of Theory of Mind and Metacognitive Vo-
cabulary. In: Metacognition and Learning (1), 15 – 31.
Marks, Jonathan (2002): What It Means to Be 98 % Chimpanzee. Berkeley:
University of California Press.
McGrew, William C. (2004): The Cultured Chimpanzee. Cambridge: Cam-
bridge University Press.
Metcalfe, Janet (2003): Drawing the Line on Metacognition. In: Behavioral and
Brain Sciences (26), 350.
Metakognition bei Tieren 115
Metcalfe, Janet/Shimamura, Arthur P. (1994): Metacognition – Knowing About
Knowing. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Morgan, Conwy L. (1906): An Introduction to Comparative Psychology. London:
Walter Scott.
Naqvi, Nasir/Shiv, Baba/Bechara, Antoine (2006): The Role of Emotion in
Decision Making: A Cognitive Neuroscience Perspective. In: Current
Directions in Psychological Science (15), 260 – 264.
Nelson, Thomas O./Narens, Louis (1990): Metamemory: A Theoretical
Framework and New Findings. In: Bower, Gordon H. (Hg.): The Psy-
chology of Learning and Motivation. Bd. 26. New York: Academic Press,
125 – 141.
Nelson, Thomas O./Narens, Louis (1994): Why Investigate Metacognition. In:
Metcalfe, Janet/Shimamura, Arthur P. (Hg.): Metacognition: Knowing about
Knowing. Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 1 – 25.
Pepperberg, Irene (2000): The Alex Studies: Cognitive and Communicative Abilities
of Grey Parrots. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Povinelli, Daniel J./Bering, Jesse/Giambrone, Steve (2000): Toward a Science
of Other Minds: Escaping the Argument by Analogy. In: Cognitive Science
(24), 509 – 541.
Povinelli, Daniel J./Vonk, Jennifer (2003): Chimpanzee Minds: Suspiciously
Human? In: Trends in Cognitive Sciences (7), 157 – 160.
Premack, David/Woodruff, Guy (1978): Does the Chimpanzee Have a Theory
of Mind? In: Behavioral and Brain Sciences (1), 515 – 526.
Reder, Lynne M./Schunn, Christian D. (1996): Metacognition Does Not
Imply Awareness: Strategy Choice Is Governed by Implicit Learning and
Memory. In: Reder, Lynne M. (Hg.): Implicit Memory and Metacognition.
Mahwah, New Jersey: Erlbaum, 45 – 77.
Romanes, George J. (1882): Animal Intelligence. London: Kegan, Paul, Trench
& Co.
Romanes, George J. (1884): Mental Evolution in Animals. New York: AMS
Press.
Seyfarth, Robert M./Cheney, Dorothy L. (2003): Signalers and Receivers in
Animal Communication. In: Annual Review of Psychology (54), 145 – 173.
Shettleworth, Sara J. (1998): Cognition, Evolution, and Behavior. Oxford/New
York: Oxford University Press.
Shettleworth, Sara J./Sutton, Jennifer E. (2003): Animal Metacognition? It’s all
in the Methods. In: Behavioral and Brain Sciences (26), 353.
Smith, David J./Schul, Jonathan/Strote, Jared/McGee, Kelli/Egnor, Roian/
Erb, Linda (1995): The Uncertain Response in the Bottlenosed Dolphin
(Tursiops truncatus). In: Journal of Experimental Psychology: General (124),
391 – 408.
Smith, David J./Shields, Wendy E./Schull, Jonathan/Washburn, David A.
(1997): The Uncertain Response in Humans and Animals. In: Cognition
(62), 75 – 97.
Smith, David J./Shields, Wendy E./Washburn, David A. (2003): The Com-
parative Psychology of Uncertainty Monitoring and Metacognition. In:
Behavioral and Brain Sciences (26), 317 – 339.
116 Julia Fischer
Son, Lisa K./Kornell, Nate (2005): Metaconfidence Judgements in Rhesus
Macaques: Explicit Versus Implicit Mechanisms. In: Terrace, Herbert S./
Metcalfe, Janet (Hg.): The Missing Link in Cognition. Oxford/New York:
Oxford University Press, 296 – 320.
Terrace, Herbert S./Metcalfe, Janet (2005): The Missing Link in Cognition –
Origins of Self–Reflective Consciousness. Oxford/New York: Oxford Uni-
versity Press.
Thorndike, Edward L. (1911): Animal Intelligence: Experimental Studies. New
York: Macmillan.
Tolman, Edward C. (1932): Purposive Behavior in Animals and Men. New York:
Appleton – Century – Crofts.
Tomasello, Michael/Call, Josep (1997): Primate Cognition. Oxford/New York:
Oxford University Press.
Tomasello, Michael/Call, Josep/Hare, Brian (2003): Chimpanzees Understand
Psychological States – The Question Is which Ones and to what Extent.
In: Trends in Cognitive Sciences (7), 153 – 156.
Tulving, Endel/Madigan, Stephen A. (1970): Memory and Verbal Learning.
In: Annual Review of Psychology (21), 437 – 484.
Vauclair, Jacques (1996): Animal Cognition. Cambridge, Massachusetts: Harvard
University Press.
Wallmann, Joel (1992): Aping Language. Cambridge: Cambridge University
Press.
Wasserman, Eric A./Zentall, Thomas R. (2006): Comparative Cognition – Ex-
perimental Explorations of Animal Intelligence. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Watson, John B. (1913): Psychology as the Behaviorist Views It. In: Psycho-
logical Review (20), 158 – 177.
Weiskrantz, Lawrence/Warrington, Elisabeth K. (1975): Blindsight – Residual
Vision Following Occipital Lesions in Man and Monkey. In: Brain Research
(85), 184 – 185.
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit
MICHAEL A. STADLER
1. Der freie Wille auf dem Prüfstand
1983 veröffentlichte die Arbeitsgruppe um Benjamin Libet ein Expe-
riment (Libet et al., 1983), welches vielerorts als Generalangriff auf den
freien Willen – verstanden als die Möglichkeit, sich für dies oder jenes
oder auch für gar nichts zu entscheiden – interpretiert wurde. Libet und
seine Mitarbeiter hatten festgestellt, dass 200 ms vor der äußeren Be-
wegung (gemessen durch das Elektromyogramm) das Bewusstsein der
Bewegungsabsicht auftritt, aber bereits 350 ms vorher ein Bereit-
schaftspotenzial gemessen werden kann, das die Bewegung einleitet.
Das Gehirn entscheidet etwas zu tun, lange bevor die Absicht etwas zu
tun, von den Versuchpersonen wahrgenommen wird. Wolfgang Prinz
formulierte das Paradox, dass die Handlungsentscheidung längst gefallen
ist, wenn die bewusste Intention erst ausgebildet wird, durch die fol-
gende Dialektik: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen,
was wir tun.“ Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man an-
nimmt, dass das Bereitschaftspotenzial genauso wenig bewusst wahr-
genommen wird, wie der Prozess, der der bewussten Entscheidung
vorausgeht. Allerdings ist nur das Bereitschaftspotenzial messbar, was zu
seiner stillschweigenden Priorisierung führt.
Benjamin Libet versicherte immer wieder, dass er den freien Willen
nicht abschaffen wollte – was ihm als erklärtem Dualisten auch nicht gut
angestanden hätte. Er erfand dazu ein weiteres Experiment, in dem
nachgewiesen werden konnte, dass bis zu 100 ms vor der Bewe-
gungsausführung diese noch gestoppt werden kann. Dieses sogenannte
„Veto-Experiment“ ließ die Situation noch komplizierter erscheinen,
da wir nunmehr zwar keine Handlungsentscheidung treffen können, es
wohl aber in unserer Macht steht, etwas nicht zu tun. Zwei Jahre nach
der Veröffentlichung des Experiments erschien ein Aufsatz von Libet in
The Behavioural and Brain Sciences (Libet, 1985), einer open-peer-com-
mentary Zeitschrift: Libet betonte hier noch einmal ausdrücklich, dass
seine experimentellen Befunde und Analysen nichts über individuelle
118 Michael A. Stadler
Verantwortlichkeit und die Möglichkeit freier Willensentscheidungen
aussagen. Nichtsdestoweniger vertraten sehr renommierte Wissen-
schaftler – Neurobiologen, Psychologen und Philosophen – die An-
sicht, dass mit Libets experimentellen Befunden der freie Wille zur
Illusion degradiert würde. In den 22 Kommentaren zu dem Aufsatz von
1985 (Libet, 1985) werden eine Reihe von Kritikpunkten an Libets
Experiment aufgezeigt. Diesen möchte ich hier noch einige
grundsätzlichere Einwände hinzufügen und gleichzeitig Ideen für wei-
terführende experimentelle Ansätze entwickeln.
2. Was ist das Faszinierende an der Kritik des freien Willens?
Bereits mit der Entdeckung des Bereitschaftspotenzials durch Kornhu-
ber und Deecke (Kornhuber/Deecke, 1965) waren die Voraussetzun-
gen für Libets Experimente gegeben. Es dauerte allerdings noch 18 Jahre
bis diese tatsächlich durchgeführt wurden und weitere zehn Jahre bis die
Ergebnisse über den Kreis der Fachleute hinaus ins Bewusstsein der
weiteren Öffentlichkeit traten. Nun begann in Deutschland eine in-
tensive Dokumentation und Diskussion dieser Forschungsergebnisse.
Kaum eine größere Tageszeitung brachte nicht ganzseitige Artikel auf
der Feuilletonseite, kaum eine populäre Wissenschaftszeitschrift, in der
nicht einer der Apologeten das Ende des freien Willens propagierte,
kaum eine Richterakademie, die sich nicht einen Neurobiologen ein-
lud, um die Frage, ob nach den neusten wissenschaftlichen Erkennt-
nissen der richtige Angeklagte verurteilt würde, zu reflektieren. In den
USA, in England oder Frankreich ist diese publikumswirksame Dis-
kussion in ähnlicher Intensität nicht geführt worden. Dies mag in den
unterschiedlichen philosophischen Traditionen im angloamerikanischen
und im deutschen Raum seine Ursache haben. Dem kritischen Beob-
achter stellt sich aber die Frage, warum die Schlussfolgerungen aus dem
Libet-Experiment nicht nur in die Rechtsphilosophie hineinreichten
sondern in Deutschland sogar zu Konkretisierungen im Gerichtssaal
führten. Es wäre denkbar, dass die nationale Präferenz daher rührt, dass
in Deutschland, angesichts seiner Geschichte, jede Möglichkeit der
Entlastung des Gewissens und der Verlagerung der Verantwortlichkeit
auf einen deterministischen Mechanismus – nämlich das Gehirn –
dankbar angenommen wird.
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 119
3. Physikalische und psychologische Zeit
Libets Experiment basiert auf verschiedenen Zeitmessungen: Der Be-
ginn des Bereitschaftspotenzials (BP) und der Beginn der elektromyo-
graphischen Aktivität (EMG) werden auf dem physikalischen Zeitstrahl
gemessen. Die bewusste Handlungsentscheidung hingegen wird mit
einer Art Uhr durch Angabe eines Ortes auf einem Kreis identifiziert.
Auf der physikalischen Zeitachse werden sodann zeitliche Relationen
zwischen physikalischen und subjektiven Zeitstrecken hergestellt. Hier
ist nicht nur ein philosophischer Kategorienfehler anzumerken, sondern
auch eine empirische Problematik festzuhalten. Zudem besitzt die
subjektive oder psychologische Zeit eine völlig andere Struktur als die
physikalische Zeit.
Der Kategorienfehler besteht darin, dass Libet annimmt, der Wil-
lensakt müsse die Gehirnprozesse steuern können. Tatsächlich aber
können wir bestenfalls unsere Handlungen steuern, nicht aber bei-
spielsweise das Bereitschaftspotenzial, wie es Libet hypostasiert.
Auch steckt eine empirische Problematik in der Vermengung sub-
jektiver und physikalischer Zeit. Jeder weiß aus der Alltagserfahrung,
dass die Zeit unterschiedlich schnell vergehen kann, dass Zeitstrecken
unterschiedlich lang sein können, manchmal vergeht die Zeit wie im
Fluge und manchmal kann eine Minute zur Ewigkeit werden (Abb. 1) .
Die Tatsache der positiven und negativen Beschleunigung des erlebten
Zeitverlaufs wurde vielfältig empirisch nachgewiesen, indem Zeit-
schätzungen bei angenehmen Tätigkeiten mit Zeitschätzungen unter
der Bedingung des Wartens verglichen wurden (Fraisse, 1966). Der
physikalische Zeitstrahl lässt sich deshalb nicht eindeutig dem psycho-
logischen zuordnen, ebenso wenig wie sich psychologische Zeitpunkte
eindeutig auf dem physikalischen Zeitstrahl abbilden lassen.
Abb. 1: Subjektive und physikalische Zeit.
120 Michael A. Stadler
Abb. 2: Die Struktur der psychologischen Zeit.
Die psychologische Zeit, darauf hat Bischof (Bischof, 2005) kürzlich
hingewiesen, hat eine gänzlich andere Struktur als die physikalische
Zeit. Der physikalische Zeitstrahl verläuft, wenn wir einmal von den
relativistischen Zeitstauchungen und Streckungen absehen, mit Null
Beschleunigung und ohne Struktur. Ob der Zeitstrahl reversibel ist oder
nicht, lässt sich derzeit nicht entscheiden (Hawking, 1988). Auf jeden
Fall haben Vergangenheit und Zukunft – unter der Annahme der
Gültigkeit der Naturgesetze – keine Präferenz.
Die psychologische Zeit ist demgegenüber ganz klar durch das Jetzt
determiniert (Bischof, 2005). Zwischen der Vergangenheit und der
Zukunft liegt ein Überschneidungsbereich, der etwa 1–3 Sekunden lang
ist (Abb. 2). Das phänomenale Jetzt ist also kein mathematischer Punkt
sondern in dieser „psychischen Präsenzzeit“ findet die Integration von
Vergangenheit und Zukunft statt (Pöppel et al., 1990). Die Ausge-
dehntheit des Jetzt ermöglicht uns antizipatorisches Verhalten (z. B. das
Fangen eines Balles). Gleichzeitigkeit kann nur innerhalb des Jetzt
festgestellt werden. Hier nähern wir uns der Grundidee von Libets
Untersuchungen wieder an. Dieser machte die Idee der Gleichzeitigkeit
zur Grundlage der wichtigen Frage des zeitlichen Zusammenhangs
zwischen Gehirnprozessen und Erlebnissen. Dabei verlegte er aber beide
Zeitpunkte auf die physikalische Zeitachse, ohne das daraus entstehende
Paradox zu reflektieren.
Die Problematik der impliziten Gleichsetzung von psychologischer
und physikalischer Zeit wird sofort deutlich, wenn wir dieses Problem
auf das Verhältnis von physikalischem und psychologischem Raum
übertragen. Der psychologische Anschauungsraum lässt sich unter kei-
nen Umständen auf den physikalischen Raum projizieren. Den An-
schauungsraum können wir durch eine Umkehrbrille um 180 Grad
verdrehen, ohne dass dies irgendeinen Einfluss auf die Koordinaten des
physikalischen Raumes hätte. Der sog. Neckerwürfel (Abb. 3) offenbart
eine Multistabilität, die spontan auftritt und nur bis zu einem gewissen
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 121
Abb. 3: Der multistabile Neckerwürfel.
Grad unserer Kontrolle unterliegt (Strüber/Stadler, 1999). Weder hier
noch anderswo lassen sich die Koordinaten des Anschauungsraumes
denen des physikalischen Raumes zuordnen. Und das gilt in ähnlicher
Weise für die Zeit.
4. Verführungen durch den Dualismus
Die Untersuchungen von Benjamin Libet sind durch einen tiefen
Glauben an den Dualismus geprägt. Wie viele Naturwissenschaftler geht
er von einem Interaktionismus aus, der sowohl eine Kontrolle des
Bewusstseins durch die Gehirnprozesse wie auch eine Kontrolle der
Gehirnprozesse durch das Bewusstsein erlaubt. Schon Libets Lehrer, der
Nobelpreisträger Sir John Eccles, war überzeugter Dualist und hat diese
epistemologische Richtung zusammen mit Sir Karl Raimund Popper
neurophilosophisch begründet (Popper/Eccles, 1977).
Ursprünglich wollte Benjamin Libet die Willensfreiheit experi-
mentell beweisen. Es war seine Hypothese, dass eine rein geistige
Willensentscheidung dem Bereitschaftspotenzial vorauseilen kann,
wodurch die Existenz eines „freien“ Willens, der Handlungen verur-
sachen könne, bewiesen wäre. Libet war außerordentlich überrascht,
dass seine Untersuchungen eher für das Gegenteil sprachen, da ja in
seinen empirischen Befunden das Bereitschaftspotenzial schon mehr als
300 ms vor dem Willensakt gemessen werden konnte. Er betonte
immer wieder, dass seine experimentellen Befunde die Existenz eines
freien Willens und damit auch die individuelle Verantwortlichkeit jedes
Menschen für sein Handeln nicht ausschlössen. Zumindest könne durch
den freien Willen entschieden werden, eine Handlung nicht auszu-
führen, wie er es in seinen Veto-Experimenten gezeigt hatte. Eccles
bestärkte Libet darin, indem er das frühe Auftreten des Bereitschafts-
122 Michael A. Stadler
potenzials auf die angewandten Mittelungstechniken zurückführte und
zu dem Schluss kam: „There is no scientific basis for the belief that the
introspective experience of initiating a voluntary action is illusory“
(Eccles, 1985, 543).
Die dualistische Sichtweise auf das Problem der Willensfreiheit ist
verlockend, weil wir es uns damit im Hinblick auf die eingangs gestellte
Frage der moralischen Verantwortlichkeit für unser Handeln leicht
machen können. Gerhard Roth spricht sich in seinem jüngsten Buch
(Roth, 2003) auch eindeutig in diese Richtung aus: Das Ich sei nicht
verantwortlich für die Taten des Gehirns, auch wenn dieses uns die
Illusion vermittelt, selbst über unser Tun und Lassen bestimmen zu
können. Strafrechtlich verantwortlich könne aber niemand sein, der
nicht schuldig geworden ist. Schuldgefühle bekommen wir aber immer
dann, wenn wir glauben Unrecht getan zu haben, was uns von unserem
Gehirn vermittelt wird. Hier wird also dem Gehirn unterstellt, es habe
ein Handeln verursacht und dem Handelnden gleichzeitig auch noch
vorgegaukelt, er habe keine Schuld an dem, was er getan hat. Dieser
dualistischen Argumentation lässt sich nur schwer entkommen, wenn
das Gehirn für alles verantwortlich ist, was wir tun – die Handlungs-
entscheidung und die Entscheidung efferente Nerven zu aktivieren.
Was könnte das Gehirn motivieren, seinen Träger zu täuschen, ihm
die Illusion zu vermitteln, er habe schlecht gehandelt, was er ja, im
Verein mit seinem Gehirn, auch tatsächlich getan haben könnte? Um
sich selbst zu exkulpieren, um von sich abzulenken, die Schuld von sich
abzuwälzen? Das schiene mir doch reichlich weit hergeholt.
Derartige Äußerungen werden durch den latenten Dualismus pro-
voziert. Das Gehirn ist verantwortlich und produziert gleichzeitig die
einzig erkennbare Illusion, dass das Bewusstsein die Verantwortung
trage. Damit ist das Gehirn schuldig und unschuldig zugleich.
Auch Wolf Singer versucht in seinen Äußerungen zum Thema dem
Dualismus zu entkommen. So argumentiert er in einem Interview des
„Spektrum“ auf die Frage, ob es eine Entscheidung von „innen heraus“
gebe, damit, dass man ja wiederum auf Zustände rekurriere, die vom
Gehirn zuvor erzeugt wurden. Der Dualismus besteht also nicht nur in
der Annahme, dass der Geist das Gehirn steuere, sondern genauso in der
epiphänomenalistischen Annahme, dass das, was der Geist tue, zuvor
vom Gehirn programmiert wurde. Als Konsequenz aus der letzteren
Äußerung zieht Singer den Schluss, dass man doch „verständnisvoller“
mit Kriminellen umgehen solle (Singer, 2001).
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 123
5. Phänomenologie und Psychophysik
In der Gestaltpsychologie wurden verschiedene Grundsätze aufgestellt,
die in unserem Zusammenhang von Interesse sind.
5.1 Der phänomenologische Grundsatz
„Das Vorgefundene zunächst einfach hinzunehmen, wie es ist; auch
wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, wiedersinnig erscheint und
unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen wieder-
spricht.“ (Metzger, 2001). Dies bedeutet, die Gegenstände unserer
Wahrnehmung uninterpretiert aufzunehmen und erst nach der unvor-
eingenommenen Beschreibung der Phänomene zur Theoriebildung
über sie anzusetzen.
Dies bedeutet in unserem Zusammenhang, dass das Erlebnis, freie
Willensentscheidungen treffen zu können, ernst genommen werden
muss und nicht durch einen Sprung auf eine andere Erkenntnisebene
eliminiert werden darf. Auch würde sich die Interpretation von Er-
lebnissen als pure Illusion verbieten. Der phänomenologische Grundsatz
würde erst in einem zweiten Schritt eine Wahrnehmung als Täuschung
interpretieren lassen. In noch schärferer Fassung haben die Gestalt-
theoretiker vom Primat des Anschaulichen gesprochen, um damit zu
verdeutlichen, dass es keine „falschen Erlebnisse“ geben kann, lediglich
eine Unkenntnis ihrer Ursachen.
5.2 Der psychophysische Grundsatz
Allem Erleben liegen gleichzeitige Hirnvorgänge zugrunde. Es gibt kein
Erleben ohne zeitlich korrelierte neuronale Prozesse. Der Geist – so
formulierte es Wolfgang Metzger – wurde noch nie außerhalb von
hirnbegabten Lebewesen angetroffen. Andererseits ist aber nicht jeder
Hirnprozess mit Erleben verkoppelt. Viele Hirnprozesse unterhalb der
Großhirnrinde finden ohne jegliche Erlebniskorrelate statt. Mit den
korrelierten neuronalen Vorgängen gleichzeitiges Erleben findet nur auf
dem sog. psychophysischen Niveau (Köhler, 1929) bzw. in heutiger
Terminologie in den neural correlates of consciousness (N.C.C.) statt
(Haynes et al., 1998).
124 Michael A. Stadler
Der psychophysische Grundsatz beinhaltet die Überzeugung, dass es
nur Korrelationen zwischen gleichzeitig auf dem psychophysischen
Niveau ablaufenden phänomenalen und neuronalen Prozessen gibt.
Viele Naturwissenschaftler glauben aber, dass die neuronalen Prozesse
die Ursache von Erlebnistatbeständen sind. Von daher ist die Annahme
naheliegend, dass neuronale Prozesse immer ein wenig vor den durch
sie bewirkten Erlebnisprozessen auftreten. Dies ist sicherlich einer der
Gründe, warum Libets Experiment so weitgehende Akzeptanz unter
Naturwissenschaftlern gefunden hat.
Der psychophysische Grundsatz schließt dualistische Interpretatio-
nen der Vorgänge auf dem psychophysischen Niveau aus. Im Weiteren
werden wir versuchen die neural correlates of consciousness (N.C.C.)
identistisch zu begreifen.
Wir unterscheiden bei der Operationalisierung psychophysischer
Prozesse prinzipiell drei Möglichkeiten: Eine physikalische Erklärung,
eine Erklärung der Korrelation zwischen physischen und psychischen
Prozessen sowie eine intraphänomenale Vorgehensweise. Das Libet-
Experiment ist der Versuch einer psychophysischen Erklärung, jedoch
mit den im dritten Abschnitt genannten Schwierigkeiten der Zeitmes-
sung versehen. Eine intraphänomenale Erklärung von Erlebnistatbe-
ständen, insbesondere sog. Qualia, existiert bisher noch nicht. Ein dem
Libet-Experiment analoges Vorgehen, welches sich aber ausschließlich
auf physikalische Parameter beruft, soll im folgenden Abschnitt darge-
stellt werden.
6. Ein Experiment zur Messung der Bewegungsintention
ohne das Problem der subjektiven Zeit
Im Folgenden beschreiben wir ein neues Experiment, das so geplant
und ausgewertet wurde, dass keine Vermengung physikalischer und
subjektiver Zeit stattfinden konnte. Außerdem lag dem Experiment
eine nicht-dualistische Hypothese zugrunde. Das Experiment war im
Großen und Ganzen ähnlich wie das von Libet et al. aufgebaut (Libet et
al., 1983). Es unterschied sich lediglich dadurch, dass keine subjektive
Messung des Zeitpunkts der Entscheidung stattfand. Anstelle der bei der
Messung des Bereitschaftspotenzials üblichen Gleichspannung (DC)
fand die bei der Messung ereigniskorrelierter Potenziale übliche EEG-
Verstärkung (AC) der Hirnströme statt. Dies hatte zur Folge, dass zwar
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 125
der Beginn des Bereitschaftspotenzials (BP) etwas schwerer zu identi-
fizieren war, dafür aber das ereigniskorrelierte Potenzial (EKP) deutli-
cher zum Vorschein kam. Kornhuber und Deecke, die Entdecker des
Bereitschaftspotenzials, hatten ihre EEG-Ableitungen links und rechts
präzentral sowie parietozentral durchgeführt. Abb. 4 zeigt unsere Er-
gebnisse, die präzentral abgeleitet wurden, obere Abb. 0,5 – 15 Hz und
mittlere Abb. 0,5 – 4 Hz (Delta) gefiltert. Die Kurven sind das Ergebnis
einer Mittelung aus 28 artefaktfreien Epochen von je 4 Sekunden (von
denen jedoch nur 2,5 Sekunden dargestellt sind). Unsere Ergebnisse in
Abb. 4 zeigen den Beginn des negativen Bereitschaftspotenzials bei etwa
1000 ms vor dem Knopfdruck. Bei 550 ms vor dem Knopfdruck zeigt
sich der Beginn einer starken Positivierung1 von 4 mV. Die Positivie-
rung endet etwa bei -200 ms, und der Zeitpunkt 0 zeigt den Knopf-
druck an. Was bedeuten diese Ergebnisse: Die starke Positivierung im
Bereich zwischen -550 und -200 ms ist nichts anderes als die Positi-
vierung, wie sie im ereigniskorrelierten Potenzial 250 – 500 ms nach der
Reizdarbietung regelmäßig auftritt. Diese als P 300 bezeichnete positive
Welle wird 300 – 500 ms vor der Positivierung durch einen externen
Reiz oder durch ein internes Ereignis ausgelöst. Die Auslösung dieses
Ereignisses liegt in unserer Messung bei -1000 ms, genau an dem
Zeitpunkt, an dem auch das Bereitschaftspotenzial seinen Anfang
nimmt. Dass nicht nur äußere Reize sondern auch interne kognitive
Vorgänge ein EKP auslösen, wurde durch meine Arbeitsgruppe in
vielen Untersuchungen mit multistabilen Reizmustern (siehe z. B.
Abb. 3) gefunden (Basar-Eroglu et al., 1993, Basar-Eroglu et al., 1996).
Dem Umkippzeitpunkt des multistabilen Musters folgte in all diesen
Untersuchungen eine P 300-ähnliche Positivierung, die ca. 150 – 200
ms vor dem Knopfdruck der Versuchsperson auftrat. Diese positive
Welle ist in der Neurokognitionsforschung häufig untersucht und tritt
z. B. bei Entscheidungen, Diskriminationsaufgaben, Suchoperationen
im Gedächtnis und bei der Zeitschätzung auf. Von daher können wir
die Positivierung in unserer Untersuchung als den Zeitpunkt auffassen,
an dem der Versuchsperson ihre Entscheidung bewusst wird, die 500 ms
vorher gleichzeitig mit dem Bereitschaftspotenzial iniziiert wurde. Der
Vorteil dieser Untersuchung gegenüber der von Libet und Mitarbeitern
liegt darin, dass wir nicht auf die subjektive Zeitmessung mittels der
Drehscheibe zurückgreifen müssen und dass wir das Bereitschaftspo-
1 Im EEG werden traditionell positive Werte nach unten und negative Werte
nach oben aufgetragen.
126 Michael A. Stadler
Abb. 4: Bereitschaftspotenzial (BP) und ereigniskorreliertes Potenzial (EKP) bei
zwei verschiedenen Filterungen. Das BP beginnt gleichzeitig mit dem von der P
300 um ca. 550 ms zurückgerechneten EKP.
tenzial mit dem EKP zusammen durch die unterschiedlichen Filterbe-
reiche darstellen können. Die von Kornhuber und Deecke sowie von
Libet gemessenen DC-Kurven stehen durchaus in Übereinstimmung
mit unserem Ergebnis. Allerdings ist die P 300 in den DC-Aufzeich-
nungen dieser Autoren nicht zu erkennen.
Ein besonderes Messproblem besteht bei Libets Experimenten noch
darin, dass die Versuchspersonen sich stark auf den Kreis mit dem sich
drehenden Punkt konzentrieren mussten, um eine subjektiv einiger-
maßen korrekte Schätzung des Entscheidungszeitpunktes abzugeben.
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 127
Daraus resultiert mit Sicherheit ein weiteres EKP verbunden mit einer
Frequenzverschiebung in den hochfrequenten b- und c-Bereich des
EEG. Wir haben es hier mit einer Art Unschärferelation zu tun, dass
nämlich der Messvorgang den zu messenden Parameter selbst beeinflusst
und damit verfälscht wird. Unsere Ergebnisse sprechen für ein gleich-
zeitiges Auftreten des Bereitschaftspotenzials und des EKPs. Damit ist
der Zeitpunkt der Vorbereitung einer Bewegung und der Vorbereitung
einer Entscheidung identisch. Auf neuronaler Ebene beginnen beide
Prozesse gleichzeitig, auf phänomenaler Ebene wird aber die freie
Handlungsentscheidung erst später sichtbar. Wenn dieser Zeitpunkt auf
den Beginn nur des Bereitschaftspotenzials bezogen wird, ist eine
dualistische Deutung des Libet-Experiments unausweichlich, während
die Ergebnisse unseres Experiments eine identistische Deutung erlau-
ben. Weiter wahrscheinlich gemacht wird die identistische Deutung der
Oszillationen dadurch, dass etwa 1100 ms vor dem Knopfdruck eine
plötzliche Alpha-Blockade erkennbar ist (siehe untere Abb. 4), die
darauf hinweist, dass in eben dem präzentralen Bereich eine starke
Aufmerksamkeits-Konzentration eintritt, die gleichzeitig das BP und das
EKP auslöst.
7. Ein intraphänomenales Experiment:
Zentralnervöses Biofeedback
Das zentralnervöse Biofeedback ist eine Technik, bei der allein durch
kognitive Aktivitäten gleichzeitig die Vorgänge auf dem N.C.C. und
das Wahrnehmungsbewusstsein gesteuert werden können. Das funk-
tioniert folgendermaßen (Abb. 5): Die zentralnervösen Vorgänge auf
dem N.C.C. werden mit EEG-Techniken abgeleitet und die Fre-
quenzen 8 – 13 Hz des sog. Alpha-Rhythmus herausgefiltert. Diese
elektrischen Signale werden moduliert und verstärkt und gelangen als
akustische Reize ins Bewusstsein. Durch kognitive Aktivitäten auf der
Ebene des Bewusstseins wird gelernt, ein Display zu steuern, dessen
Objekte als visuelle Reize ins N.C.C. und Bewusstsein gelangen. Diese
beiden miteinander verschränkten Regelkreise interagieren ausschließ-
lich auf der Erlebnisebene mit der Versuchsperson. Die Gehirnprozesse
des N.C.C. werden in bewusstseinsfähige Vorgänge übersetzt. Hier
ergibt sich ein wichtiger Hinweis auf die kausalen Auswirkungen des
Eintritts neuronaler Vorgänge in das N.C.C. Beim zentralnervösen
128 Michael A. Stadler
Abb. 5: Schema des zentralnervösen Biofeedback.
Biofeedback wird ein globaler zentralnervöser Prozess durch entspre-
chende Signalmodulation und Verstärkung den äußeren Sinnesorganen
der Versuchperson direkt zugänglich, und dieser Gehirnprozess kann
zeitgleich bewusst wahrgenommen werden. Das Interessante ist dabei,
dass durch die zeitgleiche Betrachtung des kognitiven und des neuro-
physiologischen Aspekts globaler Hirnprozesse nicht nur deren Zu-
ordnung möglich wird, sondern auch deren bewusste Beeinflussung
(Haynes et al., 1998). Dies entspricht der These von Hermann Haken,
dass in selbstorganisierenden Systemen Musterbildung und Muster-
erkennung zwei analoge, im Grenzfall identische Prozesse sind (Haken/
Stadler, 1990). Die ersten Versuche zur willentlichen Beeinflussung
zentralnervöser Prozesse durch Biofeedback wurden schon seit Ende der
60er Jahre mit dem EEG gemacht (Kamiya, 1969). Es zeigte sich, dass
Versuchspersonen bei der Aufgabe, die Frequenzen ihres spontanen
EEG zu modulieren, bis zu 70 % mehr Alpha-Aktivität erzeugen
konnten. Dass die meisten Autoren diese erstaunliche und für das Ge-
hirn-Geist-Problem höchst relevante Leistung zunächst als einen ope-
ranten Konditionierungsprozess deuteten, verschleiert die eigentlich
interessante Tatsache, dass hierbei die Beeinflussung eines globalen
neurophysiologischen Vorganges gerade durch seine Repräsentation im
N.C.C. möglich wird.
Das Entscheidende bei dem intraphänomenalen Paradigma des
zentralnervösen Biofeedbacks ist die Zeitgleichheit des zentralnervösen
Prozesses und seiner Wahrnehmung. Dadurch wird das wichtigste
Kriterium für eine identistische Auffassung gewährleistet und es existiert
keine Notwendigkeit, einen kausalen Zusammenhang zwischen Vor-
gängen auf dem N.C.C. und bewusstem Erleben herzuleiten.
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 129
Wir hatten festgestellt, dass Libets Annahme einer so oder so gear-
teten Kausalbeziehung zwischen einem Willensakt und der Bewe-
gungsvorbereitung im Bereitschaftspotenzial der dualistischen Auffas-
sung geschuldet ist. Nun lässt sich dagegen einwenden, dass es unzulässig
sei, aus Korrelationen auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu schlie-
ßen. Um die vorhandene Korrelation zu erklären, würden dann das
Bereitschaftspotenzial und der subjektive Wille einer gemeinsamen
dritten Ursache bedürfen, die selbst wiederum nicht bewusst gewesen
sein kann. Libet folgert daraus, dass Willenshandlungen unbewusst und
subkortikal zustande kommen. Die beiden Experimente, das auf phy-
sikalischen Parametern basierende EEG-Experiment und das auf phä-
nomenalen Parametern basierende Biofeedback-Experiment haben
deutlich gemacht, dass die Annahme einer linearen Kausalbeziehung
zwischen dem N.C.C. (Wille) und dem Bereitschaftspotenzial unnötig
ist. Ist das neuronale Korrelat des Bewusstseins aber mit diesem iden-
tisch, ist es allein der zeitliche Konnex, der jedes weitere Agens über-
flüssig macht.
8. Das Ende der Verantwortlichkeit?
Roth und andere Neurobiologen sind nach dem Libet-Experiment
überzeugt davon, dass „das bewusste, denkende und wollende Ich […]
nicht im moralischen Sinne verantwortlich ist für dasjenige, was das
Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ,perfiderweise‘ dem Ich die ent-
sprechende Illusion verleiht.“ (Roth, 2003, 180). Und er fährt fort:
„Wenn also Verantwortung an persçnliche moralische Schuld gebunden ist,
wie es im deutschen Strafrecht der Fall ist, dann können wir nicht
subjektiv verantwortlich sein, weil niemand Schuld an etwas sein kann,
das er gar nicht begangen hat“ (Roth, 2003, 180). Kein Wunder, wenn
Strafrichter, denen solche Thesen auf ihren Richterakademien vorge-
tragen werden, in eine tiefe Verunsicherung verfallen. Roth scheint
aber selbst nicht daran zu glauben, dass mit dem Argument des Libet-
Experiments das Ende des Strafrechts gekommen ist, und er plädiert
dafür, das Strafvollzugssystem mehr als Besserungssystem auszugestalten.
Auch Wolf Singer äußert sich im Anschluss an seine deutlichen Thesen
im Hinblick auf deren Konsequenzen eher halbherzig.
Keiner der Autoren möchte sich wohl zu der Konsequenz verstei-
gen, dass tatsächlich alle Schuld beim Gehirn liegt und wir getrost die
Gerichtssäle schließen und die Gefängnistore öffnen können, da es keine
Missetäter im herkömmlichen Sinn mehr geben kann. Ob das Libet-
130 Michael A. Stadler
Experiment eine solche Konsequenz tatsächlich fordert, ist jedoch eher
fraglich. Es wurde ja auch mehrfach darauf hingewiesen, dass wir nicht
für die Intention bestraft werden sondern für die unakzeptable Hand-
lung. Und über die unakzeptable Handlung sagt das Libet-Experiment
nur wenig aus. Singer äußert sich dementsprechend am Ende eines
ausführlichen Interviews auf die Frage nach den Konsequenzen: „Wir
würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Be-
trachtungsweise hätte sich geändert.“ (Singer, 2001, 75).
Hier scheint ein Ansatz zu liegen, um der Wahrheit näher zu
kommen. Betrachten wir noch einmal die Situation im Gerichtssaal:
– Der Richter tritt nach Beratung in den Gerichtssaal ein und ver-
kündet: Der Angeklagte wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Gerichtsgendarm kommt und legt dem Angeklagten die Hand-
schellen an. Beide verlassen den Gerichtssaal nicht ohne das Gehirn
des Angeklagten, das treu wie immer seine Schritte lenkt.
– Oder der Richter tritt nach Beratung wieder in den Gerichtssaal ein
und verkündet: Das Gehirn des Angeklagten wird zu fünf Jahren
Gefängnis verurteilt. Der Gerichtsgendarm legt dem Angeklagten die
Handschellen an und verlässt den Gerichtssaal mit dem Missetäter,
dem Gehirn, nebst seinem Träger, der sich wortlos fügt, da er oh-
nehin alles durch die Brille seines Gehirns sieht.
Wie sagte doch Singer? Wir tun nach Libet das Gleiche wie bisher –
„allein die Betrachtungsweise hat sich geändert.“
9. Zusammenfassung
Thema dieser Untersuchung war die Frage, ob aus den Experimenten
von Benjamin Libet tatsächlich weitreichende Schlussfolgerungen ge-
zogen werden dürfen, die im Grenzfall die Verantwortlichkeit des
Menschen für seine Handlungen in Frage stellen. Es wurden Überle-
gungen angestellt, warum gerade in Deutschland die Kritik der Ver-
antwortlichkeit auf fruchtbaren Boden fällt.
Im darauf folgenden Abschnitt wurde die Zeitmessung in Libets
Experiment zum Gegenstand gemacht. Es zeigte sich, dass die Ergeb-
nisse subjektiver und physikalischer Zeitmessung nicht aufeinander
abbildbar sind. Außerdem hat die psychologische Zeit eine andere
Struktur als die physikalische Zeit. Es wurde sodann argumentiert, dass
die Probleme der Interpretation von Libets Experimenten im Wesent-
Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit 131
lichen auf den zugrundeliegenden Dualismus zurückgeführt werden
können. Dem wurde der phänomenologische und der psychophysische
Grundsatz gegenüber gestellt, die beide eine identistische Interpretation
nahelegen: Es gibt keine geistigen Vorgänge, die nicht gleichzeitig
neuronale Vorgänge sind.
Es wurde ein Experiment konzipiert, welches dem von Libet
weitgehend gleicht, aber auf die subjektive Zeitmessung verzichtet. In
dem Experiment konnte gezeigt werden, dass das negative Bereit-
schaftspotenzial von einem positiven ereigniskorrelierten Potenzial
überlagert wird. Beide haben zugleich ihren Ursprung. Ein zweites
experimentelles Paradigma, das zentralnervöse Biofeedback, zeigte die
Möglichkeit der intraphänomenalen Beeinflussung zentralnervöser
Vorgänge auf.
Am Schluss wurde noch einmal auf die Frage der Verantwortlich-
keit eingegangen. Nicht die Verantwortung für das Handeln hat sich
nach Libet verändert, nur die Betrachtungsweise.
Bibliographie
Basar-Eroglu, Canan/Strüber, Daniel/Kruse, Peter/Basar, Erol/Stadler, Mi-
chael (1996): Frontal Gamma-Band Enhancement during Multistable Vi-
sual Perception. In: International Journal of Psychophysiology (24), 113 – 125.
Basar-Eroglu, Canan/Strüber, Daniel/Stadler, Michael/Kruse, Peter/Basar,
Erol (1993): Multistable Visual Perception Induces a Slow Positive EEG
Wave. In: International Journal of Neuroscience (73), 139 – 151.
Bischof, Norbert (2005): Das Paradox des Jetzt. In: Psychologische Rundschau
(56), 36 – 42.
Eccles, John C. (1985): New light on the Mind-Brain Problem: How Mental
Events Ccould Influence Neural Events. In: Haken, Hermann (Hg.):
Complex Systems – Operational Approaches. Berlin/Heidelberg/New York:
Springer, 81 – 106.
Fraisse, Paul (1966): Zeitwahrnehmung und Zeitschätzung. In: Metzger,
Wolfgang (Hg.): Wahrnehmung und Bewusstsein. Handbuch der Psychologie.
Bd. 1/1. Göttingen: Hogrefe, 656 – 688.
Haken, Hermann/Stadler, Michael (1990): Synergetics of Cognition. Berlin/
Heidelberg /New York: Springer.
Hawking, Stephen W. (1988): A Brief History of Time. London: Sagan.
Haynes, John D./Roth, Gerhard/Schwegler, Helmut/Stadler, Michael (1998):
Die funktionale Rolle des bewusst Erlebten. In: Gestalt-Theory (20), 186 –
213.
132 Michael A. Stadler
Kamiya, Joe (1969): Operant Control of the EEG Alpha Rhythm and some of
Its Reportet Effects on Consciousness. In: Tart, Charles T. (Hg.): Altered
States of Consciousness: A Book of Readings. New York: Wiley.
Köhler, Wolfgang (1929): Ein altes Scheinproblem. In: Die Naturwissenschaften
(17), 395 – 400.
Kornhuber, Hans H./Deecke, Lüde (1965): Hirnpotentialänderungen bei
Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereit-
schaftspotential und reafferente Potentiale. In: Pfl"gers Archiv f"r die gesamte
Physiologie (284), 1 – 17.
Libet, Benjam (1985): Unconscious Cerebral Initiative and the Role of
Conscious Will in Volontary Action. In: The Behavioural and Brain Sciences
(8), 529 – 566.
Libet, Benjam/Gleason, Curtis A./Wright, Elwood W./Pearl, Dennis K.
(1983): Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of
Cerebral Activities (Readiness-Potential): The Unconscious Initiation of a
Freely Voluntary Act. In: Brain (106), 623 – 642.
Metzger, Wolfgang (2001): Psychologie. Wien: Krammer.
Pöppel, Ernst/Ruhnau, Eva/Schill, Kerstin/Steinbüchel, Nicole (1990): A
Hypothesis Concerning Timing in the Brain. In: Haken, Hermann/
Stadler, Michael (Hg.): Synergetics of Cognition. Berlin/Heidelberg/New
York: Springer, 144 – 149.
Popper, Karl/Eccles, John C. (1977): The Self and its Brain. Berlin/Heidelberg/
New York: Springer.
Prinz, Wolfgang (1996): Freiheit oder Wissenschaft? In: Cranach, Mario von
(Hg.): Freiheit des Entscheidens und Handelns. Ein Problem der nomologischen
Psychologie. Heidelberg: Asanger, S. 86 – 103.
Roth, Gerhard (2003): Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Singer, Wolf (2001): Das Ende des freien Willens? In: Spektrum der Wissenschaft
(2), 72 – 75.
Strüber, Daniel/Stadler, Michael (1999): Differences in Top-Down Influences
on the Reversal Rate of Different Categories of Reversible Figures. In:
Perception (28), 1185 – 1196.
Die Ursachen der Freiheit
Signaltransduktion als Grundlage von Verhalten
FERDINAND HUCHO
Ursachen und Gründe – Schlüsselbegriffe der Zwei Kulturen?
Freiheit ist kein originärer Begriff der Naturwissenschaften.1 Experi-
mentell arbeitende Lebenswissenschaftler untersuchen Kausalitätsketten.
Sie fragen nach den Ursachen eines bestimmten Verhaltens und be-
schreiben die physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Lebensvorgängen.
Erst als die Quantentheorie im 20. Jahrhundert den Determinismus der
Newtonschen Physik durchbrach, wurde auch für den Naturwissen-
schaftler die Überwindung strenger Kausalität denkbar, ohne dass er in
einen vorwissenschaftlichen Dualismus abgleiten musste. Seither kann
er sich an der Suche nach den Mechanismen von Freiheit, Normen und
Gründen menschlichen Verhaltens beteiligen, ohne notwendigerweise
in seinem Sinn unwissenschaftlich zu werden. Er kann nach physikali-
schen Ursachen von nicht determinierten Vorgängen suchen.
Für die Betrachtung komplexer Systeme, für die Modellierung von
Phänomenen der Natur (z. B. Klima, Verhalten, Chaos), gibt es heute
mathematische Ansätze, die ein System als deterministisch beschreiben,
ohne dessen Berechenbarkeit vorauszusetzen. Komplexe physikalische
Systeme, im Grunde bereits ein System von drei interagierenden Kör-
pern, sind prinzipiell (also nicht einfach nur computertechnisch) nicht
berechenbar, weil es das Heisenbergsche Unschärfeprinzip nicht ge-
stattet, die Anfangsbedingungen hinreichend genau festzulegen. In
diesem Bereich der prinzipiellen Unberechenbarkeit sind möglicher-
weise Wurzeln der Freiheit zu suchen. Es ist die submikroskopische
Welt der Moleküle, in der die Gesetze der Quantenphysik herrschen.
Allerdings ist dies eine stochastische Welt, während Freiheit nicht zu-
fallsbedingt, sondern durchaus intentional und ,gerichtet‘ ist. Niemand
1 Vgl. in Bezug auf diese These auch die Beiträge von Julia Fischer, Giovanni
Galizia, Martin Heisenberg und Olaf Müller in diesem Band.
134 Ferdinand Hucho
weiß heute, wie die molekularen Zufälle ihre ,Richtung‘ bekommen
und zu einer beabsichtigten Handlung werden.
Man mag zum Zweck der Klärung Ursachen von Gründen unter-
scheiden. Erstere beschreiben die naturwissenschaftliche, letztere die
kulturelle Basis menschlichen Verhaltens. Die Ergebnisse der moleku-
lar- und zellbiologischen Forschung unserer Tage versetzen uns in die
Lage, Umwandlungen dieser in jene zu beschreiben, d. h. zu verfolgen,
wie Ererbtes und Erlerntes, Tradiertes und Erfahrenes in molekularen
Mustern gespeichert und aus diesen abgerufen werden. Es kann hier nur
angedeutet werden: Wir beginnen zu verstehen, was nature und nurture
auf der Ebene der Mechanik der Zellen und Moleküle vereint.
Das menschliche Hirn als Materie des Geistes
Zwar stehen wir noch ganz am Anfang, aber das naturwissenschaftliche
Projekt macht sich daran, unbiologische Begriffe wie ,Freiheit‘ und
,Gründe‘ in die Begriffswelt der Naturwissenschaften zu „übersetzen“.
Denn wie Gerhardt Roth es einmal formulierte: „Auch die Gründe
müssen durch das Gehirn.“ Das heißt: Auch die Gründe, die unser freies
Verhalten steuern, haben organische Grundlagen und beruhen auf be-
stimm- und messbaren physikochemischen Prozessen. Gerhard Roth
hatte in seinem Vortrag im Rahmen des Humanprojekts ausgeführt, die
Großhirnrinde des Menschen sei „Ort von Bewusstsein, Problemlösen,
Abwägen von Alternativen und Handlungsplanung und zugleich Ort
der internen Repräsentation sozialer Regeln und Normen“. Weiter
sagte er: „In der Interaktion des Cortex mit den Basalganglien und dem
Limbischen System werden Gründe in verhaltenssteuernde Ursachen
überführt.“2 Basalganglien und Limbisches System sind jedoch unbe-
wusst agierende Gewebe.
Ich möchte in diesem Text an die Überlegungen von Gerhard Roth
anknüpfen, indem ich die biologischen Fundamente der Freiheit in
einer noch höheren Auflösung betrachten und von der Ebene der
Gewebe und Zellen auf die Ebene der Moleküle übergehen werde.
Dabei soll deutlich werden, dass die Fähigkeit der freien Entscheidung
des Menschen in einem gesellschaftlichen, kulturellen, historischen
Kontext nur auf der organischen Grundlage physikalisch-chemischer
Prozesse möglich ist, die bereits bei einfachsten Organismen angelegt
2 Vgl. die verschriftlichte Form des Vortrags von Gerhard Roth in diesem Band.
Die Ursachen der Freiheit 135
sind und die sich im Verlauf der Evolution so weit entwickelt haben,
dass sie nun komplexes menschliches Verhalten, das wir als Freiheit
bezeichnen, ermöglichen.
Der Schlüsselbegriff, der aus meiner Wissenschaft – der Biochemie –
in die Diskussion der „Naturgeschichte der Freiheit“ eingebracht
werden soll, ist die Signalverarbeitung, fachwissenschaftlich: Signaltrans-
duktion. Ich werde im Folgenden also quer durch die Evolution dar-
stellen, wie in der belebten Natur Signale von Zellen und Molekülen
aufgenommen, verrechnet und in Entscheidungen umgesetzt werden.3
Grundlage des Lebens ist die Verarbeitung von Signalen zu Ver-
halten. Worum handelt es sich also bei der „Signalverarbeitung“? Jeder
Organismus nimmt physikalische und chemische Signale aus seiner
Umgebung auf und verarbeitet sie mit Signalen aus seinem Innern.
Andere Signale als physikalische und chemische gibt es aus der Per-
spektive meiner Wissenschaft nicht. Da die Chemie eigentlich eine
Subdisziplin der Physik ist, könnte man ebenso gut sagen: Es gibt nur
physikalische Signale. Information, welcher Art auch immer, ist in Form
von Signalen codiert, d. h. sie muss zu Signalen physikalisiert werden.
Musik wird in Form akustischer, bildende Kunst und Literatur in Form
von optischen Signalen aufgenommen, denn es gibt nur die bekannten
„fünf Sinne“ für die Aufnahme von Informationen aus der Außenwelt –
sicherlich jedoch kein Sinnesorgan für Gründe und Normen.
Der „inhaltliche Mehrwert“ der das von außen kommende physi-
kalische Signal für den Organismus zur Information macht, entsteht
durch Wechselwirkung mit anderen Informationsträgern aus den phy-
sikalischen und chemischen Speichern im Innern des Organismus, mit
den Gedächtnisinhalten der Zellen also, einschließlich ihres Genoms
(s.u.). Die Aufnahme von Informationen in den Organismus geschieht
ausschließlich über Moleküle, die quasi physikalische Messinstrumente
darstellen.
Der „Mehrwert“ wird umso größer je komplexer die Speicher – vor
allem die Proteine, die Genome und (später in der Evolution) die
Nervensysteme – werden. Zum Beispiel registrieren die Haarzellen,
3 Ich werde versuchen, dies ohne die bei uns Naturwissenschaftlern üblichen
Bilder zu verbalisieren, denn ich glaube, eine Ursache der Kommunikations-
schwierigkeiten zwischen den Disziplinen liegt in der nur scheinbar anschau-
lichen, in Wirklichkeit jedoch hochgradig abstrakten Symbol- und Bilder-
sprache, die wir molekular-mechanistisch denkenden Lebenswissenschaftler
verwenden und die in die eher bildfreien Darstellungen philosophischer Ar-
gumentationen keinen Eingang finden kann.
136 Ferdinand Hucho
d. h. das physikalische Messinstrument unseres Ohrs, einen Ton mit 440
Schwingungen pro Sekunde. Die Information, dass dies der Kammerton
A ist, entsteht erst im Hirn.
Ich werde die Signaltransduktion am Beispiel zweier Entwick-
lungsstufen vom Anfang der Evolution schildern und schließlich bei
unserem genetisch nächsten Verwandten, dem Schimpansen enden.
Denn die Prinzipien der Signaltransduktion, die Aufnahme und Ver-
arbeitung von Signalen durch Moleküle und molekulare Strukturen,
und die Speicherung wiederum in Molekülen, wurden bereits sehr früh
in der Evolution „erfunden“ und bis heute konserviert.
Chemotaxis – Frühe Mechanismen
des Erkennens und Entscheidens
Seit einer Milliarde Jahren gibt es Bakterien auf unserem Globus, ein-
zellige Organismen ohne Zellkern, einen Millionstelmeter kleine, von
einer dünnen Membran umhüllte Tröpfchen. Sie sind die erfolgreichste
Organismengruppe auf Erden, an Biomasse und Vielfalt bis heute von
niemandem übertroffen. Bakterien haben keinen Zellkern, nur ein
ringförmiges DNA-Molekül als Chromosom (und Plasmide genannte
Satelliten-DNA). Sie werden daher als Prokaryonten bezeichnet. Viele
der Grundmechanismen des Lebens auch höherer Organismen sind bei
ihnen bereits vorhanden; so auch das Prinzip der Signaltransduktion.
Bakterien leben in einer komplexen Umgebung, aus der sie nur einige
wenige lebenswichtige Informationen selektiv wahrnehmen. Sie müssen
Nahrungsstoffe aufnehmen und schädliche Stoffe meiden. Hierbei ist es
notwendig, dass sie zunächst Moleküle ihrer Umgebung erkennen und
unterscheiden können. Dafür besitzen sie Rezeptoren, Eiweißmoleküle
mit spezieller „Passform“ für z. B. das lebenserhaltende Zuckermolekül
oder abstoßende Bitterstoffe.
Die Information über die Moleküle in der Umgebung wird durch
die Rezeptoren an das Zellinnere weitergegeben und auf molekulare
Motoren übertragen, die das Bakterium über fadenförmige Geißeln
(Flagellae) in Bewegung setzen, auf die Quelle des Nahrungsmoleküls
zu oder von der des Bittermoleküls weg. Das Prinzip der Transduktion
von Signalen aus der zellulären Umgebung über die Zellmembran in das
Zellinnere, am Anfang der Evolution „erfunden“, wurde bis zu den
vielzelligen komplizierten Pflanzen und Tieren unserer Tage ein-
Die Ursachen der Freiheit 137
schließlich des Menschen erhalten (wenn sich auch wichtige molekulare
Details verändert haben). Die Chemotaxisforschung, die sich mit dem
Phänomen der gerichteten Bewegung von Organismen in Folge eines
chemischen Reizes aus der Umwelt befasst, hat erstaunliche Analogien
zu höheren Lebensfunktionen entdeckt. Man spricht auf diesem Gebiet
nicht nur von Wahrnehmung (über die Rezeptoren) sondern auch von
Entscheidung, Anpassung (Habituation), ja sogar von Gedächtnis. Ohne
hier die molekularen Einzelheiten zu beschreiben, möchte ich betonen,
dass dies mehr als anthropomorphe Wortspiele sind. Daniel Koshland,
einer der Urväter der Chemotaxisforschung, ließ sich allerdings einmal
in seiner Begeisterung für sein Forschungsobjekt zu der Bemerkung
hinreißen: „Bakterien können alles – außer beten“.
Betrachten wir nun einen Eukaryonten, d. h. einen Organismus,
dessen DNA sich in einem echten Zellkern im Inneren der Zelle be-
findet. Das Pantoffeltierchen Paramecium bewegt sich ebenfalls durch
Rotation von geißelähnlichen Gebilden, hier Cilien genannt, wenn
auch der Mechanismus der Fortbewegung ein etwas anderer ist, als bei
den begeißelten Bakterien. Paramecium bewegt sich taumelnd vorwärts,
bis es auf einen Widerstand stößt. Seine Geißeln spüren diesen, ändern
ihre Drehrichtung und schwimmen zurück. Nach kurzer Zeit „ver-
gessen“ sie den Widerstand, stellen ihre Geißeln zurück in die ur-
sprüngliche Drehrichtung und schwimmen wieder vorwärts, diesmal
vielleicht an dem Widerstand vorbei. Die Einzelheiten der molekularen
Mechanik dieser Vorgänge sollen hier nicht weiter ausgeführt werden.
Hierzu nur so viel: Der Zusammenstoß zwischen Paramecium und
Widerstand öffnet in der Membranhülle des Einzellers einen so ge-
nannten Ionenkanal; Calciumionen strömen ein und drehen den Ci-
lienmotor um. Dadurch schwimmt das Tier rückwärts und entfernt sich
von dem Widerstand. Das „Vergessen“ des Widerstands beruht darauf,
dass der Calciumkanal sich nach kurzer Zeit von selbst schließt, so dass
der ursprüngliche molekulare und ionische Zustand wieder hergestellt
wird – und damit das ursprüngliche Verhalten „Vorwärtsschwimmen“.
Nehmen wir nun die Gene hinzu, die das Verhalten mitbestimmen.
Es gibt Mutanten des Pantoffeltierchens, die sich ganz anders verhalten:
Sie haben mutierte Gene, die den Calciumkanal verändern. Eine dieser
Mutanten heißt „pawn“, weil sie wie der Bauer im Schachspiel (engl.
pawn) nur vorwärts schwimmen kann. Eine andere heißt „dancer“, weil
sie langsamer „vergisst“, also sehr viel länger rückwärts schwimmt und
ein gestörtes Bewegungsmuster aufweist. Beide genetische Mutanten
besitzen eine Veränderung in jenem Calciumkanal – ein Beispiel für
138 Ferdinand Hucho
eine Wechselwirkung zwischen Umwelt (hier repräsentiert durch den
Widerstand) und Genen, eine Wechselwirkung die sich auf der Ebene
der Physikochemie der signaltransduzierenden Moleküle abspielt.4
Evolution, Hyperkomplexität und Determinismus
Ich möchte nun nicht etwa den Baum der Evolution hinauf und hinab
springen und weitere, immer komplexere Beispiele für den Zusam-
menhang zwischen Signaltransduktion und Verhalten, zwischen extra-
zellulären Signalen und Genen vorbringen. Bei Mehrzellern kommen
die Signale benachbarter Zellen hinzu, bei höheren Lebewesen gibt es
Signalaustausch zwischen Geweben und Organen. Das Prinzip ist
immer das gleiche: Die Welt, sagen wir besser, die Umwelt einer Zelle
besteht aus physikalischen und chemischen Signalen. Die Zelle besitzt
hierfür Empfänger, Rezeptoren genannt. Rezeptoren und Ionenkanäle
(und noch eine Reihe anderer Moleküle) verarbeiten diese Signale und
übertragen sie auf „Motoren des Verhaltens“ der Zelle – oder des
Organismus.
Rezeptoren und Ionenkanäle sind große Eiweißmoleküle, die Si-
gnale verarbeiten können. D.h. Signale bestimmen ihre Aktivität u. a.
indem sie sie verformen. Zwei unterschiedliche Signale können sich
hierbei verstärken, abschwächen oder aufheben. Die Verarbeitung kann
von dem Molekül vorübergehend oder auf Dauer festgehalten werden.
Die Mechanismen hierfür gelten als weitgehend bekannt. Die Aktivität
der Proteinmoleküle hängt vom intraorganismischen Milieu ab; Signale
aller Art sind Bestandteil dieses Milieus.
Was ich soeben „Motoren des Verhaltens“ nannte, sind somit
Proteinmoleküle, die von Genen kodiert sind, und deren Eigenschaften
letztlich von der Struktur ihres Gens abhängen. Nehmen wir jetzt noch
hinzu, dass Signale sich über die signalverarbeitenden Moleküle ge-
genseitig und zusätzlich auch die Gene und deren Expression verändern
können, erhalten wir ein Netzwerk molekularer Interaktionen, das bei
höheren Organismen beliebig kompliziert und deshalb wie das Wetter
letztlich nicht berechenbar ist. Und dies obwohl es doch nur auf phy-
4 Ich hätte hierfür auch ein weniger anschauliches Beispiel einer früheren Evo-
lutionsstufe wählen können, denn auch bei Prokaryonten gibt es Verhaltens-
mutanten.
Die Ursachen der Freiheit 139
sikalischen Ursachen und Wirkungen beruht – ohne Gründe und ohne
Dualismus.5
Aus der Evolution lässt sich vor allem eins ableiten: Die Verhal-
tensvielfalt, die Komplexität nimmt zu und mit ihr die Freiheit. Die
Freiheit ist offenbar eine emergente neuartige Eigenschaft hyperkom-
plexer Systeme, keine Illusion, sondern eine während der Evolution
zunehmende neue Qualität einer rein physikalischen Welt, die sich wie
das Wetter nicht durch Reduktion auf Elementarereignisse berechnen
oder auch nur beschreiben lässt. Reduktion kann in diesem Zusam-
menhang nur bedeuten, Theorien zu erdenken, die die mechanistischen
Details zu einem System vereinigt – Reduktion also nicht „nach
unten“, zu Funktionselementen und molekularen Bausteinen, sondern
„nach oben“, zum „System“. Unsere Hoffnung ist in diesem Zusam-
menhang die Systembiologie. Nur sie besitzt der Komplexität der Natur
angemessene theoretische Werkzeuge. Komplexität bedeutet dabei
nicht etwa notwendigerweise Chaos (im populären und im mathema-
tischen Sinn), nicht einmal deterministisches Chaos. Komplexität setzt
der Vorhersagbarkeit, im Grunde auch der klassischen Kausalität phy-
sikalischer Prozesse, Grenzen. Denn die durch Systeme nicht-linearer
Gleichungen determinierten chaotischen Systeme sind von sehr präzisen
Anfangsbedingungen abhängig, die zu bestimmen durch die Heisen-
bergsche Unschärferelation, also letztlich durch quantenmechanische
Nichtkausalität unmöglich wird. Derartige komplexe physikalische
Prozesse können durchaus „kreativ“ sein, d. h. Unvorhersagbares, sogar
nie Dagewesenes hervorbringen. Hyperkomplexe Systeme können sich
auf nicht berechenbare Weise selbst organisieren. 6
Unser Hirn enthält 100 Milliarden Nervenzellen. Nervenzellen sind
über durchschnittlich 10.000 Synapsen mit einander verknüpft. Das
ergibt (1011 x 104) ein Netzwerk von 1015 Verknüpfungen (eine Million
Milliarden). Nervenzellen und Synapsen bestehen aus buchstäblich
unzählbaren Molekülen, die durch ebenfalls ,unzählbare‘ Interaktionen
und Reaktionen unter einander vernetzt sind. Die Eigenschaften des
5 Man muss immer wieder daran erinnern, dass ,Unberechenbarkeit‘ kein Wi-
derspruch zum reinen Physikalismus ist.
6 Wie eingangs angedeutet ist völlig unklar, wie aus der Nichtdeterminiertheit
hyperkomplexer Systeme ein absichtsvolles und zielgerichtetes freies Handeln
werden kann. Sowohl die Nichtdeterminiertheit als auch die Intentionalität
sind jeweils notwendige, nicht aber hinreichende Eigenschaften der Freiheit. Es
wird Aufgabe der Biowissenschaften sein, beide in einen mechanistisch plau-
siblen Erklärungszusammenhang zu bringen (s.u.).
140 Ferdinand Hucho
molekularen Netzwerkes bestimmen den Zustand der Zelle (hier der
Nervenzelle), d. h. sie legen fest, ob eine Zelle ruht oder erregt ist, ob sie
Informationen im Sinne von Signalen aufnimmt, speichert, abgibt. Die
Kausalkette vom Molekül zum Verhalten ist lückenlos (unter Berück-
sichtung des oben über Komplexe Systeme Gesagten). Drogenmoleküle
etwa blockieren Rezeptorproteine bestimmter Synapsen und „erzeugen
Verhalten“. Psychische Krankheiten können auf veränderten Rezep-
torproteinen beruhen und sind phenotypisch manifest als krankheits-
typisches Verhalten. Verhalten jedoch „top down“ in einzelne mole-
kulare Mechanismen und Ursachen aufzubrechen, oder es „bottom up“
aus Moleküleigenschaften und molekularen Signalwegen zu berechnen,
ist prinzipiell nicht möglich. Zu zahlreich sind die möglichen Interak-
tionen, der „cross-talk“ im neuronalen und molekularen Netzwerk. Zu
kompliziert sind die nicht-linearen Reaktionsgleichungen der Ursache-
Wirkungsbeziehungen. Zu sehr thermisch verrauscht sind die mole-
kularen Einzelereignisse am Anfang der Kausalitätsketten.
Das Paradoxon ist ein naturwissenschaftliches: Die Kausalkette ist
lückenlos, hängt jedoch von den prinzipiell nicht ganz „scharf“ be-
stimmbaren Anfangsbedingungen ab. Sie besitzt in jedem ihrer Glieder
Optionen (Bifurkationen), ist also nicht berechenbar, nicht determi-
niert. Die hyperkomplexe, nicht berechenbare Maschine Mensch ver-
hält sich jedoch zielgerichtet, reproduzierbar, absichtlich, d. h. intentional,
nicht chaotisch, nicht stochastisch, zufällig. Die Gesetze der Thermo-
dynamik geben über die große Zahl der molekularen Einzelereignisse
gemittelt den zufälligen Wegen der Atome und Moleküle ihre Rich-
tung. Es wird daher die Aufgabe der Naturwissenschaften sein – nicht der
Philosophie –, die Mechanismen des geordneten Verhaltens eines
„nichtdeterminierten“ zellulären und multizellulären Systems aufzu-
klären. Ebenso wird es Aufgabe der Naturwissenschaften sein, in diesem
System die Freiheit zu definieren. Willensfreiheit ist keine „Illusion“ im
populären Sinn eines „falschen Eindrucks“. Sie ist eine Wahrnehmung
des bewussten cortex cerebri, der die unbewussten Prozesse tiefer lie-
gender Bereiche des Hirns erfährt und kontrolliert.7
7 Der Ehrlichkeit halber muss der Naturwissenschaftler anmerken, dass er keine
Ahnung hat, wie dies alles funktioniert: Wahrnehmung, bewusster Cortex,
Erfahren, Kontrollieren, vor allem aber letztendlich die Willensfreiheit… Jedes
dieser Worte steht für ein gigantisches Forschungsvorhaben, für eine Bring-
schuld der experimentellen Naturwissenschaften – nicht etwa der Philosophie
oder auch nur des interdisziplinären Diskurses.
Die Ursachen der Freiheit 141
Ein erster Erfolg der Naturwissenschaften war es, den vermeintli-
chen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit in der Natur
des Menschen aufzulösen: Den simplen Determinismus linearer Be-
ziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen gibt es im System der
100 Trillionen menschlicher Zellen mit unzählbar zahlreichen Mole-
külen und Wechselwirkungen nicht. Es wird sich zeigen, ob Freiheit der
unscharfe Begriff für sehr komplexe Kausalketten und Netzwerke ist
oder ob das Gefühl von Freiheit eine physikalisch/mathematisch neu zu
benennende Eigenschaft in einem komplexen Organismus ist.
Schon gar nicht gibt es den gefürchteten genetischen Determinis-
mus. Gene kodieren für Proteine (und Nukleinsäuren). Gene werden
von ihren eigenen Produkten, den Proteinen, reguliert. Die regulato-
rischen Proteine stehen selbst wiederum in Wechselwirkung mit an-
deren Proteinen, mit Signalen, physikalischen und chemischen Bedin-
gungen der Zelle und ihrer Umgebung. Und alles dies wiederum ist
nicht „digital“, nicht eins zu eins, sondern analog zu beschreiben durch
komplizierte nichtlineare Gleichungen und Gleichungssysteme. Also
auch hier wieder ergibt sich ein „System“, ein hyperkomplexes Netz-
werk von Ursachen und Wirkungen, das sich unserer Berechnung und
Vorhersage prinzipiell entzieht.
Genom und Komplexität
So korreliert denn auch die Zahl der Gene eines Organismus keines-
wegs mit seiner Kompliziertheit. Die Komplexität entsteht durch An-
zahl und Wechselwirkungen der Moleküle, innerhalb und außerhalb
eines Organismus. Zwar besitzen Bakterien nur wenige Tausend Gene,
aber auch der Mensch unterscheidet sich von diesen nur um knapp eine
Größenordnung (er besitzt nur ca. 25.000 Gene, wie übrigens auch
Maus, Ratte, Affe). Die Fruchtfliege bringt es mit 13.600 auf die Hälfte
der Gene des Menschen, die „soziale“, d. h. in einem interagierenden
System einzelner Organismen lebende Amöbe Dictyostelium discoideum
benötigt ca. 12.500 Gene, der Fadenwurm Caenorhabditis elegans
ca. 19.000. C. elegans benötigt diese 19.000 Gene für Entwicklung,
Vermehrung und Überleben von nur 959 Zellen, (davon sind 302
Nervenzellen), während der Mensch für seine 100 Trillionen Zellen nur
50 % mehr Gene besitzt. Zu ganz anderen Relationen kommen wir,
wenn wir hinüber in das Pflanzenreich sehen: Das kleine Pflänzchen
Arabidopsis thaliana besitzt 25.498 Gene. Das kürzlich sequenzierte
142 Ferdinand Hucho
Reisgenom übertrifft mit seinen 37.544 Genen sogar das des Menschen
deutlich – usw.
Die Gründe für diese Diskrepanzen zwischen der Komplexität des
Organismus und der Genomgröße sind nur teilweise verstanden. Es
wird vermutet, dass es weniger auf die Zahl als auf die Aktivität der
Gene und Genprodukte ankommt, auf die regulierbare Expressionsrate
und die ebenfalls regulierbare Funktion der Proteine, letztlich also auf
das, was wir oben Signaltransduktion genannt hatten.
Das Schimpansen- und das Humangenom
Alles dies ist allerdings noch sehr neu, sehr unverstanden. Die Hoff-
nungen der Forschung auf prinzipiell neue Erkenntnisse sind groß. Im
zweiten Teil dieses biologischen Exkurses soll ein Sprung über eine
Milliarde Jahre Evolution hinweg bis zur vorletzten Stufe auf dem Weg
zum Menschen erfolgen. Ich möchte über einen Hoffnungsträger der
Forschung mit besonderer Relevanz für das Menschenbild und für das
Problem der Freiheit referieren: Im September 2005 wurde die DNA-
Sequenz des Schimpansengenoms in Nature (Consortium, 2005) ver-
öffentlicht, noch nicht die endgültige, sondern eine so genannte „draft
sequence“, aber immerhin: Die Reihenfolge von drei Milliarden Nu-
kleotidbausteinen wurde der sich schnell verlängernden Liste der se-
quenzierten Genome hinzugefügt. Die Bedeutung dieser Arbeit gerade
für die Humanwissenschaften ist erheblich: Der Schimpanse ist unser
nächster Nachbar im Stammbaum der Evolution. Vor etwa fünf bis
sieben Millionen Jahren trennten sich Mensch und Schimpanse in ihrer
Entwicklung von ihrem gemeinsamen Vorfahren und voneinander.8 In
dieser relativ kurzen Zeit entstanden die wesentlichen biologischen
Voraussetzungen für die besonderen Eigenschaften des Menschen. Zwei
Dinge erhofft sich die Wissenschaft von diesem Sequenzierprojekt.
Zum einen erwartet man Einblicke in die Mechanismen der Evolution:
Wie ermöglichten Änderungen von Struktur und Inhalt des Genoms
unserer Vorfahren die Entwicklung, an deren vorläufigem Ende wir
stehen? Zum anderen sollte der Vergleich der Schimpansen- und
Menschen-DNA-Sequenzen Hinweise auf die Besonderheiten der
8 Zum Vergleich: Seit einer Milliarde Jahren gibt es Leben auf der Erde, seit
4,5 Milliarden Jahren existiert die Erde, seit 14,7 Milliarden Jahren das Uni-
versum.
Die Ursachen der Freiheit 143
beiden Spezies geben, auf die Grundlagen der phänotypischen Unter-
schiede, vor allem aber auch der evolutionären Zugewinne wie Sprache,
Kognition, etc.
Schimpansen- und Humangenom sind sich sehr ähnlich: Nur
1,23 % der Sequenzen unterscheiden sich. Dabei muss man allerdings
bedenken, dass 1,23 % von 3.3 Milliarden Nukleotiden noch immer
einige Millionen sind! 35 Millionen Nukleotide sind in den beiden
Sequenzen unterschiedlich. Es gibt fünf Millionen deletierte oder ein-
geschobene Nukleotide. Daneben gibt es mehrere Chromosomen-
Umorganisationen.
Diese Zahlen beruhen noch auf nur einer Sequenz. Man weiß also
nicht, inwieweit die beobachteten Unterschiede evtl. auf Variationen
innerhalb der einen Spezies beruhen. Auch wir Menschen haben in-
dividuell verschiedene Genome. Die Signifikanz der beobachteten
Unterschiede erfordert vor allem weitere Genomsequenzen: Erst die
Summe der Genome von Gorilla, Orang Utan und Schimpanse, der
großen Menschenaffen also, wird die Konstanten und die Variablen der
molekularen Evolution erkennen lassen.
„Humanprojekt“ und „Schimpansenprojekt“
Wie funktioniert Evolution auf der molekularen Ebene? Drei Me-
chanismen werden diskutiert und warten auf Unterstützung oder Wi-
derlegung durch die vergleichende Analyse von Genomsequenzen:
Erstens wird Evolution primär als Entwicklung der Proteine, der
überwiegenden Genprodukte, gesehen. Durch Austausch einzelner
oder mehrerer Aminosäuren, die durch jeweils drei Nukleotide der
DNA kodiert werden, kann ein Protein in seiner Aktivität, Stabilität,
Regulierbarkeit, Fähigkeit zur Signalverarbeitung usw. verändert wer-
den und damit einen Selektionsvorteil für den Organismus erzielen. Die
zweite Hypothese zum Mechanismus der Evolution, genannt die
„Weniger-ist-mehr-Hypothese“, vermutet Ausfälle, Deletionen, als
Grundlage der Entwicklung hin zum Menschen. Sichtbares Beispiel ist
die Unbehaartheit des Menschen und der Erhalt bestimmter jugendli-
cher Vorgänge bis in spätere Entwicklungsphasen. Zum Beispiel er-
halten sich die Vorläuferzellen menschlicher Neuronen die Fähigkeit
zur Teilung sehr viel länger. Dies führt z. B. zur Vergrößerung des
Hirns, insbesondere des Cortex. Die dritte Hypothese postuliert Mu-
tationen in den genregulatorischen Sequenzen als Ursache neuer Ei-
144 Ferdinand Hucho
genschaften. Da die Anzahl der Gene bei Mensch und Schimpanse
ungefähr gleich ist, sollten Anzahl, Qualität und Menge der Genpro-
dukte entscheidend sein. – Überflüssig zu sagen, dass sich die drei
Hypothesen keineswegs wechselseitig ausschließen. Ein Kernelement ist
in allen Modellen die Epigenetik und die Evolution der Signaltrans-
duktion.
Nature widmet einen Grossteil seines Heftes vom September 2005
dem Schimpansen und stellt den molekulargenetischen Fortschrittsbe-
richt in den Kontext von Ethologie, Evolution und Anthropologie.
Nature bricht, allein schon aus wissenschaftlichen Gründen, eine Lanze
für die Erhaltung der Arten und den Schutz der nicht-menschlichen
Primaten: Die großen Menschenaffen sind vom Aussterben bedroht.
Ihre DNA lässt sich zwar konservieren. Einzelne Spezies lassen sich im
Zoo bewahren, ihr Verhalten im natürlichen Habitat, ihre „zweite
Evolution“, kulturelle Vorstufen des Menschen, lassen sich jedoch nicht
erforschen, wenn die Urwälder vom Globus verschwinden. Doch das
Wissen, dass es analog zu unserem Humanprojekt auch ein „Schimpan-
senprojekt“ gibt, ist in der Öffentlichkeit kaum verbreitet: Die For-
schungsleiter der verschiedenen Schimpansenprojekte sind zu einem
Projekt zusammengeschlossen und tauschen ihre Beobachtungen zum
Verhalten von Schimpansen in voneinander isolierten Gruppen und
Habitaten aus. Sie extrahieren aus ihren kumulierten Daten Verhal-
tensmuster, die sie als kulturelles Verhalten deuten.9 Verhaltensforscher
kennen das Phänomen der Tradition bei Tieren (Fischen, Vögeln,
Säugern). Vögel lernen z. B. ihren durchaus regionalspezifischen Gesang
von ihren Eltern; nur die Fähigkeit zum Gesang, zum „Tönemachen“
ist genetisch determiniert. Schimpansen jedoch können mehr: Statt
einzelner Traditionen können sie 39 Verhaltensweisen durch „Nach-
äffen“ anderer Gruppenmitglieder erwerben – und beim Orang Utan
wurden bisher 19 derartige Traditionen nachgewiesen. Die Ethologen
bezeichnen derartige Sätze von Traditionen als Kultur und sehen in der
menschlichen Kultur nur einen höheren Komplexitätsgrad der Tradi-
tionssätze.
9 Die Schimpansengenomik wird als unmittelbarer Zugang zum Zusammenhang
zwischen Gen, Umwelt und Verhalten gesehen. Prinzipiell sind die moleku-
laren Netzwerke, die DNA, Proteine und Signaltransduktionskaskaden ver-
knüpfen, über weite Bereiche der Evolution konserviert. Die Details der
Differenzen zwischen nahe verwandten Organismen auf der molekularen
Ebene werden die beträchtlichen phänotypischen Unterschiede zwischen Le-
bewesen auf verschiedenen Stufen der Evolution erklären.
Die Ursachen der Freiheit 145
Was ist bisher aus der Analyse des Schimpansengenoms herausge-
kommen? Unmittelbar nach der Vollendung der Draftsequenz noch
nicht viel: Die Genetiker können aus dem Vergleich des Schimpansen-
und des Humangenoms eine Reihe von Informationen erhalten, die
sich auf die Mutationsraten verschiedener Genombereiche und Gen-
klassen beziehen, und die z. B. für die Populationsgenetik wichtig, für
unseren Zusammenhang jedoch weniger interessant sind. Wir stehen
offenbar erst am Anfang aufregender Erkenntniszuwächse.
Ein zentrales Problem sei hier erwähnt: Die meisten Abweichungen
zwischen menschlichem und Schimpansengenom findet man in so ge-
nannten nicht-kodierenden Bereichen, dort wo keine Gene zu finden
sind. Obwohl diese Sequenzen Dreiviertel des Genoms ausmachen,
kennt man ihre Funktion nicht. Hier sind Überraschungen zu erwarten.
Im Mittelpunkt steht natürlich die Frage: Was macht uns zu
Menschen? Die Antwort wird durch die Tatsache erschwert, dass
zahlreiche Mutationen neutral sind, also keinen Selektionsvorteil be-
deuten. Derartige Mutationen führen zu verschiedenen Phänotypen
innerhalb einer Spezies, ohne für die Evolution unmittelbar relevant zu
sein. Solide Aussagen sind ohnehin erst auf der Basis der verfeinerten
endgültigen Sequenz möglich.
Ein besonderes Augenmerk wird sich jedoch zweifellos auf ge-
hirnspezifische Gene richten. Das Schimpansenhirn hat etwa ein Drittel
der Größe des menschlichen Gehirns, sowohl absolut als auch relativ
zum Körpergewicht. Ein wesentlicher Teil der Zunahme in der Ent-
wicklung zum Menschen betrifft den Cortex. Um ihn im begrenzten
Raum des Schädels unterzubringen, wird er zunehmend gefurcht und
gefaltet. Er besitzt beim Menschen etwa doppelt so viele Neuronen wie
beim Schimpansen.10 Die Vergrößerung des Cortex bei Primaten beruht
offenbar auf einer längeren pränatalen Entwicklung: Bei Mäusen
durchlaufen die cortikalen Vorläuferzellen elf Teilungszyklen, bei Ma-
kaken mindestens 28, beim Menschen vermutlich sehr viel mehr (Hill/
Walsh, 2005). Welche genetischen Mechanismen liegen diesen und
anderen Entwicklungen des Hirns zugrunde, z. B. der funktionellen
Spezialisierung der Cortexareale, der Asymmetrie etc.? Der Genom-
vergleich zeigt schon jetzt weniger Hinweise auf wirklich neue Gene
beim Menschen. Unterschiede ergeben sich eher durch Eliminierung
von Genen (wie z. B. von olfaktorischen Genen), vor allem aber durch
Änderungen in der hirnspezifischen Genexpression (die durch Signal-
10 Vgl. den Beitrag von Gerhard Roth in diesem Band.
146 Ferdinand Hucho
transduktion gesteuert wird). – Von besonderem Interesse sind die
seltenen Fälle so genannter „nicht-synonymer DNA-Änderungen“,
d. h. Nukleotidaustausche, die zu einer veränderten Aminosäure im
Genprodukt führen. Die Forschung wird sich z. B. auf das für die
Sprache wichtige FOXP2-Gen konzentrieren. – Die Wissenschaft vom
Menschen, von der Humangenetik über die Anthropologie bis zur
Philosophie – und auch das Humanprojekt – wird sich mit den Fort-
schritten des „Schimpansenprojekts“ zu beschäftigen haben.
Zusammenfassung
Die These meines Beitrags lautet: In der Biologie (auch der des Men-
schen) gibt es keine Gründe sondern nur Ursachen. Auf der Ebene der
Zellen und Moleküle finden wir die physikalischen Ursachen, für das,
was wir als Gründe bezeichnen. Hier werden Informationen als Signale
aufgenommen. Der molekularbiologische Schlüsselbegriff dieser Be-
trachtungsweise ist die Signaltransduktion. Die Umgebung eines Lebe-
wesens wirkt auf den Organismus über physikalische (und chemische)
Signale. Diese und die Mechanismen ihrer Aufnahme und Verarbeitung
sind in allen Organismen prinzipiell ähnlich und wurden über den
Zeitraum der Evolution konserviert.
Das bedeutet im Einzelnen:
1) Um sich die Umwelt als Lebensraum zunutze zu machen, muss von
einem Organismus eine nützliche Auswahl von Informationen auf-
genommen und in Verhalten umgewandelt werden.
2) Informationen aus der Umgebung eines Organismus werden zu
Signalen physikalisiert, molekularisiert und in seine Zellen hinein-
getragen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Signaltransduktion.
3) Molekulare Elemente der Signaltransduktion sind Rezeptoren, Io-
nenkanäle, Zellmembranen, intrazelluläre Effektormoleküle, die
meist zu vielstufigen Proteinkaskaden zusammengeschaltet sind. Ihre
Eigenschaften werden vom Genom kodiert, dessen Produkt und,
über Rückkopplungsschleifen, dessen Regulatoren sie sein können.
4) Es gibt keine „Rezeptoren für Gründe“. Sämtliche Sinnesorgane
sind letztlich Zugänge physikalischer Signale zum Hirn.
5) Sämtliche Elemente der Signaltransduktion sind veränderbar
(„plastisch“), d. h. ihre Eigenschaften können aufgrund vorherge-
hender Ereignisse („Erfahrungen“) durch chemische und physikali-
Die Ursachen der Freiheit 147
sche Prozesse variieren. Sie können somit Information speichern
(„lernen“) und in Form modifizierter Signaltransduktion weiterge-
ben.
6) Zustand und Aktivität einer Zelle und somit auch eines Gewebes,
Organs, Organismus werden durch „Signale von außen“, von ge-
speicherten vorhergehenden molekularen Abläufen „im Innern“ und
von der genetischen Information im Sinne eines komplexen „Sys-
tems“ bestimmt.
7) Die einzelnen Schritte der Signaltransduktion sind nicht im Sinne
einer vorhersagbaren Ursache-Wirkungsbeziehung determiniert.
Das Netzwerk der molekularen Interaktionen ist (ebenso wie das der
Hundertmilliarden Neuronen unseres Nervensystems) aufgrund
seiner Komplexität und der Nichtlinearität seiner Wechselbezie-
hungen prinzipiell nicht berechen- und vorhersagbarbar.
8) Das Problem des freien Handelns hat für die naturwissenschaftliche
Betrachtung zwei Komponenten: (1) Freies Handeln unterliegt
keinem berechenbaren physikalischen Determinismus. (2) Es ist
dennoch zielgerichtet. Während die erste Komponente unproble-
matisch ist, bleibt es ungelöste Aufgabe der Naturwissenschaft, die
Mechanismen der Umsetzung nicht determinierter stochastischer
Prozesse in zielgerichtetes Handeln und die des Bewusstseins freien
Handelns auf der molekularen/zellulären Systemebene aufzuklären.
Die Philosophie muss der Naturwissenschaft hierfür klare Vorgaben
machen.
Bibliographie
The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium (2005): Initial Se-
quence of the Chimpanzee Genome and Comparison with the Human
Genome. In: Nature (437), 69 – 87.
Hill, Robert S./Walsh, Christopher A. (2005): Molecular Insights into Human
Brain Evolution. In: Nature (437), 64 – 67.
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit
GERHARD ROTH
1. Der inkompatibilistische und der kompatibilistische
Begriff der Willensfreiheit
Die gegenwärtige Debatte um die Willensfreiheit, insbesondere zwi-
schen Philosophen und Strafrechtstheoretikern auf der einen Seite und
Psychologen und Hirnforschern auf der anderen, leidet unter der Tat-
sache, dass sie oft positiv wie negativ von einem Begriff von Willens-
freiheit ausgeht, den heute niemand ernsthaft vertreten kann, und der
weder im gesellschaftlichen Alltag noch im subjektiven Freiheitsemp-
finden der Individuen eine wirkliche Rolle spielt. Dieser traditionelle
oder „starke“ Begriff von Willensfreiheit ist durch drei Kernaussagen
charakterisiert (Walter, 1998; Roth, 2003): (1) Indeterminismus des
Willens: Meine Handlungen werden durch meinen Willen verursacht,
der nur durch sich selbst bestimmt und damit extern in-determiniert ist.
Der freie Wille steht also außerhalb des (aus herkömmlicher Sicht) in
der Natur herrschenden Determinismus; entsprechend ist willensfreies
Handeln unverträglich, inkompatibel, mit der Annahme eines universell
geltenden Determinismus. (2) Alternativismus des Wollens und Handelns:
Ich kann unter identischen physikalisch-physiologischen Bedingungen
anders handeln bzw. hätte anders handeln können, wenn ich nur (an-
ders) will bzw. (anders) gewollt hätte. (3) Intelligibilit!t menschlichen
Handelns: Wir Menschen handeln aus Gr"nden, nicht aus Ursachen.
Gründe unterliegen nicht der physischen Kausalität.
Die Mängel dieses „starken“, inkompatibilistischen Begriffs von
Willensfreiheit, wie er auch dem deutschen Strafrecht zugrunde liegt
(vgl. Roxin, 1997), sind bekannt und betreffen zusammengefasst die
folgenden Punkte.
(1) Nach mehrheitlicher Auffassung der Psychologie und der
Hirnforschung handeln Menschen so, wie es ihre bewussten und un-
bewussten Motive festlegen (dies sei im folgenden Motiv-Determinismus
genannt), die in der jeweiligen Persçnlichkeitsstruktur verwurzelt sind
150 Gerhard Roth
(Amelang/Bartussek, 1997; Asendorpf, 1999). Diese Persönlichkeits-
struktur ist ihrerseits bestimmt durch genetische Faktoren, frühkindliche
prägende Erlebnisse und frühe psychosoziale Erfahrungen und in
schwächerem Maße durch die Erfahrungen im Jugend- und Erwach-
senenalter. Sie bestimmt, in welcher Weise innere und äußere Reizsi-
tuationen verarbeitet, mit früheren Erfahrungen verglichen und in
Handlungsentscheidungen überführt werden. Der Wille ist ein psychi-
scher Zustand, der vornehmlich in der motivationalen Fokussierung auf ein
bestimmtes Handlungsziel und im Abschirmen dieses Ziels vor alter-
nativen Handlungszielen besteht (Heckhausen, 1987; Goschke, 1995).
Er wird umso stärker erlebt, je stärker externe und interne Widerstände
sind und je mehr alternative Handlungsziele bestehen. Ein Wille, der
von personalen Motiven losgelöst ist, ist kein Wille dieser Person, er
kann ihr deshalb auch nicht verantwortlich zugerechnet werden (Pauen,
2004). Menschliches Handelns setzt einen Motiv-Determinismus vor-
aus; andernfalls wäre es zufällig, da un-motiviert.
(2) Ein Alternativismus ist selbst-widersprüchlich, denn er verlangt,
dass wir gegen unsere Motive handeln können. Um aber gegen ein
starkes Motiv handeln zu können (zum Beispiel eine Straftat zu bege-
hen), benötigen wir ein noch stärkeres Motiv (z. B. die Angst vor der
Entdeckung oder das Rechtsgewissen). Menschliches Handeln beruht in
der Regel auf einer Konkurrenz von Motiven, in der sich letztlich ein
einziges Motiv durchsetzt. Dabei ist es unerheblich, ob die Motive eher
bewusst oder unbewusst, eher emotional oder rational sind. Allerdings
müssen bewusste rationale Motive auch immer mit emotionalen Mo-
tiven verbunden sein, um handlungswirksam zu werden.
(3) Es gibt keinen scharfen Gegensatz zwischen Gründen und Ur-
sachen. Gründe sind bewusste, in der Regel sprachlich kommunizier-
bare Handlungserklärungen, die als solche allein nicht handlungswirk-
sam werden können, sondern nur durch Umsetzung in unbewusste
Handlungsantriebe und schließlich in physiologisch-motorische Vor-
gänge, also Ursachen (Roth, 2003, 2005). D.h. Gr"nde m"ssen zu Ur-
sachen werden, um Handlungen auszulösen und zu steuern.
Aufgrund dieser (und anderer) Unzulänglichkeiten hat es seit jeher
alternative Konzepte gegeben, die von einer Verträglichkeit (Kompati-
bilit!t) eines abgewandelten Willensfreiheitsbegriffs mit einem motiv-
deterministischen Ansatz ausgehen. Die wichtigsten kompatibilistischen
Argumente lauten: (1) Ich bin frei, wenn ich bei Abwesenheit äußerer
und innerer Zwänge tun kann, was ich will; der Bedingtheit meines
Willens bin ich mir dabei nicht bewusst (Hobbes, Locke, Hume,
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 151
Schopenhauer). (2) Ich bin frei, wenn mein Wille zweiter Ordnung
meinem Willen erster Ordnung zustimmt (Frankfurt, 1993). (3) Ich bin
frei, wenn ich selbstbestimmt, d. h. auf der Basis meiner persönlichen
Antriebe und Überzeugungen handle (vgl. Pauen, 2004). (4) Ich bin
frei, wenn ich über meine Handlungsabsichten reflektieren kann (vgl.
Bieri, 2001).
Für einen motiv-deterministischen und kompatibilistischen Begriffs
von Willens- und Handlungsfreiheit ist im Übrigen die Annahme eines
durchgängigen Determinismus nicht zwingend erforderlich. Es ist zur
Zeit unklar, ob quantenphysikalische, „objektiv zufällige“ Ereignisse auf
der Ebene der Verhaltensentscheidungen und -steuerung im mensch-
lichen Gehirn wirksam werden. In jedem Fall würden solche Ereignisse
auf dieser Ebene als Handlungsmotive erscheinen, unabhängig von ihrer
„Zufälligkeit“.
Im Folgenden werde ich aus Sicht der Hirnforschung untersuchen,
ob und inwieweit ein solcher kompatibilistischer Begriff von Willens-
freiheit mit dem heutigen Wissen über die bewusste und unbewusste
Steuerung von Willk"rhandlungen verträglich ist, also von solchen
Handlungen, bei denen wir das unabweisliche Gefühl haben, wir seien
es, die diese Handlungen steuern. Ich definiere dabei Handlungsfreiheit
im kompatibilistischen Sinne anhand dreier Fähigkeiten:
1) aufgrund eigener (personaler) Motive handeln können,
2) sich verschiedene Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen
vorstellen und zwischen den Optionen wählen können;
3) sich Ziele setzen und nach deren Verwirklichung streben können.
Ich werde zeigen, in welcher Weise die Evolution des menschlichen
Gehirns als ein Prozess verstanden werden kann, der diese drei Fähig-
keiten ermöglicht (ob zufällig, aufgrund von Mutation und Selektion
oder zielgerichtet sei dahingestellt). Dabei geht es im Wesentlichen um
vier Ereignisse der Hirnevolution, die im Folgenden kurz dargestellt
werden sollen:
– Die Evolution sensorischer und motorischer Areale in der Groß-
hirnrinde der Säugetiere
– Die Ausbildung „exekutiver“ Handlungsvorbereitungs- und Hand-
lungssteuerungs-Schleifen zwischen Großhirnrinde und Basalgan-
glien der Säugetiere
– Die Evolution des Stirnhirns als Sitz bewusster Handlungsplanung bei
Menschenaffen
– Die Evolution der menschlichen Sprache.
152 Gerhard Roth
2. Die Evolution sensorischer Areale in der Großhirnrinde
Es gibt zahlreiche Annahmen über das menschliche Gehirn, die dazu
dienen sollen, eine Sonderstellung des Menschen in der Natur zu un-
termauern. Dem steht die fundamentale Tatsache gegenüber, dass das
menschliche Gehirn ein typisches Wirbeltier- und Säugergehirn und im
engeren Sinne ein typisches Primatengehirn ist. Nahezu alle Eigen-
schaften des menschlichen Gehirns sind Ergebnis einer Entwicklung,
wie sie für das Gehirn der Wirbeltiere und Säugetiere insgesamt und der
Primaten im Speziellen gelten (Nieuwenhuys et al., 1998; Roth/Dicke,
2005a).
Der Mensch hat dabei weder absolut gesehen noch relativ zu seiner
Körpermasse das größte Gehirn (die absolut größten Gehirne finden
sich bei Zahlwalen, die relativ größten Gehirne bei kleinen Insekten-
fressern) (Roth/Dicke, 2005a; Liste 1; Abbildung 1a,b). Dasselbe gilt
für die menschliche Großhirnrinde als „Sitz des Bewusstseins“: Sie ist
weder absolut noch relativ gesehen die größte Hirnrinde unter den
Säugetieren, sondern so groß, wie sie nach den Gesetzen des Hirn-
wachstums bei Säugern sein muss. Schließlich unterscheiden sich
Feinaufbau und Funktion der Großhirnrinde, des sechsschichtigen
„Isocortex“, bis auf ein einziges Merkmal nicht vom Cortex anderer
Primaten (Zilles, 2005). Dieses Merkmal ist der Besitz eines Broca-
Areals, das eine syntaktisch-grammatikalische Sprache ermöglicht (Ab-
bildung 2a). Aber auch hier werden wir sehen, dass der Besitz eines
Broca-Areals und einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache nicht
etwas fundamental Neues ermöglicht, sondern bereits vorhandene Fä-
higkeiten verstärkt. Wir müssen entsprechend von einem evolution!ren
Kontinuum ausgehen, das ein „freies“ menschliches Handeln in dem
oben definierten Sinne ermöglicht.
Dieses evolutionäre Kontinuum beginnt mit der Umgestaltung des
Endhirns (Telencephalon) im Zusammenhang mit der Entstehung der
Säuger, also vor 200 – 150 Millionen Jahren. Ausgangspunkt war ein
Telencephalon, wie es sich heute noch bei Amphibien findet (Dicke/
Roth, 2006; Abbildung 3). Das aus zwei Hemisphären bestehende und
von Hohlräumen (Ventrikeln) durchzogene Telencephalon setzt sich
aus einem im Querschnitt oben (dorsal) liegenden Pallium („Mantel“)
und einem unten (ventral) liegenden Subpallium zusammen Das Sub-
pallium umfasst bei allen Landwirbeltieren (Amphibien, Reptilien,
Säuger, Vögel) im wesentlichen drei funktionelle Systeme, nämlich den
Septum/basales Vorderhirn-Komplex, den Amygdala-Komplex und
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 153
Abb. 1a: Serie von Säugetiergehirnen, die zeigt, dass der Mensch keineswegs das
größte Gehirn und die am meisten gewundene Großhirnrinde besitzt.
den Striato-Pallidum-Komplex. Septum und basales Vorderhirn haben
mit vegetativen und endokrinen Funktionen zu tun und mit der (un-
bewussten) Steuerung von Aufmerksamkeit. Der Amygdala-Komplex
ist der Ort der Verarbeitung stresshafter Reize und Erfahrungen und des
unbewussten Entstehens negativer Gefühle wie Furcht, Angst und Ekel
154 Gerhard Roth
Abb. 1b: Das Verhältnis von relativem Hirngewicht (in Prozent Körpergewicht)
und Körpergewicht bei Säugern in doppelt-logarithmischer Darstellung. Die Ab-
bildung zeigt, dass mit zunehmendem Körpergewicht das relative Gehirngewicht
zum Teil dramatisch abnimmt von über 10 % bei Mäusen und Spitzmäusen auf unter
0,01 % beim Blauwal. Der Mensch hat angesichts der Tatsache, dass er ein „großes“
Säugetier ist, ein relativ sehr großes Gehirn, findet sich aber in Gesellschaft mit
anderen Primaten und mit Delphinen. Nach (van Dongen, 1998), verändert.
(LeDoux, 1998). Der Striato-Pallidum-Komplex besteht aus einem
größeren oberen Teil, der handlungssteuernde (exekutive) Funktionen
hat (das dorsale Striato-Pallidum) und einem unteren, kleineren Teil, der
zusammen mit anderen Teilen der Basalganglien das Belohnungs- und
Belohnungserwartungszentrum und damit das „Motivationszentrum“
repräsentiert (das ventrale Striato-Pallidum) (Roth/Dicke, 2005b;
Dicke/Roth, 2006).
Während sich diese subpallialen Teile bei allen Landwirbeltieren in
sehr ähnlicher Weise wiederfinden, gibt es zwischen dem Pallium der
Amphibien und dem Cortex der Säuger deutlichere Unterschiede. Den
Säuger-Cortex unterteilt man in einen drei- bis fünfschichtigen Allo-
cortex (früher „Archicortex“ und „Palaeocortex“ genannt), zu dem der
Riechcortex, die Hippocampus-Formation und „limbische“ Cortex-
anteile (orbitofrontaler, ventro-medialer, cingulärer und insulärer Cor-
tex) gehören (vgl. Abb. 2a), und einen durchgehend sechsschichtigen
Isocortex (früher und teilweise auch heute noch „Neocortex“ genannt).
Der Isocortex der Säuger wird in einen Hinterhauptslappen (Occipi-
talcortex), einen Scheitellappen (Parietalcortex), einen Schläfenlappen
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 155
Abb. 2a: Anatomisch-funktionelle Gliederung der Hirnrinde von der Mittellinie aus
gesehen. Abkürzungen: ACC = anteriorer cingulärer Cortex (Gyrus cinguli);
CMAc = caudales cinguläres motorisches Areal; CMAr = rostrales cinguläres
motorisches Areal; ITC = inferotemporaler Cortex; MC = motorischer Cortex;
OC = occipitaler Cortex; OFC = orbitofrontaler Cortex; prae-SMA = prae-
supplementär-motorisches Areal; PFC = präfrontaler Cortex; PPC = posteriorer
parietaler Cortex; SMA = supplementär-motorisches Areal; SSC = somatosenso-
rischer Cortex; VMC = ventromedialer (präfrontaler) Cortex. Weitere Erläute-
rungen siehe Text. Nach (Nieuwenhuys et al., 1991); verändert.
(Temporalcortex) und einen Stirnlappen (Frontalcortex) eingeteilt
(Nieuwenhuys et al., 1991; Zilles, 2005; vgl. Abbildung 2a).
Innerhalb des Amphibien-Pallium unterscheidet man ein mediales,
dorsales, laterales und ventrales Pallium (Dicke/Roth, 2006; Abbil-
dung 3). Das mediale Pallium der Säuger lässt sich mit der Hippocam-
pus-Formation der Säuger vergleichen, die im Querschnitt bei den
Säugern ebenfalls eine mediale, d. h. an der Mittellinie des Gehirns
liegende Position einnimmt. Auch die Funktion scheint ähnlich zu sein:
Mediales Pallium und Hippocampus-Formation haben beide mit Ler-
nen und Gedächtnisbildung zu tun. Das laterale Pallium der Amphibien
entspricht dem Riech-Cortex der Säuger, der dort ebenfalls eine laterale
bis ventrale Position einnimmt. Das ventrale Pallium der Amphibien hat
mit einem besonderen Riechsystem zu tun, nämlich dem Vomeronasal-
System, das innerartliche Geruchssignale (Pheromone) verarbeitet. Es
entspricht bei Säugern dem akzessorischen olfaktorischen System und
Teilen der corticalen und medialen Amygdala. Ungelöst ist die Frage,
156 Gerhard Roth
Abb. 2b: Anatomisch-funktionelle Gliederung der Hirnrinde von der Seite aus
gesehen. Die Zahlen geben die übliche Einteilung in cytoarchitektonische Felder
nach K. Brodmann an. Abkürzungen: AEF = vorderes Augenfeld; BSC = Broca-
Sprachzentrum; FEF = frontales Augenfeld; ITC = inferotemporaler Cortex; MC
= motorischer Cortex; OC = occipitaler Cortex (Hinterhauptslappen); OFC =
orbitofrontaler Cortex; PFC = präfrontaler Cortex (Stirnlappen); PMC = dorso-
lateraler prämotorischer Cortex; PPC = posteriorer parietaler Cortex; SSC = so-
matosensorischer Cortex; TC = temporaler Cortex (Schläfenlappen).
welchen Teilen des Säuger-Cortex das dorsale Pallium der Amphibien
entspricht. Eigene Untersuchungen legen nahe, dass es sich um ein
„assoziativ-limbisches“ Hirnareal handelt, also um ein Pallium, das
sensorische Informationen sammelt, miteinander und mit Informationen
aus dem subpallialen limbischen System vergleicht. Dieselbe Funktion
findet sich auch beim Isocortex der Säuger, allerdings gibt es wesent-
liche Unterschiede. Der deutlichste Unterschied ist anatomischer Art:
Während das Pallium der Amphibien zweigeschichtet ist, d. h. aus einer
tiefen, um die Ventrikel herum liegenden Zellschicht und einer ober-
flächlichen Faserschicht besteht (vgl. Abbildung 3), weist der Allo- und
Isocortex der Säuger, wie bereits erwähnt, 3 bis 6 Schichten auf. Diese
Schichtung ist größtenteils dadurch bedingt, dass Eingänge und Aus-
gänge sowie interne Verbindung, die sich beim Amphibien-Pallium
zum Teil vermischten, im Cortex der Säuger räumlich weitgehend
voneinander getrennt sind.
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 157
Abb. 3: Querschnitt durch das Gehirn des Frosches Bombina orientalis auf Höhe
des Amygdala-Komplexes und des Striato-Pallidum. Abkürzungen: cMS: caudales
mediales Septum, DPAL: dorsales Pallidum, DPl: laterales dorsales Pallium, DPm:
mediales dorsales Pallium, LP: laterales Pallium, MA/BNST/CA: mediale-zentrale
Amygdala/BNST, MP: mediales Pallium, NDB/MS: basales Vorderhirn/mediales
Septum, sdm: sulcus dorsomedialis, sd: sulcus dorsalis, srh: sulcus rhinalis, ser: sulcus
entorhinalis, VPAL: ventrales Pallidum, VPd: dorsaler Teil des ventralen Pallium,
VPv: ventraler Teil des ventralen Pallium. Nach (Roth et al., 2007).
Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass der Isocortex
neben assoziativen Arealen primäre und sekundäre sensorische Areale
aufweist (Zilles, 2005). Die sensorischen corticalen Areale sind visueller,
auditorischer, somatosensorischer und vestibulärer Natur (Sehen,
Hören, Körpersinn und Gleichgewichtssinn). Die visuellen Areale be-
finden sich im Occipitalcortex und unteren Temporalcortex, die au-
ditorischen Areale im oberen und mittleren Temporalcortex, die so-
matosensorischen Areale (Repräsentationen der Haut, der Muskeln,
Sehnen und Gelenke) sowie die vestibulären Areale (Repräsentation der
Körperlage und der Körperbewegungen) im vorderen Parietalcortex
(Abbildung 2b). Geschmacksinformationen (Gustatorik) werden nicht
im Isocortex, sondern im insulären Allocortex abgebildet, und Ge-
158 Gerhard Roth
ruchsinformationen (Olfaktorik) im olfaktorischen Allocortex sowie in
der corticalen und medialen Amygdala.
Die visuellen Informationen gelangen von der Netzhaut (Retina)
zuerst zu einem Teil des dorsalen Thalamus, dem lateralen Kniehöcker
(Corpus geniculatum laterale) und von dort zum hinteren Occipital-
cortex. Die auditorischen Informationen durchlaufen mehr Schaltsta-
tionen: Vom Innenohr geht es zum verlängerten Mark (Medulla ob-
longata) von dort zu den „hinteren Hügeln“ (Colliculi inferiores) im
Mittelhirndach, von dort aus zum medialen Kniehöcker (Corpus ge-
niculatum mediale) des dorsalen Thalamus, und von dort aus zum au-
ditorischen Cortex im oberen Rand des vorderen Temporallappen (den
Heschlschen Querwindungen). Die somatosensorischen und die vesti-
bulären Informationen ziehen, wenngleich getrennt, ebenfalls zuerst in
das verlängerte Mark, von da aus in weitere Bereiche des dorsalen
Thalamus und von dort in den vorderen Parietallappen direkt hinter der
Zentralfurche des Cortex. Die Geschmacksinformationen haben ähnli-
che Stationen bis auf die letzte, d. h. vom dorsalen Thalamus aus ziehen
die Geschmacksbahnen in den insulären Allocortex und nicht in den
Isocortex. Die Geruchsinformationen „umgehen“ dagegen den dorsalen
Thalamus und ziehen von der Riechschleimhaut der Nase direkt in den
Riechcortex und die Amygdala.
Die sensorische Cortexareale weisen sensorische Karten auf, d. h. sie
sind in einer räumlichen Weise organisiert, die mehr oder weniger
genau die Nachbarschaftsverhältnisse in der Netzhaut, der Basilar-
membran des auditorischen Innenohres, in den Bogengängen und an-
deren Anteilen des vestibulären Innenohres, des Körpers (Haut, Mus-
keln, Sehnen, Gelenke), der Geschmacksoberflächen und den Ge-
ruchsepithelien wiedergeben. Dies ermöglicht eine sehr genaue r!um-
lich-zeitliche Repräsentation der äußeren und inneren Sinneswelt. Um-
geben werden diese primären sensorischen Areale von einer größeren
Zahl sekundärer und tertiärer sensorischer Areale, in denen die jewei-
ligen sensorischen Informationen teils in kartenartiger, teils in katego-
rialer Weise repräsentiert und weiterverarbeitet werden. Diese höher-
stufigen sensorischen Areale schließlich leiten zu assoziativ-integrativen
Arealen über.
Im visuellen System zum Beispiel werden im primären visuellen
Cortex Grundmerkmale wie Kontrast, Kantenorientierung, Bewe-
gungsrichtung und Wellenlänge des Lichts verarbeitet, in sekundären
und tertiären visuellen Cortexarealen die Merkmale Ausdehnung,
räumliche Tiefe, Umriss, Form, Bewegungsmuster, Farbe usw., woraus
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 159
dann in den assoziativen visuellen Arealen Merkmalskomplexe wie
Gesichter, Gestalten und dreidimensionale Szenen mit ihren Bewe-
gungen und Farbmustern werden (Kandel et al., 1996). Die 30 – 40
unterschiedlichen visuellen Cortexareale der Primaten und des Men-
schen sind untereinander sowohl aufsteigend wie absteigend eng mit-
einander verknüpft, was insgesamt eine parallel-konvergent-divergente In-
formationsverarbeitung ergibt. Man kann dabei als einen „Pol“ eine sehr
detailgetreue, aber bedeutungsfreie sensorische Repräsentation und als
einen anderen „Pol“ eine detailarme, aber hoch bedeutungshafte und
motivationale Repräsentation unterscheiden. Ähnliche Verhältnisse
finden sich in den anderen Sinnessystemen, die allerdings nicht so genau
erforscht sind wie das visuelle System.
Solche primären und sekundären sensorischen corticalen Verarbei-
tungssysteme finden sich nicht im Pallium der Amphibien oder der
Reptilien. Zwar gibt es dort sensorische Verbindungsbahnen zwischen
dorsalem Thalamus und Pallium, aber diese enden vorwiegend im
medialen Pallium, das dem Hippocampus der Säuger entspricht, und
weniger im dorsalen Pallium. Außerdem leiten die Nervenfasern vom
dorsalen Thalamus zum medialen und dorsalen Pallium bereits ge-
mischte, d. h. visuell-auditorisch-somatosensorische und überdies auch
noch „limbische“, d. h. motivationsbezogene Informationen weiter
(Dicke/Roth, 2006). Dies bestätigt die Vermutung, dass das dorsale
Pallium der Amphibien nicht primäre oder sekundäre sensorische,
sondern bedeutungshafte und motivationale Informationen verarbeitet,
wie dies der assoziative und der limbische Cortex der Säuger tun.
Amphibien können ihre Beutetiere und Artgenossen ziemlich gut
wahrnehmen und erkennen und besitzen auch ein gutes Farbwahr-
nehmungs- und Tiefenwahrnehmungssystem, sie können sehr gut
hören und tasten, obwohl sie keine visuellen Cortexareale besitzen. Was
die Säugetiere beim Sehen, Hören und Tasten im Wesentlichen mit der
Großhirnrinde machen, findet bei den Amphibien (und den Reptilien)
im Mittelhirndach, dem Tectum mesencephali statt. Hier finden sich
visuelle, auditorische und somatosensorische Karten wie im Cortex der
Säuger, und entsprechend ist das Tectum der Amphibien und Reptilien
deutlich geschichtet – sogar noch mehr als der Cortex der Säuger.
Warum haben also die Säuger einen sensorischen Isocortex entwickelt,
wenn man das alles bereits mit dem Tectum machen kann, das Säuger
ebenfalls besitzen? Die Antwort lautet: Der Isocortex bietet sehr viel
mehr Platz als das Tectum, und dies bedeutet größere und insbesondere
spezialisiertere Netzwerke. Hinzu kommt ein weiterer und entschei-
160 Gerhard Roth
dender Vorteil: Die corticalen Netzwerke können sich viel schneller
„umverdrahten“ als die Netzwerke im Tectum oder an anderen Stellen
außerhalb des Cortex. Sie werden damit zur Grundlage des sensorisch-
kognitiven Ged!chtnisses, das bei Säugern einschließlich des Menschen im
Cortex angesiedelt ist, und zwar in denselben Netzwerken, die auch für
die Sensorik zuständig sind.
Ein wichtiger Teil der Evolution des Säugetiergehirns besteht also in
der Ausbildung corticaler sensorischer Areale. Je größer an Zahl und
Ausdehnung diese Netzwerke, desto genauer kann die sensorische
Umwelt erfasst und interpretiert werden. Darin sind Säuger den Amphi-
bien (und Reptilien) eindeutig überlegen. Interessanterweise haben die
Vögel diesen „evolutiven Trick“ ebenfalls angewendet, und zwar of-
fenbar unabhängig von den Säugern. Dies kann man daran erkennen,
dass die sensorischen Bahnen, die vom dorsalen Thalamus der Vögel
zum Pallium/Cortex der Vögel ziehen, ganz anders verlaufen als die-
jenigen der Säuger, und dass auch die Großhirnrinde der Vögel ganz
anders aufgebaut ist als der Säugercortex und auch anderem embryo-
logischen „Material“ entstammt (Nieuwenhuys et al., 1998). Es liegt
also eine konvergente Evolution sensorischer corticaler Felder vor.
3. Die Ausbildung corticaler motorischer Areale
In einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich die Großhirnrinde der
Säugetiere vom Pallium/Cortex der anderen Wirbeltiere, nämlich im
Vorhandensein primärer und sekundärer motorischer Areale (Nieu-
wenhuys et al., 1991; Nieuwenhuys et al., 1998; Zilles, 2005). Diese
Areale befinden sich im oberen Frontallappen (Abbildung 2a,b). Das
prim!re motorische Areal liegt direkt vor der Zentralfurche und gegenüber
dem primären somatosensorischen Cortex und ist vornehmlich mit der
Steuerung einzelner Muskeln und hierüber mit der Kontrolle von
Feinbewegungen befasst, z. B. der Hand, der Finger und des Gesichts
einschließlich des Sprechapparats. Nach vorn schließt sich das pr!moto-
rische Areal an, das an der Planung und Steuerung von größeren und
gröberen Bewegungsabläufen beteiligt ist, ebenso wie das auf der oberen
Innenseite der Großhirnhemisphäre liegende supplement!rmotorische
Areal. Schließlich gibt es das pr!-supplement!rmotorische Areal, das immer
aktiv ist, wenn wir etwas bewusst wollen (vgl. Abbildung 2a). Es ist auch
dann aktiv, wenn wir uns Bewegungen nur vorstellen, und wenn wir
beobachten, dass andere Personen etwas Bestimmtes, insbesondere
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 161
Anstrengendes oder Auffallendes tun ( Jeannerod, 1997). Von diesen
corticalen motorischen Arealen zieht eine aus Millionen von Fasern
bestehende Bahn, die Pyramidenbahn, durch das Gehirn ins Rückenmark
bis zu denjenigen Abschnitten, die direkt bestimmte Muskelgruppen
kontrollieren, die für einzelne Bewegungsabläufe zuständig sind.
Eine solche direkte corticale Kontrolle der Motorzentren des Rü-
ckenmarks findet sich nicht bei Amphibien und Reptilien und offenbar
auch nicht bei Vögeln (Roth/Wullimann, 2001). In deren Endhirn gibt
es zwar subpalliale Zentren, die in die Verhaltenssteuerung eingreifen,
nämlich das Striato-Pallidum, aber keine pallialen bzw. corticalen mo-
torischen Areale. Die Frage, was der Vorteil für die Säuger war, solche
Areale im Cortex auszubilden, kann in derselben Weise beantwortet
werden wie bei den sensorischen Arealen, nämlich dass der verfügbare
Platz für große, vielfältige und überdies sehr plastische, d. h. schnell
verschaltbare Netzwerke groß ist, die über die Pyramidenbahn zugleich
direkt die für Einzelbewegungen zuständigen Rückenmarksabschnitte
beeinflussen können. Dies ergibt eine viel feinere und flexiblere
Steuerung der Bewegungen, insbesondere hinsichtlich der Feinmotorik
der Hand, der Finger, des Gesichts und des Sprachapparats, wie sie sich
insbesondere bei den Primaten findet. Interessanterweise können Vögel
zwar ihre Umwelt ebenso präzise und detailreich erkennen wie die
Säuger, aber sie verfügen über keine auch nur annähernd vergleichbare
Motorik mit Ausnahme der Lautproduktion.
4. Die Ausbildung spezifischer Schleifen zwischen
Großhirnrinde und Basalganglien
Es wurde bereits erwähnt, dass sich im Subpallium bzw. Subcortex des
Telencephalon der Landwirbeltiere das Striato-Pallidum befindet.
Dieses besteht aus dem Corpus striatum („Streifenkörper“), meist ein-
fach „Striatum“ genannt, und dem bei Primaten innen angelagerten
Globus pallidus („bleiche Kugel“), meist einfach „Pallidum“ genannt.
Das Striatum besteht seinerseits aus dem Putamen („Schalenkörper“) und
dem Nucleus caudatus („geschweifter Kern“), das Pallidum aus einem
„inneren“ und einem „äußeren“ Teil (Pallidum internum et externum)
(Abbildung 4). Striatum und Pallidum stehen mit kleineren Strukturen
im Zwischenhirn und im Boden des Hirnstamms (Tegmentum, Brücke
und verlängertes Mark) in Verbindung, nämlich mit dem Nucleus sub-
162 Gerhard Roth
Abb. 4: Querschnitte durch das menschliche Gehirn: (A) Querschnitt auf Höhe des
Hypothalamus, der Amygdala und des Striato-Pallidum; (B) Querschnitt auf Höhe
des Thalamus und des Hippocampus. 1 Neocortex, 2 Ncl. caudatus, 3 Putamen, 4
Globus pallidus, 5 Thalamus, 6 Amygdala, 7 Hippocampus, 8 Hypothalamus, 9
Insulärer Cortex, 10 Claustrum, 11 Fornix (Faserbündel), 12 Mammillarkörper (Teil
des Hypothalamus), 13 Infundibulum (Hypophysenstiel), 14 Nucleus subthalamicus,
15 Substantia nigra, 16 Balken (Corpus callosum). Nach (Kahle, 1976); verändert.
thalamicus und der Substantia nigra, und bilden zusammengenommen die
Basalganglien (Nieuwenhuys et al., 1991; Kandel et al., 1996; Roth/
Dicke, 2005b).
Die Basalganglien sind generell an allen Handlungen und Bewe-
gungen beteiligt, insbesondere auch bei denen, die mit bewusster Pla-
nung und bewusstem Willen zu tun haben. Sie stellen eine Art
„Handlungsgedächtnis“ dar, in dem alle Bewegungsmuster niedergelegt
sind, die sich als erfolgreich erwiesen haben. Alles, was wir tun wollen,
insbesondere wenn es neu und ungewohnt ist, muss mit diesem
Handlungsgedächtnis abgeglichen und in ihm gespeichert werden. Das
ist am Anfang schwierig, und deshalb laufen viele neue Bewegungs-
weisen „ungelenk“ ab, und zugleich müssen wir uns auf den Ablauf
konzentrieren. Je häufiger wir aber diese Bewegung ausführen bzw.
üben, desto flüssiger laufen sie ab, und desto weniger müssen wir darauf
achten, und schließlich machen wir die Bewegung oder Handlung „wie
im Schlaf“. Zu Beginn, wenn es noch ungelenk zugeht, müssen die
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 163
prämotorischen und motorischen Areale der Großhirnrinde sich in-
tensiv mit den Basalganglien „absprechen“, und später bewältigen die
Basalganglien (zusammen mit dem Kleinhirn) die Aufgabe weitgehend
allein, und dies ist dem Bewusstsein nicht mehr im Detail zugänglich.
Das Striato-Pallidum schickt bei allen Landwirbeltieren Bahnen zu
nachgeordneten Motorzentren im Mittelhirntegmentum (z. B. dem
Nucleus ruber), im Kleinhirn, verlängerten Mark bis ins Rückenmark.
Bei Amphibien, Reptilien und Vögeln gibt es keine oder nur sehr
schwache Verbindungen zwischen Striato-Pallidum und Pallium/Cor-
tex, während bei den Säugern das Striato-Pallidum und andere Teile der
Basalganglien massiv mit dem Cortex verbunden sind. Hier stehen die
primären motorischen, prä- und supplementärmotorischen Cortex-
areale, aber auch Areale im hinteren Parietallappen, die für die Vor-
bereitung und Ausführung von Willenshandlungen zuständig sind, in
Verbindung mit unterschiedlichen Gebieten der Basalganglien. Diese
Gebiete schicken ihrerseits Bahnen zu unterschiedlichen Teilen des
dorsalen Thalamus, und dieser wiederum sendet Bahnen zu den corti-
calen Ausgangsarealen. Es bestehen also zwischen Cortex, Basalganglien
und Thalamus mehrere parallel verlaufende „exekutive“, d. h. mit un-
terschiedlichen Aspekten der Handlungsvorbereitung und Handlungs-
steuerung befasste Schleifen (Abbildung 5).
Die Basalganglien ihrerseits stellen ein kompliziertes System von
sich gegenseitig hemmenden und erregenden Zentren dar, zu denen
neben dem Striatum und dem inneren und äußeren Pallidum der
Nucleus subthalamicus und die beiden Teile der Substantia nigra gehören,
nämlich ein „dichtgepackter“ Teil (Substantia nigra pars compacta) und ein
lose arrangierter Teil (Substantia nigra pars reticulata) (Nieuwenhuys et al.,
1991; Roth/Dicke, 2005b; Abbildung 6). Dabei wirkt das Striatum
hemmend auf die „retikuläre“ und die „kompakte“ Substantia nigra und
das innere und äußere Pallidum ein, wird aber seinerseits durch die
„kompakte“ Substantia nigra teils erregt und teils gehemmt. Der
Nucleus subthalamicus wird vom äußeren Pallidum gehemmt und er-
regt sowohl das innere Pallidum und die „retikuläre“ Substantia nigra.
Diese letzteren Strukturen bilden denjenigen Ausgang des Systems der
Basalganglien, der zurück zur Großhirnrinde führt. Dies geschieht aber
nicht direkt wie beim Eingang, sondern inneres Pallidum und „reti-
kuläre“ Substantia nigra wirken hemmend auf Umschaltzentren im
Thalamus, einem Teil des Zwischenhirns, ein, die ihrerseits Bahnen zu
genau denjenigen Teilen der Großhirnrinde zurückschicken, die Bah-
nen zum Striatum schicken (Abbildung 5).
164 Gerhard Roth
Abb. 5: Steuerung der Willkürmotorik durch die Interaktion zwischen Cortex,
Basalganglien und Thalamus. Nervenbahnen (corticostriäre Fasern) ziehen von
verschiedenen Teilen der Grosshirnrinde (präfrontaler Cortex, motorischer,
prämotorischer und supplementärmotorischer Cortex, somatosensorischer Cortex,
posteriorer parietaler Cortex) zu den Basalganglien, von dort zum Thalamus und
schliesslich zurück zum präfrontalen, motorischen, prämotorischen und supple-
mentärmotorischen Cortex. Vom motorischen und prämotorischen Cortex aus
zieht die Pyramidenbahn zu Motorzentren im Rückenmark, die unsere Muskeln
steuern. Bewußt (im Stirnhirn) geplante Handlungen gelangen über die Pyrami-
denbahn nur dann zur Ausführung, wenn sie vorher die „Schleife“ zwischen
Cortex, Basalganglien und Thalamus durchlaufen haben und hierbei die unbewußt
arbeitenden Basalganglien der beabsichtigten Handlung „zugestimmt“ haben. Die
Basalganglien ihrerseits werden von Zentren des limbischen Systems (s. Abb. 4)
kontrolliert, in denen die individuelle Lebenserfahrung gespeichert ist. Nach (Roth/
Prinz, 1996).
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 165
Abb. 6: Verschaltung zwischen Cortex und Basalganglien bzw. innerhalb der Ba-
salganglien. Exzitatorisch wirkende Einflüsse sind mit schwarzen Pfeilköpfen dar-
gestellt, inhibitorische mit offenen Pfeilköpfen. Dicker schwarzer Pfeil: dopamin-
erge Projektion von der Substantia nigra zum Striatum. Abkürzungen: D1/D2 =
dopaminerge Rezeptortypen; GPe = Globus pallidus, äußerer Teil; GPi = Globus
pallidus, innerer Teil; NMDA = glutamaterger Rezeptorentyp; SNc = Substantia
nigra, pars compacta; SNr = Substantia nigra, pars reticulata; STN = subthalami-
scher Nucleus; THAL = Thalamus. Nach (Roth, 2003).
Das Ganze kann man als eine Vorrichtung ansehen, die über
hemmende und erregende Mechanismen sehr abgestuft teils „Gas
geben“ und teils „bremsen“ kann. Wenn nämlich ein Hemm-Mecha-
nismus erregt wird, dann wird die Hemmung stärker. Wird dieser
Hemm-Mechanismus selbst gehemmt, so reduziert sich die von ihm
bewirkte Hemmung oder fällt ganz fort. Damit löst das Gehirn das
Grundproblem der Bewegungssteuerung, das darin besteht, dass man zu
einem gegebenen Zeitpunkt in der Regel nur eine Art von Bewegung
ausführen kann. Es muss in einem bestimmten Handlungszusammen-
hang also jeweils genau eine Handlung „freigeschaltet“ werden, und alle
konkurrierenden Handlungen müssen völlig unterdrückt werden. Be-
merkenswert ist dabei ein besonderer Umstand. Wie geschildert, wird
die „kompakte“ Substantia nigra vom Striatum gehemmt, und sie
wiederum wirkt teils hemmend und teils erregend auf das Striatum
zurück. Dies geschieht dadurch, dass der Transmitter bzw. Neuromo-
dulator Dopamin ausgeschüttet wird und auf das Striatum einwirkt.
Dopamin hat dabei zwei Wirkungen: Es wirkt auf einen Typ von
hemmenden Ausgangsbahnen des Striatum erregend und verstärkt da-
durch die Hemmungsfunktion der Bahnen, und wirkt auf einen zweiten
166 Gerhard Roth
Typ von hemmenden Ausgangsbahnen hemmend und reduziert deren
Hemmungsfunktion oder hebt sie ganz auf. Damit kann im Weiteren
genau das erreicht werden, was nötig ist, nämlich eine bestimmte Be-
wegung frei zu schalten (d. h. die Hemmung aufheben) und alle Al-
ternativerregungen zu unterdrücken (d. h. die Hemmung verstärken).
Woher weiß die „kompakte“ Substantia nigra, welche Bewegung
sie durch ihr Dopamin-Signal im Striatum freischalten soll? Hier gilt,
dass es im Gehirn überhaupt kein Zentrum gibt, das etwas tut, ohne
wiederum von anderen Zentren beeinflusst zu sein. Im Gehirn beein-
flussen sich letztendlich alle Zentren gegenseitig, wenngleich nicht in
jeder Richtung in derselben Stärke. Wir dürfen also davon ausgehen,
dass die Dopamin-produzierende Substantia nigra von anderen Zentren
beeinflusst wird, die dadurch festlegen, wann das Dopamin-Signal er-
folgt und wann nicht. Es handelt sich dabei um den Hippocampus, die
Amygdala und das mesolimbische System, wozu das ventrale Striato-
Pallidum (einschließlich des Nucleus accumbens) und die Substantia
nigra gerechnet werden. Sie bilden zusammen das unbewusste Erfah-
rungsged!chtnis, wobei die Amygdala eher die negativen, stresshaften
Erlebnisse vermittelt, das mesolimbische System eher die positiven und
motivierenden Erlebnisse, während der Hippocampus die Details der
Geschehnisse und den räumlich-zeitlichen Kontext liefert, insbesondere
den autobiographischen Rahmen. Diese Zentren legen unbewusst fest,
was angestrebt und was vermieden werden soll (Roth/Dicke, 2005b).
Den Amphibien, Reptilien und offenbar auch den Vögeln fehlt ein
solches kompliziertes System der Vorbereitung und Steuerung von
Willkürverhalten. In deren Gehirn steuern die sensorischen Zentren des
Pallium bzw. Cortex und die Basalganglien weitgehend unabhängig
voneinander die Vorbereitung und Ausführung von Handlungen, und
zugleich weisen die Basalganglien der Amphibien, Reptilien und Vögel
nach heutiger Kenntnis nicht das komplizierte Netzwerk von gegen-
seitiger Erregung und Hemmung auf. Bei den Säugern und hier vor-
nehmlich bei den Primaten können die ausgedehnten sensorischen und
motorischen Cortexareale direkt die Basalganglien und diese über den
Thalamus die Cortexareale beeinflussen und können die Willkürmo-
torik sehr fein abgestuft und flexibel steuern.
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 167
5. Die Evolution des Stirnhirns
als Sitz bewusster Handlungsplanung
Das vordere Stirnhirn, der pr!frontale Cortex des Menschen gilt als Sitz
von Verstand und Vernunft. Der Verstand im Sinne von Intelligenz ist
dabei vornehmlich im oberen und seitlichen Teil, dem dorsolateralen
präfrontalen Cortex (PFC) angesiedelt (Abbildung 2a,b). Der PFC hat
mit dem Erfassen der handlungsrelevanten Sachlage zu tun, mit zeitlich-
räumlicher Strukturierung von Wahrnehmungsinhalten, mit planvollem
und kontextgerechtem Handeln und Sprechen und mit der Entwick-
lung von Zielvorstellungen (Kolb/Wishaw, 1993; Förstl, 2002). Er ist
eng mit den sensorischen und assoziativen Arealen des Scheitel-,
Schläfen- und Hinterhauptslappen verbunden und verarbeitet die dort
lokalisierten Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte im Kontext der
kognitiven Bewertung der gerade herrschenden Situation, der Hand-
lungsplanung und -auswahl. Eine besondere Rolle spielt hierbei das
Arbeitsged!chtnis. Es ist Grundlage dessen, womit wir uns gerade auf-
merksam beschäftigen, z. B. einen Vorgang oder ein Ding genau be-
trachten, über ein Problem nachdenken, intensiv an etwas denken oder
sich etwas ganz Bestimmtes merken. Der PFC ist eng mit dem sekun-
dären motorischen und supplementärmotorischen und besonders eng
mit dem prae-supplementärmotorischen Cortex verbunden (s. oben).
Die Vernunft hat ihren Sitz vornehmlich im unteren Teil des
Stirnhirns, im orbitofrontalen (d. h. über den Augenhöhlen, Orbita, lie-
genden) Cortex (OFC; Abbildung 2a,b) (Kolb/Wishaw, 1993; Förstl,
2002). Der OFC überprüft die längerfristigen Folgen unseres Handelns
und bestimmt dessen Einpassung in soziale Regeln und Erwartungen.
Eine wesentliche Funktion besteht in der Kontrolle impulsiven, egois-
tischen Verhaltens. Der OFC ist in diesem Zusammenhang Adressat
sozialer Erziehung und Sitz von Moral, Ethik und Gewissen. Es gibt
erstaunlich wenige Verbindungen zwischen dem dorsolateralen und
dem orbitofrontalen Cortex; überdies ist der OFC, anders als der PFC,
eng mit den subcorticalen limbischen Zentren verbunden, insbesondere
mit der Amygdala und dem mesolimbischen System, also denjenigen
Zentren, die unsere unbewussten positiven und negativen Emotionen
und Motive erzeugen. Die Bahnen vom OFC zu diesen Zentren sind
im Wesentlichen hemmend und repräsentieren die erwähnte Kon-
trollfunktion unserer impulsiven und egoistischen Antriebe. Der Besitz
von Verstand/Intelligenz und Vernunft ist kein exklusives Merkmal des
168 Gerhard Roth
Menschen; man kann entsprechende Funktionen zumindest auch bei
Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas, Orang-Utan) finden (Byrne,
1995). Eine Läsion oder Erkrankung des PFC führt bei diesen Tieren
ebenso wie beim Menschen zu einem typisch „un-intelligenten“ Ver-
halten etwa beim Problemlösen oder bei der Werkzeugherstellung, und
eine Läsion oder Erkrankung des OFC führt bei Menschen wie Men-
schenaffen zu einem krass egoistischen, asozialen Verhalten. Dabei
können Verstand/Intelligenz und Vernunft durchaus unabhängig von-
einander ausfallen (d. h. „dissoziieren). Bekanntlich gibt es hochintelli-
gente, aber gewissenlose Menschen ebenso wie sozial hochmotivierte,
aber geistig „minderbemittelte“ Personen.
Wir sehen also, dass der Besitz eines PFC und eines OFC und damit
von Verstand und Vernunft keineswegs ein ausschließlich menschliches
Merkmal ist. Auch sind der menschliche PFC und OFC weder absolut
gesehen noch relativ zum restlichen Gehirn besonders groß. Es ist
umstritten, ob Säugetiere außerhalb der Ordnung der Primaten einen
PFC oder OFC besitzen. Anatomisch gesehen finden sich durchaus
Ähnlichkeiten, aber es ist schwierig, bei diesen Tieren Fähigkeiten zu
finden, die der Intelligenz bzw. dem moralischen Verhalten von
Menschen und Menschenaffen zu finden. Am ehesten ist dies noch bei
Walen und Delfinen sowie bei Elefanten zu finden, die alle ein sehr
großes Stirnhirn (zum Teil sehr viel größer als das des Menschen), eine
beträchtliche Intelligenz und ein hochgradig soziales Verhalten zeigen.
Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Verstandes- und Ver-
nunftfunktionen beim Menschen wesentlich höher entwickelt sind als
bei den anderen Primaten, den Walen/Delfinen oder etwa beim Ele-
fanten. Alle diese Tiergruppen besitzen ein beeindruckendes Problem-
löseverhalten und komplexe Kommunikations- und Empathiesysteme,
und der Elefant besitzt ein sehr leistungsfähiges Langzeitgedächtnis. Die
deutlichsten Unterschiede zwischen ihnen und dem Menschen bestehen
in der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und entsprechend in der
mittel- und langfristigen Handlungsplanung. Bei den Entscheidungen
darüber, was wir in welcher Weise und Reihenfolge tun wollen, müssen
wir zahlreiche Vorstellungen möglicher Handlungen im Arbeitsge-
dächtnis integrieren, insbesondere was das Abwägen der Konsequenzen
der Handlungsalternativen betrifft. Menschenaffen können nur für
wenige Stunden in die Zukunft planen, und diese Planung ist stets auf
ein enges Ziel beschränkt (z. B. die Herstellung eines bestimmten
Werkzeugs, Nahrungsmittelbeschaffung oder eine bestimmte soziale
Interaktion), während der Mensch auch ohne Hilfe der Sprache über
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 169
mehrere Tage bis Wochen sein Handeln planen kann, wobei er sich
gesetzmäßige Abläufe in seiner natürlichen Umwelt (Tages-, Monats-
und Jahresrhythmen) als Referenzen nutzbar macht.
6. Die Evolution der menschlichen Sprache
Der Besitz von Sprache im Sinne einer vokalisierenden innerartlichen
Kommunikation ist keineswegs auf den Menschen beschränkt, sondern
findet sich bei Fischen, Fröschen und insbesondere bei Vögeln und fast
allen Säugetieren. Hinzu kommen andere Kommunikationssysteme,
z. B. Elektrokommunikation bei Fischen, visuelle Kommunikation
mithilfe von Farbsignalen, Körperhaltung und Gestik bei vielen Wir-
beltieren, Geruchssignale bei vielen Säugern und Mimik bei allen
Säugern, die ein „Gesicht“ mit beweglichen Muskeln haben. Nicht-
menschliche Primaten und viele andere Säugetiere besitzen ein multi-
dimensionales Kommunikationssystem, mit dem sie sich über ihre Be-
findlichkeit, ihre individuellen und sozialen Bedürfnisse und Absichten
(Kampf, Interaktion, Kooperation), die Anwesenheit von Nahrung
bzw. Beute, Artgenossen oder Feinde gegenseitig informieren oder auch
täuschen können (Byrne, 1995). Dies trifft natürlich auch für den
Menschen zu, wenn wir an die große Bedeutung von Körperhaltung,
Gestik Mimik und affektiv-emotionaler Lautäußerung in unserer
Kommunikation denken.
Schwieriger wird es, wenn wir an eine Kommunikation denken, die
nicht ausschließlich affektiv-emotional oder auf eine spezifische Situa-
tion (Nahrung, Freund, Feind, Kampf) ausgerichtet ist. Es gibt ver-
einzelte Hinweise darauf, dass nichtmenschliche Primaten und eventuell
auch einige andere Säugetiere Informationen über Gegenstände oder
Sachverhalte übermitteln können, die nicht präsent sind, z. B. über
weiter entfernte Sammelstellen, Feinde oder Futterplätze. Aber sofern
solche Fähigkeiten vorhanden sind, sind diese im Vergleich zum
Menschen wenig ausgeprägt. Eine Sonderstellung des Menschen zeigen
auch alle Versuche, Gorillas und Schimpansen die menschliche Sprache
beizubringen, indem man sie in einer menschlichen Familie, z. T. zu-
sammen mit menschlichen Kindern aufzog. Es zeigt sich, dass die Vo-
kalisationsmöglichkeiten der Menschenaffen aufgrund der Konstruktion
ihres Kehlkopfes und Mundraumes denen des Menschen zumindest
hinsichtlich menschlicher Sprachlaute weit unterlegen sind. Der Ge-
brauch der Taubstummensprache, künstlicher Symbole oder einer
170 Gerhard Roth
Computertastatur anstelle der Vokalsprache zeigte zwar, dass Men-
schenaffen durchaus in der Lage sind, mehrere hundert Wörter der
menschlichen Sprache zu lernen und sinnvoll zu verwenden (Savage-
Rumbaugh, 1984). Fachleute sind sich jedoch inzwischen einig, dass
große Affen auch bei intensivstem Training nicht über die sprachlichen
Leistungen eines zweieinhalb- bis dreijährigen Kindes hinausgehen, d. h.
über das Stadium von zwei- bis drei-Wort-Sätzen.
Erklärt wird dieses Defizit mit dem Fehlen eines Broca-Sprachzen-
trums. Wir Menschen besitzen zwei Sprachzentren, nämlich das in der
Regel im oberen linken Temporallappen angesiedelte Wernicke-
Sprachzentrum, und das meist im linken Frontallappen vor dem mo-
torischen Mund-, Lippen- und Zungenareal lokalisierte Broca-
Sprachzentrum (Abbildung 2b; Kolb/Wishaw, 1993). Das Wernicke-
Areal kontrolliert nach heutiger Auffassung den Zugriff auf das „Be-
deutungs-Lexikon“ für Wörter und Sätze sowie nicht-zeitgebundene As-
pekte der Grammatik. Das Broca-Areal hingegen regelt die kompli-
zierten Zugriffs- und Integrationsprozesse, die bei der Syntax, also den
Merkmalen des zeitabh!ngigen Satzbaus, nötig sind. Das Verstehen und
Produzieren menschlicher Sprache zeichnet sich durch eine hochau-
tomatisierte und daher bewusstseins-unabhängige Anwendung vieler
hundert syntaktischer Regeln aus (Friederici/Hahne, 2001).
Umstritten ist, ob beide Sprachzentren echte evolutive Neuerwer-
bungen des Menschen darstellen. Alle bisher untersuchten Säugetier-
arten besitzen ein Zentrum für intraspezifische Kommunikation, das
sich im Temporallappen (und zwar meist links) befindet und wahr-
scheinlich dem menschlichen Wernicke-Zentrum entspricht. Überdies
wird argumentiert, dass der hintere Teil des menschlichen Broca-
Zentrums, (das Brodmann-Areal A44), und das ventrale prämotorische
Areal von Makakenaffen homolog sind. Ebenso wie der hintere Teil des
Broca-Areals kontrolliert das ventrale prämotorische Areal Muskeln des
Gesichts und des Mundes (Preuss, 1995; 2000). Was also innerhalb der
Evolution des menschlichen Gehirns wirklich neu hinzugekommen zu
sein scheint, ist danach nur der vordere Teil des Broca-Areals (Brod-
mann-Areal 45, vgl. Abbildung 2b). Dieser evolutive Schritt könnte
darin bestanden haben, dass das vorhandene Sprachvermögen mit ge-
steigerten Funktionen des präfrontalen Cortex zusammengefügt wurde,
insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit komplizierten Zeitfolgen,
wie sie nichtsprachlich für eine komplexe Handlungsplanung notwen-
dig sind.
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 171
Die Voraussetzung hierfür scheint in einer Verfeinerung der
Funktionen des präfrontalen Cortex beim Menschen zu liegen, zu dem
der vordere Teil des Broca-Areals gehört. Es ist vorstellbar, dass sich
während der Evolution des menschlichen Gehirns die Fähigkeit des
Arbeitsgedächtnisses, wahrgenommene, erinnerte oder vorgestellte Er-
eignisse in ihrer zeitlichen Abfolge zu erfassen und zu manipulieren,
beträchtlich gesteigert hat, was nicht nur komplexeres Handeln, sondern
auch komplexeres Vorstellen und Denken ermöglichte. Diese Fähigkeit
zum Erfassen und Manipulieren der zeitlichen Struktur realer und
mentaler Ereignisse wurde im Zuge der Ausbildung des Broca-Areals
offenbar auf die Steuerung des Sprachapparats ausgeweitet. Dies wie-
derum ermöglichte es dem Menschen, lange Abfolgen von Lautäuße-
rungen beim Sprachverstehen und bei der Sprachproduktion zeitlich zu
gliedern und zu gestalten. Dadurch konnten im Bereich der Kommu-
nikation und auch des „Redens zu sich selber“ völlig neue Dimensionen
sprachlicher Bedeutungen geschaffen werden. Wenngleich sich
sprachlich-symbolische Kommunikation auch bei anderen Tieren fin-
det, so ist doch klar, dass die Entwicklung einer grammatikalisch-syn-
taktischen Sprache große Vorteile bot und die geistigen und kulturellen
Fähigkeiten des Menschen außerordentlich steigerte. Hierzu gehört vor
allem das Setzen von Zielen und das Abwägen der Art und Weise, wie
diese Ziele zu realisieren sind.
7. Willens-/Handlungsfreiheit und Motiv-Determinismus
Zu Beginn dieses Aufsatzes habe ich menschliche Willens- und
Handlungsfreiheit anhand dreier Fähigkeiten definiert: (1) aufgrund
eigener Motive handeln können; (2) sich verschiedene Handlungsop-
tionen und ihre Konsequenzen vorstellen und zwischen den Optionen
wählen können; (3) sich Ziele setzen und nach deren Verwirklichung
streben können.
Diese Fähigkeiten setzen Eigenschaften voraus, die sich während der
Evolution der Säugetiere und ihres Gehirns entwickelt haben. Sie
umfassen (1) eine gesteigerte Wahrnehmung der Umwelt und ent-
sprechende Gedächtnisbildung durch die Ausbildung corticaler senso-
rischer Areale; (2) die Ausformung primärer motorischer, prämotori-
scher und supplementärmotorischer Areale, die eine sehr flexible
Steuerung der Willkürmotorik (insbesondere der Hand, des Gesichts
und des Sprechapparats) ermöglichen und gleichzeitig direkt in den
172 Gerhard Roth
Motorapparat des Rückenmarks eingreifen; (3) eine enge Verknüpfung
dieser motorischen und exekutiven corticalen Areale mit den Basal-
ganglien, die sich ihrerseits zu einem komplexen Mechanismus der
Erregung und Hemmung von Handlungsakten entwickeln und unter
dem Einfluss des limbischen Systems stehen; (4) eine Leistungssteige-
rung des dorsolateralen präfrontalen und des orbitofrontalen Cortex im
Zusammenhang mit der zeitlichen Segmentierung und Manipulation
realer und mentaler Ereignisse, der Handlungsplanung, des Abschätzens
individueller und sozialer Folgen des Handelns und des daraus folgenden
Abwägens von Handlungsoptionen; und (5) die Evolution einer syn-
taktisch-grammmatikalischen Sprache, die nicht nur die Effektivität der
zwischenmenschlichen Kommunikation steigerte, sondern auch eine
bewusste und sprachbasierte mittel- und langfristige Handlungsplanung
ermöglicht.
Die Schritte (1) bis (3) finden sich bei allen Säugetieren verwirk-
licht, wenngleich sie bei den Primaten deutlich gesteigert sind. Schritt
(4) findet sich vornehmlich bei den Menschenaffen einschließlich des
Menschen, und Schritt (5), nach allem, was wir wissen, nur beim
Menschen. Wichtig ist, dass diese evolutiven Schritte sich gegenseitig
verstärken: Eine bessere Wahrnehmung und eine verbesserte Motorik
sind die Voraussetzung für eine verbesserte Steuerung von Willkür-
handlungen, deren Planbarkeit durch die Weiterentwicklung von
Verstand (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis) und Vernunft (Abschätzen der
mittel- und langfristigen Konsequenzen des Handelns) und schließlich
einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache enorm gesteigert wird.
Dabei ist es, wie bereits betont, gleichgültig, ob diese Steigerung reiner
Zufall oder das Produkt von Selektion und Mutation war. Das Ergebnis
ist, dass Menschen nicht nur eine viel größere Bandbreite an möglichen
Handlungen haben als andere Tiere, sondern dass sie sich mithilfe ihrer
gesteigerten Vorstellungskraft mittel- und langfristige Ziele setzen, über
die Realisierbarkeit dieser Ziele und ihre positiven oder negativen
Konsequenzen nachdenken können. Dadurch entsteht eine faktische
Freiheit des Wollens und Handelns, die sich in dieser Form nicht bei
nichtmenschlichen Tieren findet.
Eine solche Freiheit ist mit dem eingangs geschilderten Motiv-
Determinismus vereinbar, der darin besteht, dass wir dasjenige tun bzw.
lassen, was unser unbewusst-bewusstes, kognitiv-emotionales Erfah-
rungsgedächtnis vorschreibt. Dieses Erfahrungsgedächtnis entsteht und
erweitert sich durch die kontinuierliche Bewertung der individuellen
und sozialen Konsequenzen unseres Handelns durch das limbische
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 173
System. Entsprechend hat das limbische System bei allen unseren Ent-
scheidungen das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen
unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der Entscheidung
darüber, ob das, was Vernunft und Verstand vorschlagen, auch wirklich
getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und
Verstand an Ratschlägen erteilen, für die Person emotional akzeptabel
sein, d. h. in ihre emotionale Erfahrung hineinpassen muss. Es gibt ein
rationales, d. h. von Verstand und Vernunft geleitetes Abw!gen von
Handlungen und Alternativen und ihren jeweiligen Konsequenzen, es
gibt aber kein rein rationales Handeln. Die Chance von Verstand und
Vernunft ist es, mögliche Konsequenzen unserer Handlungen so auf-
zuzeigen, dass damit starke Emotionen und Motive verbunden sind, die
zur Entscheidung führen. Die Persönlichkeitsstruktur eines jeden
Menschen gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen er frei handeln kann.
Bibliographie
Amelang, Manfred/Bartussek, Dieter (1997): Differentielle Psychologie und Per-
sçnlichkeitsforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
Asendorpf, Jens B. (1999): Psychologie der Persçnlichkeit. Berlin/Heidelberg/New
York: Springer.
Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. #ber die Entdeckung des eigenen
Willens. München: Hanser.
Byrne, Richard (1995): The Thinking Ape. Evolutionary Origins of Intelligence.
Oxford/New York: Oxford University Press.
Dicke, Ursula/Roth, Gerhard (2006): Evolution of the Amphibian Nervous
System. In: Kaas, Jon K. (Hg.): Evolution of Nervous Systems. Bd. 2. Oxford:
Academic Press, 61 – 124.
Förstl, Hans (2002): Frontalhirn. Funktionen und Erkrankungen. Berlin/Heidel-
berg/New York: Springer.
Frankfurt, Harry G. (1993): Willensfreiheit und der Begriff der Person. In:
Bieri, Peter (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Frankfurt: Athenäum,
287 – 302.
Friederici, Angela D./Hahne, Anja (2001): Neurokognitive Aspekte der
Sprachentwicklung. In: Grimm, H. (Hg.): Enzyklop!die der Psychologie,
Themenbereich C, Serie III. Bd. 3: Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe,
273 – 310.
Goschke, Thomas (1995): Wille und Kognition: Zur funktionalen Architektur
der intentionalen Handlungssteuerung. In: Birbaumer, Niels/Frey, Dieter/
Kuhl, Julius/Heckhausen, Heinz (Hg.): Enzyklop!die der Psychologie. Moti-
vation, Volition und Handlung. Motivation und Emotion. Bd. 4. Göttingen:
Hogrefe, 583 – 663.
174 Gerhard Roth
Heckhausen, Heinz (1987): Perspektiven einer Psychologie des Wollens. In:
Heckhausen, Heinz/Gollwitzer, Peter M./Weinert, Franz E. (Hg.): Jenseits
des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften. Berlin/Heidelberg/New
York: Springer, 121 – 142.
Jeannerod, Marc (1997): The Cognitive Neuroscience of Action. Oxford/Cam-
bridge: Blackwell.
Kahle, Werner (1976): Taschenatlas der Anatomie f"r Studium und Praxis. Band 3:
Nervensystem und Sinnesorgane. Stuttgart: Thieme.
Kandel, Eric R./Schwartz, James H./Jessel, Thomas M. (1996): Neurowissen-
schaften. Heidelberg/Berlin: Spektrum.
Kolb, Bryan/Wishaw, Ian Q. (1993): Neuropsychologie. Heidelberg/Berlin:
Spektrum.
LeDoux, Joseph E. (1998): Das Netz der Gef"hle. Wie Emotionen entstehen.
München/Wien: Carl Hauser Verlag.
Nieuwenhuys, Rudolf/ten Donkelaar, Hans J./Nicholson, Charles (1998): The
Central Nervous System of Vertebrates. Berlin/Heidelberg/New York:
Springer.
Nieuwenhuys, Rudolf/Voogd, Jan/Huijzen, Christian van (1991): Das Zen-
tralnervensystem des Menschen. Berlin/Heidelberg /New York: Springer.
Pauen, Michael (2004): Illusion Freiheit? Mçgliche und unmçgliche Konsequenzen
der Hirnforschung. Frankfurt am Main: Fischer.
Preuss, Todd B. (1995): Do Rats Have a Prefrontal Cortex? The Rose-
Woolsey-Akert Program Reconsidered. In: Journal of Cognitive Neuroscience
(7): 1 – 24.
Preuss, Todd M. (2000): What’s Human about the Human Brain? In: Gaz-
zaniga, Michael S. (Hg.): The New Cognitive Neurosciences. Cambridge,
Massachusetts: MIT Press, 1219 – 1234.
Roth, Gerhard (2003): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard (2005): Gehirn, Gründe, Ursachen. In: Deutsche Zeitschrift f"r
Philosophie (53), 691 – 705.
Roth, Gerhard/Dicke, Ursula (2005a): Evolution of the Brain and Intelligence.
In: Trends in Cognitive Sciences (9), 250 – 257.
Roth, Gerhard/Dicke, Ursula (2005b): Funktionelle Neuroanatomie des lim-
bischen Systems. In: Förstl, Hans/Hautzinger, Martin/Roth, Gerhard
(Hg.): Neurobiologie psychischer Stçrungen. Berlin/Heidelberg/New York:
Springer, 1 – 74.
Roth, Gerhard/Laberge, Frédéric/Mühlenbrock-Lenter, Sabine/Grunwald,
Wolfgang (2007): Organization of the Pallium in the Fire-Bellied Toad
Bombina Orientalis. I: Morphology and Axonal Projection Pattern of
Neurons Revealed by Intracellular Biocytin Labeling. In: Journal of Com-
parative Neurology.
Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (1996): Kopf-Arbeit: Gehirnfunktionen und ko-
gnitive Leistungen. Heidelberg/Berlin: Spektrum.
Roth, Gerhard/Wullimann, Mario F. (2001): Evolution der Nervensysteme
und Sinnesorgane. In: Dudel, Josef/Menzel, Randolf/Schmidt, Robert F.
Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit 175
(Hg.): Neurowissenschaft. Vom Molek"l zur Kognition. Berlin /Heidelberg/
New York: Springer, 1 – 31.
Roxin, Claus (1997): Strafrecht Allgemeiner Teil. München: C.H. Beck.
Savage-Rumbaugh (1984): Acquisition of Functional Symbol Usage in Apes
and Children. In: Roitblat, Herbert L./Bever, Thomas G./Terrace, Her-
bert S. (Hg.): Animal Cognition. Hillsdale, New Jersey: Earlbaum, 291 –
310.
van Dongen, Pam (1998): Brain Size in Vertebrates. In: Nieuwenhuys, Ru-
dolf/ten Donkelaar, Hans J./Nicholson, Charles (Hg.): The Central Nervous
System of Vertebrates. Bd. 3. Berlin/Heidelberg/New York: Springer,
2099 – 2134.
Walter, Henrik (1998): Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn: Mentis.
Zilles, Karl (2005): Architektonik und funktionelle Neuroanatomie der Hirn-
rinde des Menschen. In: Förstl, Hans/Hautzinger, Martin/Roth, Gerhard
(Hg.): Neurobiologie psychischer Stçrungen. Berlin/Heidelberg/New York:
Springer, 75 – 140.
II. Bedingungen und Konzeptionen
von Freiheit
Selbstreferentialität
Die methodologischen Vorgaben der kognitiven
Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem
KRISTIAN KÖCHY
1. Einleitung: „Der Beobachter als lebendes System“
Die folgenden Ausführungen sind der Erklärungskompetenz der Bio-
wissenschaften, konkret der kognitiven Neurowissenschaften, zum
Kontext der Fragen nach der „Evolution von Freiheit“ gewidmet. Wie
sich zeigen wird, geht es dabei auch um die Bestimmung der Aussa-
gekraft und der Grenzen biologischer Befunde und Deutungsansätze im
Fall der Konstatierung oder Leugnung von „Willensfreiheit“. Letztlich
liefern die folgenden Überlegungen jedoch auch einen Ansatz zum
Verständnis der metatheoretischen Voraussetzungen einer naturwis-
senschaftlichen Untersuchung mentaler Phänomene insgesamt, und sie
tun dieses vor dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses der
Forschungssituation in den Biowissenschaften.
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die These, dass die
Forschung in der Biologie insgesamt, in den kognitiven Neurowissen-
schaften in besonderem Maße und mit besonderen Konsequenzen,
durch ein komplexes – und je nach Forschungsgegenstand und For-
schungsfrage unterschiedlich auf den Forschungsvollzug einwirkendes –
Gefüge von Selbst- und Fremdthematisierung geprägt ist. Anders for-
muliert: Die Forschung der Biologie ist durch die Tatsache bestimmt,
dass diese Wissenschaft sich mit der Untersuchung lebender Systeme
beschäftigt. Dadurch besitzt sie eine prinzipiell selbstreferentielle
Struktur. Nicht nur, dass die Untersuchungsgegenstände eine selbstre-
ferentielle Organisation aufweisen,1 auch die methodologisch-episte-
1 Roth definiert: „Selbstreferentielle Systeme sind solche Systeme, deren Zu-
stände miteinander zyklisch interagieren, so daß jeder Zustand des Systems an
der Hervorbringung des jeweils nächsten Zustands konstitutiv beteiligt ist.“
180 Kristian Köchy
mologischen Bedingungen der Untersuchung haben selbstreferentielle
Qualität. Hier untersucht ein spezielles lebendes System – der Mensch –
mit den Mitteln der Naturwissenschaften andere lebende Systeme.2 Wie
es Humberto Maturana in seiner Biologie der Realit!t formuliert: „Der
Beobachter ist ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System, und
alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn.“
(Maturana, 1998, 25) 3
Diese grundsätzlich selbstreferentielle Struktur sei mit Blick auf den
Aspekt einer Befragung oder Untersuchung von Phänomenen als
„Selbstthematisierung“ bezeichnet. Selbstthematisierung kann über die
allgemeine Form einer wissenschaftlichen Untersuchung von Lebewe-
sen durch das forschende Lebewesen Mensch hinaus noch spezifischere
Züge tragen. Dieses ist der Fall, wenn in humanbiologischen Frage-
stellungen der Mensch den Menschen als lebendes System zum Ge-
genstand seiner Untersuchung wählt4 oder wenn in der kognitiven
Neurowissenschaft gerade diejenige Fähigkeit des Menschen, sich selbst
zum Thema zu machen, zum Gegenstand der Untersuchung werden
soll und darüber hinaus ebenfalls wieder als ein selbstreferentieller
Prozess aufgefasst wird (Singer, 1991, 96–126). Mit der methodologischen
Ausrichtung auf die (selbstreferentielle) Form des methodischen Zu-
gangs zu einem selbstreferentiellen Phänomen grenzt sich die folgende
Untersuchung bewusst von rein logischen Analysen der referentiellen
(Roth, 1986, 157).Vgl. dazu auch Mocek (Mocek, 1990), sowie Küppers und
Krohn (Küppers/Krohn, 1992, 21 ff.).
2 „In contrast, it is difficult for biologists to deny the reality of living things.
Given this insight, moreover, they can more easily recognize that they are
themselves living things among living things.“ (Grene/Depew, 2004, 351).
3 Vgl. dazu auch Fischer (Fischer, 1993, 26).
4 Vor allem gilt das für die naturwissenschaftliche Medizin. Ein historisches
Beispiel dafür ist die Präsentation dermatologischer Befunde in Form von
Moulagen. Schnalke, verweist in seiner Arbeit über diese Technik auf die
Ambiguität solcher Abbildungen, die einerseits dem wissenschaftlichen Ideal
der Verallgemeinerung und Distanzierung folgen und die andererseits die in-
dividuellen Krankheitsmerkmale eines konkreten, historisch identifizierbaren
Patienten wiedergeben sollen (Schnalke, 2001, 67 f.). Damit wird der wissen-
schaftlich nüchterne Blick einerseits auf die Anatomie der Krankheit gelenkt,
andererseits wird dieser Blick auf „den Betrachter zurückgelenkt“. Der Be-
obachter ist „nicht mehr nur der neutrale wissenschaftliche Observator, sondern
auch ein involviertes Subjekt, ein (Noch-)Gesunder, oder, anders gesagt, ein
potentieller Patient“. Beachtenswert ist, dass diese Repräsentationsform im
Zuge der Verwissenschaftlichung der Medizin zugunsten wissenschaftlich
nüchterner Darstellungsformen ausgeklammert wurde (Schnalke, 2001, 69).
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 181
oder selbstreferentiellen Struktur von Aussagen ab.5 Sie ist deshalb auch
nicht als sprachlogische Analyse, sondern als methodologische Unter-
suchung von historischem Material aus den Biowissenschaften zu ent-
wickeln.
Der Aspekt der Selbstthematisierung wird allerdings gerade durch
den methodischen Ansatz der naturwissenschaftlichen Untersuchung
bewusst und gezielt ausgeblendet. Es ist das Grundcharakteristikum des
Vorgehens, das wir „naturwissenschaftlich“ nennen, auf solche Zugänge
zu verzichten, die als direkte Formen der Selbstthematisierung ver-
standen werden müssen. Der gesamte Erfolg des naturwissenschaftlichen
Programms basiert auf diesem Ausschluss. Anders formuliert: Die Na-
turwissenschaften sind auf eine distanzierte Außenperspektive festge-
legt.6 Dabei werden einerseits nur bestimmte Aspekte des natürlichen
Geschehens als relevant und zugänglich erachtet – solche nämlich, die
als Veränderungen in Raum und Zeit aufzufassen sind –, und ande-
rerseits nimmt der Forscher die neutrale Forschungshaltung eines ex-
ternen Beobachters ein – die als Ausschluss subjektiver Vorurteile,
Stimmungen, Phantasien und Einbildungen verstanden wird (Daston,
2003). Beide Aspekte werden hier zusammengefasst als „Fremdthema-
tisierung“ bezeichnet.7
5 Etwa Shoemaker, 1981. Der Perspektivenwechsel von der Aussagenlogik zur
Methodologie der wissenschaftlichen Zugänge auf Phänomene erklärt auftre-
tende Differenzen in der Einschätzung der Bedeutung der jeweiligen Beob-
achtungsverfahren. Von der aussagenlogischen Perspektive Shoemakers aus ist
die Berücksichtigung der Spezifität des Beobachtungsverfahrens „eine über-
flüssige Hypothese“, wenn es um die Frage der Erklärung von Immunisierung
der Selbstzuschreibung gegen den Irrtum durch Fehlidentifikation im Falle des
Wissens um sich selbst geht.
6 Sachsse betont, dass die Naturwissenschaften auf die äußere Wahrnehmung
festgelegt seien (Sachsse, 1968, 1 ff.). Naturwissenschaftliche Begründung ist
demnach Bestätigung durch Beobachtung. Dennoch basiert gerade Sachsses
Ansatz auf dem Zugeständnis eines prinzipiell doppelten Zugangs auf das or-
ganische Geschehen (Sachsse, 1968, 5) durch äußere und innere Wahrneh-
mung. Ähnlich findet sich bei Gerhardt der Verweis auf die Doppelaspektivität
des Zugangs zum Leben als einerseits „innere[n] Anschaulichkeit“ und ande-
rerseits Phänomen „in der belebten Natur außer uns“ (Gerhardt, 1999, 148).
Aus diesem Grund gilt: „Jede Erkenntnis des Lebens setzt nicht nur unsere
Lebendigkeit, sondern zugleich auch unsere intime Anteilnahme, das Erleben
voraus“ (Gerhardt, 1999, 149).
7 Böhme hat dieses für die gesamte moderne Naturwissenschaft als kennzeich-
nend formuliert: „Seit Galilei gilt das methodische Sich-Fremdmachen des
Menschen als Prinzip kontrollierter Forschung“ (Böhme, 1989, 127). Bischof
182 Kristian Köchy
Im Folgenden wird die obige These schrittweise entfaltet und be-
legt, indem von Phänomenen des Ausdrucks, über solche der Sinn-
lichkeit bis hin zum Mentalen aufgestiegen wird oder – an den ent-
sprechenden biowissenschaftlichen Disziplinen festgemacht – indem
ausgehend von den Forschungsfragen der Verhaltensforschung und der
Sinnesphysiologie zur kognitiven Neurophysiologie vorangeschritten
wird. Ziel dieses Vorgehens ist es, die Konsequenzen der grundsätzlich
„dialektischen“ Forschungssituation an der neurowissenschaftlichen
Untersuchung der Willensfreiheit aufzuzeigen. Bei diesem Durchgang
wird deutlich, dass sich die Spannung zwischen Selbst- und Fremd-
thematisierung umso gravierender bemerkbar macht, je weiter man in
den Bereich des Mentalen vordringt. Einen ersten Hinweis auf diese
Tatsache liefern bereits die methodischen Schwierigkeiten, die bei dem
Versuch auftreten, naturwissenschaftlich begründete Aussagen über die
Metakognition von Tieren zu formulieren. Hier wirkt sich der stets nur
mittelbare Charakter des naturwissenschaftlichen Verfahrens (Fremd-
thematisierung) einschränkend auf die Aussagekraft aus, und zur ein-
deutigen Interpretation der Befunde fehlen vor allem sprachbasierte
Hinweise oder verbale Reports.8 Die Beziehung zwischen diesem
Faktum und der genannten Struktur der biologischen Forschungssi-
tuation wird am Ende des Beitrags deutlich werden.
Zunächst eine abschließende Vorbemerkung: Auf den ersten Blick
könnte der oben skizzierte Ansatz eine Nähe zu lebensphilosophischen
oder romantischen Positionen suggerieren und die Einwände gegen
diese Konzepte heraufbeschwören. Erinnert sei exemplarisch an die
zeitgenössische Kritik am lebensphilosophischen Dogma „Leben wird
durch Leben erkannt“ (etwa in der Position Bergsons, 1991, 645 f.).
Max Scheler macht trotz Sympathie mit lebensphilosophischen Ein-
sichten deutlich,9 dass die Erkenntnis des Lebendigen, seiner physiolo-
hat mit Bezug auf die Humanbiologie den Ansatz einer naturwissenschaftlichen
Erklärung, die von ihrem Gegenstand zurücktritt, von dem alternativen Ansatz
einer auf Nähe ausgerichteten Teilnahme unterschieden (Bischof, 1970). Der
naturwissenschaftliche Beobachter befinde sich in der Suche nach Erklärung
stets an einem exzentrischen Ort, er stehe daneben. „Dies gilt auch dann, wenn
er zugleich der Adressat seiner eigenen Erklärungen ist – dann tritt er neben sich
selbst.“ (Bischof, 1970, 180).
8 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band sowie Perler/Wild,
2005.
9 „Das Tier hört und sieht – aber ohne zu wissen, daß es hört und sieht. Die
Psyche des Tieres funktioniert, lebt – aber das Tier ist kein möglicher Psy-
chologe und Physiologe!“ (Scheler, 1998, 41 f.)
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 183
gischen und psychologischen Beschaffenheit gerade durch die Gleich-
setzung mit dem Leben verunmöglicht wird. Nur dort, wo reflexive
und methodische Distanz vorliege, könnten die vitalen Funktionen
gegenständlich gemacht werden. In ähnlicher Weise wird dieser Ein-
wand in den Reihen der Logischen Empiristen erhoben. So hat Moritz
Schlick betont, dass das unmittelbar Erlebte uns zwar direkt bekannt sei,
aber erst dann erkannt werde, wenn man in der Lage sei, eine symbo-
lisch vermittelte Beziehung – eine intersubjektive Mitteilbarkeit –
herzustellen (Schlick, 1926).
Nun zielt allerdings die kognitive Neurowissenschaft nicht auf die
für Schlicks Ansatz maßgebliche Analyse der „rein formale[n], jeglichen
Inhaltes entkleidete[n]“ Beziehung zwischen Begriffen ab, sondern sie
sucht nach den neuronalen Korrelaten bestimmter inhaltlicher Erleb-
nisse und Vorstellungen. Darüber hinaus wird in den modernen Le-
benswissenschaften insgesamt deutlich, dass trotz aller berechtigten
Einwände gegen die methodologische Bedeutung der selbst-referenti-
ellen Beziehung zwischen lebenden Systemen für den biologischen
Forschungsvollzug stets Aspekte dessen nachweisbar bleiben, was man
als Konsequenz des Vorliegens einer solchen verstehen muss. Dieses
belegen wissenschaftshistorische und -soziologische Studien zu Mole-
kularbiologie und Gentechnik:10 In der Studie von Evelyn Fox Keller
wird deutlich, dass selbst noch die molekularbiologische Forschungssi-
tuation durch ein „feeling for the organism“ geprägt bleibt (Fox Keller,
1995). Ähnlich haben unter wissenschaftssoziologischen Gesichts-
punkten Karin Knorr Cetina (Knorr Cetina, 2002, 157 ff.) und Klaus
Amann (Amann, 1994) gezeigt, dass in molekularbiologischen Laboren
eine spezifisch wechselseitige Interaktion zwischen den lebendigen
Forschungsgegenständen und den Forschern stattfindet,11 bei der den
„Forschungsgegenständen“ unter bestimmten Gesichtspunkten ein
Akteursstatus zugesprochen wird (Köchy, 2006a). Selbst wenn es sich
10 Vergleichbares gilt auch für die Verhaltensforschung Lorenz, 1992, 304 f.
11 In einem fiktiven Dialog von Karin Knorr Cetina mit einer Molekularbiologin
über die spezifischen „Resistenzen“ des molekularbiologischen Forschungsge-
genstandes heißt es: „KK: Ist es wie eine Person? Wie jemand, mit dem du
interagierst? DS: Nein, nicht notwendigerweise eine Person. Allerdings nimmt
es Aspekte der Persönlichkeit an, die fühle ich, je nachdem, ob es unkooperativ
war oder nicht. Wenn es kooperativ ist, dann wird es für eine Weile mein
Freund, dann bin ich glücklich und schreibe Ausrufezeichen in mein Proto-
koll(buch), aber später wird es dann wieder Material.“ (Knorr-Cetina, 2002,
160).
184 Kristian Köchy
hierbei um Anthropomorphismen handeln mag, die sich auch in an-
deren Forschungsfeldern und bei anderen Problemlagen finden, so ist
doch – mit Knorr Cetina – zu berücksichtigen, dass diese epistemische
und rhetorische Strategie im Kontext eines spezifischen biologischen
Forschungsstils erfolgt, der „in der Praxis mit widerständigen Materia-
lien und Lebewesen ausgehandelt“ (Knorr Cetina, 2002, 132) wird.
2. Verhalten – „Das Tier als Erbauer seiner Welt“
Die Spannung zwischen Selbstthematisierung und Fremdthematisierung
sowie ihre Auswirkungen auf den Forschungsvollzug und die Aussa-
gekraft biologischer Erklärungen wird bereits auf der Ebene des inter-
subjektiv Wahrnehmbaren, öffentlich zugänglichen Ausdrucksverhal-
tens deutlich und ist insofern schon in der Verhaltensforschung nach-
weisbar. Dieses ist für die Frage nach der Rolle der kognitiven Neu-
rowissenschaften bei der Erklärung mentaler Phänomene insofern be-
deutsam, als damit das Forschungsparadigma der experimentellen Neu-
robiologie klassischer Provenienz angesprochen ist.12 Wie es die
Überlegungen von Eric Kandel deutlich machen, beschränkt sich die
experimentelle Neurobiologie gezielt auf die Verfahren der ethologi-
schen Verhaltensbeobachtung und des physiologischen Experiments
(Kandel, 1976, 3 ff.). Zugleich nimmt sie einen Ausschluss aller Formen
der Selbstthematisierung vor, wie sie etwa in der Introspektion und im
übertragenen Modus in der Empathie erforderlich wären. Man setzt in
der experimentellen Neurobiologie gezielt auf die Fremdthematisierung
in Form einer behavioristisch verstandenen Analyse von öffentlich
wahrnehmbaren und intersubjektiv vermittelbaren Ereignissen. Allei-
niger Ausgangspunkt des neurobiologischen Ansatzes ist das, was Or-
ganismen machen – ihr Verhalten als ein in Raum und Zeit stattfin-
dender Prozess (Fraenkel/Gunn, 1940). Nur das Verhalten ist dem
experimentellen und messenden Ansatz zugänglich und verweist sei-
nerseits auf strukturelle oder funktionelle Änderungen der Gewebe des
untersuchten Organismus.
Fragen wir zunächst, was mit dieser Vorgabe der experimentellen
Neurobiologie und Verhaltensforschung eigentlich ausgeschlossen wird
und betrachten dazu den Bedeutungsumfang von „Introspektion“
(Ziche, 1999, 1 ff.). Dann zeigt sich, dass es grundsätzlich zwei ver-
12 Vgl. zum Folgenden Köchy, 2006b.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 185
schiedene Lesarten und Verständnisweisen von „Introspektion“ gibt: Im
ersten Fall steht „Introspektion“ für ein epistemisches Verfahren oder eine
Methode der Untersuchung von mentalen Phänomenen. „Introspektion“
ist dann ein spezieller Zugang zu Phänomenen des Denkens, der sich
von dem auf experimentelle Objektivierung ausgerichteten physiolo-
gischen Verfahren zur Untersuchung der Phänomene des Gehirns un-
terscheidet. Im zweiten Fall steht „Introspektion“ für eine Fähigkeit,
bezeichnet selbst ein mentales Ph!nomen. So ist Introspektion, nach dem
„inner sense“ Modell von Armstrong (Armstrong, 1968, 94), eine Form
der „Metabeobachtung“, eine Art Metaprozess, der den Gehirnprozess
der Datenaufnahme und -verarbeitung selbst zum Datum hat. Nach
dem alternativen Modell von Lyons und Dretske ist Introspektion ein
Spezialfall der Wahrnehmung („verschobene Wahrnehmung“, dis-
placed perception). Nach Dretske ist Introspektion ein Prozess, bei dem
Informationen über interne Zustände im Akt der Repräsentation ex-
terner Objekte gewonnen wird (Dretske, 1995, 54). Man könnte diese
Einteilung erweitern, da sich nun drittens die Frage nach einer geeig-
neten epistemischen Strategie zur Untersuchung des Phänomens „Intro-
spektion“ stellt. Auf diese Frage hin – und auch das ist ein Aspekt der
Selbstreferenz – kann man entweder die Selbstbeobachtung oder al-
ternativ die naturwissenschaftliche Fremdthematisierung als adäquate
Untersuchungsstrategie wählen. Darüber hinaus – so in den Ansätzen
der Würzburger Schule der Psychologie – kann man der Introspektion
selbst den Status eines auf Objektivierung angelegten experimentellen
Verfahrens zusprechen. In diesem Fall könnte sie als ein spezielles
wissenschaftliches Verfahren in methodischen Kontakt mit den anderen
experimentellen Verfahren der Objektivierung treten. Dieses zeigt, dass
die Methode der Introspektion als eine Vergegenständlichung des In-
trospezierten ihrerseits wieder eine „Außenperspektive“ oder Fremd-
thematisierung repräsentiert. Fassen wir die Ergebnisse aus der Analyse
der Begriffsverwendung von „Introspektion“ zusammen, so wird mit
der methodologischen Festlegung der experimentellen Neurobiologie
und Neuroethologie auf die Seite des Verhaltens also einerseits eine
bestimmte Festlegung in methodischer Hinsicht getroffen, andererseits
werden zugleich bestimmte Phänomene und wissenschaftliche „Ge-
genstände“ aus dem Zugriff der Neurobiologie ausgeklammert.
In dieser Vorgabe stimmen experimentelle Neurobiologie und
Verhaltensbiologie überein. Letztere hat sich als biologische Spezial-
disziplin im 20. Jahrhundert in expliziter Abgrenzung von ihren tier-
psychologischen Vorläufern konstituiert ( Jahn/Sucker, 2000). Eine
186 Kristian Köchy
genaue Analyse einzelner Elemente des Forschungsprogramms der
Verhaltensforschung macht dabei deutlich, dass trotz dem betont auf
Fremdthematisierung ausgerichteten Ansatz bestimmte Momente der
Selbstreferentialität im Forschungsvollzug und in der Interpretation des
Forschungsvollzugs nachweisbar bleiben (Cheney/Seyfarth, 1990). In
Reaktion auf diese Tatsache deutet deshalb Rupert Riedel das Ver-
halten von Versuchsleiter und Versuchstier im Dressurversuch als
wechselseitig sich beeinflussendes Kreisgeschehen (Riedel, 1980, 144 f.)
und Franz M. Wuketits weitet dieses Modell auf sämtliche experi-
mentellen Ansätze der Verhaltensphysiologie aus (Wuketits, 1973,
88 ff.). Die Konsequenzen und Grenzen des auf Fremdthematisierung
oder Objektivierung setzenden verhaltensbiologischen Ansatzes werden
deshalb in vielen einzelnen Forschungen deutlich. Vor allem jedoch
werden sie in den daraus abgeleiteten theoretischen Konzepten er-
kennbar.
Als ein diesbezüglich aufschlussreiches historisches Fallbeispiel13 sei
die Konzeption von Jakob von Uexküll untersucht – dessen Schema des
Funktionskreises (Uexküll/Kriszat, 1973, 11) sei dabei als bekannt
vorausgesetzt. Im Folgenden werden die Aspekte herausgegriffen, die
für die Spannung von Selbst- und Fremdthematisierung aussagekräftig
sind. Dabei ist Uexkülls Forschungsansatz (Hassenstein, 2001) insofern
im obigen Sinne naturwissenschaftlich, als seine Maxime lautet, dass uns
13 Die Auswahl der für diesen Aufsatz ausgesuchten Fallbeispiele (Uexküll, Pur-
kinje und Roth) basiert auf mehreren Kriterien: Erstens wird in allen Fällen
Pionierarbeit in den jeweiligen Bereichen der biologischen Forschung geleistet
oder auf diese reagiert. Zweitens stoßen die Forscher in ihrer Forschung auf die
genannte selbstreferentielle Struktur der Untersuchungssituation und tragen ihr
praktisch und theoretisch Rechnung. Drittens verlassen die Biologen aufgrund
dieser speziellen Forschungssituation die naturwissenschaftliche Fragestellung
und gehen zu Überlegungen über, die in den Bereich der Theoretischen
Biologie oder der Philosophie gehören. Die jeweiligen philosophischen Ori-
entierungspunkte sind verschieden: Uexkülls Konzept zeigt Anleihen an
Leibniz’ Monadenkonzept, Purkinje orientiert sich an Fichtes Modell der
Tathandlung, Roth am Selbstorganisationsmodell und Autopoiesekonzept.
Auch die philosophischen und methodischen Konsequenzen sind unter-
schiedlich. Übereinstimmend wird jedoch – und darauf wurde in den Über-
schriften der Teilkapitel meines Beitrags Bezug genommen – die jeweils aktive
Rolle betont, die das entsprechende Untersuchungsobjekt (Verhalten, Auge,
Gehirn) besitzt und die konstruktivistische Note, die damit in die methodo-
logischen Modelle einzieht, hervorgehoben.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 187
die „Empfindungen“ von Tieren für immer verschlossen bleiben
(Uexküll, 1973, 107).
Betrachten wir jedoch in einem ersten Schritt das Bild, das aus
Uexkülls Perspektive von der Beschaffenheit des Forschungsobjektes – des
im Verhaltensexperiment untersuchten Lebewesens – entsteht. Das
Modell des Funktionskreises besagt hier erstens, dass Lebewesen von
ihren Umwelten nicht abzulösen sind. Die Reaktionen, die Tiere auf
Sinnesreize hin ausführen, werden als geschlossener Regelkreis gedeu-
tet. Ein „Rezeptor“ nimmt selektiv Informationen aus der Umwelt auf,
leitet sie an ein (zentralnervöses) „Merkorgan“ weiter, die ein (ebenfalls
zentralnervöses) „Wirkorgan“ zu Ausführungsbefehlen in Richtung auf
einen „Effektor“ hin veranlasst. Zweitens bedeutet die feste Verkop-
pelung von Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften der Umwelt, dass
einerseits ihre Reaktionen als durch Umweltsituationen veranlasst in-
terpretiert werden können, und dass diese Umwelten andererseits je
artspezifisch selektive Ausschnitte einer abstrakten allgemeinen Wirk-
lichkeit darstellen. Unter dem Aspekt dieser Selektion läuft das Modell
drittens auf ein Verständnis von Lebewesen hinaus, bei denen das le-
bendige Individuum sowohl hinsichtlich seiner Sinneswahrnehmung,
als auch seiner zentralnervösen Verarbeitung als auch seiner Verhal-
tensleistungen ein aktiver Erbauer und Erzeuger einer je eigenen Um-
welt ist.
Für die Seite der Forschungssituation in der Verhaltensbiologie und f"r das
Selbstbild des forschenden Menschen haben diese Überlegungen eine dop-
pelte Konsequenz. Zunächst handelt es sich dabei um Interpretationen
der Ergebnisse aus naturwissenschaftlichen Untersuchungen und damit
nach der eingangs festgelegten Terminologie um Ergebnisse einer
Fremdthematisierung des lebendigen Prozesses „Verhalten“. Dennoch
können die aus der Modellvorstellung gewonnenen Einsichten auch im
Sinne einer Selbstthematisierung des Menschen als Lebewesen fungieren
(oder leiten sich selbst in Teilen aus einer solchen Selbstthematisierung
ab). Man kann sie deshalb auf den Forscher übertragen und sie gelten
dann auch für ihn, als ein sich in seiner spezifischen Umwelt verhal-
tendes Lebewesen. Demnach besitzt der Mensch entsprechend seiner
biologischen Ausstattung eine spezifische epistemische Umwelt. Er
verfügt über eine seinen rezeptiven und perzeptiven Fähigkeiten ent-
sprechende perspektivische Erfassung der Gesamtwirklichkeit. Darüber
hinaus ist die Umwelt des Naturforschers noch einmal als spezifizierte,
durch einen Forschungsvollzug festgelegte Teilumwelt aufzufassen
(Uexküll/Kriszat, 1973, 94 ff.).
188 Kristian Köchy
Bedenkt man dieses genauer, dann ergeben sich weitere Konse-
quenzen. Erstens sind die Umwelten von Tier und Mensch je unter-
schiedlich. Beide sind monadenhaft voneinander getrennt. Zweitens
erweist sich die naturwissenschaftliche Untersuchung und Beschreibung
von tierischem Verhalten als eine Möglichkeit unter mehreren – eine
durch die methodologischen Vorgaben und die wissenschaftliche Tra-
dition geprägte gerichtete Beobachtung, die bestimmte Aspekte des
Beobachteten selektiv hervorhebt und anderes ausblendet (Fleck, 1983,
61 f.). Unter diesem Gesichtspunkt besitzen sowohl naturwissenschaft-
lich-experimentelle als auch bewusst auf die Ableitung innerer Zustände
zielende Verhaltensbeobachtungen ihren jeweils durch das For-
schungsprogramm bedingten blinden Fleck14. Humberto Maturana hat
dieses unter Verwendung von Uexkülls Terminologie folgendermaßen
ausgedrückt:
Der Beobachter betrachtet Organismus und Umwelt gleichzeitig; er be-
trachtet jenen Teil der Umwelt als die Nische des Organismus, den er als in
dessen Interaktionsbereich liegend beobachtet. Mit Bezug auf den Beob-
achter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für den beob-
achteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm zuge-
hörigen Interaktionsbereich dar. […] Nische und Umwelt überschneiden
sich daher nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner
Instrumente) und der Organismus vergleichbare Organisationen besitzen.
(Maturana, 1998, 28 f.)
Diese Überlegung macht zudem deutlich, dass jede der methodenrela-
tiven Deutungen von tierischem Verhalten stets nur vor der Folie des
menschlichen Selbstverständnisses erfolgen kann, der genuin mensch-
lichen Umwelt also.15 Alle Deutungsversuche, die der Forscher im
14 In diesem Sinne verweist Konrad Lorenz auf die Einschränkungen der expe-
rimentell vorgehenden „mechanistischen“ Strömung in der Verhaltensfor-
schung, die Tiere nur unter der experimentellen Bedingung einwirkender
Außenreize betrachtet und so nicht sieht, „was Tiere von selbst tun“, so dass sie
deren „Spontaneität“ missachtet (Lorenz, 1992, 296 ff.). Umgekehrt kennen die
„vitalistischen“ Ansätze zwar das Phänomen der Spontaneität, ihnen fehlt je-
doch der Blick für die „vernünftige[n] physiologische[n] Schlüsse“, weshalb sie
das Phänomen als unerklärbar einstufen. Ein aktuelles Beispiel für die metho-
den- und theorienrelative Blindheit bei der Durchführung und Deutung von
Verhaltensexperimenten nennt Juan D. Delius (Delius, 1990, 118).
15 „Befindet sich ein Beobachter einem Tier gegenüber […] so muss er sich vor
allem darüber klar sein, dass die Merkmale, aus denen sich die fremde Welt
zusammensetzt, seine eigenen Merkmale sind und nicht aus den Merkzeichen
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 189
verhaltensbiologischen Experiment zur Erklärung tierischen Verhaltens
vornimmt, haben damit ihre epistemologische Grenze in der mona-
denhaften Struktur tierischer und menschlicher Umwelten. Diesbe-
züglich gilt der Ansatz von Thomas Nagel in vollem Umfang: Wir
können nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein (Nagel, 1981). In
vielen Fällen jedoch – so etwa auch in Nagels Ideal der Perspektiven-
unabhängigkeit der Wissenschaft (Nagel, 1981, 267) oder in Uexkülls
Wissenschaftsbild (Uexküll, 1973, 107) 16 – wird der methodische
Vollzug der Naturwissenschaften als ein Vademecum gegen die nur
ausschnitthafte und perspektivische Erfassung der Wirklichkeit ver-
standen. Man blendet damit die auch dem wissenschaftlichen Zugang
eigene denkstilhafte Charakteristik aus.
Vernachlässigt man jedoch in diesem Sinne den methodenrelativen
Charakter der naturwissenschaftlichen Erfassung von Verhaltensleis-
tungen, dann müsste angesichts der obigen Festlegung der Naturwis-
senschaften auf die Fremdthematisierung ein ganz anderes Bild des
Lebewesens und damit auch des Menschen entstehen, als es sich in
Uexkülls Konzept des „aktiven Gestalters“ darstellt. Konzentriert man
sich auf den Aspekt der Fremdthematisierung, dann ist die Verhal-
tensbiologie der Versuch, tierisches Verhalten auf öffentlich wahr-
nehmbare und intersubjektiv vermittelbare Eigenschaften, also etwa
Bewegungen in Raum und Zeit, zu reduzieren. In diesem Sinne ist es
der methodische Ansatz der Verhaltensphysiologie, durch Analyse ex-
perimentell untersuchter, also gemessener, Verhaltensweisen die phy-
siologischen Mechanismen aufzuklären, die diesem Verhalten zugrunde
liegen. Damit wird das tierische Verhalten zum mathematisch messbaren
und mechanisch erklärbaren Vollzug. Unterschlägt man nun den me-
thodenrelativen Charakter dieses Ansatzes, dann ist mit diesem Ergebnis
die „volle Wahrheit“ über die Beschaffenheit von Lebewesen ausge-
drückt. Bei der Anwendung auf den Menschen muss diese Konzep-
tualisierung folglich auch den Menschen als sich verhaltendes Lebe-
wesen adäquat und vollständig beschreiben. In diesem Fall sind auch
dessen Verhaltensäußerungen rein physiologische Ereignisse des Kör-
pers. Wäre damit jedoch die reine und vor allem volle Wahrheit aus-
des fremden Subjekts entstanden sind, die er gar nicht kennen kann.“ (Uexküll,
1973, 104)
16 Aber einschränkend: „Trotzdem werden wir nie außer Acht lassen, dass wir,
solange wir Biologie treiben, niemals unseren Posten als außenstehende Be-
obachter verlassen dürfen.“ (Uexküll, 1973, 110)
190 Kristian Köchy
gedrückt, dann stellte sich schon auf dieser Ebene der Analyse die Frage,
woraus sich diese epistemischen Geltungsansprüche der naturwissen-
schaftlichen Verhaltensanalyse – als Elemente der „Welt der Gründe“ –
ableiten ließen. Das Verhalten und die (als Verhalten zu deutende)
Erstellung von Theorien des Verhaltensforschers wären dann ebenfalls
nur Vollzüge in Raum und Zeit. Es stellte sich darüber hinaus konkret
am Fallbeispiel von Uexküll die Frage, wie man auf der Basis der ver-
haltensbiologischen Analyse zum Konzept des „aktiven“ Gestalters
kommen kann. Geht man dieser Frage nach, dann wird deutlich, dass
Uexkülls Theorie ohne die Einbeziehung der Qualitäten spezifisch
menschlicher Wahrnehmungserlebnisse sowie den Rückschluss von den
Umwelten der Tiere und deren Merkmalen auf analoge Qualitäten im
tierischen Erleben nicht auskommen kann (Uexküll, 1973, 110).
3. Sinnlichkeit – „Das Auge als Künstler“
An diesen Befund kann der zweite Schritt der Untersuchung in Form
eines skizzenhaften Abrisses der Geschichte der naturwissenschaftlichen
Analyse der Sinneswahrnehmungen anschließen. Dabei wird die eine
Seite von Uexkülls Funktionskreis genauer fokussiert – die Seite der
Rezeptoren und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit
einer naturwissenschaftlichen Untersuchung von Sinnesleistungen bei
Tier und Mensch. Diese Frage wurde in der Phase vor der Entwicklung
von Fechners Psychophysik im 19. Jahrhundert brisant und ist – denkt
man etwa an die Theorie von Humberto Maturana – noch heute für die
philosophische Reflexion über die Bedingungen der Sinnesphysiologie
einschlägig. Sie prägt beispielsweise auch die These vom selbstreferen-
tiellen Gehirn und seiner Umwelt.17
Erneut handelt es sich um ein Problemfeld, das auf die Ansätze der
kognitiven Neurowissenschaften vorausweist, weil in diesen Bereich
Fragen nach dem sensorischen Erlebnisbewusstsein fallen und die Be-
ziehung zwischen sinnespsychologischen und sinnesphysiologischen
17 „Niemand hat eine Erklärung dafür, wie aus diesen Erregungszuständen [im
Sinnesorgan Auge K.K.], wie komplex sie auch sein mögen, visuelle Emp-
findung wird. Wir sind aber berechtigt anzunehmen, daß diese Empfindung
ihren Inhalten nach durch eben die interne zirkuläre Bedeutungszuweisung
entsteht, d. h. jede Komponente in diesem System definiert die spezifischen
Eigenschaften aller anderen Komponenten.“ (Roth, 1986, 171)
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 191
Ansätzen oder zwischen subjektiver Erfahrung eines Sinneserlebnisses
und dem Versuch, dafür ein naturwissenschaftlich fassbares Korrelat zu
finden. Auch mit diesen Aspekten ist ein komplexes philosophisches
Problemfeld verbunden.18 Fokussiert man dazu auf das Auge, dem seit
Platons Sonnengleichnis analogieträchtigsten Sinnesorgan für epistemi-
sche Bedingungen ( Jonas, 1973, 198 ff.), dann beginnt dessen physio-
logische Erforschung im 19. Jahrhundert im Umkreis von Johannes
Müllers Schrift Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns des Menschen
und der Tiere (1826) und sie reicht bis zur aktuellen – paradigmatisch
durch die Arbeiten von Hubel und Wiesel zur Organisation des visu-
ellen Systems und des Sehkortex geprägten – systemischen Analyse der
Struktur und Funktion des Sehsystems. Die naturwissenschaftliche Er-
forschung basiert anfangs auf vergleichenden Studien des histologischen
und anatomischen Aufbaus des Sehsystems. Es folgt eine experimentell-
quantitative Untersuchung unter psychophysischen Vorzeichen. Dabei
geht es vor allem darum, Empfindungsstärken zu quantifizieren, indem
man messbare Relationen zwischen Erlebnissen und „physikalischen“
Reizgrößen herstellt. Ein weiteres methodisches Standbein ist der
Einsatz und Ausbau des verhaltensphysiologischen Repertoires zur
Untersuchung von Sinnesleistungen bei Tieren. Schließlich sind die
Möglichkeiten der elektrophysiologischen Messung der Aktivität von
Sinnes- und Nervenzellen sowie systemneurobiologische Ansätze zu
nennen.
Die Bedingungen der immanenten Selbstreferentialität der natur-
wissenschaftlichen Untersuchung der Sinnesleistungen des Auges lassen
sich wieder am historischen Fallbeispiel demonstrieren. Wenden wir uns
dazu der Phase zu, in der noch keine naturwissenschaftlichen Routinen
in der Untersuchung der Sinnesleistungen bestanden, und blicken auf
den Beginn der Sinnesphysiologie des Auges zurück. Hier fällt ein
Forscher auf, dessen Ansatz wegen seiner vielfältigen Implikationen für
die These der selbstreferentiellen Struktur des biowissenschaftlichen
Forschungsvollzugs aufschlussreich ist: Jan Evangelista Purkinje
(1787 – 1869). Purkinje verstand sich als Naturwissenschaftler und
18 Es handelt sich um die Qualia-Debatte und die in ihrem Zusammenhang er-
hobene These einer „Erklärungslücke“. Auf die umfängliche Diskussion zu den
einschlägigen Gedankenexperimenten, von invertierten Spektren bis zu ab-
wesenden Qualia, kann und soll hier nicht näher eingegangen werden. Erneut
geht es lediglich um den Nachweis einer Spannung zwischen Selbst- und
Fremdthematisierung, die sich aus der selbstreferentiellen Struktur des biolo-
gischen Forschungsvollzugs auf der Ebene des Sinnlichen ergibt.
192 Kristian Köchy
Physiologe und sah seine Aufgabe darin, den Erscheinungen der Sin-
neswahrnehmungen methodisch nachzugehen (Purkinje, 1951). Zu
seinem heuristischen Arsenal rechnete er allerdings auch die subjektive
Empirie, also das innere Erleben der eigenen Sinneswahrnehmung.19
Der methodische Einsatz von Selbstbeobachtung zur Untersuchung
der Sinnesleistungen des Auges zeigt, dass auch in den Anfängen der
Erforschung der Sinnlichkeit Momente der Selbstthematisierung im
Kontext der auf Fremdthematisierung ausgerichteten Programmatik der
Naturwissenschaften nur bedingt ausgeblendet wurden. Grundsätzlich
gilt auch hier: Der Mensch untersucht sich selbst hinsichtlich seiner
Fähigkeiten, Sinneswahrnehmungen zu haben. Bei aller Hervorhebung
der Möglichkeiten der Selbstbeobachtung erfolgt jedoch die Untersu-
chung Purkinjes zugleich unter Berücksichtigung der naturwissen-
schaftlichen Vorgaben einer Fremdthematisierung. Dieses belegt etwa
der deutlich herausgestellte experimentelle Charakter von Purkinjes
Untersuchungen sowie der Anspruch einer Kontrolle über die Phäno-
mene (Purkinje, 1951, 31). In dieser Kombination von Selbst- und
Fremdthematisierung stehen mit Blick auf die Selbstbeobachtung Ver-
fahren und Phänomen erneut in einer selbstreferentiellen Beziehung
zueinander. Purkinje bezeichnet diese partielle Selbstbezüglichkeit als
„Heautognosie“. Die Sinne und ihre Erscheinungen sind der Unter-
suchungsgegenstand, die Methode der Untersuchung ist die gezielt
befragende Selbstbeobachtung. Es sollten dabei die Erlebnisse beim
Sehen von Gegenständen sowie das Sehen selbst mittels einer dem
Sehen analog gedachten Beobachtung erfasst werden. Das gesuchte
Vermögen ist jedoch für Purkinje nicht immer schon gegeben, sondern
ist vielmehr eine Kunst, deren Einsatz lange Übung und eine willent-
liche Beherrschung der Wahrnehmungstätigkeit erfordert.
Interessanterweise entsteht von diesem Ansatz aus ein ähnliches Bild
des Untersuchungsgegenstandes wie bei Uexküll. Wie für jenen das Ver-
halten in einer Umwelt, so wird für Purkinje das Sehen zur aktiven
Gestaltung der Wirklichkeit. Reizübertragung, Empfindung und
Wahrnehmung gelten nicht mehr wie in den mechanistischen Modellen
der angelsächsischen Empiristen als passive mechanische Ereignisse, die
19 Dieses macht bereits seine Dissertation Beitr!ge zur Kenntnis des Sehens in sub-
jektiver Hinsicht (1819) deutlich, die im Ansatz nicht nur Goethes Farbenlehre
entspricht, sondern auch auf die im Kontext der These der „spezifischen Sin-
nesenergie“ stehenden Selbstversuche von Johannes Müller voraus weist (vgl.
Rothschuh, 1968, 221; Geus, 2000, 352).
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 193
auf Reizeingänge erfolgen, sondern vielmehr als aktive Gestaltungs-
weisen. Das Sehen wird in seiner grundsätzlichen Eigenaktivität und
Autonomie anerkannt und von Purkinje unter Bezug auf Fichtes
Konzept der Tathandlung gedeutet. Wie für Uexküll das sich verhal-
tende Tier zum Erbauer und Erzeuger einer Welt wird, so wird für
Purkinje das Auge zum Künstler (vgl. Müller-Tamm, 2001, 157).
Gesteht man jedoch diese gestalterische Leistung des Auges zu, dann
gilt für die Selbstbeobachtung des Sehens im Fall von Purkinjes Ansatz
das Gleiche, wie es oben für die naturwissenschaftliche Verhaltensbe-
obachtung festzustellen war. Auch die Untersuchung des Auges und
seiner Leistungen mittels eines dem Sehen analogen Verfahrens ist ein
methodenrelativer gestaltender Akt. Damit ist für die Seite des Beobachters
und seiner Methodik zu konstatieren, dass es sich bei der Selbstbeob-
achtung um ein konstruktiv-selektives Verfahren handelt und nicht um
ein „reines“ Sehen wie es Purkinje meinte. Die Heautognosie, als ein
„Sehen des Sehens“, birgt stets die Gefahr einer subjektiven Verfrem-
dung und Färbung des zu untersuchenden Phänomens.
Diese „Subjektivität“ des Verfahrens ist für die Gegner des Ansatzes
ein Grund dafür, auf den Zugang der Selbstbeobachtung in der Sin-
nesphysiologie zu verzichten. Stattdessen setzten sie allein auf objektiv-
naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden. Erneut gilt der natur-
wissenschaftliche Ansatz als Vademecum für die Gefahr einer anthro-
pomorphen oder subjektiven Verfälschung der Daten. Allerdings lässt
sich mutatis mutandis auf der Ebene der Sinnlichkeit Ähnliches feststellen
wie bei der Untersuchung des Verhaltens. Auch die als Alternative zur
Selbstbeobachtung propagierten naturwissenschaftlich-objektiven An-
sätze unterliegen in ihrem Vollzug den besonderen Bedingungen der
Selbstreferentialität. Zumindest lassen sich bei ihnen selbstreferentielle
Effekte nachweisen. Dieses belegt die Untersuchung der als Alternative
genannten naturwissenschaftlichen Ansätze:
Für den anatomischen und histologischen Ansatz zeigt Jutta Schickores
Studie, dass auch hier Auge und Sehen „zugleich Mittel und Thema“
der Untersuchung sind (Schickore, 2001, 165). Erneut betrifft die
„selbstreferentielle[n] Struktur der ,empirischen Wissenschaft vom
Sehen‘“ (Schickore, 2001, 167) das Verhältnis zwischen Untersu-
chungsobjekt (dem Sehsinn) und Untersuchungsverfahren (Analyse
mittels des Mikroskops). Hinsichtlich der Ausdeutung der Selbstrefe-
rentialität treten allerdings deutliche Veränderungen ein. Die Mikro-
anatomen identifizieren das Sehorgan mit einem optischen Instrument
und lehnen zugleich Purkinjes Lehre von der organischen Eigenge-
194 Kristian Köchy
setzlichkeit des Sehens vehement ab. Nun gelten sowohl Sehorgan als
auch optisches Instrument als durch mathematisch-physikalische Ge-
setzmäßigkeiten bestimmt. Die Momente der „Eigengesetzlichkeit“ des
Sehens – seit Johannes Müller als subjektive Gesichtswahrnehmung
zusammengefasst – können allerdings auch bei diesem Ansatz nicht
vollkommen ausgeschaltet werden, nur erklärt man sie nun zu Täu-
schungen und schreibt den Fehler nicht dem (naturwissenschaftlich
beschreibbaren) Prozess des Sehens selbst zu, sondern verweist sie in den
Bereich fehlbarer Urteils- und Einbildungskraft (vgl. dazu auch Daston,
2003, 99–126).
Analoges gilt für die neuro- und sinnesphysiologischen Untersuchungen.
Im Zeithorizont der beiden vorhergehenden Beispiele bleibend, kann
man auf die Selbstversuche Johann Wilhelm Ritters und Alexander von
Humboldts zur Erklärung der Bioelektrizität verweisen. Nach Olaf
Breidbach gilt hier: „Sie registrieren dabei nicht nur einfache motori-
sche Muster. Sie beschreiben ihr Empfinden, in dem diese Elektrizität
sich in ihrem Körper abbildet.“ (Breidbach, 2005, 33 f.) So verwundert
es nicht, wenn es gerade die selbstreferentiellen Bedingungen der Un-
tersuchung sind, die frühe Vertreter der Elektro- und Sinnesphysiologie
zur Zurückhaltung hinsichtlich der Analysierbarkeit mentaler Phäno-
mene veranlassten. Emil Du Bois-Reymonds berühmtes „Ignorabimus“
(Du Bois-Reymond, 1961, 39 ff.) steht dafür, dass die Erforschung von
Auge und Gehirn mit physikalischen Methoden eben nur zu physika-
lisch formulierbaren Ergebnissen führen wird. Die Kluft zur subjektiven
Seite der erlebten Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken wird
hier für überbrückbar erklärt.
Auch das seit den Ansätzen Webers und Fechners angewandte
Verfahren der Psychophysik muss als „objektivierende“ naturwissen-
schaftliche Antwort auf Purkinjes Selbstbeobachtung verstanden wer-
den. Für elementare Empfindungsvorgänge, wie das subjektive Emp-
finden von Schwere (später durch Stevens auch die Wahrnehmung von
Helligkeit), gelingt es hier durch eine spezielle experimentelle Ver-
suchsanordnung und die geschickte Konzentration auf die kleinsten
erkennbaren Reizunterschiede,20 ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen
Sinnesempfindungen und Reizsituation zu konstatieren und in seiner
mathematischen Regelmäßigkeit zu erfassen. Allerdings ist auch für
diesen Fall die Selbstreferentialität nachzuweisen. So führt der neue
20 Zum Verfahren vgl. Campenhausen, 1981, 29 f.; zur philosophischen Bedeu-
tung im Kontext der Debatte um das Autopoiese-Konzept Riegas, 1990, 102 ff.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 195
Ansatz für Fechner lediglich zwei Standpunkte21 zusammen – den
„äußern Standpunkt“ der Naturwissenschaft, in der mein Gehirn und
Sehnerv „äußerlich in Form einer weißen schwingenden Nervenmasse“
(Fechner, 1901, 137) erscheinen, und den „innern Standpunkt“ der
Selbsterscheinung, in der wir „den Namen Gehirn und Sehnerv nicht
mehr für die Erscheinung brauchen“.22 Aus den genannten Gründen
sind sich noch heutige Vertreter der biologischen Psychophysik darüber
im Klaren, dass vor allem diejenige Kritik an psychophysischen Theo-
rien ernst zu nehmen ist, die darauf abzielt, dass sie nicht beweisbar sind,
„weil das wahrnehmende Subjekt zwar die Regelhaftigkeit der Wahr-
nehmungsvorgänge ergründen, nicht aber sich selbst zum Gegenstand
der Untersuchung machen kann“. Das Subjekt kann demnach nicht
gleichzeitig und unabhängig Beobachter und Objekt der Beobachtung
sein (Campenhausen, 1981, 4). Hier wird deutlich, dass auch das psy-
chophysische Experiment durch eine spezifische Inanspruchnahme von
Introspektion und Selbstbeobachtung ausgezeichnet ist und sich in
dieser Hinsicht von einem physikalischen Experiment unterscheidet
(Wellek, 1955, 184). Dieses äußert sich u. a. darin, dass die Notwen-
digkeit der „Instruktion“ der Versuchsperson durch den Versuchsleiter
keinerlei Analogie in physikalischen Experimenten hat.
Darüber hinaus bleibt zu bedenken, dass die im psychophysischen
Experiment nachweisbare Korrelation vor allem den Zusammenhang
zwischen physikalischen Merkmalen der Reizsituation und elementaren
21 Fechner konzipiert ein analoges Gedankenexperiment, wie wir es unten bei
Roth erläutern werden (Fechner, 1901, 129–179): Ein externer Beobachter
kann bei einem äußeren Blick auf das Gehirn eines anderen keine Gedanken
und Empfindungen wahrnehmen und ein Empfindender und Denkender kann
keine physischen Bewegungen im Nervensystem empfinden (Fechner, 1901,
132 f.) Daraus leitet sich die Unterscheidung von äußerem und innerem
Standpunkt ab (Fechner, 1901, 134). Körper und Geist sind deshalb nach dem
Standpunkt der Auffassung oder Betrachtung verschieden (Fechner, 1901, 135).
22 Der dem Parallelismus anhängende, frühere Naturphilosoph konstatiert: „So
macht der doppelte Standpunkt der Betrachtung die Erscheinung immer ver-
schieden und unterscheiden wir immer das Geistige, Psychische und Leibliche,
Physische danach, ob wir die Erscheinung als eigene innere Selbsterscheinung
oder als Erscheinung eines andern fassen.“ (Fechner, 1901, 137) Und weiter
heißt es über die Selbstreferentialität der Situation: „Sieht einer Teile seines
eigenen Leibes, ist’s doch nur mit andern Teilen seines Leibes, also vermöge
einer Gegenüberstellung des Wahrnehmenden und Wahrgenommenen, die in
ihm eintritt und über welche das Ganze in höherer Selbsterscheinung hin-
weggreift“.
196 Kristian Köchy
subjektiven Empfindungen aufzeigt und unter Laborbedingungen er-
folgt. Bei komplexeren Wahrnehmungsvorgängen – so weiß man seit
der Gestaltpsychologie – sind die Verhältnisse nicht so einfach. Sie
stellen sich nicht als Summation dieser elementaren Empfindungspro-
zesse dar, sondern sind vielmehr komplexe Integrationsprodukte, die
dann etwa Maturana und Varela auf der Basis ihrer Untersuchungen der
integrativen Prozesse in den retinalen Ganglienzellen der Tauben zu der
– wohl einseitigen – These der operationalen Geschlossenheit des
selbstreferentiellen Nervensystems veranlassten.
4. Kognition – „Das Gehirn als Konstrukteur“23
Mit dem obigen Verweis auf die Theorien von Maturana und Varela ist
die Grenze zwischen Sinnlichkeit und Kognition überschritten. Setzen
wir unsere Untersuchung deshalb weiter auf der Ebene des Mentalen
fort. Hier ist der Punkt erreicht, an dem die menschliche Fähigkeit zur
Selbstthematisierung (Selbsterfahrung, Selbstbewusstsein, Selbster-
kenntnis) direkt zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen For-
schung gemacht werden soll. In Anlehnung an das evolutionsbiologi-
sche Forschungsprogramm werden hierbei zunächst komplexe Verhal-
tensleistungen des Menschen als Weiterentwicklungen einfacherer tie-
rischer Verhaltensleistungen verstanden. Diese gelten deshalb mit
demselben methodischen Arsenal und vor dem Hintergrund des glei-
chen Forschungsprogramms als zugänglich, das auch für die Untersu-
chung einfacher tierischer Verhaltens- und Sinnesfunktionen eingesetzt
wurde. Darüber hinaus werden dann auch die mentalen Korrelate der
komplexen menschlichen Verhaltensleistungen als durch das naturwis-
senschaftliche Verfahren zugänglich erachtet. Kandel, Schwartz und
Jessell betonen, es sei das Forschungsziel der kognitiven Neurowissen-
schaften, die interne Repräsentation mentaler Ereignisse zu untersuchen
(Kandel et al., 1996, 327). Es geht um die Etablierung eines natur-
wissenschaftlichen Zugangs zu den bisher im Vollzug der Fremdthe-
matisierung explizit ausgeklammerten Phänomenen. Nun sollen die
charakteristischen erlebten Begleitzustände von Wahrnehmen, Erken-
nen, Vorstellen, Erinnern und Handeln auf bestimmte neuronale Be-
dingungen zurückgeführt werden (Roth/Menzel, 1996, 554; 557).
23 Die folgende Argumentation basiert auf meinen Ausführungen in Köchy,
2006b, c.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 197
Es ist bezeichnend für die innere Dialektik dieses Vorhabens, dass
die Resultate des Versuchs, einen naturwissenschaftlichen Zugang zu
den Prozessen der Selbstthematisierung zu gewinnen, derzeit zu dem
Ergebnis führen, dass, vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen
Befunde, das Selbstbewusstsein und der freie Wille (Wegner, 2002)
vielfach als bloße Illusion oder als bloßes Konstrukt erscheinen. Die
Neurowissenschaften provozieren das alltägliche Selbstverständnis des
Menschen, indem sie etwa an der Existenz eines „Ich-Kerns“ als dem
stabilen Referenzpunkt aller unserer Vorstellungen zweifeln (Singer,
2003, 56). Das „ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten
können muss, wird zur bloßen Illusion (Blackmore, 2005; Roth, 2003,
396).
Wieder rückt allerdings erst der Blick auf die selbstreferentielle
Struktur der neurobiologischen Forschungssituation die genannten
Befunde und deren Deutung in das richtige Licht. Man hat im Sinne der
bisherigen Ausführungen zu berücksichtigen, dass auch in der kogniti-
ven Neurobiologie von Menschen unter naturwissenschaftlichen Vor-
aussetzungen bewusste Handlungen im Labor vollzogen werden, deren
Ziel es ist, die Bedingungen von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und
Willensfreiheit zu untersuchen und zu erklären. Einerseits entsteht
damit eine bestimmte selbstreferentielle Beziehung im Sinne der
Selbstthematisierung zwischen Forscher und „Forschungsgegenstand“,
andererseits ist die methodische Haltung des Ansatzes weiter durch die
Position der Fremdthematisierung, also den Ansatz der „objektiven“
naturwissenschaftlichen Distanz bestimmt.
Die Neurobiologen sind sich dieser selbstreferentiellen Struktur
ihrer Forschungsbedingungen durchaus bewusst. Als Fallbeispiel diene
Gerhard Roth (Roth, 1997, 314–363; 2003, 395 ff.),24 der an vielen
Stellen seiner Arbeiten unter konstruktivistischen Prämissen eine Mo-
difikation von Fechners Gedankenexperiment entworfen hat. Er wid-
met sich hier den Bedingungen, die vorliegen, wenn ich (mittels meines
Gehirns) mich selbst (mein Gehirn) in der Außenperspektive betrachte.
Bei dieser „Selbstbeobachtung“ ist das Subjekt der Betrachtung („Ich“)
in der Sphäre des betrachten Objekts (das von mir beobachtete Gehirn
als „meins“) offensichtlich nicht aufzuweisen. Gleiches gilt auch für die
neurowissenschaftliche Analyse dieses (meines) Gehirns durch mich (als
Forscher). Umgekehrt setzt jedoch gerade die neurowissenschaftliche
Theorie voraus, dass das betrachtete und neurobiologisch erforschte
24 Vgl. dazu die Überlegungen und Einwände von Eidam, 2006, 282 ff.
198 Kristian Köchy
Gehirn diejenige biologische Instanz ist, die für die Existenz der Vor-
stellung, ein Subjekt zu sein, verantwortlich ist und die auch die Fä-
higkeit, Beobachtungen zu machen oder wissenschaftliche Analysen
durchzuführen ursächlich bedingt.
Roth versucht, diesem Dilemma zu entgehen, indem er eine ter-
minologische Differenzierung einführt. Er unterscheidet die Sphäre des
betrachtenden und experimentell handelnden Subjekts als „Wirklich-
keit“ von der Sphäre der natürlichen Objekte (wie Gehirne und
Neuronen) als „Realität“. In der Sphäre der Wirklichkeit sind alle
Gegenstände stets nur „für mich“ (d. h. phänomenal und ideell). Die
realen neuronalen Strukturen und Funktionen des Gehirns hingegen
bringen alles Wirkliche („mich“ und die „für mich“ existierenden
Objekte) allererst hervor. Die meine Wirklichkeit erzeugende Tätigkeit
weist Roth dem „realen Gehirn“ zu. Das reale Gehirn unterscheidet
sich nach dieser Disjunktion kategorial von allen durch das Gehirn
hervorgebrachten Phänomenen. Dieser Unterschied betrifft auch das
von mir beobachtete Gehirn (als „meins“) des obigen Gedankenexpe-
riments, das Roth als „wirkliches Gehirn“ dem „realen Gehirn“ ge-
genüber stellt. Nach dieser Überlegung ist das „reale Gehirn“ jedoch
meinem (phänomenalen) Zugang grundsätzlich enthoben, der sich
immer nur auf das beobachtete, wirkliche Gehirn beziehen kann. So
erklärt sich das obige Postulat einer „Illusion“ der Existenz des „Ich“.
Nach Roth ist das reale Gehirn Produzent der Sphäre der Wirklichkeit,
in der ein „Ich“ allein vorkommen kann. Alle dem „Ich“ zugeschrie-
benen Eigenschaften – wie Freiheit oder Autonomie – machen nach
diesem Ansatz nur innerhalb der Sphäre der Wirklichkeit Sinn. Da aber
diese Sphäre vom realen Gehirn hervorgebracht ist – also dessen Kon-
strukt darstellt –, sind auch alle Eigenschaften dieses Ichs Konstruktio-
nen, und das Ich selbst ist nicht der reale „Autor meiner Handlungen“
(Roth, 1997, 331).
Die vorgeschlagene Lösung hebt allerdings die grundlegende Dia-
lektik im Gegensatz zu Roths Hoffnung keinesfalls auf. Man bedenke
folgendes – und hier kann ich mich auf die Ausführungen von Heinz
Eidam (Eidam, 2006, 283) beziehen: Das nicht Objekt der Betrachtung
werden könnende „reale Gehirn“ ist nach Roth realer Grund der
ideellen Wirklichkeit. Es ist Konstrukteur dieser Wirklichkeit und be-
sitzt als Ursache der phänomenalen Wirklichkeit transphänomenalen
Charakter. Andererseits handelt es sich jedoch bei der Annahme der
Existenz eines realen Gehirns (durch Roth) um eine Setzung. Eine
solche Setzung kann aber nur innerhalb der Sphäre der Wirklichkeit
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 199
vorgenommen werden, und das wirkliche Gehirn wird dann zum
Konstrukteur der Annahme des ontologischen Status des realen Gehirns.
In dieser dialektischen Konsequenz wird deutlich, dass alle Mo-
dellvorstellungen und Postulate der kognitiven Neurowissenschaften –
so auch die naturwissenschaftliche Vorstellung, das neuronale Gesche-
hen des Gehirns bedinge die Entstehung der phänomenalen Wirklich-
keit des „Ichs“ und seiner Eigenschaften – eben den Status von Vor-
stellungen haben und insofern wieder in die Sphäre des „wirklichen
Gehirns“ (nach Roth) fallen.
Betrachten wir deshalb im Folgenden die Konsequenzen der
selbstreferentiellen Struktur der Forschungssituation in der kognitiven
Neurowissenschaft, indem wir sie auf die Ergebnisse und Konsequenzen
dieser neurowissenschaftlichen Forschung rückbeziehen. Dazu diene
exemplarisch die obige Behauptung, das Konzept der Willensfreiheit ba-
siere auf einer Illusion oder sei eine nachträgliche Selbstkonstruktion.
Wieder gilt es, zwei sich ergänzende Aspekte zu unterscheiden: Die
Situation auf Seiten des Forschers und seines Vorgehens und die Si-
tuation auf Seiten des „Untersuchungsgegenstandes“, d. h. des Pro-
banden, dessen Gehirn mit neurobiologischen Methoden hinsichtlich
seiner neuronalen Aktivität während einer kognitiven Verhaltensleis-
tung untersucht wird. Es gilt weiter zu berücksichtigen, dass beide
Seiten erneut in einem selbstreferentiellen Verhältnis zueinander stehen.
Für die Seite des Forschers hat Michael Heidelberger in einer über-
zeugenden Replik auf die neurobiologischen Einwände gegen die
Existenz der Willensfreiheit gezeigt, dass die experimentellen Unter-
suchungsverfahren der Neurobiologie die geleugneten Eigenschaften
des Menschen selbst wieder notwendig voraussetzen (Heidelberger,
2005). Für die Umsetzung und Auswertung eines Experiments in der
kognitiven Neurowissenschaft müssen dem Neurowissenschaftler die-
jenigen Vermögen zugeschrieben werden, die er auf der Basis seiner
Befunde glaubt leugnen zu können: die Fähigkeit, zwischen Hand-
lungsalternativen zu wählen (Wahlfreiheit), die Fähigkeit, die eigenen
Handlungen selbst zu bewirken (genuine Urheberschaft) und die Fä-
higkeit, sich als handelnde Wesen zu begreifen (reflexiv kognitive Fä-
higkeit). Ein neurowissenschaftliches Experiment, als freie Handlung
verstanden, setzt somit notwendig das Ausprobieren von alternativen
Möglichkeiten, die bewusste Kontrolle von Parametern und Störgrößen
sowie die Reflexion über die experimentelle Handlung voraus.
Für die Seite des Forschungsgegenstandes zeigen die Einsichten der
Kognitionsforscher Jack und Shallice, dass in allen Verfahren der ko-
200 Kristian Köchy
gnitiven Neurobiologie die bisher ausgeblendete Dimension der In-
trospektion – das private Erleben aus der Perspektive der ersten Person –
sowie deren Vermittlung über verbale Protokolle implizit wieder eine
entscheidende Rolle in der Forschung spielen müssen ( Jack/Shallice,
2001). Es werden Aussagen und Hinweise der Probanden über deren
inneres Erleben benötigt, damit der Experimentator überhaupt einen
Anhaltspunkt dafür bekommt, welches Phänomen er gerade mit seinem
experimentellen Instrumentarium untersucht – das Fehlen einer solchen
Möglichkeit ist das eingangs erwähnte Manko aller Fragen zur tierischen
Metakognition. Die Introspektion erfüllt nach diesem Verständnis nicht
nur Funktionen bei der Hypothesenbildung (Oeser/Seitelberger, 1995,
167), sondern sie ist vielmehr ein maßgebliches Moment bei der Hy-
pothesenpr"fung.
Nun gibt es hinsichtlich des epistemischen Status der Introspektion
und der intersubjektiven Mitteilbarkeit des Introspezierten zwei mög-
liche Positionen (Carrier/Mittelstrass, 1989, 193 ff.): Die eine geht
davon aus, dass sich subjektive oder private Erlebnisse prinzipiell eines
sprachlichen Ausdrucks entziehen. Dieses würde allerdings bedeuten,
dass sie jeglicher Form einer verallgemeinernden, intersubjektiven Er-
örterung in naturwissenschaftlicher oder philosophischer Form unzu-
gänglich wären. Lassen wir aus diesem Grund diese Überlegung beiseite.
Die andere Position hingegen geht davon aus, dass alle subjektive Be-
obachtung intersubjektiv geprägt und theoriengeladen ist. Aus dieser
zweiten Behauptung kann man – je nachdem, wie man „Theorienge-
ladenheit“ versteht – unterschiedliche Konsequenzen ziehen.
Für die Selbstdeutung des Menschen scheint vor allem eine davon
bedeutsam zu sein: Das Zugeständnis der Theoriengeladenheit von
Berichten über Introspektion bedeutet doch zunächst nur, dass die
Adäquatheit dieser Berichte von derjenigen Theorie abhängt, in deren
Rahmen sie formuliert wurden. Nimmt man zur Beförderung des Ar-
guments die Position der Neurowissenschaften ein, dann ist der ad-
äquate Rahmen dieser Theorie – also einer Theorie, die für die Pro-
banden gilt, die ihre Introspektion im Versuch verbalisieren – eine
solche, die zur Eigenbeschreibung des Selbst und zur adäquaten Erfas-
sung der Möglichkeit sozialer Kommunikation die Annahme von freien
und verantwortlichen Entscheidungen sowie das Konzept der Autor-
schaft der eigenen Handlung als konstitutiv voraussetzt (Roth, 2003,
529; Pauen, 2002, 288 ff.). Wenn dieses jedoch zutrifft, dann bedeutet
die Notwendigkeit einer innermethodischen Bezugnahme auf die in-
trospektive Evidenz der Probanden im Verfahren der kognitiven
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 201
Neurowissenschaften, dass man sich im methodischen Vollzug not-
wendig auf eine Theorie stützen muss, für die die Annahme der Freiheit
des Willens konstitutiv ist. Dabei ist diese Bezugnahme nach den
Thesen von Jack und Shallice nicht nebensächlich, sondern vielmehr
ihrerseits konstitutiv für die Bestimmung des Untersuchungsgegen-
standes. Das würde jedoch weiter bedeuten, dass die kognitiven Neu-
rowissenschaften auch auf Seite des Untersuchungsobjekts implizit die von
ihnen auf der Basis ihrer Befunde negierte Existenz von Bewusstsein,
Selbstbewusstsein oder Willensfreiheit im methodischen Vollzug aner-
kennen müssten.
Letztlich erweist sich damit die Behauptung, gegen die Existenz der
Willensfreiheit sprächen die empirischen Befunde der Naturwissen-
schaften, eher als Artefakt des naturwissenschaftlichen Ansatzes. Sie
wäre eine Konsequenz der methodischen Position der Fremdthemati-
sierung, die sich bei Einblick in die selbstreferentielle Struktur der
Forschungssituation wieder relativiert. Entscheidend für die Deutung
der Befunde der kognitiven Neurobiologie ist somit drittens, dass die
beiden Seiten des Forschers und des Forschungsgegenstandes im neu-
robiologischen Forschungsvollzug weiterhin in einer grundsätzlich dia-
lektischen Beziehung der Selbstreferenz zueinander stehen. Insbesondere
Oeser und Seitelberger haben diesen Aspekt als konstitutiv für die ge-
samte „Neuroepistemologie“ bestimmt. Das bedeutet auch, dass die
naturwissenschaftliche Hirnforschung eine prinzipielle Unvollständig-
keit aufweist, die auf der selbstreferentiellen Struktur des zu untersu-
chenden Problems basiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine rein
philosophische Erörterung der kognitiven Phänomene – ohne empiri-
sche Kenntnisse aus den Neurowissenschaften – zwar „leer“, eine rein
empirische Erörterung allerdings allein auf Basis der Naturwissen-
schaften „kommt stets zu spät“. Die vollständige Bestimmung des
mentalen Systems mit Hilfe der Neurowissenschaften würde vielmehr
„den jeweiligen Systemzustand immer wieder diskret verändern und
damit exakte Voraussagen unmöglich machen“ (Oeser/Seitelberger,
1995, 147).
5. Resümee
Der Fehler der obigen Schlussfolgerungen der kognitiven Neurobio-
logie aus ihren Befunden besteht nach dem Ausgeführten im Ver-
nachlässigen der selbstreferentiellen Bedingungen des neurowissen-
schaftlichen Forschungsvollzugs in einer bestimmten Hinsicht. Hierbei
202 Kristian Köchy
wird die reflexive Struktur in einer bestimmten Weise unterschätzt, die
etwa Kant in seiner Untersuchung der Vernunft durch die Vernunft
berücksichtigt hatte: Die Frage nach den Bedingungen und Grenzen
vernünftiger (begründeter) Erkenntnis wird nämlich nicht in ausrei-
chendem Maße gestellt. So blenden einige aktuelle Interpreten der
neurobiologischen Befundlage die methodischen Bedingungen der
Möglichkeit zur Erreichung ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
aus. Sie gehen zwar bei ihrer Untersuchung durchaus von der Annahme
einer selbstreferentiellen Struktur des Untersuchungsgegenstandes aus.
Auch übertragen sie diese Einsicht auf die Untersuchungssituation –
etwa indem sie wie Roth oder Singer ihre Theorie mit Versatzstücken
aus Autopoiesekonzept und Selbstorganisationsmodell kombinieren und
diesbezüglich eine Erkenntnistheorie befürworten, in der die Selbstre-
ferentialität eine wichtige Rolle spielt. Sie wenden diese Einsicht jedoch
nicht auf den eigenen naturwissenschaftlichen Ansatz der neurobiolo-
gischen Erforschung des Gehirns an. So werden die dem Denkmodell
von Maturana zugrunde liegenden Einsichten in die aktiv-konstruktive
Qualität unserer Weltsicht nur einseitig berücksichtigt. Es gelten etwa
bei Roth zwar die Gestaltungen unserer inneren Vorstellungswelt – das
„wirkliche Gehirn“ – als Konstruktionen des realen Gehirns; der me-
thodenrelative Charakter der naturwissenschaftlichen Welterfahrung
aber und der aus diesem Ansatz resultierenden Erklärungsansätze wird
ausgeblendet. Zwar gilt nun – in Analogie zu den Überlegungen von
Uexküll und Purkinje – das Gehirn als Erzeuger und Gestalter der
Wirklichkeit; die Konsequenzen für die damit dem Menschen (als
demjenigen Organismus, der dieses Gehirn hat) zugeschriebenen Ei-
genschaften werden allerdings nur bedingt gezogen.
Die Schlussfolgerung der kognitiven Neurobiologie, die Willens-
freiheit (oder auch das Selbstbewusstsein) erweise sich auf der Basis
naturwissenschaftlicher Befunde als Illusion oder Täuschung, muss
deshalb als Folge der Vernachlässigung der spezifischen selbstreferenti-
ellen Forschungsbedingungen einerseits sowie der methodenrelativen
Bedingungen auch der naturwissenschaftlichen Forschung andererseits
verstanden werden. Man scheint hier vor einem Aspekt zurückzu-
schrecken, den die ehemaligen Sinnesphysiologen Maturana und Varela
als typisch für ihr Leben und Erkennen umgreifendes Konzept der
Autopoiesis kennzeichnen:
Wenn wir, um das Instrument einer Analyse analysieren zu können, eben
dasselbe als Instrument benutzen müssen, so bereitet uns die dabei ent-
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 203
stehende Zirkularität ein schwindelerregendes Gefühl. (Maturana/Varela,
1991, 29 f.)
Zieht man jedoch angesichts der aufgezeigten zirkulären Bedingungen
der Erforschung von Verhalten, Sinnesleistung und Bewusstsein auf der
Basis eines naturwissenschaftlichen Ansatzes einseitig naturalistische
Konsequenzen – etwa indem man letztlich nur die raum-zeitlichen
Bewegungsvorgänge der Physik für „real“ (im Sinne Roths) anerkennt
und alle mentalen Phänomene in den Bereich illusionärer Konstruktion
(„wirklich“ im Sinne Roths) verweist –, dann ergibt sich jedoch eine
Situation, deren Ironie Alfred North Whitehead in einem Bonmot auf
den Punkt bringt:
Ich finde, Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht,
dass sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersu-
chungsgegenstand. (Whitehead, 1974, 16)
Im Fall der aktuellen Frage der Willensfreiheit hat man anzuerkennen,
dass sowohl dem Forscher für die Durchführung seines Experiments (als
Akt freien Handelns) als auch dem Erforschten für die Umsetzung der
Instruktionen des Forschers und seine verbale Auskunft über seine Er-
lebnisse, Wünsche und Motive im methodischen Vollzug der For-
schung diejenigen Eigenschaften zuerkannt werden müssen, die es nach
bestimmten Interpretationen der naturwissenschaftlichen Befunde gar
nicht gibt.
Bibliographie
Amann, Klaus (1994): Menschen, Mäuse und Fliegen. In: Zeitschrift f"r Sozio-
logie (23), 22 – 40.
Armstrong, David M. (1968): A Materialist Theory of the Mind. London:
Routledge.
Bergson, Henri (1991): L’Évolution Créatrice. In: Bergson, Henri: Œuvres.
Paris: Presses Universitaires de France, 487 – 812.
Bischof, Norbert (1970): Verstehen und Erklären in der Wissenschaft vom
Menschen. In: Lohmann, Michael (Hg.): Wohin f"hrt die Biologie? Mün-
chen: Hanser, 175 – 211.
Blackmore, Susan (2005): Die Macht der Meme. Oder die Evolution von Kultur und
Geist. Heidelberg: Elsevier.
Böhme, Hartmut (1989): Giordano Bruno. In: Böhme, Gernot (Hg.): Klassiker
der Naturphilosophie. München: C.H. Beck, 158 – 170.
Breidbach, Olaf (2005): Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaft-
lichen Wahrnehmung. München: Fink.
Campenhausen, Christoph von (1981): Die Sinne des Menschen. Band 1: Ein-
f"hrung in die Psychophysik der Wahrnehmung. Stuttgart/New York: Thieme.
204 Kristian Köchy
Carrier, Martin/Mittelstrass, Jürgen (1989): Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-
Seele-Problem und die Philosophie der Psychologie. Berlin/New York: de
Gruyter.
Cheney, Dorothy/Seyfarth, Robert M. (1990): How Monkeys See the World:
Inside the Mind of another Species. Chicago: University of Chicago Press.
Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der
Rationalit!t. Frankfurt am Main: Fischer.
Delius, Juan D. (1990): Komplexe Wahrnehmungsleistungen bei Tauben. In:
Singer, Wolf (Hg.): Gehirn und Kognition. Heidelberg/Berlin: Spektrum,
106 ff.
Dretske, Fred (1995): Naturalizing the Mind. Cambridge, Massachusetts: MIT
Press.
Du Bois-Reymond, Emil (1961): #ber die Grenzen der Naturerkenntnis. Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Eidam, Heinz (2006): Kausalität aus Freiheit. Zur Frage der Willensfreiheit bei
Kant und Hegel. In: Köchy, Kristian/Stederoth, Dirk (Hg.): Willensfreiheit
als interdisziplin!res Problem. Freiburg/München: Alber, 259 – 288.
Fechner, Gustav Theodor (1901): Zend-Avesta oder "ber die Dinge des Himmels
und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung. Hamburg/Leipzig:
Leopold Voß.
Fischer, Hans R. (1993): Murphys Geist oder die glücklich abhanden ge-
kommene Welt. Zur Einführung in die Theorie der autopoietischen Sys-
teme. In: Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der
Kritik. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 9 – 40.
Fleck, Ludwik (1983): Über die wissenschaftliche Beobachtung und die
Wahrnehmung im allgemeinen. In: Fleck, Ludwik (Hg.): Erfahrung und
Tatsache. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 59 – 83.
Fox Keller, Evelyn (1995): Barbara McClintock. Die Entdeckerin der springenden
Gene. Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser.
Fraenkel, Gottfried S./Gunn, Donald L. (1940): The Orientation of Animals.
Oxford: Clarendon.
Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualit!t. Stutt-
gart: Reclam.
Geus, Armin (2000): Zoologische Disziplinen. In: Jahn, Ilse (Hg.): Geschichte
der Biologie. Heidelberg/Berlin: Spektrum, 324 – 355.
Grene, Majore/Depew, David (2004): The Philosophy of Biology. An Episodic
History. Cambridge: Cambridge University Press.
Hassenstein, Bernhard (2001): Jakob von Uexküll. In: Jahn, Ilse/Schmitt,
Michael (Hg.): Darwin & Co. Bd. 2. München: C.H. Beck, 344 – 364.
Heidelberger, Michael (2005): Freiheit und Wissenschaft. Metaphysische Zu-
mutungen von Verächtern der Willensfreiheit. In: Engels, Eve-Marie/
Hildt, Elisabeth (Hg.): Neurowissenschaften und Menschenbild. Paderborn:
Mentis, 195 – 220.
Jack, Anthony I./Shallice, Tim (2001): Introspective Physicalism as an Ap-
proach to the Science of Consciousness. In: Cognition (79), 161 – 196.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 205
Jahn, Ilse/Sucker, Ulrich (2000): Die Herausbildung der Verhaltensbiologie.
In: Jahn, Ilse (Hg.): Geschichte der Biologie. Heidelberg/Berlin: Spektrum,
580 – 600.
Jonas, Hans (1973): Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänome-
nologie der Sinne. In: Jonas, Hans (Hg.): Organismus und Freiheit. Ans!tze
zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Sammlung Vandenhoeck, 198 –
225.
Kandel, Eric R. (1976): Cellular Basis of Behaviour. An Introduction to Behavioural
Neurobiology. San Francisco: W.H. Freemann.
Kandel, Eric R./Schwartz, James H./Jessell, Thomas M. (1996): Neurowissen-
schaften. Heidelberg/Berlin: Spektrum.
Knorr Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher
Wissensformen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Köchy, Kristian (2006a): Lebewesen im Labor. Das Experiment in der Biologie.
In: Philosophia naturalis. Schwerpunktthema: Natur im Labor. (43), 77 – 113.
Köchy, Kristian (2006b): Was ist der Mensch? Zu den möglichen Konse-
quenzen der NBIC-Technologien. In: Politische Bildung (2006), 63 – 87.
Köchy, Kristian (2006c): Was kann die Neurobiologie nicht wissen? Bemer-
kungen zum Rahmen eines Forschungsprogramms. In: Köchy, Kristian/
Stederoth, Dirk (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplin!res Problem. Freiburg/
München: Alber, 145 – 164.
Küppers, Günter/Krohn, Wolfgang (1992): Selbstorganisation. Zum Stand
einer Theorie in den Wissenschaften. In: Küppers, Günter/Krohn,
Wolfgang (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und
Bedeutung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7 – 26.
Lorenz, Konrad (1992): Die Naturwissenschaft vom Menschen. München/Zürich:
Piper.
Maturana, Humberto R. (1998): Biologie der Realit!t. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (1991): Der Baum der Erkenntnis.
Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern/München:
Goldmann Verlag.
Mocek, Reinhard (1990): Selbstreferentialität. In: Sandkühler, Hans J. (Hg.):
Europ!ische Enzyklop!die zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 4. Hamburg:
Meiner, 254 – 255.
Müller-Tamm, Jutta (2001): Die Empirie des Subjektiven bei Jan Evangelista
Purkinje. In: Dürbeck, Gabriele/Gockel, Bettina/Keller, Susanne B. (Hg.):
Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Dresden: Verlag der
Kunst, 153 – 164.
Nagel, Thomas (1981): Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Bieri, Peter
(Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königstein: Anton Hain, 261 –
275.
Oeser, Erhard/Seitelberger, Franz (1995): Gehirn, Bewusstsein und Erkenntnis.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Pauen, Michael (2002): Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Frankfurt am
Main: Fischer.
206 Kristian Köchy
Perler, Dominik/Wild, Markus (Hg.) (2005): Der Geist der Tiere. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Purkinje, Jan Evangelista (1951): Rezension von Johannes Müller ,Zur ver-
gleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere‘
und Johannes Müller ,Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen‘.
In: Purkinje, Jan E. (Hg.): Opera omnia in 12 B!nden. Bd. 5. Prag: Aca-
demia, 27 – 54.
Riedel, Rupert (1980): Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen
Grundlagen der Vernunft. Berlin/Hamburg: Paul Parey.
Riegas, Volker (1990): Das Nervensystem. Offenes oder geschlossenes System?
In: Riegas, Volker (Hg.): Zur Biologie der Kognition. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 99 – 115.
Roth, Gerhard (1986): Selbstorganisation – Selbsterhaltung – Selbstreferen-
tialität. In: Dress, Andreas/Hendrichs, Hubert/Küppers, Günter (Hg.):
Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft.
München/Zürich: Piper, 149 – 180.
Roth, Gerhard (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie
und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard (2003): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard/Menzel, Randolf (1996): Neuronale Grundlagen kognitiver
Leistungen. In: Dudel, Josef/Menzel, Randolf/Schmidt, Robert F. (Hg.):
Neurowissenschaften. Vom Molek"l zur Kognition. Berlin/Heidelberg/New
York: Springer, 539 – 559.
Rothschuh, Karl E. (1968): Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und
Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert. Freiburg/München: Alber.
Sachsse, Hans (1968): Die Erkenntnis des Lebendigen. Braunschweig/Wiesbaden:
Vieweg.
Scheler, Max (1998): Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn: Bouvier.
Schickore, Jutta (2001): Eröffnung der Augen. Auge und Sehen in der mi-
kroskopischen Anatomie. In: Dürbeck, Gabriele/Gockel, Bettina/Keller,
Susanne B. (Hg.): Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Dres-
den: Verlag der Kunst, 165 – 177.
Schlick, Moritz (1926): Erleben, Erkennen, Metaphysik. In: Kant-Studien (31),
146 – 158.
Schnalke, Thomas (2001): Vom Modell zur Moulage. Der neue Blick auf den
menschlichen Körper am Beispiel des medizinischen Wachsbildes. In:
Dürbeck, Gabriele/Gockel, Bettina/Keller, Susanne B. (Hg.): Wahrneh-
mung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Dresden: Verlag der Kunst, 55 –
69.
Shoemaker, Sidney (1981): Selbstreferenz und Selbstbewusstsein. In: Bieri,
Peter (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königstein: Anton Hain,
209 – 221.
Singer, Wolf (1991): Die Entwicklung kognitiver Strukturen. Ein selbstrefe-
rentieller Lernprozess. In: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Ged!chtnis. Probleme
und Perspektiven der interdisziplin!ren Ged!chtnisforschung. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 96 – 126.
Selbstreferentialität – Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem 207
Singer, Wolf (2003): Ein neues Menschenbild? Gespr!che "ber Hirnforschung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Uexküll, Jakob von (1973): Theoretische Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Uexküll, Jakob von/Kriszat, Georg (1973): Streifz"ge durch die Umwelten von
Tieren und Menschen. Frankfurt am Main: Fischer.
Wegner, Daniel M. (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massa-
chusetts: MIT Press.
Wellek, Albert (1955): Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. Bern: Francke
Verlag.
Whitehead, Alfred N. (1974): Die Funktion der Vernunft. Stuttgart: Reclam.
Wuketits, Franz M. (1973): Biologische Erkenntnis. Grundlagen und Probleme.
Stuttgart: UTB.
Ziche, Paul (1999): Einleitung. In: Ziche, Paul (Hg.): Introspektion. Texte zur
Selbstwahrnehmung des Ichs. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 1 – 43.
Zum Verhältnis von Evolution und
Naturgeschichtsschreibung
MATHIAS GUTMANN
1. Vorbemerkung
Das Problem, welches hier erörtert werden soll, lässt sich zunächst auf
die Frage reduzieren, ob „Freiheit“ überhaupt ein Gegenstand natur-
historischer Betrachtung sein kann. Zur systematischen Behandlung
dieser Frage ist eine kurze Vorverständigung zur Verwendung des
Ausdrucks „Naturgeschichte“ notwendig. Wir werden danach auf die
Frage zurückzukommen haben, ob – und wenn ja in welcher Form –
auf Freiheit (zumindest als Handlungsfreiheit) nicht schon außerhalb des
naturhistorischen Kontextes Bezug genommen werden muss, um Na-
turgeschichte selbst zu ermöglichen. In diesem Fall, wenn wir also
geltungsmäßig einen notwendigen Selbstbezug des Menschen, der
Naturgeschichte als Gegenstand betreibt, ausmachen könnten, wären
apriorische Aspekte jeder Naturgeschichtsschreibung anzunehmen, die,
ganz unabhängig von einer Einbeziehung des Menschen als Gegenstand
naturhistorischer Beschreibungen, außerhalb derselben verblieben. Der
Ausdruck „Mensch“ fungierte dann in einem zweifachen Sinne:
1. Er bezeichnet zum einen das Gattungswesen Homo sapiens zu dem
der Einzelne in einer reinen Type-token-Relation steht.
2. Zugleich zeigt der Ausdruck „Mensch“ die Besonderung eines
Allgemeinen an.
Im ersten Fall ist es vermutlich unstrittig anzunehmen, dass Evo-
lutions- wie Entwicklungsbiologie einschlägige Beschreibungen für die
Transformation sowohl zu Homo sapiens als auch von Homo sapiens
liefern. Der zweite Fall liegt insofern anders, als er zum einen den ersten
nicht ausschließen, zum anderen aber dieser nicht wieder seinerseits auf
jenen gegründet werden darf. Wenn wir nun annehmen, dass „Freiheit“
zum Explanandum im ersten Sprachspiel werden soll, dann lässt sich,
mit Blick auf unsere Unterscheidung, auf zwei Weisen argumentieren:
210 Mathias Gutmann
1. Mit Kambartel (Kambartel, 1989) könnten wir den Anspruch der
Einschlägigkeit evolutionsbiologischer Beschreibungen für das Frei-
heitsproblem generell zurückweisen und uns dabei auf den Stand-
punkt zurückziehen, dass der Übergang von einer semantisch rei-
cheren zu einer ärmeren Beschreibung nur unter Aufgabe der Be-
gründungsansprüche möglich sei, die im ersten Sprachspiel angezielt
werden; evolutionstheoretische Beschreibungen der „Freiheit des
Menschen“ (hier notwendig als Gattungswesen) wären dann nur
„Narrationen“ zur Freiheit des Menschen (als sich entwickelnden
Wesens).
2. Wir könnten darauf verweisen, dass zur Anfertigung der evoluti-
onstheoretischen Ableitung oder Erklärung die Beschreibung des
Explanandums schon geleistet sein muss, bevor die Explanata bereit-
gestellt werden kçnnen. In diesem Fall verfügten wir also außerhalb
einer evolutionsbiologischen Beschreibung schon über einen Begriff
„Freiheit“, der in dieser nicht aufginge; wollten wir die Freiheit nun
nochmals mit Rückgriff auf eine evolutionäre Begründung ableiten
dann läge ein methodischer Zirkel vor.
Während die erste Argumentation nur eine Reduktion des zweiten
auf das erste Sprachspiel abwehrt, geht die zweite einen Schritt weiter,
indem sie die Geltung evolutionstheoretischer Aussagen ihrerseits zu-
rückbindet an eine Konzeptualisierung des Menschen als Gattungswesen
innerhalb seiner Beschreibung als eines sich entwickelnden Wesens.
Evolutions- und entwicklungsbiologische Beschreibungen wären also
nur eine Sorte von Konzeptualisierungen des Menschen als Gattungs-
wesen, denen vorgelagert die Rede von Freiheit schon entfaltet sein muss.
Wir wollen im Folgenden den zweiten Weg beschreiten und dabei
in drei Schritten verfahren:
1. Zunächst müssen wir uns Sicherheit über die Verwendung der
Ausdrücke „Naturgeschichte“ und „Evolutionstheorie“ verschaffen.
Es wird zu zeigen sein, dass mit dem historischen Übergang von
ersterer in die letztere auch ein systematischer Bruch verbunden war,
der den Bezug auf menschliche Handlungen und insofern auf
menschliche Handlungsfreiheit mit sich brachte.
2. In einem zweiten Schritt wollen wir die Ausdrücke „Natur“ und
„Geschichte“ soweit rekonstruieren, dass deutlich wird, inwiefern
hier gerade kein Bezug auf evolutionstheoretische Investitionen nötig
ist.
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 211
3. Schließlich soll ein Anfang der Rede vom Menschen als geschichtli-
chem Wesen angezeigt werden, ohne dass auf evolutionstheoretische
Beschreibungen überhaupt Bezug zu nehmen ist.
2. Transformation von Naturgeschichtsschreibung
in Evolutionstheorie
Der Ausdruck „Naturgeschichte“ wird äußerst umfassend verwendet,
wobei „Geschichte“ keinesfalls mit Transformationsvorgängen gleich
welcher Art identifiziert werden darf (istoria gilt hier einfach als Be-
richt). Plinius etwa gibt eine – nach heutigem Verständnis – systema-
tisch wenig zusammenhängende Schau alles dessen, was Gegenstand
„der“ Naturgeschichte und damit in sehr weitem Sinn eben auch Na-
turgeschichtsschreibung sein kann. Diese gegenständliche Heterogenität
ändert sich bis in das 19. Jahrhundert hinein kaum, wobei allerdings
spätestens mit der innerhalb der Geistphilosophie als Kontrapost zur
Geistphilosophie auftretenden Naturphilosophie der Versuch systema-
tischer und begrifflicher Konstruktion zu erkennen ist. Ganz unab-
hängig von der Frage, welche Gegenst!nde überhaupt im Rahmen von
Naturgeschichte beschrieben wurden, oder wie die Ordnungen dieser
Gegenstände selber gerechtfertigt werden können, handelt es sich hier
jedoch stets um Beschreibungen. Wenn wir nun den Übergang zu an-
fänglichen begrifflichen Bestimmungen von Naturgeschichte versu-
chen, dann kann der Ausgangspunkt also nur in der Beantwortung der
Frage gefunden werden, zu welchen Zwecken und mit welchen Mitteln
Gegenstände als Gegenstände der Naturgeschichte beschrieben werden.
Da auch dies eine rein doxographische Deutung erlaubt, wollen wir
einen Übergang auszeichnen, der es uns erlaubt, eine systematische
Begründung des Wandels selber anzuzeigen. Dieser Übergang wird die
– üblicherweise als Beginn der wissenschaftlichen Evolutionsbiologe
(mitunter sogar der Biologie im Ganzen) angesehene – Verselbständi-
gung der Evolutionstheorie als eigenständiger Theorieform innerhalb
der Naturgeschichtsschreibung sein.
Um die Spezifik dieses Bruches zu erfassen, ist es hilfreich, sich
Grundzüge der Begründungsstruktur des Darwinschen Argumentes zu
vergegenwärtigen, das sich – wie zu zeigen sein wird – aus systematisch
wohl bestimmten Gründen, als Anfang moderner Evolutionstheorie
ansehen lässt.
212 Mathias Gutmann
2.1 Die Züchtung als Modell
Für eine methodische Rekonstruktion der Darwinschen Theorie muss
ein expliziter Sprachebenenwechsel vollzogen werden, der es auf der
einen Seite gestattet, das aus der Züchtung gewonnene Know-how im
engeren Sinne konstitutiv zu nutzen;1 auf der anderen Seite sollen aber
eben jene Schwierigkeiten umgangen werden, die sich im Vollzug der
Mayrschen Rekonstruktion an der Behauptung einiger, methodologisch
prekärer Äquivalenzen zeigen (vgl. Mayr, 1984; 1994). Die Struktur der
genannten Äquivalenzen ist die einer Isomorphiebehauptung zwischen
dem zu erkundenden Prozess (hier: der Evolution) und einem weiteren,
der insofern er bekannt ist, als Explanans des ersteren gelten soll. Der
zweitgenannte entspricht im hier vorliegenden Fall der Züchtung. Folgt
man üblichen Darstellungen, dann hätte Darwin in der Konstruktion
grundlegender Komponenten seiner Theorie von ebensolchen Iso-
morphiebehauptungen Gebrauch gemacht:
1. Es muss eine strikte Isomorphie zwischen solchen Wissensbeständen
behauptet werden, die sich gar nicht auf Lebewesen im biologischen
Sinne beziehen, sondern z. B. auf menschliche Gesellschaften,2 und
Aussagen, die explizit Beschreibungen natürlicher Gegenstände oder
deren Zustände betreffen (wie eben die Evolution). Dies mag ex-
emplarisch am Übergang von künstlicher zu natürlicher Auswahl
deutlich werden. Soll der genannte Übergang gelingen, so müssten
die der oben postulierten Isomorphie entsprechenden Äquivalenzen
in der Natur ausgemacht werden, was damit das eigentliche Be-
gründungsproblem nur um eine Stufe verschöbe. Soll der Übergang
umgekehrt verlaufen, dann allerdings wäre nicht einzusehen, warum
man überhaupt über künstliche Selektion reden muss, und nicht
1 Dazu Gutmann, 1996; Janich, 1997; Gutmann/Janich, 1998.
2 Dies ist insofern ein ernst zunehmendes Problem, als ein Schluss von solchen
Wissensbeständen auf Gegenstände der natürlichen Evolution (dann oft ent-
sprechend Populationen genannt, ein Begriff, der seine Herkunft aus der Be-
schreibung menschlicher Gemeinschaften nur zu offensichtlich kundgibt) dann
Geltung beanspruchen kann, wenn man diese menschlichen Gemeinschaften
selber als biologische Gegenstände bezeichnet. Das methodologische Ungenügen
solcher Naturalisierungen ist hinlänglich bekannt; eine Grundlegung natur-
wissenschaftlicher Theorien auf dieser Basis schließt sich damit schon deshalb
aus, weil die genannten Theorien oder Teile derselben schon je in die erste
Beschreibung zu investieren wären.
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 213
direkt bei natürlicher einsetzte. Die Rede über natürliche Selektion
bliebe damit aber weiterhin begründungsbedürftig.
2. Durch die unzureichende Trennung von Züchtung auf der einen
und dem Explanandum Evolution auf der anderen Seite, müsste
Evolution als eine sukzessive Steigerung in Wirkung und Folge eben
jener Vorgänge bestimmt werden, die unter dem Titel Züchtung
zusammengefasst sind. In diesem Falle aber träfen die Beobachtungen
zu Grenzen der künstlichen Züchtung (immerhin nur empirischer
Geltung) ganz unmittelbar auch diese Rekonstruktion der Evoluti-
on; das heißt, dass die Beobachtung von Malthus, die Unmöglich-
keit der beliebigen Veränderung von Lebewesen durch Züchtung,
als Argument gegen eine Evolutionstheorie verwendet werden
könnte, die Züchtung konstitutiv für die Grundlegung der Rede
über Evolution verwendet.
Eine Alternative tut sich auf, wenn Züchtungs-Know-how zum Aus-
gangspunkt der Gegenstandskonstitution der Biologie und darüber
hinaus auch der Evolutionsbiologie genommen wird. Diesem Ansatz
gemäß liegt ein Wissen über die Bedingung der Möglichkeit von
Evolution in der Verfügung über generative Praxen. Der Sprachebe-
nenwechsel vollzieht sich dann dergestalt, dass etwa zunächst von sol-
chen aus der Züchtung wohlbekannten Gegenständen wie den Züch-
tungsgruppen und -kollektiven, deren zweckgeleiteter Zusammenstel-
lung und verfahrensorientierter Veränderung gesprochen wird. In
einem zweiten Schritt kann nun die Rede von Populationen, deren
Merkmalen oder generativen Eigenschaften eingeführt werden. Hierbei
wird explizites Züchtungswissen zum Zwecke der Einführung einer
Normsprache verwendet und damit der Übergang von der Rede über
lebensweltlich vertraute biotische (eben Lebewesen, Pflanzen, Tiere,
Kreuzung etc.) zu konstituierten biologischen Gegenständen vollzogen.
Diese Verwendung der Züchtung soll hier im Weiteren als die Ver-
wendung expliziten Handlungswissens, als ein „Modell für“ die Ein-
führung standardisierter Normsprachen bezeichnet werden. Im Ge-
gensatz zu der von Mayr bei Darwin unterstellten Verwendung von
Züchtung im Sinne eines „Modells von“ Evolution3 sind die Ad-
äquatheitskriterien hier prinzipiell different:
1. Im Falle der Verwendung als eines „Modells von“ ist eine wie auch
immer geartete Isomorphie zwischen Modelatum und Modell in
3 Dies drückt sich in der Rede von der Züchteranalogie aus.
214 Mathias Gutmann
ihrer Adäquatheit an Kriterien zu überprüfen, die nicht ihrerseits
unter Rückgriff auf eines der beiden eingeführt wurden. Geschieht
dies dennoch, droht ein Zirkel oder ein Regress; wird z. B. die
Evolution selbst als Referent angenommen, um geeignete von un-
geeigneten Modellen zu unterschieden, so muss das Wissen um
Evolution aus anderen als den durch das Modell bereitgestellten
Quellen stammen, womit sich die Frage nach dem Sinn der jewei-
ligen Modellierung stellt.
2. Im Falle der hier vorgeschlagenen Verwendung der Züchtung als
Modell f"r die Konstitution evolutionsbiologischer Gegenstände,
bildet das Handlungswissen selber das tertium comparationis. Evo-
lution ist mithin ein von dem Züchtungswissen abhängiger wissen-
schaftlicher Gegenstand.
Diese unter 2. dargestellte Alternative ist allerdings in mehrfacher
Hinsicht radikal, denn es geht nun Evolution als ein Naturgegenstand
verloren; durch die starke Bindung an Züchtung wird jede konstruktive
Reflexion über Evolution zu einer abgeleiteten Reflexion menschlicher
Handlungsformen. Zugleich, und dies dürfte für den hier verhandelten
Gegenstand von größtem Interesse sein, erhält die biologiehistorische
Rekonstruktion ein externes, außerhalb der rein historischen Betrach-
tung liegendes Gelingenskriterium.
2.2 Der Ansatz der Rekonstruktion der Darwinschen Evolutionstheorie
Fragt man im Lichte unserer Überlegungen nach der Begründung des
Terminus „natürliche Zuchtwahl“, dann muss jedem Leser eigentlich
sofort ins Auge fallen, dass Darwin diesen Terminus weder als induktive
Verallgemeinerung von natürlicherweise vorfindlichen Sachverhalten
und Tatsachen noch als keiner Begründung bedürftig, weil nämlich
selbstevident, vorstellt. Vielmehr beginnt er seine Argumentation in
„Die Entstehung der Arten…“ mit einer Rekonstruktion des
menschlichen Züchtens. Und erst nachdem er die menschliche Züch-
tungspraxis analysiert hat und als Resultat seiner Analyse einen Begriff
von „künstlicher Zuchtwahl“ vorweisen kann, führt er den für seine
evolutionstheoretischen Überlegungen grundlegenden Begriff der
„natürlichen Zuchtwahl“ ein. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht muss
daher die Vermutung plausibel sein, dass über den Begriff „natürliche
Zuchtwahl“ nicht unabhängig von der Rede über „künstliche Zucht-
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 215
wahl“ verfügt werden kann, dass vielmehr in der rekonstruierenden
Analyse der menschlichen Züchtungspraxis die Begründung des Ter-
minus natürliche Züchtungspraxis gesucht werden muss.
Damit soll Darwin nicht unterschoben werden, er hätte schon mit
(faktisch) erst heute zur Verfügung stehenden wissenschaftstheoreti-
schen Mitteln argumentiert;4 der „linguistic turn“ in der Philosophie hat
ja bekanntlich erst lange nach Darwins Tod eingesetzt. Wir können aber
durchaus seine Theorie heute so rekonstruieren und damit überprüfen,
ob die von Darwin vorgetragenen Gründe für seine Theorie auch uns
noch als Gründe überzeugen; oder aber ob wir sie ihm und seiner Zeit
als Gründe zwar zugestehen können, ohne sie auch für uns als solche
noch zu akzeptieren.
3. Die Transformation der Beschreibungsmittel
Wir können nun eine These hinsichtlich des Bruches wagen, der die
Transformation der Naturgeschichtsschreibung in evolutionstheoretische
Beschreibungen der Veränderung reproduktiver Einheiten charakteri-
siert. Er besteht weder in einem signifikanten Wechsel der Gegenstände
(nicht selten sind die von Darwin „okkupierten“ Beispiele für sein
Modell der natürlichen Zuchtwahl, der Adaptation etc. gerade den
Naturbeschreibungen seiner Opponenten – etwa den Physikotheologen
– entlehnt), noch in einer grundlegenden Neuentdeckung empirischer
„Indizien“, aus denen die Struktur einer Evolutionstheorie irgendwie
abzuleiten gewesen wäre. Die eigentliche Veränderung dürfte vielmehr
die Durchbrechung eines letztlich noch aristotelischen Naturkonzeptes
sein, das seinen großen Vorzug in einer mehr oder minder klaren
Differenzierungsmöglichkeit zwischen „vom Menschen Bewirkten“
und „nicht vom Menschen Bewirkten“ hatte. Während etwa für die
Physik schon lange der zumindest indirekte Bezug auf experimentelles
(und damit menschliches) Handeln konstitutiv war, galt dies für die sich
im Verlaufe des Jahrhunderts erst konstituierende Biologie nur mit Blick
auf einige der Teildisziplinen (vgl. Jahn, 1982). Insbesondere die Evo-
lutionsbiologie erschien als ein vom experimentellen Standard prinzi-
4 Im Gegenteil finden sich bei Darwin immer wieder deutliche Versuche einer
Naturalisierung der eigenen Beschreibungsmittel (dazu Gutmann/Weingarten,
1999).
216 Mathias Gutmann
piell unerreichbares Refugium mehr oder minder stark analogisierender
Spekulation.
Wenn auch der Bezug auf standardisiertes menschliches Handeln bei
Darwin – wie oben angedeutet – heutigen Ansprüchen kaum mehr
genügen wird,5 so ist es gerade die Strukturierung dessen, was, mit
Bezug auf menschliches Handeln, als natürlicher Verlauf beschrieben
werden soll, was den entscheidenden Unterschied zur klassischen Na-
turgeschichtsschreibung erzeugt. Das, was unter methodologischem
Gesichtspunkt ausdrücklich Quelle des Wissens war, „die“ Natur, wird
nun zum Gegenstand menschlicher Tätigkeit, dessen Strukturierung im
Lichte menschlicher Herstellung oder Manipulation überhaupt erst
gelingt. Damit wird eine „erste“ innerhalb der „zweiten Natur“ erzeugt,
die weniger Skopus wissenschaftlicher Beschreibung, Erklärung oder
Manipulation, als vielmehr das Medium ist, innerhalb dessen und durch
das sich wissenschaftliches Handeln (als naturwissenschaftliches) über-
haupt artikuliert und hervorbringt. Wissenschaft selber wird zur
„symbolischen Form“ menschlicher Tätigkeit.
Wir kehren nun zu der Frage zurück, welche Bedeutung unsere
(notwendig exemplarisch bleibende) Rekonstruktion der Transforma-
tion von Naturgeschichtsschreibung in Evolutionstheorie für die Rede von
„menschlicher Natur“ haben kann, wenn wir das Augenmerk auf den
Bezug auf menschliches Handeln richten.
4. Innere und äußere Natur als Verhältnisse
Will man einer rein doxographischen und daher wesentlich arbiträren
Aufführung der Referenten des Ausdruckes „Natur“ enthoben sein, so
bleibt der Bezug auf ein systematisch-begriffliches Zentrum. Um ein
solches zu gewinnen, kann unter diesem Ausdruck zunächst der Ge-
genstandsbereich moderner empirischer Wissenschaften verstanden
werden. Diese sind – im Gegensatz zu Erfahrungswissenschaften im
weiteren Sinne – durch eine (direkte oder indirekte) experimentelle
Stützung charakterisiert. Ihr Wissenserwerb ist also wesentlich auf
5 Man sehe sich nur den erheblichen Aufwand an, der innerhalb der Populati-
onsgenetik betreiben werden musste, um zu belastbaren Modellierungen „na-
türlicher Populationen“ zu gelangen; für Meerschweinchen etwa Wright, bei
Drosophila etwa bei Muller oder Dobzhansky etc. Dazu weiterführend Pro-
vine, 1986.
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 217
Zweck-Mittel-Verknüpfungen bezogen. Das „Beherrschen von etwas“
drückt dabei nicht nur direkt die Art und Weise des Gegenstandsum-
ganges aus, es bezeichnet vielmehr zugleich auch die Erwartungen, die
an die Ausf"hrenden dieser Handhabungen gerichtet sind. Denn expe-
rimentelle Strukturierung von Gegenständen läuft nicht nur – zumin-
dest regulativ6 – auf die Möglichkeit hinaus, dasjenige, was als ver-
standen behauptet wurde, in seinen ( je relevanten) Eigenschaften re-
produzierbar manipulieren zu können. Es ist vielmehr die beständige
Entwicklung der experimentellen Handlungsform selber, um die es hier
geht. Der Ausdruck „Natur“ erhielte in diesem Sinne den Index der
Zeit, denn, was als Natur angesprochen würde, wäre nur mit Blick auf
die jeweils geltenden wissenschaftlichen Beschreibungen auszumachen.
Doch so selbstverständlich dieser Bezug auf Wissenschaften wie Physik,
Chemie oder Biologie auch sein mag, es handelte sich um eine zwei-
fache Verkürzung:
1. Zum einen nämlich ist auch in anderen Erfahrungswissenschaften
„Natur“ Gegenstand der jeweiligen wissenschaftlich-methodischen
Betrachtung.
2. Zum zweiten ist der einfache Verweis auf „Wissenschaftsgeschichte“
insofern mit Vorsicht zu verwenden, als es sich dabei ja schon um
6 Möglicherweise speist sich ein guter Teil der kritischen Betrachtung insbe-
sondere der modernen Produktionsgenetik genau aus der Verwechslung der
regulativen mit der konstitutiven Perspektive. Janich und Weingarten ( Janich/
Weingarten, 2002) haben also zum einen unbestreitbar recht, wenn sie auf die
faktische Differenz von vorgesetzter Behauptung des eigenen Könnens der
Genetik zum einen und der tatsächlichen Lage zum anderen verweisen. Die
Begründung erfolgt unter Identifikation der letztlich immer noch maschinen-
analoger Anschauung entstammender ingenieurstechnischer Leitmetaphorik. Es
lässt sich aber gerade diese Leitmetapher auch regulativ verstehen. Danach
bliebe etwa dem Entwicklungsgenetiker gar nichts anderes übrig, als den Erfolg
seiner Manipulationsleistung anzustreben und im Versagensfalle dennoch an
eben dieser Unterstellung festzuhalten. Anders formuliert: wenn es eben erst
das „Immer-wieder-erzeugen-Können“ z. B. bestimmter phänotypischer Ef-
fekte durch gezielte (wie ungenau im Einzelnen auch immer) genetische
Eingriffe ist, das es erlaubte zu sagen, dass man nun verstanden habe, wie diese
oder jene Eigenschaft, Leistung oder Fähigkeit eines Lebewesens zustande
komme, dann liegt im faktischen Verfehlen kein Argument, das Ziel selber
aufzugeben. Janich und Weingarten entgehen dem Gegenargument, es handele
sich eben nur um ein „Noch-nicht-erreichen-Können“ mit dem Verweis auf
die besonderen Materialeigenschaften, mit denen der Genetiker umgeht; zu-
gleich scheint mir die Dialektik der Unverfügbarkeit hier überhaupt erst zu
beginnen.
218 Mathias Gutmann
Resultate eigenständiger „bewährungsgeschichtlicher“ Vorgänge
handelt, die mögliche innerwissenschaftliche Alternativen notwen-
dig ausblenden.
Sieht man von beiden Problemfeldern ab, so kann immerhin der Ver-
weis auf die Form der Ansprache von etwas als Natur eine Invariante der
Betrachtung freilegen helfen, der gemäß eine bestimmte Art und Weise
des „Sich-zu-etwas-Verhaltens“ als Referent dieses Ausdruckes be-
zeichnet werden kann. Dieser Überlegung gemäß wäre etwas –
gleichsam schon vor jeder Beschreibung – nicht einfach Natur; es
würde vielmehr als solche innerhalb menschlichen Tun und Handelns
erst bestimmt. Experimentelles wie allgemein erfahrungswissenschaftli-
ches Handeln wäre so zu rekonstruieren, dass – allen Unterschieden im
Einzelnen zum Trotz – die Form dieser Tätigkeit das einheitsstiftende
Moment abgäbe.
Die systematisch-begriffliche Entwicklung der Rede von Natur lässt
also gerade jene Grundstruktur zutage treten, die im Rahmen einer
erkenntnistheoretischen Rekonstruktion von Wissensverhältnissen in-
vestiert wird, und sowohl das Wissen von etwas (als einem gegenst!nd-
lichen „Wissen von“) als auch das Wissen um sich als Wissenden je schon
voraussetzt. Diese Doppelläufigkeit lässt sich begrifflich in das Aus-
druckspaar „Leib-Körper“ übersetzen; das Paar verdoppelt sich dabei,
da der Bezug auf T!tigkeiten als Explikationshintergrund für das je in-
dividuelle Tun hergestellt werden muss. In Bezug auf individuelles Tun
unterscheidet sich zun!chst der T!tige vom Gegenstand seines Tuns.
Betrachten wir den Tätigen als Ausgang der Eingriffe und Manipula-
tionen von Gegenständen, so erscheinen Gegenstände überhaupt nur in
Hinsicht auf das Tun selber. Das also, was als Gegenstand anzusprechen
ist, kann nicht als tätigkeitsinvariantes Ding einfach vorfindlich gedacht
werden, sondern ist überhaupt nur, insofern es in Bezug zu einer Tä-
tigkeit steht. Wir können dies mit Cassirer als Nutzenform eines Ge-
genstandes (insofern er ein Gegenstand ist) beschreiben (Cassirer,
1985,64).
Hinsichtlich dessen, was getan wird, erscheint der Tätige nun als
„Einlageort“ seines Tuns. Er ist gleichsam das nicht in den Blick ge-
ratende Zentrum, von dem her sich sein Tun einstellt. Gehen wir
grammatisch zur adjektivischen resp. adverbialen Form über, so be-
zeichnen wir diese Funktion des Tätigen innerhalb des individuellen
Tuns als leibliches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist unmittelbar-mittelbar
insofern der Leib innerhalb von Tätigkeiten, dort aber – für das Indi-
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 219
viduum – als Leib außerhalb des Tätigkeitsverhältnisses fungiert. Der
Ausdruck „Leib“ wird über solche leiblichen Verhältnisse, als „gegen-
standsgleiche“ aber funktionsverschiedene Konstruktion, aus der Sicht
des tuenden und Tätigkeiten vollziehenden Individuums gebildet. Für
das Individuum erscheint der Leib als einfach unmittelbar gegeben, so
wie dies auch für den bearbeiteten Gegenstand selber gilt. Der Leib also
ist genau genommen ein leiblicher Kçrper, da er in der Form eines ge-
genständlichen Verhältnisses gedacht wird.
Eine Erweiterung dieses Verhältnisses erreichen wir, wenn das
Fungieren des Leibes selber zum Gegenstand der Reflexion wird. Er ist
nun nicht mehr einfach das „Wovon-her“ des Tuns, er ist vielmehr das
in Hinsicht auf die gezielte Veränderung von Gegenständen beherrschte
und insofern als „Verhalten-zu“ in Erscheinung Tretende.7 Bezeichnen
wir das Resultat dieser Reflexion als Herstellung körperlicher Ver-
hältnisse, dann bestimmt sich „Körper“ wiederum als Konstruktion über
dieses mittelbar-unmittelbare Verhältnis im Tun des Individuums als
dessen körperlicher Leib, da über ihn das Verhältnis zum Leib in der
Tätigkeit hergestellt wird. Diese Doppelung leiblicher und körperlicher
Verhältnisse beschreibt aber lediglich das als „äußere Natur“ bestimmte
Verhältnis, da der Ausgangspunkt das gegenständliche Verhalten im
Vollzug der Bearbeitung von Gegenständen war. Der Ausdruck
„Natur“ bezieht sich damit nicht auf Dinge, sondern beschreibt ein
gedoppeltes, individuelles Verhältnis innerhalb von Tätigkeiten.
Kehren wir die Betrachtung nun um und beschreiben gegenständ-
liche Tätigkeit als interindividuelles Tun, so gelangen wir zu einer
Kehrfigur leiblicher Verhältnisse. Denn nun ist das Tun in Bezug auf
Tätigkeiten selber das Definiens des leiblichen, das insofern es als Tun
nur in der Form leiblichen Verhaltens in den Blick gerät, unmittelbar-
mittelbar als Leib angesprochen werden kann. Der leibliche Körper ist
in diesem Verhältnis der auf das Tun anderer leiblicher Körper bezo-
gene leibliche Körper. Der Bezug auf den Bezug anderer Leiber cha-
rakterisiert dasjenige, was als Leib unmittelbar hinsichtlich der mittel-
baren Selbstheit des je unvertretbaren Tuns fungiert, das durch das erste
Verhältnis zweier leiblich/körperlicher Verhältnisse beschrieben war.
7 Tun bzw. Handeln als dessen Reflexionsform sind leibliche Bestimmungen, wie
deren kollektive Formen der Tätigkeit und Arbeit; „Habitualisierung“ oder
„Gewohnheiten“ sind nicht Tun an einem Etwas, das als Leib bezeichnet,
gleichsam dessen biotische Substanz wäre – sie sind vielmehr selber diese
Substanz und also Leib.
220 Mathias Gutmann
Das zweite Verhältnis scheint die individuelle Beschreibung des Tuns als
Hervorbringung eines leiblichen „Verhaltens-zu“ zu bezeichnen.
Als innere Natur lässt sich die Verdoppelung dieser Verhältnisse
deshalb ansprechen, weil es nicht zunächst eine Reflexion auf Gegen-
stände als Gegenst!nde war, die den Anfang bildete, als vielmehr das
gegenständliche Verhalten selber. Das „Innere“ des Individuellen ist das
veräußerlichte Innere des Interindividuellen und vice versa ist das In-
nere des Interindividuellen das äußerlich – als Tun – „In-Erscheinung-
treten“ des verinnerlichten Individuellen.
Folgen wir unserer strukturellen Deutung, dann zeigt sich aber für
den (zweifach) gedoppelten Naturbegriff, dass der Ausdruck der „Na-
turbeherrschung“ eben nicht einsinnig in einem festen Objekt-Subjekt-
Schema gedacht werden darf, da er sich sowohl auf die äußere wie die
innere Natur bezieht. Dies gilt umso mehr, als der Referent des Aus-
druckes „Natur“ dann zugleich auch nicht mit dinglichen Bestim-
mungen identifiziert werden darf, wie sie etwa für lebenswissenschaft-
liche Beschreibungen nahe lägen.
Die Darstellung leiblicher wie körperlicher Verhältnisse zeigt viel-
mehr, dass ein nicht substantialistisches Verständnis des Ausdruckes
„Natur“ auch die Rede von der Beherrschung in entsprechender Weise
zu doppeln hätte. Leib und Körper bezeichnen dann Formen des „Sich-
zueinander-Verhaltens“ und nicht das je spezifische Haben von Ei-
genschaften, die sich jederzeit in eine lebensweltliche Beschreibung von
Merkmalen einbringen ließen (Gutmann, 2005).
5. Geschichte als reflexive Selbstartikulation
Schon die Analyse der Verwendung des Ausdruckes „Natur“ brachte
eine (gedoppelte) Doppelläufigkeit. Diese erfährt eine weitere Entfal-
tung, wenn wir nun den Übergang zur „Geschichte“ vollziehen. Dar-
unter verstehen wir dasjenige, was geschehen ist, den Bericht dieses Ge-
schehens und möglicherweise die Erz!hlung über diesen oder diese
Berichte. Schon „vor-narrativistisch“, unter nur grammatischer Per-
spektive ist der Ausdruck „Geschehen“ aber mehrstellig; denn es wird
wohl zunächst ein Geschehen sein, das f"r jemanden in einer be-
stimmten Weise abläuft und von ihm in einer bestimmten Weise be-
schrieben wird. Dieselbe Doppelung der Adressaten-Adressanden-
Verhältnisse ergibt sich, wenn wir die Erzählung über diese(n) Be-
richt(e) zum Gegenstand nehmen. Denn nun gelten sowohl die
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 221
Adressaten-Bindung der Erzählung wie die Adressanden-Bindung.
Doch ist die angezeigte Doppelung der Bericht- und Erzählverhältnisse
nicht das eigentliche Problem; dieses ergibt sich erst, wenn wir nach
Geltungsbedingungen der Erzählung selber fragen. Diese Geltungsfrage
kann schlechterdings nicht mit dem Verweis auf eine beschreibungs-
invariante Basis (etwa „Ereignisse“ die in Raum und Zeit wie mithilfe
eines Cartesischen Koordinatensystems abzutragen wären) beiseite ge-
schoben werden (s. etwa Danto, 1980 sowie White, 1990). Die Ein-
schränkung resultiert nicht so sehr aus der Tatsache, dass jede Aussage
über vergangene Ereignisse mit einer Unsicherheit verbunden ist, die
allen empirischen oder erfahrungswissenschaftlichen Aussagen zu eigen
ist. Sie scheint sich vielmehr aus der besonderen Form der Erzählung,
insofern sie eine historische Erzählung ist, zu ergeben. Die Form solcher
Erzählungen ist notwendig rekonstruktiv. D.h. es wird von Vergange-
nem bezüglich eines Wissens gesprochen, das selber geltungsmäßig
verfügbar ist. Von diesem methodischen Anfange her werden über Be-
richte von Geschehnissen Erzählungen angefertigt, die nun allerdings in
spezifischer Weise, d. h. je nach Gegenstand unterschiedliche, Plausi-
bilisierung mit sich führen oder erfordern. Empirisch oder erfahrungsbe-
zogen sind aber sowohl die Quellen, von denen her Ereignisse oder
Berichte verfügbar werden, wie die möglichen Plausibilisierungen ( je
etwa nach Art der Quelle). In jedem Fall aber ist der Geltungsausweis
nur mit Bezug auf die je angefertigte Rekonstruktion möglich. Hieraus
ergibt sich die eigentümliche Doppelläufigkeit aller historischen Er-
zählungen: Sie weisen durch den methodischen Anfang einen unauf-
hebbaren Bezug auf eine bestimmte Fragestellung in der gegenwärtigen
Situation sowie das bereitstehende Beschreibungswissen auf, einen
Bezug, der sich geltungsmäßig durch die Betrachtungsrichtung kund-
gibt, die nämlich von der Gegenwart in die Vergangenheit verläuft.
Zugleich aber ist jede historische Erzählung selbst Bericht der Resultate
eben dieser Rekonstruktion.
Es wäre ein zu einfaches Bild, wollte man den Unterschied von
Rekonstruktion und Bericht der Rekonstruktionsergebnisse analog der
Differenz von Objekt- und Metaebenen auffassen – wiewohl er dies
notwendig immer auch ist.8 Die Doppelung geht einfach deshalb nicht
in die Analogie auf, weil die Ergebnisse der Rekonstruktion und die
Anfertigung des Berichtes selber den methodischen Anfang nicht un-
8 Notwendig erscheint dies vor allem, weil nur dann die Frage nach der Mög-
lichkeit der Plausibilisierung beantwortet werden kann.
222 Mathias Gutmann
berührt lassen. Dieser ergab sich ja gerade aus einer besonderen Form
des Selbstbezuges des Fragenden. Wir können das Besondere dieses
Selbstbezuges mit der Interpretation des Dilthey-Satzes „was der
Mensch ist, erfährt er nur aus der Geschichte“ ersehen. Folgten wir der
Identifizierung von Rekonstruktions- und Berichtperspektive (wobei
wir nun unter Bericht die Erzählung, also den Bericht-Bericht verste-
hen), dann wäre die von Dilthey aufgestellte Behauptung entweder
trivial wahr oder vermutlich falsch. Das erste träfe zu, wenn wir den
generischen Singular auflösten indem wir den Menschen als eben das
Wesen definierten, das Geschichte hat. Verstehen wir das Prädikat in einem
grammatisch identischen Sinne wie bei der Aussage „der Mensch hat 22
Autosomen-Paare“, hätten wir es mit „diskursiver“ Rede in einem
theoretischen Modus zu tun.9 Unabhängig davon, ob eine solche
Verwendung des Ausdruckes „Geschichte haben“ sinnvoll ist, läge darin
keine Überraschung mehr.
Eine andere Weise sich dem Diktum zu nähern bestünde darin,
entweder dem Ausdruck „Erfahren“ eine weitere Bedeutung zuzuge-
stehen, oder dem Ausdruck „Sein“. Verstehen wir unter „erfahren“
zunächst eine – noch nicht weiter bestimmte – Form des Wissens, dann
könnte man an dem Diktum festhalten, wenn das Wissen, um das es
geht, sich als Wissen von jenem Wissen unterschiede, von dem im Falle
des diskursiven Sprechens die Rede ist. Im ersten Falle würden wir
vermutlich das Wissen um das es als Erfahren hier nur zu tun sein kann
als ein Wissen „um sich als der, der um sich weiß“ ansehen. Es be-
zeichnet also der Ausdruck „Geschichte“ gerade jene besondere Form
des „Um-sich-als-um-Sich-Wissenden“-Wissens. Die andere Mög-
lichkeit bestünde darin, die Prädikation „was er ist“ nicht im Sinne einer
diskursiven sondern einer evozierenden Aussage zu lesen. Das „Sein“ ist
nicht eine Folge von Prädikationen (wiewohl sie dies immer auch ist),
sondern bezeichnet die Art und Weise, in der der Mensch sich tätig zu
sich und zu anderem verhält. König drückt diese merkwürdige Mehr-
deutigkeit des Ausdrucke „Sein“ in der Terminologie Mischs wie folgt
aus:
Auch dieser Satz ist nicht als eine rein diskursive Feststellung zu verstehen,
so daß das gemeinte in der Aussage voll aufgehoben und rein aus ihr zu
entnehmen wäre, sondern als Ausspruch, der nach der Art einer evozie-
renden Formulierung auf die Sache hier also das Verfahren des ge-
schichtlichen Verstehens zurückweisen. Hingegen würde Misch einen Satz
9 Zu dieser Unterscheidung s. Misch, 1994.
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 223
wie „welche Nummer ein Fernsprechteilnehmer hat, erfährt er aus dem
amtlichen Telephonbuch“ wahrscheinlich als eine rein diskursive Fest-
stellung ansehen. (König, 1967, 223)
Das diskursive Sprechen unterschiede sich vom evozierenden also ge-
rade dadurch, dass es den konstitutiven Selbstbezug nicht explizit zur
Geltung bringt, sondern ihn schon voraussetzt. Wir können an dieser
Stelle Königs spezifische Weiterführung der Mischschen Unterschei-
dung von diskursivem und evozierendem Sprechen aufnehmen, indem
wir im Falle der Aussage „der Mensch hat 22 Autosomen-Paare“ von
einer determinierenden Prädikation im theoretischen Modus sprechen.
Denn als biologisches Wesen (das Gegenstand der theoretischen Be-
trachtung ist) wird „der Mensch“, d. h. das Gattungswesen Homo sa-
piens durch die Chromosomenzahl – und eine ganze Reihe weiterer
Merkmale – bestimmt, während wir es bei der Bestimmung des Men-
schen als geschichtlichem Wesen mit einer modifizierenden Prädikation
zu tun hätten (auch diese lässt sich jederzeit in eine determinierende
überführen; sie geht nur eben nicht in ihr auf). Für „modifizierende
Prädikate gilt, dass sie „Sein“ ursprünglich geben und nicht Bestim-
mungen an ihm vornehmen:
In meinem Sprachgebrauch hingegen ist z. B. „vergangen“ Ausdruck für
das Wie und also für den Modus des Wirkens und Seins. In sachlicher
Hinsicht sowohl als auch in sprachlicher könnte ich gleich gut von mo-
dalen Prädikaten sprechen. Im philosophischen Sprachgebrauch besteht
aber eine Neigung, nur Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit
„Modi des Seins“ zu nennen, so daß die Vermeidung des Ausdrucks
„modal“ ratsam scheint. (König, 1937, 222)
Der Unterschied lässt sich mit König darstellen, wenn wir die Rede
vom „so-Wirken“ etwa dem „Leer-Wirken“ eines Zimmers auf den
Betrachtenden untersuchen. Hier gilt nämlich, dass das „Wirken“ des
Zimmers nicht einfach zum Zimmer hinzukommt. Die Rede beschreibt
vielmehr ein Verhältnis zwischen dem Gegenstand (das leer wirkende
Zimmer) und dem Empfindenden:
Das so-Wirkende, das intensiv-verbale so-Seiende und also das Seiende, das
nicht das Vorhandenseiende ist, ist ursprünglich das, als welches wir es
aussprechen: es ist ursprünglich das Seiende. Der Ausdruck das Seiende
entspringt hier keiner Umwandlung von Sätzen, Reden über als eine und
einige vorausgesetzte Subjekte. Denn die Subjekte des so-Wirkens (z. B.
ein Zimmer, das leer wirkt) sind, wie gezeigt nichts anderes als das so-
Wirkende, also nichts als das Seiende. (König, 1937, 63)
224 Mathias Gutmann
Ein Zimmer, das leer wirkt, muss nicht notwendig leer sein (das eben
wäre determinierende Prädikation). Das „Sein“ von dem die Rede ist,
darf nicht als gleichsam Heideggernde Volte in eine irgend vorsprach-
liche Ontologie verstanden werden. Es ist vielmehr das intensiv-verbale
„ist“, das in der Frage nach dem „was der Mensch sei“, mit Hinweis auf
seinen Lebensvollzug beantwortet werden muss. „Leben“ ist also gerade
dasjenige, was als vollzogen reflektiertes und reflektierend vollzogenes die
besondere Form menschlichen Seins als Tätigsein ausmacht. Das Ver-
stehen dieses Seins ist Aufgabe dessen, was im Gegensatz zur philoso-
phischen Hermeneutik (etwa Gadamerschen Zuschnittes) als herme-
neutische Philosophie (oder hermeneutische Logik) bestimmt werden
kann:
Die hermeneutische Logik ist eine Art Kunst der Auslegung des Lebens,
und so ist diese Logik wenn man so will, selber eine Art Hermeneutik.
Aber bei solchem Sprechen muß man zugleich auch den Unterschied zur
Hermeneutik im üblichen Sinne sehen und festhalten. In diesem üblichen
Sinne ist Hermeneutik die Kunst der Auslegung geistiger Schöpfungen,
z. B. eines Dichtwerks oder auch eines philosophischen Textes. Der Aus-
leger ist ein Mensch, und er muß was er auslegt, z. B. einen philosophi-
schen Text schon vor seiner Auslegung irgendwie verstanden haben und
eben überhaupt vor sich haben. Wenn ich nun Misch angemessen inter-
pretiere, so ist das bei der als eine Art Hermeneutik aufgefaßten Logik
anders. Da ist der Ausleger die Sprache oder, dasselbe anders formuliert, der
sprechende Mensch als solcher und also nicht einfach ein Mensch; und der
Mensch als solcher hat, was er auslegt, – das Leben – in gewisser Weise erst
nach geschehener Auslegung vor sich; deshalb ist diese Auslegung des
Lebens auch nicht so etwas wie ein Nachdenken oder ein Reflektieren
über das Leben. (König, 1967, 228)
Das Auszulegende „vor sich“ zu haben wäre gerade jene Form des
Selbstbezuges, die für determinierend-theoretische Prädikate relevant
ist, während die „Hervorbringung“ dessen, was als Leben des Menschen
bezeichnet wird, mit dem Resultat der Auslegung zusammenfällt (denn
es wird das „vor sich bringen“ überhaupt erst in der Auslegung her-vor-
gebracht), gerade jene Selbstbestimmung bildenden Sprechens ist, wie es
etwa in der Form der modifizierenden Rede geschieht.
Unabhängig davon, ob man die Königsche Interpretation oder die
Mischsche Darstellung der Interpretation des Dilthey-Satzes zugrun-
delegt, das Resultat ist in der einen, für uns entscheidenden Hinsicht
identisch: Soll die Alternative von Trivialität oder Falschheit umgangen
werden, so bestimmt der Ausdruck „Geschichte haben“ sich in der
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 225
Perspektive Diltheys als Anzeige der besonderen Selbstbezüglichkeit in
menschlicher Tätigkeit.
6. Unaufhebbarkeit des Selbstbezuges
im methodischen Anfang
Wir können nun zum Schluss unserer Darstellungen zum Problem der
Rede von Naturgeschichte und der Anzeige der spezifischen Trans-
formationen, die diese im Übergang zur Evolutionstheorie erfahren hat,
zumindest grundsätzlich auf das Problem der Rede von „Evolution der
Freiheit“ zurückkommen. In einer Hinsicht jedenfalls hat sich nämlich
eine Asymmetrie ausmachen lassen, die es als problematisch erscheinen
lässt, „Freiheit“ einfach zum Gegenstand evolutionsbiologischer Re-
konstruktion zu nehmen: Während wir die Möglichkeit züchterischer
Praxis als evolutionsbiologischer Rekonstruktion vorg!ngig erweisen
können, gilt dasselbe nicht umgekehrt (es ist historisch wie systematisch
züchterische Praxis möglich, ohne deshalb wahre evolutionstheoretische
Sätze vorauszusetzen).
Mit dieser Rückverlagerung ist zunächst ein Bezug auf menschliche
Praxis hergestellt, der für Evolutionstheorie konstitutiv ist. Zugleich
aber ist diese Konstitution von Evolutionstheorie in einer bestimmten
Form menschlicher Praxis ein Selbstbezug auf die Rede vom Menschen
als tätiges Wesen. Dieser Selbstbezug bleibt unaufhebbar. Er ist Be-
dingung der Möglichkeit einer Einheit des Herk"nftigen, die nicht ein-
fach als Ursprung vor jeder Rekonstruktion zu haben wäre. Es kann also
nicht – nach Konstitution evolutionstheoretischer Grundlagen –
gleichsam hinter diese Konstitution zurückgegangen werden, den ge-
wählten methodischen Anfang in der menschlichen Tätigkeit verges-
send und das Resultat nun scheinbar rein und ohne Rekonstruktions-
mittel in den Blick nehmend.
Eine besondere Form der Strukturierung körperlicher Leibverhält-
nisse bildet die Gruppe der Entwicklungstheorien des Menschen als
biologisches Naturwesen. Diese Strukturierung – im Lichte der jewei-
ligen kultürlichen Naturverhältnisse – artikuliert den wissenschaftlichen
Selbstbezug. Naturhistorische oder evolutionsbiologische Beschreibun-
gen des Menschen sind nicht Beschreibungen seines Seins oder so-Seins.
Sie artikulieren das Selbstverhältnis des Menschen als Naturwesen;
Natur aber ist die Bestimmung dieses Selbstbezuges in Tätigkeitsver-
226 Mathias Gutmann
hältnissen. Folgt die logische Grammatik der Rede von „Evolution des
Menschen“ aber der logischen Grammatik des Menschen als ge-
schichtlichem Wesen, wie dies unserer Darstellung entspricht, dann
kann „Evolution der Freiheit“ nur ein metaphorischer Ausdruck für
eine Bestimmung eben dieses geschichtlichen Wesen sein und nicht
etwa eines ontisch als vorgängig betrachteten Naturwesens, dessen
Beschreibung in der von Homo sapiens aufginge. In eigentlicher Rede
genommen, kann die „Evolution der Freiheit“ nur ein Missverständnis
jener Mittel sein, die wir zur Bereitstellung einer Evolutionstheorie
überhaupt schon benötigen.
Bibliographie
Cassirer, Ernst (1985): Form und Technik. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Symbol,
Technik, Sprache. Hamburg: Meiner, 39 – 90.
Danto, Arthur C. (1980): Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Gutmann, Mathias (1996): Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand – Beitrag der
Methodischen Philosophie zu einer konstruktiven Theorie der Evolution. Berlin:
Verlag für Wissenschaft und Bildung.
Gutmann, Mathias (2005): Medienphilosophie des Körpers. In: Sandbothe,
Mike/Nagl, Ludwig (Hg.): Systematische Medienphilosophie. Bd. 7. Berlin:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, SB, 99 – 112.
Gutmann, Mathias/Janich, Peter (1998): Species as Cultural Kinds. Towards a
Culturalist Theory of Rational Taxonomy. In: Theory in Biosciences (117),
237 – 288.
Gutmann, Mathias/Weingarten, Michael (1999): Gibt es eine Darwinsche
Theorie? Überlegungen zur Rekonstruktion von Theorie – Typen. In:
Brömer, Rainer/Hoßfeld, Uwe/Rupke, Nicolaas A. (Hg.): Evolutionsbio-
logie von Darwin bis heute. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung,
105 – 130.
Jahn, Ilse (1982): Geschichte der Biologie. Jena: Fischer.
Janich, Peter (1997): Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München: C.H.
Beck.
Janich, Peter/Weingarten, Michael (2002): Verantwortung ohne Verständnis?
Wie die Ethikdebatte von deren Wissenschaftstheorie abhängt. In: Journal
for General Philosophy of Science (33), 85 – 120.
Kambartel, Friedrich (1989): Zur grammatischen Unmöglichkeit einer evolu-
tionstheoretischen Erklärung der humanen Welt. In: Kambartel, Friedrich
(Hg.): Philosophie der humanen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 61 – 78.
König, Josef (1937): Sein und Denken. Halle: Niemeyer.
König, Josef (1967): Georg Misch als Philosoph. Göttingen: Vandenhoek &
Ruprecht.
Mayr, Ernst (1984): Die Entstehung der biologischen Gedankenwelt. Berlin/Hei-
delberg/New York: Springer.
Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung 227
Mayr, Ernst (1994): …und Darwin hat doch recht. München/Zürich: Piper.
Misch, Georg (1994): Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des
Lebens. Freiburg/München: Alber.
Provine, William B. (1986): Sewall Wright and Evolutionary Biology. Chicago/
London: University of Chicago Press.
White, Hayden (1990): The Content of Form. Baltimore/London: John Hopkins
University Press.
Freiheit als naturalistische
Unterbestimmtheit von Gründen
JULIAN NIDA-RÜMELIN
Die Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und natürlicher Deter-
mination hat das menschliche Denken seit der Antike beschäftigt. Für
die Stoa stand sie sogar im Zentrum der Auseinandersetzung mit an-
deren philosophischen Schulen. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert
hat man den Eindruck, dass das in der Antike schon einmal erreichte
Niveau der Debatte in Folge kollektiver Vergesslichkeit erst einmal
nicht erreicht wurde. Dies gilt in besonderem Maße für die analytische
Philosophie, die zunächst in ihrem Bestreben, an die Einzelwissen-
schaften Anschluss zu gewinnen, dazu neigte, ganze Problembereiche
voreilig zu entsorgen. Moritz Schlick hat dazu in Fragen der Ethik
(Schlick, 1930, Kap.6) einen unrühmlichen Beitrag geleistet, der zeigt,
wie man mit dieser Problematik sicher nicht umgehen kann. Ein Blick
in das eine oder andere stoizistische Fragment, insbesondere von
Chrysipp hätte helfen können, die Debatte auf ein höheres Niveau zu
bringen. Interessanterweise hat sich die Situation in der allerjüngsten
Zeit deutlich verändert. Unterdessen sind die Argumente skrupulös und
differenziert geworden mit der Begleiterscheinung, dass sich das Spek-
trum der philosophischen Positionen in einer kaum mehr überschau-
baren Weise aufgefächert hat. Die Debatten beginnen sich zu verästeln
und die Details werden nur noch von Spezialisten verfolgt. Dieser
Gefahr der Detailhuberei und des Spezialistentums will ich in diesem
Vortrag vor einem interdisziplinären Auditorium dadurch vorbeugen,
dass ich mich auf einen einzigen Punkt konzentriere, nämlich den der
naturalistischen Unterbestimmtheit unserer Handlungsgründe. Wenn
ich jetzt diesen Punkt isoliert vorbrächte, dann entstünden jedoch
vermutlich so viele Missverständnisse, dass unsere Diskussionszeit nicht
ausreichte, diese wieder auszuräumen. Daher beginne ich mit der Skizze
einiger Kontexte, in denen meine Argumentation steht.
230 Julian Nida-Rümelin
I
Der erste Kontext ist ein rationalit!tstheoretischer. Ich halte es für einen
großen Irrtum eines Gutteils der modernen Rationalitätstheorie, dass sie
meint, sie könnte Kriterien bestimmen, ich nenne das „punktuelle“
Kriterien, die die einzelne Handlung als rational oder irrational durch
die Bewertung ihrer Folgen auszeichnen, wobei hier natürlich an die
langfristigen Folgen gedacht ist, etwa in Gestalt eines unendlichen
zeitlichen Integrals, was sich durch die Einführung multidimensionaler
Wertfunktionen verfeinern lässt. Dieser konsequentialistische Ansatz geht
jedoch in die Irre und ich denke, ich habe die Gründe dafür sorgfältig in
meiner Konsequentialismuskritik herausgearbeitet (Nida-Rümelin,
1993). Aber auch wenn ich diese Kritik nach wie vor für zwingend
halte, sie bleibt eben nur eine Kritik, solange nicht zugleich eine Al-
ternative angeboten wird. Ich habe versucht diese Alternative in der
Konzeption struktureller Rationalit!t zu entwickeln, wonach es nicht je-
weils die Abwägung im Einzelfall ist, die eine Entscheidung rational
macht, sondern ihre Einbettbarkeit in einen größeren strukturellen
Kontext, wobei dieser strukturelle Kontext selbst nicht als etwas Ge-
gebenes, sondern als Resultat der Abwägung von Gründen verstanden
werden sollte. Die Gründe bestimmen den strukturellen Kontext nicht
ohne Rest – es bleibt ein Spielraum für Spontaneität und bloße Ent-
scheidung. Ich vertrete hier eine kohärentistische Auffassung ohne ihre
üblichen anti-realistischen Implikationen.1
Der zweite Kontext ist der der Ethik. Wir schreiben uns selbst und
anderen Verantwortung zu und diese Zuschreibung ist zentral für unser
Selbstbild und für die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren.
Aus Hochachtung gegenüber Peter Strawson nenne ich das gerne die
„Strawsonsche Perspektive“, obwohl ich in der Gegenübersetzung von
objektiv und subjektiv eine doch deutlich andere Akzentuierung vor-
nehme (Nida-Rümelin, 2005, Kap.1). Das Wichtigste der Strawson-
schen Perspektive ist jedoch, dass die Zuschreibung von Verantwortung
nicht ohne die simultane Zuschreibung von Freiheit im Sinne eines
freien Akteurs, der Autor seiner Handlungen ist, möglich ist. Diese
Autorschaft wiederum hängt eng mit der Tatsache zusammen, dass wir
(moralische) Gründe austauschen und uns von Gründen affizieren las-
sen, d. h. die Zuschreibung von Freiheit beruht auf – oder ist besonderer
Aspekt – der Zuschreibung von Rationalität. Wir nehmen uns selbst
1 Vgl. Nida-Rümelin, 2001.
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 231
und andere als Akteure in dem Sinne wahr, dass wir fragen können,
warum wir etwas getan oder unterlassen haben und indem wir andere
befragen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Wir tauschen
Gründe aus und nehmen uns als von Gründen affiziert wahr, d. h. wir
sehen uns als rationale Akteure, und in diesem Sinne sind wir frei und
verantwortlich für das was wir tun. Diese Perspektive hängt allerdings in
der Luft, wenn sie nicht rationalitätstheoretisch eingebettet ist. Die
Gründe, die wir anführen, müssen kohärent sein in der Zeit, es müssen
Strukturen sichtbar werden, die die unterschiedlichen Typen von
Gründen miteinander verknüpfen. Sonst verstehen wir uns wechsel-
seitig nicht, sonst fallen wir wieder zurück in die optimierenden
Punktwesen, werden zu homunculi oeconomici, zu denen uns die an-
thropologische Überhöhung der Mikroökonomik machen möchte.
Diese Punktwesen tun jeweils das, was angesichts ihrer Kenntnisse und
angesichts der je auftretenden Wünsche optimal ist und es bleibt dunkel,
wie der Akteur Fritz Meier zum Zeitpunkt t mit dem Akteur Fritz
Meier zum Zeitpunkt t’ zusammenhängt.
Eine Person manifestiert sich in kohärenten Strukturen ihrer Le-
bensform, d. h. in den sich durchhaltenden Gründen, die angeführt
werden, um Handlungen zu rechtfertigen. Die Person würde unklar
werden oder ganz verschwinden, wenn dieser strukturelle Zusam-
menhang nicht deutlich wäre. Kurz: Der erste und der zweite Kontext
hängen miteinander zusammen, ja ich glaube sogar, in letzter Konse-
quenz lassen sich Rationalitätstheorie und Ethik nicht trennen, aber ich
will hier kein weiteres Fass aufmachen.
Der dritte Kontext ist ein wissenschaftstheoretischer. Viele praktische
Philosophen und Ethiker malen sich ein Zerrbild moderner Natur-
wissenschaft und setzen dann die Ethik in einen falschen Gegensatz dazu
oder fühlen sich von einer so verstandenen Naturwissenschaft bedroht.
Ich will zwei Aspekte herausgreifen: In den Naturwissenschaften spielen
deterministische Verlaufsgesetze so gut wie keine Rolle, wenn man
einmal von Ausschnitten der physikalischen Kosmologie absieht. Es ist
auffällig, dass sich die Physiker bisher nicht auf die Seite der philoso-
phierenden Neurowissenschaftler geschlagen haben, die behaupten, es
sei sichergestellt, dass das Hirn ein deterministisches System sei. Physiker
wissen um die Komplexität und die Schwierigkeiten aus einer Kette
kausaler Erklärungen eine zeitliche Abfolge von Systemzuständen her-
zuleiten. Sie wissen, dass schon das Vier-Körper-Problem nicht mehr
berechenbar ist und dass die Welt aus einer solchen Vielzahl von auf-
einander wirkenden Teilchen besteht, dass die Vorstellung determinis-
232 Julian Nida-Rümelin
tischer Verlaufsgesetze reine Science Fiction ist. Zudem ist dieser in der
Philosophie naiv gebrauchte Kausalitätsbegriff in der naturwissen-
schaftlichen Grundlagendisziplin Physik an seine Grenzen gestoßen.
Der alte, an deterministische Gesetze gebundene Kausalitätsbegriff
wurde ohnehin mit der Entwicklung der Quantenmechanik obsolet,
neue sind von der allgemeinen Wissenschaftstheorie entwickelt worden,
unter denen der probabilistische von besonderem Interesse ist. Jedenfalls
kann festgehalten werden, dass der Konflikt von Freiheitsintuitionen
mit deterministischen und kausalen Verlaufsgesetzen seriöse Naturwis-
senschaft keineswegs erschüttert, da diese nicht zu ihrem Kernbestand
zählen.2
Der vierte Kontext ist, wenn man so will, ein metaphysischer. Phi-
losophen sind gegenwärtig, ja im Grunde schon seit Beginn des 20.
Jahrhunderts, in ihrer überwiegenden Mehrheit sorgsam darauf bedacht
mit dem wissenschaftlichen Weltbild nicht in Konflikt zu geraten. Ich
verstehe diese Einstellung sehr gut und teile sie. Die Philosophie hat sich
allzu oft in ihrer modernen Geschichte in einen Gegensatz zur natur-
wissenschaftlichen Entwicklung, die ja in ihrem Schoße ihren Anfang
nahm, gebracht und damit die Möglichkeiten philosophischer Er-
kenntnis weit überspannt. Die Strategie der unbedingten Konfliktver-
meidung führt jedoch bei unserer Thematik zur Dominanz eines
Kompatibilismus, der weniger durch Argumente, denn durch eine
metaphysische Grundhaltung gestützt ist: Selbst wenn die Naturwis-
senschaft auf deterministischen und kausalen Verlaufsgesetzen beruhte,
müsse unser Verständnis von Freiheit so gefasst sein, dass es damit in
Einklang gebracht werden kann. Dieses muss führt in der Literatur zu
den groteskesten Verrenkungen und entwertet scheinbar schlichte, aber
wirksame Argumente, wie die, dass es in einer Welt, deren Zustände in
alle Zukunft durch die geltenden Naturgesetze und einen beliebigen
Zustand lange vor dem Aufkommen der Menschheit, festgelegt sind,
keine menschliche Verantwortung, keine Rolle für das Abwägen von
Gründen und damit keine Freiheit geben kann.3
Auch Immanuel Kant war darauf bedacht, die Philosophie an die
Naturwissenschaft seiner Zeit – und die hatte einen Namen: Isaac
Newton – anzubinden, und dies geschieht in der für ihn charakteristi-
2 Unterdessen habe ich diesen Zusammenhang etwas detaillierter dargelegt in:
Nida-Rümelin, 2006.
3 Dieses alte Argument wurde von Peter van Inwagen sorgfältig als Konsequenz-
Argument ausgearbeitet (Inwagen, 1983).
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 233
schen Form eines Dualismus des Noumenalen und des Phänomenalen,
der nicht wirklich überzeugt. Dieser Dualismus wird von der so ge-
nannten ordinary language philosophy in der für sie charakteristischen
Trennung der Sprachebenen oder in jüngster Zeit bei Hilary Bok in
ihrer Trennung von theoretischen und praktischen Gründen fortgeführt
(Bok, 1998). Es wird deutlich werden, dass die Charakterisierung von
Freiheit über naturalistische Unterbestimmtheit einen epistemischen
Kompatibilismus impliziert, d. h. die Theoriebildung und den Erklä-
rungsanspruch naturwissenschaftlicher Theorien nicht tangiert. Zu-
gleich aber hält diese Charakterisierung eine zentrale libert!re Intuition
aufrecht, nämlich die, dass die Gründe, die wir haben, uns so und nicht
anders zu verhalten, eine genuine Rolle spielen, die sich nicht auf na-
turwissenschaftliche Sachverhalte reduzieren lässt. Wenn dieser Liber-
tarismus nach einer „Lücke“ verlangt,4 dann ist es eine Lücke, die un-
auffällig ist, die in der naturwissenschaftlichen Analyse unbemerkt
bliebe.
II
Freiheit sollten wir verstehen als naturalistische Unterbestimmtheit von Hand-
lungsgr"nden. Man kann diese Unterbestimmtheit noch auf einer wei-
teren Ebene fortführen und eine Unterbestimmtheit der Handlung
durch Gründe hinzufügen, dann hat man die Spontaneit!tsproblematik mit
einbezogen – ich werde diese Erweiterung in meinem Vortrag heute
ausklammern.
Um diese Definition von Freiheit zu erfassen, ist zu klären, was hier
unter „Gründen“ verstanden werden soll. Man kann sich dem am
besten dadurch nähern, dass man sich die Rolle propositionaler Ein-
stellungen vor Augen führt und eine fundamentale Zweiteilung dieser
propositionalen Einstellungen vornimmt: Auf der einen Seite kommen
die epistemischen zu liegen, also diejenigen Einstellungen, die auf das
Bestehen deskriptiver oder empirischer Sachverhalte gerichtet sind.
Innerhalb der epistemischen Einstellungen gibt es allerdings ein weites
Spektrum. Dazu gehören nicht nur feste Überzeugungen, dass etwas der
Fall ist oder der Fall war, sondern auch Vermutungen, Hypothesen,
Erwartungen (im epistemischen Sinne).5 Eine kohärentistisch interpre-
4 Vgl. Searle, 2004.
5 „Ich erwarte, dass Du gehst“ kann als Vermutung ein zukünftiges Ereignis
betreffend gemeint sein oder als Aufforderung gerichtet an die Person, die man
234 Julian Nida-Rümelin
tierte Entscheidungstheorie erlaubt es, alle Arten epistemischer Ein-
stellungen in der Weise zu vereinheitlichen, dass sie durch Zuschrei-
bungen subjektiver Wahrscheinlichkeiten an rationale Akteure reprä-
sentiert werden.6
Ein zweiter Typus propositionaler Einstellungen hat einen ganz
anderen Charakter, nennen wir diese in Anlehnung an die Stoa konative.
Wünsche sind etwa paradigmatische Formen konativer Einstellungen.
Ich wünsche mir, dass etwas der Fall ist. Die Proposition ist das, von
dem ich mir wünsche, dass es der Fall ist. Mein Wunsch ist die ent-
sprechende konative Einstellung zu dieser Proposition. Hoffnungen
verbinden eine konative und eine epistemische Einstellung, denn zu
hoffen, dass p, impliziert beides: zu w"nschen, dass p, und zu erwarten,
dass p.
Unser Handeln ist immer Ausdruck eines ganzen Komplexes von
propositionalen Einstellungen dieser beiden Typen. Diese Zweiteilung
sollte uns aber nicht dazu verführen, im Sinne des desire-belief-Modells7
einem praktischen Positivismus zu verfallen, für den Wünsche etwas
Gegebenes sind, während Überzeugungen begründet werden können,
sofern es sich nicht um unmittelbar aus Wahrnehmungen sich kausal
ergebende Überzeugungen handelt. Dieser praktische Positivismus kor-
respondiert mit einem theoretischen Positivismus, der das Gesamt unseres
deskriptiven Wissens aus vermeintlich unmittelbar gegebenen empiri-
schen Daten logisch (d. h. hier über die Methoden der induktiven
Logik) konstruieren will.8
Der Mainstream der analytischen Philosophie ist nach wie vor
einem Humeschen Schema verhaftet: Menschen haben bestimmte
Wünsche, die können als gegeben angenommen werden und dann
haben sie bestimmte Überzeugungen, und diese Überzeugungen geben
der Erfüllung der Wünsche gewissermaßen erst die Richtung und ori-
entieren dadurch das Handeln. Die Wünsche sind das treibende Mo-
ment, gewissermaßen die Energie oder eigentlich besser der Impuls, der
die Menschen antreibt, während die Überzeugungen diesen Impuls
auffordert zu gehen. Im zweiten Fall würden wir nicht von einer epistemischen
Einstellung sprechen.
6 Vgl. Bovens/Hartmann, 2006.
7 Ich vertausche bewusst die übliche Reihenfolge der Terme.
8 Carnaps „Der logische Aufbau der Welt“ ist dafür die klassische Referenz
(Carnap, 1928). Dieses, wenn auch vielfältig modifizierte, Programm hält sich
nach wie vor in einer sich als empiristisch und naturalistisch verstehenden
Philosophie.
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 235
nicht geben können und daher inert bleiben. Das treibende Moment
wird dann den desires, den Wünschen oder in kantischer Terminologie
den Neigungen zugeschrieben. Ich glaube nicht, dass das die richtige
Sichtweise ist.9 Ich würde es folgendermaßen auf den Punkt bringen:
Wenn wir handeln und uns nicht nur verhalten, dann geht dem eine
spezifische Form der Distanzierung voraus. Der Prozess des praktischen
und theoretischen Deliberierens kommt zu einem Halt, wird unter-
brochen und zum Abschluss gebracht durch eine Entscheidung. Diese
Entscheidung wird als vorausgehende Intention durch eine Handlung
erfüllt. Das ist der entscheidende Unterschied zu einem Reflex. Eine
Handlung hat immer dieses Element einer und sei es auch noch so
kurzen Verzögerung, die die Möglichkeit gibt Stellung zu nehmen im
Sinne des stoizistischen prohairesis krisis estin. Jede Wahl, jede Präferenz,
jeder Wunsch, jede Entscheidung ist eine Stellungnahme, ein Urteil,
oder bringt ein solches zum Ausdruck.
Die Präferenz, der Wunsch ist nicht einfach gegeben und äußert sich
dann in der Handlung, wie die desire-belief-Theorie meint, sondern es
gibt eine Dynamik propositionaler Einstellungen, die teilweise kausal
und teilweise durch Gründe gesteuert ist. Handlungen markieren je-
weils – wenn auch noch so kleine – Diskontinuitäten im alltäglichen
Strom propositionaler Einstellungen. Ein (guter) Grund für eine
Handlung ist ein (guter) Grund, davon überzeugt zu sein, dass diese
Handlung die richtige ist. Ein guter Grund für mich, etwas zu tun, ist
ein guter Grund für mich, anzunehmen, dass diese Handlung die
richtige für mich ist. Ich kann diese Gründe gegenüber Kritikern gel-
tend machen und damit mein Handeln rechtfertigen. Gründe geben
und Gründe nehmen ist ein interpersoneller Prozess, der lebensweltlich
etablierten Regeln folgt. Wir können diese als Philosophen oder Wis-
senschaftler nicht neu erfinden. Mit meinen propositionalen Einstel-
lungen nehme ich Stellung zu der Frage, ob diese oder jene Handlung
für mich die richtige ist. Die Handlung ist Ausdruck einer Stellung-
nahme. Sofern sie das nicht ist, etwa bei zweieinhalbjährigen Kindern,
sind die betreffenden Akteure auch nicht oder nur in rudimentärem
Maße verantwortlich. Akteure dieser Art weisen in der Regel ebenfalls
konative epistemische Einstellungen auf, was ihnen fehlt, ist dieser
Moment der Distanzierung, der begründeten Stellungnahme.
Ich sollte hier anmerken, dass ich die Rolle von Gründen nicht
fundamentalistisch verstehe. Es gibt kein sicheres Fundament von dem
9 Vgl. Nida-Rümelin, 2001.
236 Julian Nida-Rümelin
aus sich die Rationalität des Urteilens, des Unterscheidens und des
Handelns ableiten lässt. Ich habe ein gradualistisches und holistisches im
umfassenden Sinne, eben koh!rentistisches Bild praktischer und theore-
tischer Deliberation. Vieles ist so selbstverständlich und so klar, dass ich
nicht erst Gründe abwägen muss, um eine epistemische oder konative
propositionale Einstellung auszuprägen. Wenn ich vor einem Baum
stehe und zweifle, dass da ein Baum steht, bin ich, um Wittgenstein aus
#ber Gewissheit zu zitieren, ein „Halb-Irrer“ (Wittgenstein, 2002). Es
bedarf keines Abwägens von Gründen um zu dieser Überzeugung zu
kommen. Aber das heißt nicht, dass bestimmte Überzeugungen jeder
Deliberation entzogen wären. Die gleiche Wahrnehmungssituation auf
einem Jahrmarkt und nach der Erfahrung von Spiegelkabinetten und
Täuschungssalons wird die Leute nicht unbesehen zu der Überzeugung
führen, dass dort ein Baum steht. Ich habe dann den Eindruck, vor
einem Baum zu stehen, und bezweifle dennoch, dass dort ein Baum
steht – und zwar aus guten Gründen. Das Spiel des Begr"ndens setzt ein
Gefälle subjektiver Gewissheiten voraus. Es ist dieses Gefälle, der gra-
duelle Unterschied in meiner Zustimmung oder Bekräftigung be-
stimmter epistemischer Einstellungen, die das Spiel erst in Gang setzen.
Diese Spiele sind vielfältig und es ist ein rationalistischer Irrglaube an-
zunehmen, dass es eine kanonische Form gibt oder dass sich diese
Vielfalt auf eine solche zurückführen ließe.
III
Wenn ich glaube, dass der philosophisch interessante Kern unserer
Freiheitsintuitionen als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen zu
fassen ist, dann muss ich klarmachen was hier genau mit naturalistischer
Unterbestimmtheit gemeint ist. Wir könnten versuchen den Begriff der
natürlichen Tatsache von der der nicht-natürlichen zu unterscheiden.
Naturalistische Beschreibungen und Erklärungen nehmen ausschließlich
auf natürliche Tatsachen Bezug und naturalistische Gesetzmäßigkeiten
werden ausschließlich durch natürliche Sachverhalte bestätigt oder wi-
derlegt. Diese Form der Präzisierung liefe über ein ontologisches Kri-
terium. Ich will nicht sagen, dass dies aussichtslos ist, aber der einfachere
Weg ist der epistemologische: Wir identifizieren eine naturalistische
Beschreibung oder Erklärung schlicht über einen spezifischen und
vertrauten Korpus wissenschaftlicher Theorien. Natürliche Tatsachen
sind solche, die grundsätzlich im Rahmen dieses Korpus erklärbar und
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 237
beschreibbar erscheinen. Damit ist nicht gesagt, dass der aktuelle Stand
der naturwissenschaftlichen Disziplinen dazu ausreicht. Bislang besteht
eine ziemlich klare Demarkationslinie, die die Begriffswelten der Na-
turwissenschaften von denen der Geistes- und Sozialwissenschaften
abgrenzt.
Unter naturalistischer Bestimmtheit eines Phänomens verstehe ich
nun seine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibbarkeit und
Erklärbarkeit. Naturalistische Unterbestimmtheit eines Phänomens be-
steht dann, wenn dieses Phänomen nicht ohne Rest naturwissenschaft-
lich beschreibbar und erklärbar ist. Erklärbarkeit und Prognostizierbar-
keit stehen in einem komplexen Zusammenhang,10 aber einmal ange-
nommen Erklärbarkeit würde Prognostizierbarkeit implizieren, dann
wäre unvollständige Prognostizierbarkeit mit den Mitteln der Natur-
wissenschaft hinreichend für naturalistische Unterbestimmtheit.
Der Zusammenhang zwischen Erklärbarkeit und Prognostizierbar-
keit löst sich bei probabilistischen Gesetzmäßigkeiten auf. Dennoch
möchte ich den Begriff der naturalistischen Bestimmtheit bzw. Unter-
bestimmtheit soweit fassen, dass er auch den probabilistischen Fall
einschließt. Wenn der Probabilismus der Quantenphysik das letzte
Wort in der Grundlagendisziplin der Naturwissenschaften ist, dann gibt
es eine grundsätzliche Grenze der Beschreibung und Erklärung mit
Hilfe deterministischer naturwissenschaftlicher Gesetze. Diese Grenze
ist aber nicht mit der der naturalistischen Beschreibbarkeit und Erklär-
barkeit generell zu identifizieren. Wenn die Grundlagendisziplin der
Naturwissenschaft probabilistisch ist (und die Quantenphysik ist irre-
duzibel probabilistisch), dann müssen wir uns mit schwächeren Krite-
rien der Beschreibung und Erklärung natürlicher Phänomene zufrieden
geben. Wir können dann nicht mehr als Wahrscheinlichkeitsvertei-
lungen von Zuständen erreichen und wir können die Beschreibungs-
genauigkeit wegen der Unschärferelation nicht beliebig, d. h. in Ab-
hängigkeit von technischen Apparaturen, verfeinern. Es gibt dann eine
prinzipiell nicht überschreitbare Grenze der Beschreibungspräzision.
Auch der mit der Entwicklung der Naturwissenschaft so eng verbun-
dene analytische Ansatz, d. h. die Zerlegung von Prozessen in Teil-
prozesse und die Beschreibung und Erklärung von Gesamtprozessen
durch die Beschreibung und Erklärung von Teilprozessen findet eine
prinzipielle Schranke, die man als einen unhintergehbaren Holismus der
quantenphysikalischen Beschreibungsform bezeichnen kann. Unterhalb
10 Vgl. Stegmüller, 1969.
238 Julian Nida-Rümelin
eines bestimmten Zerlegungsmaßes sind die Einzelphänomene nicht
mehr erklärbar und das Verhalten des Gesamtsystems lässt sich nicht aus
der Zusammensetzung seiner Teilsysteme verstehen.
Wir verstehen naturalistische Unterbestimmtheit also nicht so, dass
sie schon dann erfüllt ist, wenn die prognostischen und die beschrei-
benden Kapazitäten der Naturwissenschaft an eine Grenze stoßen, wie
sie durch den Probabilismus der Quantenphysik gezogen ist. Dies ent-
spricht einer wichtigen philosophischen, älteren Einsicht, dass auch
menschliches Handeln, das durch Zufälligkeiten determiniert ist, kein
Ausdruck menschlicher Freiheit ist. Insofern war die Zurückweisung
der Hoffnung mancher Philosophen während der Kinderjahre der
Quantenphysik, der quantenphysikalische Probabilismus würde das
Postulat menschlicher Freiheit retten, berechtigt. Es ist nicht entschei-
dend, ob probabilistische oder deterministische naturwissenschaftliche
Gesetzmäßigkeiten menschliches Handeln bestimmen. Wenn sie dies
vollständig tun – so jedenfalls meine These – dann gibt es menschliche
Freiheit nicht, dann beruht menschliche Freiheit auf einer Illusion.
Die These lautet: Freiheit sei die naturalistische Unterbestimmtheit
von Gründen generell und von Handlungsgründen, also praktischen
Gründen, speziell. Zur menschlichen Freiheit gehört auch die Verant-
wortung für das eigene Urteil, die eigenen Überzeugungen und für
bestimmte Gefühle (nicht-propositionale Einstellungen), also nicht nur
für die eigene Handlung.11 Wir sind verantwortlich für das, was unter
unserer Kontrolle ist und das ist genau derjenige Bereich unserer
Existenz, der von Gründen affiziert ist. Gründe spielen für das, was wir
glauben und für das, was wir tun, auch für bestimmte Gefühle, eine
ausschlaggebende Rolle. Uns ist der innere Zusammenhang zwischen
Deliberationen und Gefühlen, Urteilen und Handlungen lebensweltlich
vertraut. Die abgeschlossene Deliberation, bzw. im Grenzfall die kurze
Verzögerung, in der die Deliberation suspendiert und das Urteil geformt
oder die Entscheidung getroffen wird, ist das ausschlaggebende Element
unserer Freiheit und die Tatsache, dass der Übergang zu konkretem
Verhalten oder zu konkreten Äußerungen im Wesentlichen in kausalen
Begriffen rekonstruierbar ist, tut dieser Freiheit dann keinen Abbruch
mehr. Wenn jedoch die Gründe selbst durch naturwissenschaftlich
11 Der dritte Teil der kleinen Trilogie, deren erster Teil unter dem Titel
„Strukturelle Rationalität“ (Nida-Rümelin, 2001) und deren zweiter unter
dem Titel „Über menschliche Freiheit“ (Nida-Rümelin, 2005) schon publiziert
sind, wird sich mit diesem erweiterten Verantwortungsbegriff befassen.
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 239
beschreibbare Ereignisse und Zustände ohne Rest erklärbar wären, dann
könnten wir nicht verstehen, worin eigentlich Freiheit und damit
menschliche Verantwortung besteht.
Das Argument setzt voraus, dass Gründe kein möglicher Gegenstand
naturwissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung sind. Wenn
Gründe nichts anderes wären als etwa neurophysiologische Prozesse,
wenn also eine extreme (type-type und token-token) Variante der mind-
body-Identitätstheorie zuträfe, dann allerdings ließe sich das Argument
nicht mehr durchhalten. Es setzt impliziter voraus, dass diese extreme
Form der Identitätstheorie unzutreffend ist, dass Gründe sich in dieser
Form nicht in ein naturwissenschaftliches Beschreibungsschema ein-
betten lassen. Das Argument setzt voraus, dass diese Fassung der Iden-
titätstheorie unzutreffend ist.
Es sieht etwa folgendermaßen aus: In einem ersten Schritt werden
unsere Freiheitsintuitionen expliziert und dies verlangt unsere Sprach-
praxis und unsere Interaktionspraxis generell ernst zu nehmen, ernster
jedenfalls als es über viele Jahrzehnte in der analytischen Sprachphilo-
sophie der Fall war. Eine umfassende Irrtumstheorie all dieser Praktiken,
die tief in unsere Lebenswelt eingelassen sind, ist nicht plausibel. Eine
solche Irrtumstheorie verlangt, dass man sich außerhalb der lebens-
weltlichen Begründungsspiele stellen kann und von welchem fiktiven
Punkt auch immer theoretische Überzeugungen neu und ganz anders
begründen kann. Vernünftigerweise gehen wir von derjenigen Praxis
aus, die etabliert ist und an der wir täglich teilhaben. Zu dieser Praxis
gehört es zentral, dass wir uns wechselseitig Freiheit und Verantwortung
zuschreiben – nennen wir das die Strawsonsche Perspektive. Die Lücke
bei Strawson ist, dass er dem dritten Element, nämlich dem der Ra-
tionalität, einen unzureichenden Ort zuweist. Es sind die Gründe, von
denen wir uns affizieren lassen, die uns als freie und verantwortliche
Akteure konstituieren. Wir sind daher frei und verantwortlich nur in-
sofern wir rationale Akteure sind. Unsere reaktiven Einstellungen
rechtfertigen sich durch diese wechselseitige Wahrnehmung als rationale
Akteure und nur dadurch. Es ist angesichts dieser etablierten Praxis
unangemessen, andere rationale Akteure lediglich als Gegenstand der
Beeinflussung zu sehen und die Strategien der Einwirkung, sei es mit
sprachlichen oder außersprachlichen Mitteln, davon abhängig zu ma-
chen, ob sie das betreffende Verhalten oder die betreffenden Reaktio-
nen, die man sich wünscht, hervorrufen oder nicht. Hier gibt es keinen
Kausalzusammenhang, sondern einen Begründungszusammenhang, d. h.
die angemessene Haltung zeigt sich darin, dass man an Gründe appelliert
240 Julian Nida-Rümelin
und hofft, dass die betreffende Person sich von den angeführten theo-
retischen und praktischen Gründen, den Gründen etwas zu glauben
oder zu tun, überzeugen lässt. Wir sind auch dann gehalten, an Gründe
zu appellieren, wenn es andere Erfolg versprechendere Wege gäbe, die
Überzeugungen und die Handlungen anderer Personen zu beeinflussen.
Wir nehmen uns wechselseitig nur ernst, wenn wir an Gründe appel-
lieren und dieses besondere Phänomen hebt den Anderen aus einem
bloßen Naturzusammenhang, d. h. aus naturalistisch vollständig be-
schreibbaren Kausalzusammenhängen heraus. Es ist diese kantische
Theorie menschlicher Würde, die letztlich auf dem Spiele steht, wenn
man auf eine naturalistische Anthropologie zurückfällt. Man kann ein
vertieftes Verständnis dieser Praxis gewinnen, indem man die unter-
schiedlichen normativen Institutionen, die diese steuern, analysiert, wie
es etwa in der Sprachphilosophie – ich denke da sowohl an die inten-
tionalistische Semantik, wie an die Sprechakt-Theorie, aber auch an die
Bereichsethiken – praktiziert wird.
Wenn jemand glaubt, dass sich eine Person durch Gründe affizieren
lässt, dann geht er mit ihr anders um als wenn er der Meinung ist, dass
für deren Verhalten generell oder in diesem speziellen Fall Gründe keine
Rolle spielen. Bei kleinen Kindern oder bei Alzheimer-Patienten ist
dieses Spiel des Begründens nur beschränkt oder gar nicht sinnvoll. Es ist
aber nicht die Effektivität, die über die Angemessenheit entscheidet.
Das, worauf wir uns mühselig genug einlassen – nämlich auf das Spiel
des Begründens: Gründe zu entwickeln und zu zeigen, dass diese mit
anderen vereinbar sind, sie gegeneinander abzuwägen, gemeinsame
Überzeugungen ausfindig zu machen, von denen aus das Begrün-
dungsspiel beginnen kann etc. –, ist in vielen Fällen nicht der effektivste
Weg, um auf eine andere Person einzuwirken. Es gibt die auch in der
Politik weit verbreitete „Rationalität von Irrationalität“: Leitz-Ordner
schmeißende Minister mögen gelegentlich effektiver beim Verfolgen
ihrer Ziele sein als diejenigen, die sich auf das mühselige Spiel des
Begründens einlassen. Aber dieses bleibt Ausdruck der angemessenen
Haltung zueinander als verantwortungsfähige, rationale und freie Per-
sonen.
Wenn nun unser Verhalten vollständig naturalistisch bestimmt wäre,
sei es im Rahmen deterministischer und/oder probabilistischer Ge-
setzmäßigkeiten und Begriffe, dann hieße das, dass Gründe in letzter
Instanz für das, was wir tun, und für das, was wir glauben, keine Rolle
spielen. Das verstehen manche nicht und meinen, dass eine naturalis-
tische Sicht auf menschliches Handeln und Urteilen doch bestens ver-
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 241
einbar sei mit der Rolle der Deliberation. Dies beruht jedoch auf einem
Irrtum. Wenn das Abwägen von Gründen eine Rolle spielt, dann wirkt
das Ergebnis dieser Deliberation – die Entscheidung, das Urteil – kausal
auf den weiteren Verlauf der Welt ein. Und diese kausale Einwirkung
bezieht sich auch auf den naturalistischen Aspekt des Weltverlaufes.
Unser Handeln hat einen „äußeren“, physikalischen oder weiter gefasst
naturalistischen Aspekt: Wenn wir uns äußern bringen wir die Luft in
spezifische Schwingungsmuster, wenn wir handeln, bewegen wir uns in
der einen oder anderen Weise durch den Raum. Wenn Gründe also
naturalistisch unterbestimmt sind, dann ist eine vollständige naturwis-
senschaftliche Beschreibung, Erklärung und Vorhersage des physikali-
schen Weltverlaufes, aller physikalischen Ereignisse in dieser Welt unter
Einschluss der von unserem Handeln beeinflussten, nicht möglich. Es
kann nicht beides gelten, dass Gründe diese Rolle spielen, dass unser
Handeln und Urteilen von Gründen beeinflusst ist und dass es eine
vollständige Beschreibung und Erklärung unseres Handelns und Ur-
teilens gibt, das nicht auf Gründe Bezug nimmt. In diesem Fall wären
John Mackies INUS-Bedingungen für Kausalität verletzt. Gründe
wären kein notwendiger aber unzureichender Teil eines nicht not-
wendigen aber zureichenden Ganzen einer Erklärung.12 Wenn Gründe
für die Erklärung dessen, was jemand tut und was jemand glaubt, eine
wesentliche Rolle spielen, dann kann es keine vollständige naturalisti-
sche Erklärung dessen geben, was jemand tut und was er glaubt.
IV
Was ergibt sich denn aus dieser These für die Frage der Vereinbarkeit
oder Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus? Sie sagt nichts
darüber aus, ob ein Universal-Determinismus mit unserem Freiheits-
verständnis vereinbar ist. Die These legt sich nur insofern fest, als ein
naturalistischer Determinismus mit menschlicher Freiheit unvereinbar
ist. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ich selbst bin mir bis heute
nicht im Klaren darüber, ob ein Universal-Determinismus, der den
Bereich der Gründe mit einschließt, mit Freiheit, Verantwortung und
Rationalität kompatibel wäre. Ich will das auch hier offenlassen. Ich bin
mir aber ganz sicher, dass ein naturalistischer Determinismus mit Freiheit,
12 „INUS“ steht für: „insufficient“, but „non-redundant“ part of an „unneces-
sary“, but „sufficient“ condition (Mackie, 1980).
242 Julian Nida-Rümelin
Verantwortung und Rationalität unvereinbar ist. Diese Form des „Li-
bertarismus“, wenn Sie denn meine Auffassung noch so charakterisieren
wollen, ist den üblichen anti-libertären Einwänden nicht ausgesetzt.13
So ist die Frage ganz unerheblich, ob eine Person von ihrem Charakter
her wirklich in der Lage wäre, ganz etwas anderes zu tun als sie tat-
sächlich tut, um sie als frei zu bezeichnen. Wichtig ist lediglich, dass für
diese Person das Abwägen von Gründen eine für ihr Handeln und ihr
Urteilen ausschlaggebende Rolle spielt. Wenn sie einen Charakter hat,
den bestimmte Handlungsweisen für sie unmöglich machen, dann
schlägt sich das in den Ergebnissen ihrer Abwägungsprozesse regelmäßig
nieder. Solange diese Abwägungsprozesse eine kausale Rolle für den
weiteren Verlauf ihres Verhaltens spielen, bedroht das ihre Freiheit, ihre
Verantwortung und ihre Rationalität in keiner Weise. Aber es kann
nicht sein, dass eine naturalistische Beschreibung ihrer genetischen
Ausstattung, der epigenetischen Einflüsse, der Perzeptionsgeschichte
und der Perzeptionssituation im betreffenden Augenblick allein aus-
reicht, um in jeder einzelnen Situation das Verhalten der Person zu
bestimmen.
Es ist das gesamte System propositionaler Einstellungen, dessen
Dynamik wenigstens teilweise durch das Abwägen von Gründen be-
stimmt ist, das zusammen mit äußeren Einflüssen und Zufälligkeiten
aller Arten die individuellen Lebensgeschichten schreibt. Die oben
angesprochene gradualistische und holistische, eben umfassend koh!-
rentistische Sichtweise ist hier wesentlich für ein angemessenes Ver-
ständnis. Die Rationalit!t der einzelnen Handlung wird nicht punktuell
bestimmt, sondern vor dem Hintergrund dieses ganzen Komplexes. Die
Freiheit der Person wird ebenso wenig punktuell bestimmt, sondern
bezüglich der Rolle, die Gründe für ihre Lebensgeschichte insgesamt
spielen. Die Freiheit ist nicht die radikale Freiheit, nach der wir uns in
jedem Zeitpunkt neu erfinden können, wie etwa Avishai Margalit
meint (Margalit, 1996) 14, sondern es ist die graduelle und bedingte
Freiheit, die dem Abwägen von Gründen eine gewisse Rolle in unse-
rem Leben einräumt. Die Tatsache, dass man unterdessen sehr viel
deutlicher sieht, wie minimalste Abweichungen der Anfangssituation
weit reichende und einschneidende Folgen haben können, hilft dieses
Bild plausibler zu machen. Der Probabilismus der Quantenphysik tritt
hinzu, um die Vorstellung streng deterministischer Verlaufsgesetze der
13 Vgl. dazu den Beitrag von Geert Keil in diesem Band.
14 Deutsch: Margalit, 1999, 91 ff.
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 243
Natur ganz abwegig erscheinen zu lassen. Zusammen mit den Singu-
laritäten, die auch in einem geschlossenen deterministischen System eine
Unterbestimmtheit der zeitlichen Zustandsfolgen nach sich ziehen,
macht sie die Annahme einer naturalistischen Unterbestimmtheit we-
niger exotisch, als sie zunächst erscheinen mag. Meine These besagt
jedoch nicht lediglich, dass es eine solche Unterbestimmtheit gibt,
sondern dass diese Unterbestimmtheit das kausale Wirken der Gründe
in menschlichem Handeln und Urteilen zulässt, ohne uns bekannte Na-
turgesetze zu verletzen. Die bloße Unterbestimmtheit der Verlaufsgesetze
allein sichert keine Freiheit. Es ist das Wirken der Gründe und ihre
naturalistische Unterbestimmtheit, die zusammen Freiheit ausmachen.
Und damit bin ich schon bei meinem letzten Stichwort, nämlich
dem des epistemischen Kompatibilismus. Die Position, die mir am plausi-
belsten erscheint und für die ich hier argumentiere, ist im Hinblick auf
den Kompatibilismus hybrid: Sie ist non-kompatibilistisch und libertär
im ontologischen und sie ist kompatibilistisch im epistemologischen
Sinne. Die Annahme der naturalistischen Unterbestimmtheit unserer
Gründe und ihres kausalen Wirkens in der Welt ist ohne jede Revision
naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse möglich. Man kann sich
dies an einem Beispiel leicht klarmachen. Stellen Sie sich vor, jemand
verhält sich in irgendeiner Weise, geht durch einen Raum, versucht dies
und jenes, hebt etwas auf und stellt etwas hin usw. Nehmen wir an,
dieses Verhalten wird vollständig und sehr genau mit naturwissen-
schaftlichen Mitteln beschrieben, beschränken wir uns hier auf die
Mittel der Physik. Es werden die elektrostatischen Felder, die aufgebaut
werden und dieses Verhalten begleiten, beschrieben, die Kraftwirkun-
gen, Impulse usw. Keines der physikalisch beschriebenen Ereignisse, die
dieses Verhalten ausmachen, wird irgendein physikalisches Gesetz ver-
letzen. Jedes dieser Ereignisse – physikalisch beschrieben – lässt sich
physikalisch erklären. Aber glaubt irgendjemand, dass die Zustandsfolge
in diesem Raum, die durch das Verhalten herbeigeführt wird, mit den
Mitteln der Physik erklärbar ist? Natürlich nicht, es besteht keinerlei
Aussicht, dass die Rolle der Intentionen in die Sprache der Physik
übersetzbar wäre. Dies gilt wohlgemerkt, obwohl keines der physika-
lisch beschriebenen Ereignisse physikalisch unerklärbar ist. Alles ist
vollständig erklärbar, vorausgesetzt die Rechner sind hinreichend groß,
um die ungeheuren Datenmengen zu verarbeiten. Die physikalische
Beschreibung ist für sich genommen lückenlos und doch kann sie den
Prozess als Ganzen nicht erklären. Ohne Bezugnahme auf Intentionen
gibt es keine vollständige Erklärung dieses Vorganges. Alles was diese
244 Julian Nida-Rümelin
Person tut, verletzt kein physikalisches Gesetz. Ihre Intentionen wirken
epistemologisch betrachtet unauff!llig in der physikalischen Welt. Die
Annahme, dass ihre Intentionen eine kausale Rolle spielen, ist kom-
patibel damit, dass alle physikalischen Vorgänge, die mit ihrem Ver-
halten verbunden sind, vollständig physikalisch erklärt werden können.
Die Herausforderung des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch
die Bestimmung der Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit ist
sehr moderat. Wenn wir die Rolle von Rationalität, Freiheit und
Verantwortung nicht überzeichnen, scheinen mir die bisherigen em-
pirischen Befunde der Neurophysiologie unser Selbstbild nicht zu er-
schüttern und die kausale Rolle von Deliberationen nicht zu widerle-
gen. Die Neurophysiologie hilft, die empirischen Bedingtheiten unserer
Überzeugungsbildung und unserer Handlungswahlen genauer zu er-
fassen. Sie macht die Bedingtheiten unserer Freiheit und unserer Ver-
antwortung deutlich. Die Deliberation spielt eine strukturierende kau-
sale Rolle und lässt den kausalen neurophysiologischen Prozessen doch
hinreichend Spielraum, um auf der neurophysiologischen Beschrei-
bungsebene keine Spuren zu hinterlassen.
Bibliographie
Bok, Hilary (1998): Freedom and Responsibility. New Jersey: Princeton Uni-
versity Press.
Bovens, Luc/Hartmann, Stephan (2006): Bayesianische Erkenntnistheorie. Pa-
derborn: Mentis.
Carnap, Rudolf (1928): Der logische Aufbau der Welt. Berlin: Weltkreisverlag.
Inwagen, Peter van (1983): An Essay on Free Will. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Mackie, John L. (1980): The Cement of the Universe. A Study of Causation.
Oxford: Oxford University Press.
Margalit, Avishai (1996): The Decent Society. Cambridge, Massachusetts: Havard
University Press.
Margalit, Avishai (1999): Politik der W"rde. #ber Achtung und Verachtung.
Frankfurt am Main: Fischer.
Nida-Rümelin, Julian (1993): Kritik des Konsequentialismus. München/Wien/
Oldenburg: Scientia Nova.
Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalit!t. Ein philosophischer Essay
"ber praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2005): #ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2006): Ursachen und Gründe. In: Information Philosophie
(34), 32 – 36.
Schlick, Moritz (1930): Fragen der Ethik. Wien: Springer.
Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen 245
Searle, John (2004): Freiheit und Neurobiologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Stegmüller, Wolfgang (1969): Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und
Analytischen Philosophie. Berlin/Heidelberg/New York: Springer.
Wittgenstein, Ludwig (2002): #ber Gewissheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ursachen und Gründe
Zwei zentrale Begriffe in der Debatte
um Naturalismus und Willensfreiheit
MICHAEL PAUEN
Eines der zentralen Merkmale von Personen besteht in deren Fähigkeit,
sich in Handlungen und Überlegungen durch Gründe leiten zu lassen.
Handlungsleitende Gründe zeichnen sich unter anderem dadurch aus,
dass sie eine Handlung nicht einfach bewirken, so wie ein Reiz oder ein
Affekt eine Reaktion herbeiführt, vielmehr vermag eine Person zu ihren
Gründen Stellung zu nehmen, sie kann sie akzeptieren oder verwerfen.
Dies erklärt, warum Harry G. Frankfurt in der Fähigkeit zu reflexiven,
also offenbar von Gründen geleiteten Stellungnahmen zu eigenen
Willensakten das Kriterium von Personalität sehen konnte (Frankfurt,
1971). Willensakte, die in einem solchen reflexiven Akt von einer
Person akzeptiert werden, sind in Frankfurts Augen frei. Im Gegensatz
dazu liegt es nahe, kausal determiniertes Verhalten als unfrei zu be-
zeichnen – schließlich scheint der Person in diesem Falle auch die
Möglichkeiten zu fehlen, zu den Ursachen ihres Verhaltens Stellung zu
nehmen.
Bedeutsam sind diese Überlegungen in zweierlei Hinsicht. Zum
einen liefern sie offenbar ein Kriterium für die Unterscheidung zwi-
schen freien und unfreien Handlungen bzw. Verhaltensweisen: Freie
Handlungen scheinen sich auszuzeichnen durch ihre Rückführbarkeit
auf Gründe. Zum anderen sieht es so aus, als sei aus diesen Überle-
gungen ein Argument gegen den Naturalismus zu gewinnen: Wenn
Willensakte wie alle anderen geistigen Prozesse neuronale Prozesse sind,
dann sind sie offenbar grundsätzlich von Ursachen und eben nicht von
Gründen bestimmt. Wollen wir an unserer Vorstellung von Personen als
Wesen festhalten, deren Handeln zumindest manchmal von Gründen
geleitet wird, dann müssen wir den Naturalismus wohl zurückweisen.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass beide Behauptungen unzu-
treffend sind: Die Unterscheidung von Gründen und Ursachen liefert
weder ein adäquates Freiheitskriterium noch einen prinzipiellen Ein-
wand gegen den Naturalismus. Allerdings ist damit nichts darüber
248 Michael Pauen
ausgesagt, ob der Naturalismus wahr oder falsch ist. Ich werde weiterhin
davon ausgehen, dass die Fähigkeit, sich im Handeln und Überlegen
von Gründen leiten zu lassen, ein auszeichnendes Merkmal von Per-
sonen und eine notwendige Bedingung von Freiheit ist; schließlich
werde ich unterstellen, dass Menschen dieses Kriterium prinzipiell er-
füllen können.
Begriffliche Klarstellungen
Ursachen und Gründe
Ich unterstelle, dass Gründe verstanden werden können als propositio-
nale Einstellungen. Die Überzeugung, dass Diebstahl verwerflich ist,
kann für mich ein Grund sein, die Waren in meinem Einkaufskorb zu
bezahlen. Gründe sind also Abstrakta: Die Überzeugung, dass Sokrates
ein Mensch ist, ist weder räumlich noch zeitlich bestimmbar, mehrere
Menschen können zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen
Orten dieselbe Überzeugung haben. Gründe unterscheiden sich damit
von Ursachen, bei denen es sich üblicherweise um raum-zeitlich be-
stimmbare Ereignisse handelt. So könnte der Aufprall eines Balles die
Ursache dafür sein, dass eine Scheibe zerbrochen ist. Schon allein dieser
Unterschied zeigt, dass Ursachen und Gründe nicht einfach miteinander
identifiziert werden können, doch es gibt noch weitere Differenzen.
Charakteristisch für Gründe bzw. propositionale Einstellungen ist es
nämlich, dass sie es rational machen, bestimmte Handlungen auszu-
führen oder gewisse Aussagen zu akzeptieren. Wenn ich also die
Überzeugung habe, dass Sokrates ein Mensch ist, und gleichzeitig
glaube, dass alle Menschen sterblich sind, dann ist es für mich rational,
die Behauptung zu akzeptieren, dass Sokrates sterblich ist. Gründe
stehen also in Rechtfertigungskontexten. Im Gegensatz dazu stehen
Ursachen in kausalen Kontexten: Der Ball bewirkt, dass die Scheibe
zerbricht. Typischerweise sind Ursache-Wirkungsbeziehungen Gegen-
stand von gesetzesartigen Verallgemeinerungen. Wir können daher
sagen, dass eine Scheibe üblicherweise zerbricht, wenn sie von einem
Ball mit einem bestimmten Gewicht und einer bestimmten Ge-
schwindigkeit getroffen wird. Wir würden jedoch nicht sagen, dass das
Zerbrechen der Scheibe unter diesen Umständen gerechtfertigt war.
Das wird spätestens dann deutlich, wenn unsere Erwartungen verletzt
werden: Wenn eine Person gegen gute Gründe handelt, werden wir
sagen, dass sie keinen Grund hatte. Wenn jedoch ein Ereignis stattfin-
Ursachen und Gründe 249
det, dass von unseren Regeln nicht vorhergesagt wird, werden wir nicht
sagen, dass das Ereignis keine Ursache hatte, vielmehr werden wir
unsere Regeln korrigieren.
Ein weiterer Unterschied zwischen Ursachen und Gründen hängt
eng mit dem zuletzt beschriebenen Merkmal zusammen. Gründe führen
eine Handlung oder Aussage nämlich nicht direkt herbei, sondern er-
lauben dem Subjekt eine Stellungnahme, in der der Grund bewertet,
akzeptiert oder gegebenenfalls verworfen werden kann. Es mag sein,
dass ich einen Grund habe, vom Schreibtisch aufzustehen und eine
Besorgung in der Stadt zu machen, doch ich kann diesen Grund als
unwichtiger bewerten als den Grund, den ich habe, am Schreibtisch zu
bleiben und weiter an meinem Aufsatz zu arbeiten. Eine solche Be-
wertung kommt bei Ursachen nicht in Frage. Entweder sie sind wirk-
sam oder sie sind es nicht: Die Scheibe wird sich nicht überlegen, ob der
Aufprall des Balles so stark ist, dass es sich lohnt, zu zerbrechen oder
nicht.
Soweit es um Handlungsgründe geht, müssen in der Regel ein
Wunsch und eine Überzeugung zusammenkommen: Ich werde also
nur dann einen Grund haben, bei Regen einen Regenschirm mitzu-
nehmen, wenn ich nicht nur überzeugt bin, dass mich der Schirm vor
Regen schützt, sondern auch den Wunsch habe, nicht nass zu werden.
Donald Davidson spricht in diesem Zusammenhang von einem „pri-
mären Grund“ (Davidson, 1990).
Reduktion und Realisierung
Diese – zugegebenermaßen skizzenhafte – Analyse zeigt, dass Ursachen
keine Gründe sein können; genauso wäre es verfehlt, davon zu spre-
chen, dass Gründe physisch realisiert sind. Bevor ich auf die Konse-
quenzen dieser Überlegung eingehe, scheinen mir noch drei weitere
begriffliche Klarstellungen erforderlich. Zum einen werde ich im Fol-
genden häufig von der „Realisierung“ mentaler Zustände sprechen. Der
Begriff der Realisierung wird dabei zumeist eher metaphorisch ver-
wendet. Ich verstehe unter einer Realisierung die Beziehung zwischen
einer Klasse von – in der Regel höherstufigen – Eigenschaften und
materiellen Objekten, die neben den genannten höherstufigen auch
gewisse niederstufige Eigenschaften aufweisen. So könnten z. B. die
Funktion von Auslassventilen bei Verbrennungsmotoren durch Objekte
aus Stahl, Aluminium oder Keramik realisiert sein. Doch egal wie diese
250 Michael Pauen
Funktion realisiert wird, in jedem Falle müssen die realisierenden Ob-
jekte die Merkmale aufweisen, die ein Auslassventil auszeichnen. Davon
abgesehen unterscheiden sich die unterschiedlichen Realisierungen
voneinander durch ihre mikrophysikalischen Merkmale. Dies zeigt
gleichzeitig, dass die Definition der vor allem in der Philosophie des
Geistes wichtigen Intuition gerecht wird, dass mentale Zustände mul-
tipel realisierbar sind.
Zu klären bleibt schließlich der Begriff der Reduktion. Während
Realisierungs- und Identitätsbehauptungen metaphysische Aussagen
über Dinge in unserer Welt sind, stellen Reduktionsbehauptungen
epistemische Aussagen über die Beziehungen zwischen Theorien oder
Beschreibungen dar. Im Gegensatz zu einem auch in der Philosophie
noch weit verbreiteten Verständnis hat Reduktion dabei nichts mit
„Verminderung“ zu tun. Gemeint ist vielmehr die Zurückführung z. B.
eines aus dem Alltag bekannten höherstufigen Phänomens auf wissen-
schaftlich verstandene Elementareigenschaften. Damit soll es möglich
werden, die für die Elementareigenschaften geltenden wissenschaftli-
chen Theorien zur Erklärung des höherstufigen Phänomens zu nutzen.
So kann man z. B. die Alltagseigenschaften von Wasser zurückführen
auf bestimmte Elementareigenschaften von H2O-Molekülen. Selbst-
verständlich wird die Existenz des Alltagsphänomens damit nicht an-
getastet: Wasser verschwindet nicht dadurch, dass wir verstehen, wie H2
O-Moleküle die für Wasser charakteristischen Eigenschaften hervor-
bringen.
Naturalismus
Klärungsbedürftig ist schließlich die Frage, was man sinnvollerweise
unter Naturalismus verstehen kann. Festhalten möchte ich zuerst, dass
im Folgenden nicht von einem methodischen Naturalismus im Sinne
Quines die Rede sein wird, der die Verfahren der modernen Natur-
wissenschaften als vorbildhaft auch für die Geisteswissenschaften an-
sieht. Im Gegensatz zu dieser Position gehe ich davon aus, dass die
Geisteswissenschaften ein eigenes methodisches Instrumentarium be-
nötigen, insbesondere dann, wenn sie sich – wie dies hier der Fall ist –
mit begrifflichen oder normativen Problemen befassen. Es erscheint mir
daher sinnvoll, Naturalismus durch die Annahme zu definieren, dass den
zentralen menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften prinzipiell die-
jenigen natürlichen Prozesse und Regularitäten zugrunde liegen, die
auch in der nichtorganischen Natur beobachtet werden können. Mit
Ursachen und Gründe 251
natürlichen Prozessen meine ich dabei Interaktionen zwischen prinzi-
piell beobachtbaren Objekten oder Substanzen, wie das Aufeinander-
prallen von Körpern oder chemische Reaktionen; mit Regularitäten
sind Abfolgen von Ereignissen gemeint, die wiederholt unter be-
stimmbaren Bedingungen auftreten, dabei muss die Regel nicht de-
terministisch sein. Akzeptiert wird damit u. a. das so genannte Prinzip
der kausalen Geschlossenheit, d. h. die Annahme, dass alle Ursachen als
physische oder eben natürliche Ursachen beschrieben werden können.
Das Prinzip besagt nicht, dass alle Ursachen deterministische Ursachen
sein müssen. Diesem Verständnis von Naturalismus entsprechen z. B.
die Versuche der Humoralpathologie, Charaktereigenschaften auf die
Zusammensetzung bestimmter Körperflüssigkeiten zurückzuführen;
ihm entsprechen auch die Theorien der modernen Neurobiologie.
Beide unterscheiden sich nur dadurch, dass erstere nach dem heutigen
Stand des Wissens eine falsche, letztere eine im Wesentlichen richtige
Erklärung liefern. Im Gegensatz dazu würde man bei den intentionalen
Handlungen eines überirdischen Wesens, den Aktivitäten einer imma-
teriellen Seele oder aber den Wirkungen der Lebenskraft nicht von
einem natürlichen Prozess sprechen. Erklärungen, die sich auf solche
Entitäten berufen, wären daher keine naturalistischen Erklärungen.
Nida-Rümelins transzendentalphilosophisches Argument
In Anlehnung an Peter F. Strawson (Strawson, 1982) sucht Julian Nida-
Rümelin aus der konstitutiven Bedeutung von Gründen für Personen
einen prinzipiellen Einwand gegen den Naturalismus abzuleiten (Nida-
Rümelin, 2005). Danach ist die Zurückweisung des Naturalismus eine
Möglichkeitsbedingung unserer lebensweltlichen Moralität, insbeson-
dere der Überzeugung, dass unser Handeln von Gründen bestimmt
wird. Die Prämissen dieses Argumentes sind unstrittig: Selbstverständ-
lich ist die Fähigkeit, nach Gründen zu handeln, nicht nur die Vor-
aussetzung für die Zuschreibung von Verdienst und Verantwortung,
sondern für sich genommen auch ein unaufgebbarer Bestandteil unseres
Selbstverständnisses. Ergänzen könnte man eine Variante des alten
Apelschen Letztbegründungsargumentes: Jeder, der argumentiert und
damit Gründe nennt, muss faktisch die Wirksamkeit dieser Gründe bei
sich und anderen voraussetzen. Wer also die Wirksamkeit von Gründen
argumentativ bestreitet, der verwickelt sich in einen performativen
Selbstwiderspruch.
252 Michael Pauen
Nida-Rümelin geht jedoch einen entscheidenden Schritt weiter. Er
argumentiert, dass die Wirksamkeit von Gründen ihrerseits den Ver-
zicht auf den Naturalismus voraussetzt. Wäre unser Handeln vollständig
durch physische Prozesse bestimmt, dann könnte es nicht unter dem
Einfluss von Gründen stehen:
Es ist eine transzendentale Bedingung unserer lebensweltlichen Moralität,
dass wir uns selbst und andere als von kausalen Ursachen nicht vollständig
determiniert ansehen. Was wir, belegt durch unsere reaktiven moralischen
Einstellungen voraussetzen, ist, dass Gründe unser Handeln leiten oder
jedenfalls leiten können. […] Wenn unser Handeln durch Anderes als Gr"nde
vollst!ndig bestimmt w!re, dann w!re diese Bedingung de facto nicht erf"llt. Da in
naturwissenschaftlichen Beschreibungen und Gesetzen Gründe keinen Ort
haben, können wir diesen Konflikt auch in der Weise formulieren: Eine
vollst!ndige naturalistische Beschreibung und Erkl!rung menschlichen Handelns ist
mit unserer lebensweltlichen Moralit!t unvereinbar. (Nida-Rümelin, 2005, 35)
Der entscheidende Schritt, der von der Unverzichtbarkeit von Gründen
zur Zurückweisung des Naturalismus führt, folgt aus der Annahme, dass
„in naturwissenschaftlichen Beschreibungen und Gesetzen Gründe
keinen Ort haben“. Dies bedeute nämlich, dass eine vollständige na-
turwissenschaftliche Beschreibung menschlichen Handelns, genauer der
handlungssteuernden kognitiven Prozesse, die Wirksamkeit von
Gründen ausschließt.
Nun scheint mir auch die zitierte Ausgangsvoraussetzung unstrittig:
Selbstverständlich ist auf der naturwissenschaftlichen bzw. neurobiolo-
gischen Beschreibungsebene niemals von Gründen die Rede: Neurone
reagieren nicht auf Gründe, sondern auf Neurotransmitter und Akti-
onspotentiale. Wir haben es hier also mit rein kausalen Prozessen zu tun.
Wie ich weiter unten noch etwas genauer deutlich machen möchte,
trifft es zudem zu, dass Gründe keine Ursachen sind: Es ist also nicht
möglich, die Wirksamkeit von Gründen dadurch zu sichern, dass man
sie mit Ursachen identifiziert, deren Wirksamkeit niemand bezweifelt.
Doch wird damit die Wirksamkeit von Gründen ausgeschlossen?
Wenn ich richtig sehe, dann verweist die Argumentation Nida-Rü-
melins auf zwei Schwierigkeiten einer naturalistischen Konzeption von
rationalen Überlegungen: Zum einen muss eine solche Konzeption
deutlich machen, wie Gründe überhaupt wirksam werden können,
wenn man unser Handeln vollständig auf physische Prozesse zurück-
führen lässt, ganz gleich ob diese Prozesse nun determiniert sind oder
nicht. Zum anderen, dies hat neben Nida-Rümelin (Nida-Rümelin,
2006) auch Rafael Ferber betont (Ferber, 2003), kann man die Wirk-
Ursachen und Gründe 253
samkeit von Gründen insbesondere dann bezweifeln, wenn man davon
ausgeht, dass unser Handeln durch determinierte neuronale Prozesse
festgelegt und daher selbst durch Naturgesetze determiniert wird.
Der erste Einwand
Kommen wir zunächst zum ersten Einwand. Dieser erscheint sehr
plausibel: Wenn Gründe keine Ursachen sind, unser Handeln bzw. – in
diesem Falle – Verhalten jedoch vollständig durch Ursachen determi-
niert wird, wie sollten Gründe dann noch handlungswirksam werden
können? Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass mit dem Argument
etwas nicht stimmen kann: Es beweist nämlich zuviel. Würde man ihm
folgen, dann müsste man auch behaupten, die Funktion von Compu-
tern werde nicht durch deren Programme bestimmt, schließlich sei alles,
was in Computern passiert, von der elektronischen Aktivität in Silizi-
umchips abhängig. Offensichtlich ist diese Überlegung jedoch falsch:
Die Programmfunktionen werden überhaupt erst durch die Aktivitäten
der Chips realisiert; ähnlich beschreibt der Naturalismus auch das
Verhältnis von psychischen und physischen Prozessen im menschlichen
Gehirn. Dazu muss man sich allerdings nicht auf die falsche Identifi-
kation von Gründen und Neuronen versteifen. Genausowenig ist man
zu der nicht minder abwegigen Behauptung gezwungen, Neurone
ließen sich durch Gründe beeinflussen: Dazu dürfte es einzelnen
Neuronen nun doch an der erforderlichen Intelligenz fehlen.
Wie Gründe wirksam werden
Das tatsächliche Bild ist um einiges komplizierter. Der entscheidende
Punkt dabei ist, dass Gründe offenbar in unseren Überlegungen wirksam
werden. Überlegungen verstehe ich dabei einfach als kognitive Pro-
zesse, die typischerweise bewusst ablaufen. So könnte also meine
Überlegung darüber, ob Sokrates sterblich ist, von den beiden Über-
zeugungen geleitet werden, dass Sokrates ein Mensch ist und alle
Menschen sterblich sind. Lasse ich mich tatsächlich von diesen Über-
zeugungen leiten, dann werde ich in meinen Überlegungen zu dem
Ergebnis kommen, dass Sokrates sterblich ist. Angesichts der beiden
Gründe, auf die ich mich dabei stütze, wäre dieses Resultat zudem
rational gerechtfertigt.
254 Michael Pauen
Nach wie vor bleibt es jedoch mysteriös, wie die Gründe in unseren
Überlegungen wirksam werden. Die Behauptung, dass Abstrakta
plötzlich Wirkungen in der physischen Welt entfalten sollten, klingt
noch wesentlich unglaubwürdiger als die, eine immaterielle Seele könne
solche Wirkungen entfalten. Offenbar würde man damit gegen einen
ehernen Grundsatz des Naturalismus, nämlich das Prinzip der kausalen
Geschlossenheit verstoßen. Ich glaube, dass dies einer der Gründe ist,
die hinter der Position von Nida-Rümelin stehen.
Tatsächlich erweist sich die Sache aber als völlig unproblematisch.
So könnte mir z. B. das schlechte Wetter einen Grund liefern, mich
warm anzuziehen. Wie ich zu diesem Grund komme, ist nicht schwer
zu erklären: Ich muss dazu gegebenenfalls nur nach draußen blicken.
Durch simple Wahrnehmung1 kann ich eine Überzeugung erwerben,
die dann handlungswirksam werden kann.
Wenn man also davon sprechen will, dass die Überlegungen einer
Person von Gründen geleitet waren, dann müssen dazu offenbar zwei
Bedingungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Überlegungen ratio-
nalen Prinzipien entsprechen. Wenn ich der Überzeugung bin, dass alle
Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dennoch aber
behaupte, Sokrates sei unsterblich, dann wird man nicht sagen, dass ich
mich in meinen Überlegungen von Gründen habe leiten lassen. Hier
handelt es sich also um eine Rationalit!tsbedingung: Die Gründe einer
Person müssen ihre Handlung oder Behauptung rational machen.
Dies allein reicht jedoch nicht aus. Es ist nämlich ohne Weiteres
denkbar, dass ich die beiden obigen Überzeugungen habe und am Ende
meiner Überlegungen zu dem Schluss komme, dass Sokrates sterblich
ist, dies jedoch nicht tue, weil ich die beiden anderen Überzeugungen
besitze. Auch in diesem Falle würden wir nicht sagen, dass mein
Handeln von Gründen geleitet ist. Zweitens muss also gefordert wer-
den, dass die Überzeugungen einer Person, die die Handlung oder
Schlussfolgerung rechtfertigen, auch faktisch wirksam werden: Meine
Überzeugungen, dass Sokrates ein Mensch ist und dass alle Menschen
sterblich sind, müssen also unter den Ursachen dafür sein, dass ich zu der
Überzeugung komme, dass Sokrates sterblich ist. Man könnte diese
1 Selbstverständlich ist die Wahrnehmung eine notwendige und keine hinrei-
chende Bedingung für den Erwerb solcher Überzeugungen. Ich benötige schon
ein vergleichsweise umfassendes Wissen, um aus einer Wahrnehmung die
Überzeugung, dass das Wetter schlecht ist, ableiten zu können. Für den Erwerb
des erforderlichen Wissens gelten jedoch dieselben Anforderungen.
Ursachen und Gründe 255
Bedingung auch als Kausalit!tsbedingung bezeichnen. Es dürfte unnötig
sein zu bemerken, dass damit nicht doch noch Abstrakta als Ursachen in
Anspruch genommen werden: Kausal wirksam werden müssen hier die
Überzeugungen und nicht etwa die Gründe selbst.
Neuronale Realisierung
Auch damit ist das ursprüngliche Problem noch immer nicht gelöst.
Von der neuronalen Ebene und den dazugehörigen naturalistischen
Beschreibungen war ja bislang noch keine Rede. Dennoch sind damit
die entscheidenden Voraussetzungen für die Lösung geschaffen: Wenn
die obigen Überlegungen zutreffen, dann kommt es jetzt nur noch
darauf an, dass die kognitiven Prozesse, in denen Gründe wirksam
werden, neuronal realisiert sind. Es ist nicht zu erkennen, welche
prinzipiellen Schwierigkeiten für eine neuronale Realisierung aus der
Tatsache erwachsen sollten, dass in den zu realisierenden psychischen
Prozessen Gründe wirksam sind. Plausibel sein sollte das insbesondere
dann, wenn man sich vor Augen hält, dass solche Gründe – wie in dem
obigen Beispiel – aus bloßen Wahrnehmungsprozessen erwachsen
können.
Ebenso wie man ein und denselben Computer also auf der Ebene
der Hardware und auf der Ebene der Software beschreiben kann, so
wäre es dann möglich, geistige Prozesse in einer mentalistisch-inten-
tionalen und einer neurobiologischen Sprache zu beschreiben. Von
Gründen und natürlich auch von Normen und Normkonflikten wäre
nur in der mentalistisch-intentionalen Sprache die Rede.2 Doch wenn
die Überlegungsprozesse, in denen Gründe und Normen wirksam
werden, durch neuronale Aktivitäten realisiert sind, dann kann man zu
deren Beschreibung auch die Sprache der Neurobiologie verwenden.
Dass man zu Gründen Stellung nehmen kann, wäre hier kein Gegen-
argument: Auch solche Stellungnahmen sind kognitive Prozesse, die
prinzipiell neuronal realisiert sein können. Wie gesagt: Ob eine solche
Realisierung faktisch vorliegt oder nicht, kann hier offen bleiben. Zur
Diskussion steht nur die Frage, ob damit die Wirksamkeit von Gründen
ausgeschlossen wäre: Dies scheint nicht so zu sein.
2 Dies zeigt noch einmal, warum Gründe handlungswirksam sein können, auch
wenn sie nicht mit Ursachen identifiziert werden und in den neurophysiolo-
gischen Beschreibungen nicht vorkommen; vgl. Nida-Rümelin, 2006, 35 f.
und Nida-Rümelin, in diesem Band.
256 Michael Pauen
Nida-Rümelin akzeptiert diese naturalistische Lösung jedoch nicht.
In seinen Augen setzt die Wirksamkeit von Gründen voraus, „dass in-
tentionale Vorgänge auf natürliche Vorgänge einwirken“ (Nida-Rü-
melin, 2005, 94).3 Behauptet wird damit die Notwendigkeit einer In-
teraktion zwischen naturalistisch unterbestimmten Intentionen und
physischen Zuständen. Doch wie lässt sich diese Forderung, die weit
über das ursprüngliche Programm Strawsons hinausgeht, begründen?
Der Verweis darauf, dass Gründe keine Ursachen sind, entfällt, weil der
Naturalist auf diese falsche Behauptung nicht angewiesen ist. Denkbar
ist allenfalls die Annahme, dass Gründe bzw. rationale Überlegungs-
prozesse aus begrifflichen Gründen nicht im Vokabular der Neuro-
biologie erfassbar sind. Doch worauf sollte sich eine solche begriffliche
Annahme stützen? Die Tatsache, dass Gründe propositionale Einstel-
lungen sind, die in Rechtfertigungsbeziehungen stehen und faktisch in
unseren Überlegungen wirksam werden, sagt natürlich noch nichts
darüber aus, wie diese Überlegungen realisiert sein müssen. Prinzipiell
würden hierfür bestimmte Zustände in einer immateriellen Seele ebenso
in Frage kommen wie die nicht-physischen Eigenschaften eines Gehirns
oder eben die Aktivitätszustände neuronaler Assemblies. Zwar gibt es
ein ernst zu nehmendes begriffliches Argument, demzufolge ph!nome-
nale Bewusstseinseigenschaften, die berühmten Qualia, nicht neuronal
realisiert sein können (Nagel, 1974; Levine, 1983; Chalmers, 1996;
Pauen/Stephan, 2002). Das Argument basiert allerdings auf der Vor-
aussetzung, dass phänomenale Eigenschaften nicht in funktionalen Ka-
tegorien zu erfassen sind. Diese Voraussetzung gilt jedoch – auch nach
Meinung der Vertreter dieses Argumentes – nicht für kognitive Zu-
stände und ist daher auf Überzeugungen nicht zu übertragen.
Gegen die Annahme, rationale Überlegungen könnten prinzipiell
nicht neuronal realisiert sein, spricht schließlich auch der folgende
Gedankengang: Nehmen wir an, wir lebten in einer Welt, in der es
wirksame Gründe und damit Überlegungen gibt, die – wie von Nida-
Rümelin gefordert – naturalistisch unterbestimmt sind. Die Unterbe-
stimmtheit soll dabei für viele, jedoch nicht für alle kognitiven Prozesse
einer Person gelten. Nehmen wir weiterhin an, ich sei zunächst über-
3 In seiner Replik auf eine frühere Fassung dieses Aufsatzes behauptet Nida-
Rümelin, dass „der Libertarier […] nicht zum Kartesianer mutieren“ müsse
(Nida-Rümelin, in diesem Band, S. 276). Generell trifft dies natürlich zu, doch
ich sehe nicht, wie anders man Nida-Rümelins Version des Libertarianismus,
wie sie etwa an der gerade zitierten Stelle formuliert wird, verstehen kann.
Ursachen und Gründe 257
zeugt, dass meine derzeitigen Überlegungen von Gründen bestimmt
sind. Nachträglich würde sich herausstellen, dass diese kognitiven
Prozesse vollständig neuronal realisiert sind. Müsste ich daraufhin meine
ursprüngliche Annahme aufgeben? Auf die Unaufgebbarkeit der Prä-
sumtion, dass Gründe wirksam sind, kann ich mich nicht berufen,
schließlich wäre diese Wirksamkeit nicht grundlegend in Frage gestellt;
es geht ja nur um einen einzigen Fall. Dennoch wäre eine Rücknahme
der ursprünglichen Behauptung offenbar abwegig; der skizzierte Befund
würde einfach nur zeigen, dass meine geistigen Prozesse in diesem Falle
neuronal realisiert sind – nicht mehr und nicht weniger.
Der zweite Einwand
Von zentraler Bedeutung für den Zusammenhang von Gründen und
Ursachen ist noch ein zweiter wichtiger Aspekt, nämlich der Deter-
minismus. Ich hatte oben bereits darauf hingewiesen, dass sich kein
Naturalist darauf festlegen muss, dass unsere Welt determiniert ist; ich
bin sogar der Meinung, dass Naturalisten sich darauf nicht festlegen
sollten. Auf der anderen Seite glaube ich aber, dass ein Naturalist die
Mçglichkeit von Determination akzeptieren sollte.
Setzt Begründung Freiheit voraus?
Selbst wenn man der Ansicht ist, dass Überlegungsprozesse neuronal
realisiert sein können, stellt sich die Frage, ob man determinierte
Überlegungsprozesse noch als von Gründen geleitet bezeichnen kann.
In genau diesem Sinne lässt sich auch der zuvor zitierte Passus aus Nida-
Rümelins Schrift #ber menschliche Freiheit interpretieren. Der Verdacht,
dass dies nicht der Fall ist, taucht bereits bei Epikur auf: „Wer sagt, alles
geschehe mit Notwendigkeit, vermag demjenigen nichts vorzuhalten,
der sagt, nicht alles geschehe mit Notwendigkeit. Denn ebendies, so
behauptet er, geschehe mit Notwendigkeit.“ (Epikur, 2000). In dieser
Form ist der Einwand sicherlich schnell durch den Hinweis darauf ab-
zuwehren, dass die deskriptive Frage, ob eine Antwort notwendiger-
weise gegeben wurde, zu unterscheiden ist von der normativen Frage,
ob sie richtig oder falsch ist.
Dieses Gegenargument trifft allerdings nicht eine weiterentwickelte
Form des Einwands, die von Rafael Ferber vorgebracht worden ist.
Ferber meint, schon die bloße Behauptung des Determinismus führe in
258 Michael Pauen
einen Selbstwiderspruch, weil der Determinist sich die Möglichkeit
entzieht, seine eigene Behauptung zu begründen, „denn der Determi-
nist“ wird „nicht durch Gründe, sondern durch Wirkursachen dazu
bestimmt, seine Ansicht für wahr zu halten“ (Ferber, 2003, 185). Die
vermeintlich rationalen Überlegungen eines Deterministen stehen daher
auf einer Stufe mit unkontrollierten Körperreaktionen: „Der Beweis
eines Deterministen wäre einem ‘Rülpsen‘ vergleichbar, das er nicht
unter Kontrolle hat“ (Ferber, 2003, 185).
Die Behauptung eines Selbstwiderspruchs basiert auf der Voraus-
setzung „Begründung […] setzt Freiheit voraus“.4 Die Behauptung
erweist sich jedoch selbst dann als unzutreffend, wenn man Ferbers
Voraussetzung akzeptiert. Der Determinist kann einen Selbstwider-
spruch nämlich einfach dadurch vermeiden, dass er sich zum Kompat-
ibilismus bekennt: Er könnte sich dann auch in einer determinierten
Welt als frei betrachten und würde die genannte Voraussetzung erfüllen.
Doch – ist diese Voraussetzung akzeptabel? Ich glaube nicht. Der
Zusammenhang zwischen Freiheit und Begründung scheint mir genau
umgekehrt zu sein: Nicht Begründung setzt Freiheit, sondern Freiheit
setzt Begründung oder allgemeiner: Rationalität voraus. Mit anderen
Worten: Sicher würden wir bestreiten, dass eine Person in der Lage ist,
frei und selbstbestimmt zu handeln, wenn sie prinzipiell unfähig ist, sich
von Gründen leiten zu lassen. Der umgekehrte Zusammenhang gilt
jedoch nicht: Wir würden auch dann davon sprechen, dass eine Person
sich bei einer einzelnen Handlung oder Aussage von Gründen leiten
ließ, wenn sie keine freie Entscheidung zwischen den zur Verfügung
stehenden rationalen Optionen getroffen hat, und zwar ganz unab-
hängig davon, was man unter einer freien Entscheidung versteht. Je-
mand, der die Regeln der Arithmetik kennt, hat Gründe dafür, die
Frage nach der Summe von zwei und zwei mit „vier“ zu beantworten.
Wir würden dies auch dann nicht bestreiten, wenn er keine freie
Auswahl zwischen den Antworten „eins“, „zwei“ oder „drei“ getroffen
hat.
Hierbei handelt es sich nicht nur um eine bloße Konvention,
sondern um eine unumgängliche Bedingung jeder sinnvollen Konzep-
tion rationalen Handelns und Entscheidens. Die entgegengesetzte An-
nahme, derzufolge jeder einzelne rationale Akt – so wie von Ferber
4 Vgl.: „Eine freie Beweiswürdigung kann es nach dem Determinismus gar nicht
geben, da das Ergebnis jeder Beweiswürdigung schon im voraus bestimmt ist“
(Ferber, 2003, 185).
Ursachen und Gründe 259
vorausgesetzt – eine freie Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden
Gründen erfordert, führt nämlich entweder in einen Regress oder
zwingt zu der Annahme, dass Rationalität Irrationalität voraussetzt bzw.
eine Entscheidung nur dann als begründet betrachtet werden kann,
wenn sie auf einer unbegründeten Entscheidung basiert. Dies lässt sich
an dem obigen Beispiel deutlich machen: Wenn meine Entscheidung
zwischen den zur Lösung einer Mathematikaufgabe zur Verfügung
stehenden Antwortoptionen rational sein soll, dann muss ich dafür
Gründe haben. Diese erfordern voraussetzungsgemäß ihrerseits wieder
eine freie Entscheidung, für die dann das Gleiche gilt, etc.: Hier droht
also ein Regress. Der wäre nur dann zu vermeiden, wenn man an
irgendeiner Stelle in der Begründungskette eine unbegründete freie
Entscheidung zulässt. Dies mag unter bestimmten Bedingungen faktisch
akzeptabel sein: Wenn wir nicht wie Buridans Esel verhungern wollen,
müssen wir bei zwei exakt gleich guten Alternativen notfalls eine un-
begründete Entscheidung für eine der beiden Optionen treffen. Doch
unter der von Ferber angenommenen Voraussetzung wäre dies eine
Bedingung von Rationalität – sofern man dem ansonsten drohenden
Regress entgehen will. Mit anderen Worten: Ein bestimmter Überle-
gungsprozess könnte nur dann als begr"ndet gelten, wenn er sich auf eine
unbegr"ndete Entscheidung zurückführen ließe. Er wäre auf der anderen
Seite insbesondere dann nicht begründet, sondern hätte den Status der
oben genannten unwillkürlichen Körperreaktion, wenn er durch die
rationalen Überzeugungen der Person festgelegt würde. Dies scheint
mir klarerweise abwegig zu sein; die von Ferber zugrunde gelegte
Voraussetzung sollte man daher besser aufgeben.
Sind determinierte Entscheidungen unwirksam?
Ebenso wie Ferber versucht auch Nida-Rümelin die Unvereinbarkeit
von Rationalität und Determination zu erweisen, allerdings verfolgt er
insbesondere in seiner Antwort auf eine frühere Fassung dieses Papiers
eine andere Strategie. Er scheint der Ansicht zu sein, dass Gründe in
einer determinierten Welt nicht wirksam werden können. In seinen
Augen bringt der Naturalist die Wirksamkeit von Gründen in Gefahr,
wenn er den Determinismus akzeptiert:
Die entscheidende Frage ist, ob unser Selbstbild als Menschen […] damit
vereinbar [ist], dass das Ergebnis der Abwägung von Gründen und damit
der kausale Einfluss unserer Deliberationen auf unser Verhalten immer
schon durch naturalistische Gesetzmäßigkeiten vorab (also vor aller Deli-
260 Michael Pauen
beration) festliegt. Ich meine, dass die Antwort „Nein“ lauten muss. […]
Wenn es tatsächlich so wäre, lebten wir in einem großen Illusionstheater.
(Nida-Rümelin, in diesem Band, S. 276) 5
Warum sollte unser Selbstbild nicht mit der Annahme vereinbar sein,
dass die Ergebnisse unserer Überlegungen durch Naturgesetze festgelegt
sind? Soweit ich sehe, kann man sich hier auf zwei Überlegungen
stützen. Erstens könnte man der Ansicht sein, dass Entscheidungen in
diesem Falle unwirksam wären, zweitens könnte man argumentieren,
dass die Abwesenheit von Determination zu einer Steigerung von
Freiheit führe.
Die Bemerkung, dass wir uns in einem großen Illusionstheater
vorfinden würden, sollte der naturgesetzliche Determinismus wahr sein,
deutet darauf hin, dass Nida-Rümelin Gründe in einer naturgesetzlich
determinierten Welt für unwirksam hält. In genau diesem Sinne lässt
sich auch der zuvor zitierte Passus aus der Schrift #ber menschliche Freiheit
interpretieren.
Ich gehe wieder davon aus, dass das, was wir sinnvollerweise ver-
langen können, der Einfluss von von Gründen geleiteten Überlegungen
auf Handlungen, Entscheidungen und Schlussfolgerungen ist. Das
sinnvollste Kriterium für die Wirksamkeit solcher Überlegungen scheint
mir die kontrafaktische Frage zu sein, ob die Handlung auch in Ab-
wesenheit der betreffenden Überlegung in einer determinierten Welt so
ausgefallen wäre, wie sie faktisch ausgefallen ist. Dies wäre jedoch si-
cherlich nicht der Fall: Naturalistischen Vorstellungen zufolge müssen
die Überlegungen neuronal realisiert sein; in Abwesenheit der Über-
legung würden daher auch die realisierenden neuronalen Prozesse
entfallen, doch der Wegfall bestimmter kausal wirksamer physischer
Aktivitäten hätte in einer determinierten Welt selbstverständlich Aus-
wirkungen. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die rationalen
Überlegungen auch im Falle von naturgesetzlicher Determination
wirksam wären.
Man kann sich denselben Sachverhalt auch in einem lebensnäheren
Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich eine Parlamentsentscheidung zu
einer Kriegserklärung vor. Sie wissen, dass etwa die Hälfte der Abge-
ordneten für, etwa die andere Hälfte der Abgeordneten gegen den Krieg
sind; lediglich ein Abgeordneter schien bis kurz vor der Abstimmung
unentschlossen. Er entscheidet sich schließlich mit der Begründung, der
5 Vgl. außerdem Nida-Rümelin, 2005, 94.
Ursachen und Gründe 261
Krieg sei unmoralisch, für den Frieden und verhilft den Kriegsgegnern
damit zur Mehrheit; die bereits vorbereitete Kriegserklärung wird nicht
abgegeben und die Soldaten müssen in ihre Kasernen zurückkehren. Im
Nachhinein erfahren Sie, dass sich der fragliche Abgeordnete schon vor
längerer Zeit aufgrund rationaler Überlegungen für einen weitgehenden
Pazifismus entschieden hat; die Entscheidung war also determiniert.
Doch würde dies bedeuten, dass die Entscheidung unwirksam oder
illusionär war oder dass sie nicht von rationalen Überlegungen abhing?
Dies ist sicherlich nicht der Fall. Auch unter den zuletzt skizzierten
Bedingungen hing der Kriegsausbruch ja von der Parlamentsentschei-
dung ab, die ihrerseits wesentlich auf die rationalen Überzeugungen des
genannten Abgeordneten über die Verwerflichkeit des Krieges zu-
rückzuführen wäre. Dass aber bestätigt die These, dass auch eine de-
terminierte Entscheidung wirksam sein kann und daher nicht illusionär
ist. Sind rationale Überlegungsprozesse unter den Determinanten, dann
kann man zudem von einer rationalen Entscheidung sprechen.
Zusätzlicher Spielraum für gute Gründe
in einer nichtdeterminierten Welt?
In einer determinierten Welt müssen rationale Entscheidungen also
nicht unwirksam sein. Von einem Illusionstheater kann man somit unter
diesen Bedingungen nicht sprechen. Das aber lässt die Möglichkeit
offen, dass sich unsere rationalen Entscheidungsspielräume in einer in-
determinierten Welt vergrößern würden. Unterstellen wir also, dass
eine Person sich in einer determinierten Welt aufgrund physisch reali-
sierter, rationaler Überlegungsprozesse für eine Option A und gegen
eine Option B entschieden hat. Stellen wir uns nun vor, die Deter-
mination würde zu bestimmten Zeitpunkten aufgehoben, so dass auch
ein Laplacescher Dämon vor der Aufhebung nicht vorhersagen kann,
wie die Person sich entscheiden wird.
Zunächst könnte man die Determination vor der Geburt der Person
aufheben und damit die oftmals bemängelte Abhängigkeit von Ereig-
nissen beseitigen, auf welche die Person einfach deshalb keinen Einfluss
haben kann, weil sie vor ihrer Geburt eingetreten sind (Inwagen, 1982).
Doch liefert das einen zusätzlichen Spielraum für rationale Ent-
scheidungen? Offenbar ist dies nicht der Fall, denn selbst wenn die
Aufhebung der Determination einen solchen Spielraum schaffen würde,
könnte die Person ihn vor ihrer eigenen Geburt nicht nutzen.
262 Michael Pauen
Dieser Gegeneinwand entfällt, wenn wir uns vorstellen, die De-
termination würde unmittelbar vor der Entscheidung aufgehoben, so
dass zumindest zu diesem Zeitpunkt völlig offen ist, wie die Entschei-
dung ausfallen wird. Ergibt sich hieraus eine Ausweitung des Ent-
scheidungsspielraumes? Dies ist mehr als fraglich. Die Aufhebung der
Determination führt nämlich dazu, dass auch die Wünsche, Überzeu-
gungen und Erfahrungen der Person ihren Einfluss auf die Entscheidung
verlieren, schließlich soll es ja völlig offen sein, wie die Entscheidung
ausfällt. Selbst wenn meine Erfahrungen und Überzeugungen mir sehr
gute Gründe für die Option B liefern, würden diese Gründe unter den
gegebenen Bedingungen neutralisiert, und es könnte sein, dass ich mich
gegen meine Erfahrungen und Überzeugungen und ohne einen wei-
teren guten Grund „einfach so“ für A entscheide. Letztlich würde dies
bedeuten, dass die Handlung von einem Zufall abhinge. Im Gegensatz
zu den Annahmen Nida-Rümelins hieße dies, dass Gründe hier un-
wirksam würden. Die Aufhebung der Determination hätte zur Folge,
dass eine Handlung bzw. Entscheidung von „anderem als Gründen“
bestimmt würde.
Natürlich muss die Aufhebung der Determination nicht in puren
Zufall führen, doch auch dies rettet die inkompatibilistische Position
nicht: Auch eine nur mäßige Chance, dass eine Entscheidung zustande
kommt, die den Überzeugungen und Erfahrungen des Handelnden
widerspricht, schränkt allenfalls dessen Fähigkeit ein, zu einer rationalen
Entscheidung zu gelangen. Bleibt die Wahrscheinlichkeit eines abwei-
chenden Handlungsverlaufs unterhalb einer bestimmten Schwelle, dann
kann man sie vermutlich gänzlich ignorieren, wird sie größer, dann
steigt die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung, die – bezogen auf die
Überzeugungen und Wünsche des Handelnden – einfach irrational ist.
In keinem Falle aber ergibt sich hieraus eine Ausweitung des Spielraums
für rationale Entscheidungen.
Es kann unter diesen Voraussetzungen nicht weiter überraschen,
dass auch die Aufhebung der Determination w!hrend des Entschei-
dungsprozesses nicht zu einem Gewinn an Rationalität führt. Nehmen
wir zu Zwecken einer vereinfachten Darstellung an, die Aufhebung
geschehe in der Mitte des Deliberationsprozesses. Das aber heißt nichts
anderes, als dass die erste Phase dieses Prozesses ihre Wirkung auf die
endgültige Entscheidung verliert; dies gilt dann gleichermaßen auch für
die Gründe, die in dieser Phase erörtert wurden. Hat man also in dieser
Phase vornehmlich die Gründe für die Option A erörtert, in der
zweiten Phase dann vornehmlich die Gründe für die Option B, dann
Ursachen und Gründe 263
bleiben nur letztere wirksam. Dies bekräftigt noch einmal die Ein-
wände, die oben gegen die Position von Ferber vorgebracht wurden:
Von einem Gewinn an Rationalität durch die Aufhebung von Deter-
mination wird man unter diesen Voraussetzungen schwerlich sprechen
können – ganz im Gegenteil.
Ein letzter Einwand bleibt. Offenbar gehört es zu unseren sub-
stantiellen Intuitionen in Bezug auf rationale Deliberationsprozesse, dass
wir zu Gründen Stellung nehmen, sie verwerfen und neue Gründe
akzeptieren können. Genau das macht die Erfahrung der Offenheit eines
Deliberationsprozesses aus, in dessen Verlauf sich möglicherweise ganz
neue Aspekte ergeben mögen, die uns zu einer anderen Entscheidung
führen, als wir ursprünglich vorausgesehen hatten. Ich glaube, dass jede
sinnvolle Theorie rationaler Entscheidungen Raum für solche Ent-
wicklungen lassen muss: Ein Überlegungsprozess, der gute Gründe
ignorieren würde, die erst während dieses Prozesses sichtbar werden,
wäre offenbar nicht wirklich rational. Doch wie soll dies in einer de-
terminierten Welt möglich sein?
Festzuhalten bleibt zunächst, dass der Determinismus keine An-
nahmen über die Komplexität von Entscheidungs- und Deliberations-
prozessen enthält. Genausowenig muss der Determinist unterstellen,
dass sich eine Person bereits zu Beginn des Entscheidungsprozesses des
Ausgangs dieser Entscheidung bzw. der entscheidungswirksamen
Überzeugungen bewusst ist. Natürlich kann es genauso determiniert
sein, dass sich innerhalb des Prozesses Aspekte zeigen, die der Person
vorher nicht bekannt waren. Entscheidungsprozesse lassen sich hier in
einem gewissen Maße mit anderen Prozessen des Erkenntnisgewinns
vergleichen, und natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir am
Beginn eines solchen Prozesses noch nicht wissen, zu welchem Ziel uns
der Prozess führt und welchen Verlauf er dabei nehmen wird.
Natürlich ist es überhaupt nicht auszuschließen, dass der Verlauf
solcher Prozesse an manchen Stellen nicht festliegt. Doch einen Gewinn
an Rationalität wird man daraus schwerlich ableiten können. Auch der
Reflexionsprozess, dem ich einen meiner Gründe unterziehe, kann
doch nur rational sein, wenn ich dabei meinen anderen Gründen folge –
nicht, wenn dieser Reflexionsprozess unabhängig von diesen Gründen
variieren kann. Tatsächlich verstößt eine Person, die sich unter gleich
bleibenden Bedingungen einmal so und einmal anders verhält oder gar
im Widerspruch zu ihren eigenen guten Gründen handelt, schon gegen
unser alltagssprachliches Verständnis von Rationalität.
264 Michael Pauen
Wie gesagt: Ob unsere Welt determiniert ist oder nicht, steht nicht
zu Debatte. Der Naturalist kann sich hier mit guten Gründen der
Stimme enthalten. Doch wenn die Einführung von Indetermination
offenbar nicht zu einem zusätzlichen Spielraum für rationale Entschei-
dungen führt, dann kann die Abwesenheit von Indetermination nicht zu
einem Verlust der Möglichkeit rationaler Entscheidungen führen. In-
sofern gibt es keinen Grund, zugunsten unserer Fähigkeit, nach
Gründen zu handeln, auf der Indetermination zu bestehen.
Stimmen diese Überlegungen, dann kann auch ein Naturalist davon
ausgehen, dass Überlegungsprozesse, in denen Gründe wirksam werden,
eine vollständige neuronale Beschreibung haben können. Es mag viele
Einwände gegen den Naturalismus geben – die Präsumtion, dass unser
Handeln von Gründen geleitet wird, gehört jedoch offenbar nicht dazu.
Wingert und Habermas
Selbst wenn man Nida-Rümelins Einwand gegen den Naturalismus
zurückweist, bleibt allerdings ein Problem bestehen, auf das Lutz
Wingert und Jürgen Habermas hingewiesen haben. Ihr Einwand ist
schwächer, weil er sich nicht gegen den Naturalismus generell, sondern
nur gegen dessen reduktionistische Varianten richtet. So räumt etwa
Wingert eine Abhängigkeit geistiger von physischen Prozessen ein,
besteht jedoch gleichzeitig auf einer prinzipiellen Differenz zwischen
beiden Bereichen:
Die kognitiven Prozesse und Leistungen sind in dem Sinn von neuronalen
Prozessen abhängig, daß sie nicht ohne diese möglich sind. Aber daß etwas
nicht ohne etwas anderes vorkommen kann, bedeutet nicht, daß es damit
zusammenfällt. (Wingert, 2004, 202)
Neuronale Prozesse scheinen hier eine Art notwendiger, nicht jedoch
hinreichender Bedingungen für mentale Zustände zu bilden; dabei ist
der Vorbehalt gegen das „Zusammenfallen“ offenbar als Ablehnung der
Reduktion psychischer auf physische Phänomene zu verstehen.
Entschiedener noch wird diese Position von Jürgen Habermas
vertreten (Habermas, 2004). Anders als Nida-Rümelin plädiert Ha-
bermas für einen „weichen Naturalismus,“ der zwar an monistischen
Grundintuitionen festhält, gleichzeitig aber die Irreduzibilität des
mentalistischen Sprachspiels betont. Habermas sieht hierin eine not-
wendige Bedingung für die Wirksamkeit von Gründen; seine Vorbe-
Ursachen und Gründe 265
halte gegenüber reduktionistischen Varianten des Naturalismus sind also
im Wesentlichen epistemologisch begründet.
Schon aufgrund der wohlbekannten Probleme bei der Naturalisie-
rung von Intentionalität halte ich eine Reduktion kognitiver Prozesse
auf physische Prozesse für undurchführbar (Stich, 1994; Pauen, 1996).
Doch selbst wenn dies gelänge, würden damit weder Wirksamkeit und
Existenz von Gründen noch die Existenzberechtigung unserer menta-
listischen Sprache in Frage gestellt. Eine solche Reduktion würde
Aussagen über kognitive Prozesse lediglich auf Aussagen über neuronale
Prozesse zurückführen, so dass wir das Auftreten der kognitiven Pro-
zesse mit neurobiologischen Erkenntnissen verständlich machen könn-
ten. Ganz ähnlich verschafft uns die Reduktion von Wasser auf H2O
den Zugang zu mikrophysikalischen Erklärungen z. B. für das Frieren
von Wasser. Natürlich geben solche Erklärungen keinen Anlass, an der
Existenz von Wasser zu zweifeln oder daran, dass Wasser friert. Das
Gleiche würde für die Existenz und Wirksamkeit kognitiver Prozesse
einschließlich der in ihnen erwogenen Gründe gelten.
Habermas’ Befürchtungen scheinen auf der Annahme zu beruhen,
dass eine solche Rückführung Gedanken, also die propositionalen Ge-
halte kognitiver Zustände, „ohne semantischen Rest in ein empiristi-
sches […] Vokabular übersetzen“ müsse (Habermas, 2004, 882).
Selbstverständlich wäre ein solches Ziel völlig verfehlt; sieht man einmal
vom eliminativen Materialismus ab, dann spielt es seit der Abkehr vom
semantischen Physikalismus in den sechziger Jahren praktisch keine
Rolle mehr. Die Kritik an dieser Position hatte sich ja an der Einsicht
entzündet, dass eine solche Zurückführung faktisch unmöglich ist:
Auch in den funktionalen Beschreibungen mentaler Zustände kann
nicht auf mentalistische Ausdrücke verzichtet werden.
Doch nehmen wir an, dieses Ziel würde dennoch verfolgt und auch
erreicht – würde damit nicht doch die Wirksamkeit von Gründen oder
aber die Geltung von Normen in Frage gestellt? Im utopischen, äu-
ßersten Fall wären mentalistische Aussagen über einen kognitiven Zu-
stand problemlos in rein naturalistische Aussagen über einen neuronalen
Prozess übersetzbar und umgekehrt – die Beziehung zwischen diesen
beiden Sprachspielen wäre also völlig transparent. Wir könnten dann das
faktische Auftreten einer Überzeugung innerhalb eines kognitiven
Prozesses durch den Rückgriff auf frühere neuronale Prozesse ver-
ständlich machen, wobei anzunehmen ist, dass es sich bei letzteren um
kognitive Prozesse handelt, in denen Argumente für oder gegen die
fragliche Überzeugung abgewogen wurden – die Wirksamkeit von
266 Michael Pauen
Gründen bliebe also erhalten und sie wäre wegen des problemlosen
Übergangs zwischen den Sprachspielen sogar relativ leicht nachzuvoll-
ziehen. All dies wäre jedoch eine rein deskriptive Herangehensweise.
Die normative Frage nach der Geltung bestimmter Behauptungen
könnte so nicht beantwortet werden. Die skizzierte Erklärung würde
also nichts darüber sagen, ob die Überzeugung richtig ist bzw. ob sie
durch die zuvor angestellten Überlegungen gerechtfertigt wird: Bei der
Verletzung logischer, moralischer oder grammatischer Regeln werden
schließlich keine Naturgesetze gebrochen. Zur Beantwortung solcher
Fragen müssten wir weiterhin auf die mentalistischen bzw. evaluativen
Sprachspiele zurückgreifen, in denen wir solche Fragen auch heute
beantworten.
Schon allein dies zeigt, dass auch die Vertreter eines dogmatischen
Naturalismus die mentalistischen Sprachspiele nicht einfach als über-
flüssig oder gar illegitim abtun könnten. Abgesehen davon dürften auch
naturalistische Fundamentalisten ein Interesse am Fortbestand logischer,
grammatischer und moralischer Regeln haben und damit an der Er-
haltung von Bezugssystemen, in denen diese Regeln begründet und
angewendet werden können. Kurz: Selbst wenn man gegen alle Ver-
nunft versuchte, die Idee einer vollständigen Reduktion mentaler Zu-
stände auf neurobiologische Prozesse wieder zu beleben und damit
Erfolg hätte, würde man damit weder die Wirksamkeit von Gründen
noch die Geltung von Normen in Frage stellen.
Habermas hat jedoch nicht nur den Naturalismus als eine philoso-
phische Position im Auge, sondern auch einzelne empirisch begründete
Aussagen. So wirft er Gerhard Roth vor, dass dieser „Gründe und die
logische Verarbeitung von Gründen als Epiphänomene“ einstufe (Ha-
bermas, 2004, 880). Dies ist insofern überraschend, als Roth in dem von
Habermas zitierten Abschnitt (Roth, 2003, 525–528) ausführlich auf
„die Bedeutung des bewussten und distanzierten Abwägens“ (so der
Titel des Abschnitts) eingeht. Auch wenn die „Letztentscheidung“
dabei den Emotionen vorbehalten bleibt, so wird man kaum mit Ha-
bermas davon sprechen können, dass das „Geben und Nehmen von
Gründen als Epiphänomen abgetan“ werde; noch weniger kann von
einem „Epiphänomenalismus des bewussten Lebens“ gesprochen wer-
den – auch Emotionen sind schließlich Bewusstseinsphänomene.
Wichtiger noch scheint mir ein methodischer Punkt: Offenbar macht
Roth hier keine philosophische Aussage über das Verhältnis von Ur-
sachen und Gründen, der gegebenenfalls rein philosophisch-argumen-
tativ zu begegnen wäre, vielmehr geht es um das faktische Verhältnis
Ursachen und Gründe 267
von emotionalen und rationalen Einflüssen auf Handlungen und Ent-
scheidungen. Ebenso wie die Aussagen selbst muss auch die Kritik an
ihnen durch empirische Befunde oder deren Interpretation gestützt
werden – philosophische Grundsatzüberlegungen helfen bei solchen
Tatsachenaussagen nicht weiter.
Gründe als Kriterien freier Handlungen
Die Zweifel, ob die Unterscheidung von Gründen und Ursachen
wirklich prinzipielle Einwände gegen den Naturalismus begründen
kann, werden schließlich auch dadurch bestärkt, dass Naturalisten wie
z. B. Ansgar Beckermann sich dieser Unterscheidung in ihren Kon-
zeptionen von Willensfreiheit bedient haben (Beckermann, 2004). In
der Regel handelt es sich hier um kompatibilistische Positionen, die die
Vereinbarkeit von Freiheit und Determination behaupten. Diesen
Theorien zufolge hängt die Freiheit einer Handlung nicht davon ab, ob
die Handlung determiniert ist, sondern davon, wie sie determiniert ist.
Ist sie durch die Person bestimmt, dann ist sie selbstbestimmt und damit
frei. Der bloße Verweis auf die Person liefert allerdings noch kein
ausreichend trennscharfes Kriterium für die Unterscheidung zwischen
freien und unfreien Handlungen, immerhin können Personen eine
Reihe von Eigenschaften wie Süchte und psychopathische Dispositio-
nen haben, die ihre Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit offenbar
einschränken. Viele Kompatibilisten sind der Ansicht, dass erst der
Verweis auf handlungsbestimmende Gründe das geeignete Kriterium
liefert. Ich werde mich im Folgenden ausschließlich mit diesem Krite-
rium befassen und nicht weiter für den Kompatibilismus argumentie-
ren.6
Zieht man in Betracht, dass es ein auszeichnendes Merkmal von
Personen ist, dass ihr Handeln von Gründen bestimmt werden kann –
während Süchte, psychopathische Dispositionen und andere äußere
Faktoren, die den Freiheitsspielraum einschränken, typischerweise als
Ursachen zu beschreiben sind – dann liegt es in der Tat nahe, Hand-
lungen, die durch Gründe, genauer: durch rationale Überlegungspro-
zesse einer Person bestimmt werden, als selbstbestimmt zu bezeichnen.
In diesem Sinne hat z. B. Peter Bieri argumentiert (Bieri, 2001); auch
6 Vgl. jedoch Pauen, 2001, 2004a, b.
268 Michael Pauen
die skizzierten Positionen von Habermas und Wingert lassen sich so
verstehen.
Attraktiv ist diese Position deshalb, weil sie Schwierigkeiten zu
umgehen scheint, die auftreten, wenn man auch Emotionen und Be-
dürfnisse als mögliche Motive einer freien Handlung einbezieht. An-
gesichts der Tatsache, dass Emotionen und Bedürfnisse die Freiheit
einer Person offensichtlich auch einschränken können, würde man
nämlich Kriterien für die Unterscheidung zwischen solchen Emotionen
und Bedürfnissen benötigen, die einer freien Handlung zugrunde liegen
können, und anderen, bei denen dies nicht akzeptabel ist. Viele Autoren
sind der Ansicht, dass die Schwierigkeiten bei der Formulierung und
Legitimation solcher Kriterien nur schwer zu bewältigen sind.
Ein weiter Begriff von Gründen
Ich möchte jedoch zeigen, dass der Rückgriff auf Gründe keine Erfolg
versprechende Alternative bei der Suche nach einem angemessenen
Kriterium ist, vielmehr führt er geradewegs in ein Dilemma. Geht man
nämlich von einem umfassenden Begriff von Gründen aus, dann muss
man auch solche Handlungen als selbstbestimmt bezeichnen, die wir
normalerweise nicht als frei betrachten würden. Arbeitet man dagegen
mit einem engen, an starke Rationalitätskriterien gebundenen Begriff
von Gründen, dann würden Handlungen, die gegen moralische Prin-
zipien verstoßen, nicht als frei gelten.
Beginnen wir mit einem relativ weiten Begriff von Gründen: Eine
Handlung würde in diesem Falle generell als selbstbestimmt und frei
gelten, wenn sie von Gründen geleitet wird. Dies impliziert die oben
bereits erwähnte kontrafaktische Annahme, dass die Person in Abwe-
senheit der relevanten Gründe anders gehandelt hätte. Ein trivialer, aber
dennoch typischer Fall wäre eine Person, die den Wunsch hat, ein Glas
Wein zu trinken, und weiß, dass im Kühlschrank eine Flasche Wein
steht. Diese Person hat einen Grund, in die Küche zu gehen. Lässt sie
sich in ihrem Handeln durch diesen Grund leiten, dann handelt sie
diesem Kriterium zufolge frei, sofern sie den Gang unterlassen hätte, falls
sie diesen Grund nicht gehabt hätte.
Problematisch ist dieses Kriterium, weil es auch von Handlungen
erfüllt wird, die offenbar nicht frei sind, z. B. von dem Griff eines
Rauschgiftsüchtigen nach seiner Droge. Wenn er einen Wunsch hat,
seine Entzugssymptome zu beseitigen, und überzeugt ist, dass er dies
Ursachen und Gründe 269
durch seine Droge erreichen kann, dann hat er einen Grund, seine
Droge zu nehmen. Lässt er sich in seinem Handeln durch diesen Grund
leiten, so dass er in Abwesenheit des Grundes anders handeln würde,
dann erfüllt er das obige Kriterium, doch offensichtlich handelt er nicht
frei: Der weite Begriff von Gründen liefert also ein zu schwaches
Kriterium.
Ein enger Begriff von Gründen
Es liegt nahe, diese Schwierigkeit dadurch zu beseitigen, dass man nur
„gute Gründe“ zulässt, d. h. Gründe, die bei einer Berücksichtigung
aller handlungsrelevanten Aspekte einer rationalen Rechtfertigung
standhalten, so dass die Handlung im „objektiven Interesse“ des Han-
delnden wäre. Für den Weintrinker würde sich nichts ändern, doch der
Rauschgiftsüchtige erfüllt dieses Kriterium nicht: Bei Berücksichtigung
aller relevanten Aspekte würde er nur dann rational handeln, wenn er
seine Entzugssymptome durch eine Therapie bekämpfte.
Leider stellt sich bei näherer Betrachtung sehr schnell heraus, dass
wir damit dem Dilemma nicht entronnen sind. Zum einen stellt sich
hier das Problem eines „rationalen Zwangscharakters“, also einer Per-
son, die – z. B. aufgrund einer restriktiven Erziehung – gar nicht anders
kann, als immer guten Gründen entsprechend zu handeln, dabei aber
ihre übrigen Interessen und Bedürfnisse völlig vernachlässigt. Zweitens
ist es angesichts des Universalismus guter Gründe fraglich, wie ein
solcher Ansatz den individuellen Differenzen frei handelnder Personen
gerecht werden will. Wichtiger noch erscheint mir ein dritter Einwand,
der darauf basiert, dass es offenbar gute Gründe für moralische Normen
gibt. Da diese Gründe auch für die Beurteilung solcher Handlungen
relevant sind, die moralischen Normen zuwider laufen, würde eine
Person, die eine derartige Handlung ausführt, gegen gute Gründe
verstoßen. Mit anderen Worten: Moralisch verwerfliche Handlungen
wären automatisch unfrei. Wir könnten daher niemanden mehr für eine
Verletzung moralischer Normen zur Rechenschaft ziehen; paradoxer-
weise gäbe es jedoch weiterhin moralische Verdienste, da moralisch
gerechtfertigte Handlungen auf guten Gründen basieren.7
7 Das Problem stellt sich, wie bereits Carl Leonhard Reinhold und Carl Christian
Erhard Schmidt bemerkt haben, bereits für die Kantische Freiheitslehre. Vgl.
dazu Reinhold, 1792, 262 ff.; Bondeli, 2001.
270 Michael Pauen
John Martin Fischer hat versucht, die skizzierte Schwierigkeit da-
durch zu lösen, dass er nur eine Ansprechbarkeit für (gute) Gründe
verlangt (Fischer, 1994). Ansprechbar für Gründe ist eine Person dann,
wenn es prinzipiell möglich ist, dass Gründe ihr Handeln unter den
gegebenen Umständen beeinflussen; es ist jedoch nicht erforderlich,
dass dies in der aktuellen Situation auch faktisch geschieht. Eine Person,
die gute Gründe hätte, die Abgabefrist für einen Aufsatz einzuhalten,
dies jedoch aus egoistischen Motiven versäumt, müsste daher nicht als
unfrei bezeichnet werden, sofern es überhaupt Gründe gibt, denen die
Person gefolgt wäre – etwa dann, wenn die eigene berufliche Existenz
von der Einhaltung der Frist abhängen würde.
Zwar wird es damit möglich, Personen für die Verletzung morali-
scher Normen verantwortlich zu machen. Dennoch scheitert dieser
Lösungsversuch ebenfalls. Auch bei einem Rauschgiftsüchtigen sind
nämlich in der Regel Gründe vorstellbar, die ihn dazu veranlassen
würden, seinen Griff zur Droge zu unterlassen – etwa die Gegenwart
eines Polizisten, eine unmittelbare Lebensgefahr etc. Nach wie vor wäre
es jedoch unplausibel, Rauschgiftsüchtige in ihrem Suchtverhalten als
frei zu bezeichnen. Auch der Versuch Fischers bringt also keine Lösung
des Problems.
All dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Fähigkeit, nach
Gründen zu handeln, konstitutiv für unseren Begriff der Person ist.
Unumstritten scheint mir zudem, dass Handlungen aus Gründen freie
Handlungen sein können; ich behaupte jedoch, dass die Handlungs-
wirksamkeit von Gründen kein geeignetes Kriterium für die Unter-
scheidung zwischen freien und unfreien Handlungen liefert. Ich habe an
anderer Stelle zu zeigen versucht, dass man ein besseres Kriterium erhält,
wenn man im Prinzip Präferenzen aller Art zulässt und nur danach fragt,
ob diese wirklich konstitutiv für die fragliche Person sind (Pauen,
2004b). Es kämen also neben rationalen Gründen auch Emotionen und
Bedürfnisse in Frage, doch in jedem Falle würde gefragt, ob es die
Gründe, Emotionen und Bedürfnisse dieser Person sind. Dieses Ver-
fahren hat einen entscheidenden Vorteil: Wenn eine Handlung wirklich
von denjenigen Präferenzen ausgeht, die für eine Person konstitutiv
sind, dann kann man nicht mehr sinnvoll daran zweifeln, dass es eine
Handlung der Person selbst, also eine selbstbestimmte Handlung ist.
Doch was heißt es, dass eine Präferenz konstitutiv für eine Person
ist? Zweifellos sind hier unterschiedliche Verfahren denkbar. Das
sinnvollste scheint mir in der dispositionalen Fähigkeit einer Person zu
bestehen, sich wirksam gegen eine Präferenz zu entscheiden, die sie
Ursachen und Gründe 271
faktisch besitzt. Die Person muss die Präferenz also aus eigener Kraft
aufgeben können, wenn sie dies wünscht. Dieses Kriterium wird von
dem oben genannten Weintrinker, nicht jedoch von dem Rauschgift-
süchtigen erfüllt: Sofern der Weintrinker nicht alkoholabhängig ist,
könnte er seine Präferenzen ändern, z. B. wenn ihm ein anderes Getränk
besser schmeckt oder gesünder erscheint. Dem rationalen Zwangscha-
rakter ebenso wie dem Drogensüchtigen dagegen dürfte die disposi-
tionale Fähigkeit fehlen, sich wirksam gegen Zwang bzw. Sucht zu
entscheiden – andernfalls könnte man nicht mehr von Zwang oder
Sucht sprechen. Diese Theorie hat noch den weiteren Vorteil, dass
Emotionen und Bedürfnisse als Motive freier Handlungen mit einbe-
zogen werden – Personen sind eben keine rein rationalen Wesen.
Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Vorschlag wesentlich aus-
führlicher diskutiert werden müsste. Dennoch zeigt er, dass der Kom-
patibilismus über Alternativen verfügt, wenn Gründe kein geeignetes
Kriterium für freie Handlungen liefern – und dafür gibt es gute Gründe.
Bibliographie
Beckermann, Ansgar (2004): Schließt biologische Determiniertheit Freiheit
aus? In: Hermanni, Friedrich/Koslowski, Peter (Hg.): Der freie und der
unfreie Wille. München: Fink, 19 – 32.
Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. #ber die Entdeckung des eigenen
Willens. München/Wien: Hanser.
Bondeli, Martin (2001): Freiheit im Anschluss an Kant. Zur Kant-Reinhold-
Kontroverse und ihren Folgen. In: Gerhardt, Volker/Horstmann, Rolf-
Peter/Schumacher, Ralf (Hg.): Kant und die Berliner Aufkl!rung. Akten des
IX. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/New York: de Gruyter.
Chalmers, David J. (1996): The Conscious Mind. In Search of a Fundamental
Theory. Oxford/New York: Oxford University Press.
Davidson, Donald (1990): Handlungen, Gründe und Ursachen. In: Davidson,
Donald (Hg.): Handlung und Ereignis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19 –
42.
Epikur (2000): Briefe – Spr"che – Werkfragmente. Stuttgart: Reclam.
Ferber, Rafael (2003): Philosophische Grundbegriffe 2. München: C.H. Beck.
Fischer, John Martin (1994): The Metaphysics of Free Will. An Essay on Control.
Oxford/Cambridge: Blackwell.
Frankfurt, Harry G. (1971): Freedom of the Will and the Concept of the
Person. In: The Journal of Philosophy (68), 5 – 20.
Habermas, Jürgen (2004): Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift
f"r Philosophie (52), 871 – 890.
272 Michael Pauen
Inwagen, Peter van (1982): The Incompatibility of Free Will and Determinism.
In: Watson, Gary (Hg.): Free Will. Oxford/New York: Oxford University
Press, 46 – 58.
Levine, Joseph (1983): Materialism and Qualia: The Explanatory Gap. In:
Pacific Philosophical Quarterly (64), 354 – 361.
Nagel, Thomas (1974): What Is It Like to Be a Bat? In: Philosophical Review
(83), 435 – 450.
Nida-Rümelin, Julian (2005): #ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2006): Ursachen und Gründe. Eine Replik auf: Michael
Pauen, Ursachen und Gründe. In: Information Philosophie (1), 32 – 36.
Pauen, Michael (1996): Wahrnehmung und mentale Repräsentation. In: Phi-
losophische Rundschau (43), 243 – 264.
Pauen, Michael (2001): Freiheit und Verantwortung. Wille, Determinismus
und der Begriff der Person. In: Allgemeine Zeitschrift f"r Philosophie (1), 23 –
44.
Pauen, Michael (2004a): Freiheit. Eine Minimalkonzeption. In: Hermanni,
Friedrich/Koslowski, Peter (Hg.): Der freie und der unfreie Wille. München:
Fink, 79 – 112.
Pauen, Michael (2004b): Illusion Freiheit? Mçgliche und unmçgliche Konsequenzen
der Hirnforschung. Frankfurt am Main: Fischer.
Pauen, Michael/Stephan, Achim (Hg.) (2002): Ph!nomenales Bewußtsein –
R"ckkehr der Identit!tstheorie? Paderborn: Mentis.
Reinhold, Carl Leonhard (1792): Briefe "ber die Kantische Philosophie. Leipzig:
Gröschen.
Roth, Gerhard (2003): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Stich, Stephen P. (1994): What Is a Theory of Mental Representation. In:
Stich, Stephen P./Warfield, Ted A. (Hg.): Mental Representation. A Reader.
Oxford/Cambridge: Blackwell, 347 – 364.
Strawson, Peter F. (1982): Freedom and Resentment. In: Watson, Gary (Hg.):
Free Will. Oxford/New York: Oxford University Press, 59 – 80.
Wingert, Lutz (2004): Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bio-
naturalismus. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit.
Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 194 –
204.
Ursachen und Gründe – eine Replik
JULIAN NIDA-RÜMELIN
1. Ob Gründe Ursachen sind, hängt davon ab, was wir unter „Grün-
den“ und unter „Ursachen“ verstehen. Auch wenn sich der Kausali-
tätsbegriff in den Naturwissenschaften wieder großer Beliebtheit er-
freut, so kann er doch keineswegs als geklärt gelten. Anfang des letzten
Jahrhunderts haben analytische Wissenschaftstheoretiker, darunter
Bertrand Russell in einem berühmt gewordenen Aufsatz, dafür plädiert,
in den Wissenschaften ganz auf den Kausalitätsbegriff zu verzichten. Die
Vorstellung einer Art Naturnotwendigkeit leitet jedoch nach wie vor
die meisten Forscher und dies erklärt die Überlebenskraft der kausalen
Interpretation beobachteter Regularitäten. Kausalprinzip, Determinis-
mus und strikte zeitliche Verlaufsgesetze werden dabei meist in eins
gesetzt. Physikern ist natürlich klar, dass selbst für den Prototyp einer
deterministischen Theorie, der Newtonschen Mechanik, wegen des
Auftretens von Singularitäten keine strikten zeitlichen Verlaufsgesetze
bestehen. Es ist ohnehin eine Kindervorstellung von Naturwissenschaft,
dass es dieser vor allem um die Formulierung von Verlaufsgesetzen zu
tun sei. Zudem lassen sich auch probabilistische Regularitäten kausal
interpretieren, dies gilt auch für die Quantenphysik. Besondere Auf-
merksamkeit finden seit einigen Jahren sog. chaotische Prozesse deter-
ministischer Systeme, für die gilt, dass kleinste Abweichungen unterhalb
der jeweils gegebenen Messgenauigkeit zu massiven Veränderungen in
der weiteren Entwicklung des Systems führen, Kausalität cum Deter-
minismus also mit Nicht-Prognostizierbarkeit verbunden ist.
2. Damit A eine Ursache für B, ein Ereignis, sein kann, sollte der Satz,
der B beschreibt, im deterministischen Fall, aus den Sätzen, die die
Antezedensbedingungen des Ereignisses B darstellen, zusammen mit den
Allsätzen, die die naturgesetzlichen Zusammenhänge beschreiben, lo-
gisch-deduktiv ableitbar sein und A sollte zu diesen Antezedensbedin-
gungen gehören – so die klassische wissenschaftstheoretische Analyse.
Dieses Idealbild einer vollständigen (kausalen) Erklärung hat allerdings
mit der tatsächlichen wissenschaftlichen Praxis wenig gemein. Wenn
wir von Ursachen sprechen, greifen wir meist bestimmte uns als relevant
274 Julian Nida-Rümelin
erscheinende Ereignisse oder Umstände aus einem riesigen Komplex
von zusammen als determinierend gedachten Bedingungen heraus, die
sich insgesamt einer vollständigen Erfassung durch eine adäquate wis-
senschaftliche Beschreibung widersetzen. G.H. von Wright hat daher
die Auffassung vertreten, dass Ursachen nach dem Modell menschlicher
Interventionen in sonst anders verlaufende Prozesse verstanden werden
müssten, dass wir ohne diese Erfahrung als Akteure über keinen Ursa-
chenbegriff verfügten.
3. Viele – Philosophen wie Naturwissenschaftler – meinen, A könne
nur dann Ursache von B sein, wenn zwischen A und B ein energeti-
scher Prozess, eine Energieübertragung stattfindet. „Natürlich kann es
gar keine Willensfreiheit geben. Als nicht-materielle Ursache makro-
skopischer Bewegungen würde sie ja den ersten Hauptsatz der Ther-
modynamik, den Energieerhaltungssatz aushebeln“, so charakterisierte
Ferdinand Hucho kürzlich „die Position der Naturwissenschaft“
(Hucho, 2006).1 Vieles, was wir, auch in den Naturwissenschaften, als
Ursache akzeptieren, hat jedoch nicht die Form einer Energieübertra-
gung. Ein Teilchen, das sich reibungsfrei auf einer vorgegebenen Bahn
bewegt, verliert nicht an Geschwindigkeit (Bewegungsenergie), wenn
lediglich Transversalkräfte einwirken. Diese Transversalkräfte sind aber
ursächlich dafür, an welcher Stelle sich das Teilchen im Raum zu einem
bestimmten Zeitpunkt aufhält.
4. Die Probleme mit dem deduktiv-nomologischen Erklärungsbegriff
haben zur Entwicklung pragmatistischer Konzeptionen geführt. Wis-
senschaftliche Erklärung wird zu einer Sonderform des Begründens.
Eine Erklärung ist erfolgreich, wenn sie zum Beispiel rationaliter die
Erwartungswahrscheinlichkeit des zu erklärenden Ereignisses erhöht
gegenüber dem epistemischen Zustand vor der Erklärung (die Verbin-
dung eines probabilistischen und eines pragmatistischen Erklärungsbe-
griffs ist jedoch nicht zwingend). Für Kausalitätskonzeptionen dieses
Typs ist die Subsumption von Gründen unter Ursachen problemlos.
Wenn wir unter „subjektiven Gründen“ das Akzeptieren bestimmter
normativer Argumente, die für eine konkrete Handlung aus der Sicht
des Akteurs sprechen, verstehen, und annehmen, dass diese konative
Einstellung sein Handeln auch tatsächlich leitet, dann können diese
Gründe in einem pragmatistischen Sinne als urs!chlich für die betreffende
1 Vgl. auch den Beitrag von Ferdinand Hucho in diesem Band.
Ursachen und Gründe – eine Replik 275
Handlung gelten: Uns scheint diese Handlung (als Ereignis) nun plau-
sibel, wir verstehen, wie es zu diesem Ereignis kommen konnte. So
verstanden ist es philosophisch unbedenklich zu sagen, dass die Ergeb-
nisse unserer Deliberationen für das, was wir tun, eine kausale Rolle
spielen. Gelegentlich wird behauptet, mit diesem Zugeständnis einer
kausalen Rolle unserer Gründe, Wünsche und Motive sei der Liberta-
rier, also der, der meint unsere Handlungen seien nicht vollständig von
naturwissenschaftlichen strikten Verlaufsgesetzen bestimmt, schon wi-
derlegt. Der Libertarier müsse offenbar selbst die kausale Determi-
niertheit seiner Handlungen annehmen. Aber diese kausale Determi-
niertheit ist nicht zwingend eine naturalistische. Dieser Unterschied ist
wesentlich: Je nach Ursachenbegriff und Handlungstheorie kann man
an einem universellen, Handlungen als Ereignisse einschließenden
Kausalprinzip festhalten, ohne damit auf den Naturalismus festgelegt zu
sein. Die zeitgenössischen Libertarier, z. B. Robert Kane, Geert Keil
oder Peter Rohs, sind unterschiedlicher Auffassung zum Verhältnis von
Kausalität und Freiheit (Kane, 1996; Keil, 2000; Rohs, 2003). Meine
eigene Position ist ein Hybrid; sie ist im epistemologischen Sinne
kompatibilistisch, im ontologischen libertaristisch.
5. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Gründe Ursachen sind, sondern
ob Gründe naturalistische Ursachen sind oder solche Ursachen, die sich
mit den begrifflichen Möglichkeiten der Naturwissenschaften voll-
ständig beschreiben lassen. Meine These, dass Rationalität, Freiheit und
Verantwortung eine naturalistische Unterbestimmtheit unserer Be-
gründungsspiele voraussetzen, ist nicht so zu lesen, dass Gründe keine
Ursachen seien (sein könnten), sondern dass ihre kausale Rolle eine
andere ist, als die aus naturwissenschaftlichen Beschreibungen vertraute.
Gründe sind, wie ich in Strukturelle Rationalit!t ausgeführt habe (Nida-
Rümelin, 2001), immer normativ (unabhängig davon, ob es ,Klug-
heits‘- oder ,Moral‘-Gründe, ob es gute oder nur vermeintliche Gründe
sind) und Handeln ist immer von Gründen gesteuert (dies ist eher [sic]
eine begriffliche, als eine empirische Behauptung). Ihre normative
Rolle kann naturalistisch nicht vollständig erfasst werden.
6. Nur ein gradualistisches Verständnis der Rolle von Gründen scheint
mir angemessen zu sein. Es gibt nicht rationale und irrationale, freie und
unfreie, verantwortliche und unverantwortliche Handlungen, Urteile
(Überzeugungen) und (nicht-propositionale) Einstellungen (Gefühle,
oder Bestandteile von Gefühlen, die einer Begründung fähig sind),
276 Julian Nida-Rümelin
sondern mehr oder weniger rationale, freie und verantwortliche
Handlungen, Urteile und Einstellungen. Das Maß ihrer Begründetheit
bestimmt die Kohärenz einer Praxis, einer Lebens- und schließlich einer
Gesellschaftsform. Dieses gradualistische Verständnis erlaubt ein kom-
plementäres Verhältnis (unvollständiger) naturalistischer Erklärungen
und Handlungsbegründungen. Die Art und Weise, in der wir unser
Handeln und Urteilen begründen, uns wechselseitig Freiheit und Ver-
antwortung zuschreiben, schließt eine naturalistische Unterbestimmt-
heit ein, macht naturalistische Erklärungen aber nicht irrelevant. Der
Libertarier muss nicht zum Kartesianer mutieren. Die entscheidende
Frage ist, ob unser Selbstbild als Menschen, unsere lebensweltlichen
Interaktionen, unsere alltägliche Sprach- und Verständigungspraxis, die
conditio humana, damit vereinbar sind, dass das Ergebnis der Abwägung
von Gründen und damit der kausale Einfluss unserer Deliberationen auf
unser Verhalten immer schon durch naturalistische Gesetzmäßigkeiten
vorab (also vor aller Deliberation) festliegt. Ich meine, dass die Antwort
„Nein“ lauten muss. Das ist kein Beweis dafür, dass es sich nicht doch so
verhalten könnte. Wenn es tatsächlich so wäre, lebten wir in einem
großen Illusionstheater. Das kann sein, aber wir haben keinen Grund,
das anzunehmen: Alte wie neue empirische Befunde und Theorien, von
der Newtonschen Physik über die Darwinsche Biologie und die
Freudsche Psychologie bis zur zeitgenössischen Neurophysiologie, sind
mit dieser negativen Antwort verträglich.
7. Einige Neurowissenschaftler, darunter besonders markant Wolf
Singer, vertreten gegenwärtig allerdings die entgegengesetzte Auffas-
sung. Sie meinen, dass die neurophysiologischen Prozesse im Gehirn
keinerlei Indeterminiertheiten aufwiesen, dass die Prozesse im Gehirn,
wie komplex auch immer, von einem Laplaceschen Dämon jederzeit
vorhergesagt werden könnten und dass damit unsere Freiheits- und
Verantwortungsintuitionen eine, allerdings nützliche, Illusion seien. Aus
einem wohlbestimmten neurophysiologischen Ausgangszustand folgt
naturnotwendig jeweils ein einziger Folgezustand, wobei selbstver-
ständlich genetische und epigenetische, sowie Umwelteinflüsse, die
über sensorische Stimuli auf das neurophysiologische System Einfluss
nehmen, zu berücksichtigen sind. Der vollständig über sein eigenes
neurophysiologisches System Aufgeklärte kennt also keine Deliberation
mehr. Er könnte – als Science Fiction – alle zukünftigen epistemischen
wie konativen Zustände bei jeweils gegebenen sensorischen Stimuli
prognostizieren. Wenn sich diese Kenntnis auf andere Individuen der
Ursachen und Gründe – eine Replik 277
menschlichen Spezies ausdehnt, kann er alle zukünftigen epistemischen
und konativen Zustände, alle Handlungen, Urteile und Einstellungen
aus der jeweiligen vollständigen Kenntnis zum gegenwärtigen Zeit-
punkt deduzieren. Die Frage ist nicht, ob eine solche Vorstellung einen
realistischen Gehalt hat. Die Frage ist, ob sie überhaupt kohärent ist. Ich
halte sie für inkohärent und mit ihr die Vorstellung einer vollständigen
naturalistischen Determiniertheit unserer Handlungs- und Urteilsgrün-
de. Für die Inkohärenz dieser Vorstellung sprechen folgende Argu-
mente:
a) Unsere theoretischen wie praktischen Deliberationen haben in der
Regel keinen algorithmischen Charakter (im Sinne von Church/
Kleene). Es ist logisch unmöglich, eine Maschine zu konstruieren,
die die Frage der Gültigkeit einer beliebigen prädikatenlogischen
Formel feststellen kann. Erst recht gilt das für die höhere Mathematik
und die theoretischen Naturwissenschaften. Wenn dieser Typ von
theoretischen Deliberationen, zu denen Beweise der Prädikatenlogik
erster Stufe gehören, durch einen kausalen, deterministischen,
strikten Verlaufsgesetzen gehorchenden, naturwissenschaftlich be-
schreibbaren neurophysiologischen Prozess vollständig realisierbar
wäre, dann müsste dies wohl als Widerlegung des Theorems von
Church gelten. Es ist von daher, jedenfalls solange wir die zentralen
metamathematischen Resultate von Gödel, Church und Kleene
akzeptieren, nicht plausibel anzunehmen, dass unsere Deliberationen
vollständig von naturalistischen und deterministischen, strikte Ver-
laufsgesetze implizierenden Kausalrelationen determiniert sind.
b) Die Annahme eines solchen naturalistischen Algorithmus würde
grundsätzlich alle zukünftigen epistemischen wie konativen menta-
len Zustände zu prognostizieren gestatten. In der epistemisch idealen
Welt gäbe es keine Argumente, keinen Wissensfortschritt, keine
Entscheidungen, keine in unserem Sinne menschliche Existenz
mehr. Poppers Überlegungen in Clouds and Clocks (Popper, 1966)
kann man als eine Warnung vor einem allzu naiven, naturalistischen
Determinismus ansehen.
c) Die Vorstellung einer vollständigen naturalistischen Determination
unserer Deliberationen fiele übrigens noch hinter die Psychologis-
mus-Kritik von Frege und Husserl zurück. Wenn logische Rela-
tionen keine psychologischen (oder besser: mentalen) Gesetzmä-
ßigkeiten repräsentieren, dann a fortiori keine neurophysiologischen.
278 Julian Nida-Rümelin
d) Und schließlich: Nehmen wir an, mein Gehirn sei zu t im Zustand
z. Nehmen wir weiter an, dass jede meiner Überzeugungen neu-
rophysiologisch realisiert ist, also auch die Überzeugung, dass mein
Gehirn jetzt im Zustand z ist. Dann gibt es zwei Möglichkeiten:
Entweder das neurophysiologische Korrelat dieser Überzeugung ist
in z enthalten, dann ist meine Überzeugung wahr, allerdings wäre
dann meine Überzeugung, dass mein Gehirn jetzt nicht im Zustand
z ist, ebenfalls wahr, weil diese Überzeugung z ja entsprechend
verändern würde. Umgekehrt, wenn das neurophysiologische Kor-
relat meiner Überzeugung nicht in z enthalten ist, dann wäre meine
Überzeugung, dass sich mein Gehirn jetzt im Zustand z befindet,
falsch, allerdings auch ihr kontradiktorisches Gegenteil. Überzeu-
gungen, die sich auf eigene Hirnzustände beziehen, haben also
merkwürdige Eigenschaften. Die Selbstreferenzialität ist offenbar
eine unüberschreitbare Grenze der naturalistischen Determination.
8. Pauen nimmt das Argument ernst, dass Qualia (phänomenale Be-
wusstseinseigenschaften) nicht neuronal realisiert sein können. Für
menschliche Vernunft, für unsere praktischen und theoretischen Deli-
berationen spielen Qualia eine zentrale Rolle, eine Interessen-basierte
Ethik kommt ohne Qualia natürlich nicht aus. Daher genügt schon
dieses Zugeständnis, um die These, dass unsere Deliberationen natura-
listisch unterbestimmt sind, plausibel zu machen.
9. Damit Gründe für unser Verhalten kausal relevant sind, müssen sie
entsprechend der weithin unbestrittenen INUS-Bedingung von John L.
Mackie’s The Cement of the Universe (Mackie, 1980) im Rahmen eines
erklärenden Argumentes unentbehrlich sein. Wenn A Ursache von B
ist, dann ist A ein unzureichender (insufficient), aber unentbehrlicher
(non-redundant) Teil einer nicht notwendigen (unnecessary), aber
hinreichenden (sufficient) Bedingung von B. Daher stehen kausale
Erklärungen, die nicht auf die betreffenden Gründe Bezug nehmen, in
einem Konflikt mit Erklärungen über Gründe. Bei Erklärungen des
neurophysiologischen Typs ließe sich das nur dadurch beheben, dass der
jeweilige konkrete Grund nichts anderes ist als der jeweilige neuro-
physiologische Prozess. Dies anzunehmen ist wenig plausibel, daher
spricht die Tatsache, dass unser Handeln und Urteilen von Gründen
geleitet wird, gegen den Naturalismus.
Die humanistische Position, dass Gründe unser Urteilen, unser
Handeln und unsere Einstellungen wenigstens partiell bestimmen, ist
Ursachen und Gründe – eine Replik 279
nicht gezwungen, nach Lücken in den naturwissenschaftlichen Be-
schreibungen zu suchen oder auf solche zu hoffen, sie muss nur immer
wieder philosophische Überspanntheiten zurückweisen, die mit er-
folgreichen naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen von jeher
einhergegangen sind.2
Bibliographie
Hucho, Ferdinand (2006): Das Elend mit dem Reduktionismus. Die mole-
kulare Ebene des Problems Willensfreiheit. In: Köchy, Kristian/Stederoth,
Dirk (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplin!res Problem. Freiburg/München:
Alber.
Kane, Robert (1996): The Significance of Free Will. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Keil, Geert (2000): Handeln und Verursachen. Frankfurt am Main: Klostermann.
Mackie, John L. (1980): The Cement of the Universe. A Study of Causation.
Oxford: Oxford University Press.
Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalit!t. Ein philosophischer Essay
"ber praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam.
Popper, Karl (1966): Of Clouds and Clocks: An Approach to the Problem of Ra-
tionality and the Freedom of Man. St. Louis, Missouri: Washington University
Press.
Rohs, Peter (2003): Freiheit und Kausalität. Zu Geert Keils Handeln und
Verursachen. In: Allgemeine Zeitschrift f"r Philosophie (28), 251 – 260.
2 Ich danke Wolfgang Spohn, Martin Rechenauer und Martine Nida-Rümelin
für wertvolle Anmerkungen zum Text.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung
GEERT KEIL
1. Die libertarische Freiheitsauffassung
Die sogenannte libertarische Freiheitsauffassung, von der dieser Beitrag
handelt, ist eine Kombination zweier Thesen. Der Libertarismus nimmt
einerseits zum traditionellen Freiheitsproblem Stellung – zu der Frage,
ob der menschliche Wille frei oder determiniert sei –, zum anderen zum
modernen Nachfolgeproblem der Vereinbarkeit. Dagegen beschäftigt
sich der Inkompatibilismus ausschließlich mit dem Vereinbarkeitspro-
blem, bleibt also hinsichtlich der Existenz der Freiheit neutral. Der
Inkompatibilismus lässt sich sowohl mit der Leugnung als auch mit der
Verteidigung der Freiheit verbinden: Während der Libertarismus den
Willen für frei hält und den Determinismus für falsch, behauptet der
harte Determinismus – eine Prägung von William James – das Umge-
kehrte: Der Determinismus ist wahr, Freiheit gibt es nicht.
Die libertarische Freiheitsauffassung stellt also eine Konjunktion von
Teilthesen dar, nämlich (a) der Nichtvereinbarkeitsthese und (b) der
Doppelthese von der Falschheit des Determinismus und der Existenz
der Willensfreiheit.1 Die übergroße Mehrheit der zeitgenössischen
Freiheitstheoretiker vertritt eine weitere Auffassung, nämlich den
Kompatibilismus, also die Lehre der Vereinbarkeit von Freiheit und
Determinismus. Wenn der Kompatibilismus richtig ist, löst sich das
traditionelle Freiheitsproblem auf, denn der Wille kann dann ja zugleich
frei und determiniert sein. Es ergibt sich folgendes Schema:
1 Das englische Kunstwort „libertarianism“ muss so lang sein, weil die anderen
Bildungen zu „liber“ (Liberalismus, Libertinismus) schon vergeben sind und
nichtphilosophische Bedeutungen haben. Da ohnehin ein Kunstwort vonnöten
ist, spare ich zwei Silben ein und spreche von „libertarischer Freiheit“ und
„Libertarismus“. Gemeint ist eben das, was andere „Libertarianismus“ nennen.
282 Geert Keil
Der Wille ist frei unfrei
determiniert Kompatibilismus Inkompatibilismus I
(weicher Determinismus) (harter Determinismus)
nicht determiniert Inkompatibilismus II
(Libertarismus)
Dieses verbreitete Schema hat allerdings einige Schwächen. Es ist un-
vollständig, insofern es einige Außenseiterpositionen nicht erfasst. Au-
ßerdem erweckt es den Eindruck, die Kompatibilisten hielten genau
dieselben Phänomene für vereinbar, die die Inkompatibilisten für un-
vereinbar hielten. Dieser Eindruck trügt, denn beide Lager legen typi-
scherweise nicht denselben Freiheitsbegriff zugrunde. Inkompatibilisten
operieren mit einem stärkeren Freiheitsbegriff als Kompatibilisten. Was
zwischen beiden Lagern umstritten ist, ist also genau genommen nicht
die Vereinbarkeit als solche, sondern die Frage, welche Art von Freiheit auf
ihre Vereinbarkeit mit dem Determinismus zu prüfen ist. Die ,starke‘,
libertarische Freiheit passt auch nach der Auffassung vieler Kompatibi-
listen nicht in eine deterministische Welt. Dies sei aber kein Verlust, da
diese Art von Freiheit nicht einmal erstrebenswert sei. Kompatibilisten
sind typischerweise der Auffassung, „daß sinnvolle Freiheitsbegriffe von
vornherein so konzipiert werden müssen, daß sie auf ein deterministi-
sches Universum passen“ (Seebaß, 2006, 199).
Das definierende Merkmal des Libertarismus gegenüber dem
kompatibilistischen Verständnis der Freiheit besteht im Prinzip der al-
ternativen Mçglichkeiten, also in der Behauptung, dass die Welt Ver-
zweigungsmöglichkeiten enthält. Dieses Prinzip, die direkte Negation
des Determinismus, ist auf den Weltlauf als Ganzen bezogen. Man kann
es auch für Handlungen oder Entscheidungen spezifizieren. Dieses
spezifizierte Prinzip wird aus irgendeinem Grunde meist für die Ver-
gangenheit formuliert und sagt dann, dass ein Akteur unter den gleichen
Bedingungen hätte anders handeln können. Es liegt auf der Hand, dass
das Andershandelnkönnen eine Spezifizierung des allgemeinen Prinzips
ist, und dass wir nur dann so oder anders handeln können, wenn auch
der Weltlauf Verzweigungsmöglichkeiten enthält, denn unsere Hand-
lungen sind ja Teil des Weltlaufs. Wenn es wahr sein soll, dass jemand
hätte anders handeln können, muss auch gelten, dass anderes hätte ge-
schehen können.
Der Libertarier hält das Bestehen alternativer Möglichkeiten für eine
Selbstverständlichkeit. Die Intuition, die er in Anspruch nimmt, ist
einfach und nahe liegend: Der Laplacesche Determinismus behauptet,
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 283
dass die Naturgesetze und ein beliebiger Weltzustand alle weiteren
Weltzustände alternativlos festlegen. Wenn der Determinismus wahr
wäre, gäbe es niemals mehr als einen Weg, wie die Welt weiter ver-
laufen könnte, also gäbe es für uns auch nichts zu entscheiden. Es gäbe
schlicht keinen Freiheitsspielraum. Das Vermögen der Wahl zwischen
Alternativen wäre eine Illusion. Nur wenn es einem Akteur möglich ist,
sich unter denselben Bedingungen so oder anders zu entscheiden, kann
man überhaupt von einer Entscheidung sprechen. Der Kompatibilist
hält dagegen die Existenz alternativer Möglichkeiten für entbehrlich,
und viele Kompatibilisten halten das Anderskönnen unter identischen
Umständen sogar für unverständlich oder für freiheitsgefährdend.
Im Unterschied zum Vereinbarkeitsproblem ist die traditionelle
Frage „Freiheit oder Determinismus?“ in der Philosophie der Gegen-
wart sehr unpopulär. Das Vereinbarkeitsproblem hat das traditionelle
Freiheitsproblem aus der fachphilosophischen Diskussion weitgehend
verdrängt. Sich auf die Frage zu beschränken, ob der Determinismus mit
der Freiheit vereinbar ist oder nicht, und es dahingestellt sein zu lassen,
ob der Determinismus material wahr ist, erscheint vielen Philosophen
attraktiv. Kompatibilisten argumentieren, dass wir mit einem Frei-
heitsbegriff, der mit dem Determinismus vereinbar ist, auf der sicheren
Seite seien. Selbst wenn der Determinismus sich als wahr herausstellen
sollte – und darüber habe nicht die Philosophie zu entscheiden, sondern
die Physik –, müssten wir unsere Auffassungen über die Freiheit nicht
ändern.
Diese Argumentation ist in mehrerlei Hinsicht verfehlt. Zum einen
ist nicht ausgemacht, dass die Frage nach der Wahrheit des Determi-
nismus eine innerphysikalische Frage ist. Vermutlich ist sie eine meta-
physische Frage, was man daran sieht, dass, wiewohl ihre Behandlung
physikalisches Wissen erfordert, empirische Tatsachen die Antwort
unterbestimmt lassen. Das heißt nicht, dass die Frage nach der Wahrheit
des Determinismus keiner vernünftigen Behandlung zugänglich wäre.
Auch wenn metaphysische Fragen sich nicht empirisch entscheiden
lassen, könnten einige von ihnen sich vern"nftig entscheiden lassen unter
Zuhilfenahme empirischen Wissens – das ist ein subtiler Unterschied, der
leicht übersehen wird. Die andere Fehlannahme der besagten kompa-
tibilistischen Argumentation ist, dass wir mit unserer Freiheit auf der
sicheren Seite sind, wenn wir sie nicht zu anspruchsvoll verstehen.
Welche Art von Freiheit wir tatsächlich besitzen, hängt aber davon ab,
wie die Welt und wir beschaffen sind, nicht davon, mit welcher Doktrin
die Freiheit vereinbar oder nicht vereinbar ist. Und Aufgabe einer
284 Geert Keil
philosophischen Freiheitstheorie ist nicht, auf der sicheren Seite zu
bleiben, sondern im Verbund mit den anderen Wissenschaften her-
auszubekommen, wie sich die Sache mit der Willensfreiheit wirklich
verhält.
Der Kern des libertarischen Freiheitsbegriffs ist das So-oder-An-
derskönnen unter gegebenen Bedingungen. In der jüngeren Freiheits-
debatte wird dieses definierende Merkmal allerdings mit einer Reihe
von Zusatzbehauptungen verknüpft, auf die der Libertarier nicht ver-
pflichtet ist und die mit der Sache wenig zu tun haben. Insofern diese
Zusatzbehauptungen dem Libertarier unterschoben werden, um die
Absurdität seiner Position zu erweisen, spreche ich von Mythen über die
libertarische Freiheitsauffassung. Erst wenn diese Mythen als solche
erkannt sind, kann das eigentliche Problem des Libertarismus, nämlich
das Zufallsproblem, umso schärfer hervortreten.
Ich werde im Folgenden vier dieser Annahmen vorstellen, die der
libertarischen Freiheitsauffassung in diskreditierender Absicht unter-
schoben werden. Ich verzichte weitgehend darauf, sie mit Zitaten zu
belegen. Jeder, der sich in der Literatur umsieht, stößt schnell auf diese
Mythen.
2. Mythen über libertarische Freiheit
2.1 Der Mythos der Unbedingtheit
Libertarische Freiheit ist Freiheit von allen Bedingungen.
Ein freier Wille, wie der Libertarier ihn fordert, ist nach dieser Auf-
fassung ein durch nichts bedingter Wille. Insbesondere sei er unab-
hängig von den Einstellungen und dem Charakter der wollenden Per-
son. Völlig unabhängig von ihren Dispositionen und ihren Überle-
gungen könne ein Willensentschluss auf beliebige Weise ausfallen. In
Peter Bieris Freiheitsbuch wird ein solcher durch nichts bedingter Wille
ausführlich beschrieben und kritisiert. Ein freier Wille, der keinerlei
Bedingungen unterläge, ist nach Bieri nicht bloß illusorisch, er ist auch
nicht wünschenswert. Freiheit, die es sich zu haben lohnt, ist etwas
anderes als ein kapriziöses, unkontrollierbares Vermögen.2
Versteht man unter unbedingter Freiheit die Fähigkeit, losgelöst von
seinen psychischen Dispositionen grundlos zu wählen, so kann man
2 Vgl. Bieri, 2001, 81 et passim.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 285
Bieri darin zustimmen, dass dies keine erstrebenswerte Art von Freiheit
ist. Schon Hume hat argumentiert, dass eine solche Freiheit die Zu-
rechnung von Handlungen gerade unmöglich mache. Damit man einer
Person ihre Entschlüsse und Handlungen zurechnen kann, müsse die
Person eine gewisse charakterliche Stabilität aufweisen. Wir tadeln und
loben ja nicht die Taten selbst, sondern Personen f"r ihre Taten, und wir
möchten dadurch das künftige Verhalten der Person beeinflussen. Bei
Wesen mit zu erratischen Lebensäußerungen liefe diese Praxis ins Leere.
Unter den Mythen des Libertarismus führe ich diese Auffassung auf,
weil kein libertarischer Philosoph von Rang sie jemals vertreten hat.
Auch bei Bieri wird das Phantom der unbedingten Freiheit nur elo-
quent heraufbeschworen, nicht aber aus der philosophischen Frei-
heitsdebatte entwickelt. Am nächsten kommt der Idee der grundlosen
Wahl noch der acte gratuit im französischen Existenzialismus, aber auch
dort handelt es sich eher um einen literarischen Topos als um eine
philosophische These. Gide, Breton, Sartre und Camus waren fasziniert
von dem unmotivierten, bedenkenlos und gleichsam spielerisch ausge-
führten Verbrechen, Gide prägte dafür den Begriff des acte gratuit. Be-
zeichnenderweise ist auch Bieris Gewährsmann eine literarische Figur,
nämlich Dostojewskis Mörder Raskolnikow.
Um einen Beitrag zur Vereinbarkeitsdebatte zu leisten, wäre zu
zeigen, dass die Abwesenheit einer Laplaceschen Determination
gleichbedeutend mit der Annahme eines im beschriebenen Sinne un-
bedingt freien Willens ist, so dass der Libertarier auf diese Annahme
verpflichtet wäre. Diejenigen, die den Mythos der unbedingten Freiheit
pflegen, entziehen sich dieser Aufgabe, indem sie ihren Determinis-
musbegriff nonchalant im Unklaren lassen. So auch Bieri: „Die Idee
von Bedingungen und Bedingtheit, die ich hier und durch das ganze
Buch in Anspruch nehme, scheint mir eine hinreichend klare Idee zu
sein“, „Details“ würden „am zentralen Gedankengang“ nichts ändern
(Bieri, 2001, 435).
Es gibt allerdings noch einen anderen Sinn, in dem man das Ver-
mögen der freien Wahl „unbedingt“ oder „absolut“ nennen könnte.
Man kann die Frage stellen, ob Wahlfreiheit ein kategorisches oder ein
graduelles Vermögen ist, ob sie also Abstufungen zulässt oder nicht.
Descartes hat in dieser Frage wie folgt argumentiert: Der menschliche
Wille besteht in der Fähigkeit der Ja/Nein-Stellungnahme zu gegebe-
nen Handlungsoptionen. Der Verstand legt dem Willen eine Option
zur Beurteilung vor, der Wille entscheidet frei über die Ausführung.
Diese Fähigkeit der freien Wahl ist nach Descartes insofern vollkom-
286 Geert Keil
men, als sie nicht steigerbar ist. Der Wille jedes Menschen ist „so
vollkommen oder so groß […], daß ich ihn mir nicht noch vollkom-
mener oder größer denken könnte“ (Descartes, 1641, 47). Der Grund
dafür ist ein logischer: Das Vermögen zur Ja/Nein-Stellungnahme
schöpft ja den gesamten logischen Raum aus. Nicht einmal Gott, so
Descartes, könnte in dieser Hinsicht eine vollkommenere Freiheit be-
sitzen. Insbesondere hängt das Vermögen der freien Wahl nicht von der
Grçße des jeweiligen Spielraums ab. Ein Zuwachs an Optionen ist eben
kein Zuwachs am Vermçgen der Wahl.
Es gibt also durchaus einen Sinn, in dem „kategorische“, „absolute“
oder „vollkommene“ Freiheit nicht absurd ist – wenn man nämlich
darunter nicht die Fähigkeit versteht, unter gegebenen Bedingungen
Beliebiges zu wollen oder zu tun, sondern das Vermögen, unter den
bestehenden Optionen, so wenige es auch sein mögen, zu wählen. Der
Libertarier kann ohne weiteres zugestehen, dass viele Arten von Freiheit
graduierbar sind, klarerweise etwa die politische Freiheit. Nur diejenige
Freiheit, die ihm besonders am Herzen liegt, das Vermögen des So-
oder-anders-Wählens, scheint aus logischen Gründen keine Graduie-
rung zuzulassen. Es ist entweder vorhanden oder eben nicht. Freilich
muss auch dieses Vermögen phylo- und ontogenetisch entstanden sein,
so dass es plausiblerweise Vor- und Zwischenformen gegeben hat.
Welche Konsequenzen diese Art der Graduierung für die Freiheitsde-
batte haben mag, bleibt zu klären (siehe Abschnitt 4).
2.2 Der Mythos des Dualismus
Libertarier leugnen, dass Personen und ihre Entscheidungen Teil der einen,
nat"rlichen Welt sind.
Behauptet wird mit anderen Worten, dass Libertarier Cartesische oder
Kantische Dualisten sein müssen. Descartes lehrte, dass die denkende
Substanz nicht im Raum ausgedehnt ist, aber dennoch kausal in die
Körperwelt hineinwirkt. Nach Kant wirken sich freie Handlungen in
der Welt der Erscheinungen aus, gehen aber ihrerseits auf „intelligibele
Ursachen“ zurück, die „sammt ihrer Kausalität außer der Reihe“ der
Erscheinungen stehen (Kant, 1781/87, B565/A537).3
3 Zu Kants Lehre der „Kausalität durch Freiheit“ vgl. Keil, 2000, 329 –358.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 287
Die Behauptung, dass Libertarier Leib-Seele-Dualisten sind, wird
besonders im durch die neuere Hirnforschung angeregten Teil der
Freiheitsdebatte vertreten. Gerhard Roth referiert die libertarische
Freiheitsauffassung wie folgt: „Der freie Akt darf natürlich selbst nicht
wieder zerebral bedingt sein, sondern muß völlig immateriell, d. h. ohne
jede Hirnaktivität vor sich gehen.“ (Roth, 2001, 436). Wenn der Li-
bertarier behaupte, dass die freie Wahl einer Person nicht durch Vor-
gänge in ihrem Gehirn „bedingt“ sei, dann hänge sie offenbar dem
cartesischen Dualismus an. Wolf Singer schreibt: „Verschaltungen legen
uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. […] Keiner
kann anders, als er ist.“ (Singer, 2004, 30; 63).
Was ist hier schief gelaufen? Es wurde der synchrone Sinn von
„determinieren“, „festlegen“ oder „bedingen“ mit dem diachronen
Sinn dieser Ausdrücke verwechselt. Dasjenige Festlegen, von dem der
Determinismus spricht, ist ein Vorgang in der Zeit. Dasjenige Festlegen,
von dem Roth und Singer sprechen, ist hingegen eine Beziehung
zwischen einer Hirnaktivität und ihrer zeitgleichen mentalen Entspre-
chung. Die Verwechslung der beiden Arten von „Determination“ führt
zur Identifikation des neuronalen Substrats oder Korrelats eines men-
talen Ereignisses mit dessen Ursache. Zwischen einem mentalen Er-
eignis und seinem zeitgleichen physischen Substrat kann es aber keine
Kausalbeziehungen geben, weder in der einen noch in der anderen
Richtung. Wenn man hier von „festlegen“ sprechen möchte, dann ist
das ein anderer Sinn von festlegen als der für den Determinismus ein-
schlägige. (Eine Analogie: Eine bestimmte Bewegung zweier Schach-
figuren legt fest, dass es sich um eine Rochade handelt, aber sie legt
eben nicht fest, welcher Zug als nächster ausgeführt wird.)
Mentale Ereignisse sind nach allem, was wir wissen, physisch rea-
lisiert, aber diese Realisierungsbeziehung hat mit dem Determinismus
nichts zu tun und ist als solche auch nicht freiheitsgefährdend. Singers
schiefe Formulierung „Keiner kann anders, als er ist“ zeigt diese in der
Literatur leider häufige Verwechslung schon an der sprachlichen
Oberfläche an. Tatsächlich ist das Anderskönnen des Libertariers kein
Anderskönnen gegen"ber einem aktuellen physiologischen Geschehen, das
wäre absurd, sondern es ist ein Anderskönnen bei gegebener Vorgeschichte.
Niemand kann die Gegenwart anders sein lassen, als sie nun einmal ist,
aber ein Handelnder kann die Welt von einem gegebenen Punkt an auf
mehr als eine Weise weiter verlaufen lassen.
Aus diesem Grunde ist allgemein die Erforschung neuronaler Kor-
relate des Mentalen für das Freiheitsproblem irrelevant – solange keine
288 Geert Keil
deterministische Zusatzprämisse ins Spiel kommt. Warum sollte der
Umstand, dass mentale Prozesse physisch realisiert sind, dass also in
meinem Gehirn etwas vorgeht, während ich etwas denke oder will,
meine Freiheit gefährden? Wer hier einen Widerspruch sieht, der
gründet seine Freiheit tatsächlich auf den Dualismus. Solche Philoso-
phen gibt es natürlich, aber wir sollten dabei bleiben, sie Leib/Seele-
Dualisten zu nennen. Libertarier müssen diese Auffassung nicht ver-
treten. Die Unvereinbarkeit, von welcher der Libertarier spricht, ist eine
zwischen Freiheit und Determinismus, nicht zwischen Freiheit und
Naturzugehörigkeit des Menschen.
2.3 Der Mythos des unbewegten Bewegers
Nach libertarischer Auffassung kçnnen frei w!hlende Personen Wunder bewir-
ken, haben also die F!higkeit, Naturgesetze abzu!ndern, oder sind erste Be-
weger, die Kausalketten in Gang setzen. In jedem Falle leugnen Libertarier das
Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Kçrperwelt bzw. die Geltung physi-
kalischer Erhaltungss!tze.
Beginnen wir mit der Behauptung, Libertarier hielten Wunder für
möglich. Ein Wunder ist nach Hume ein Verstoß gegen ein Naturge-
setz.4 Wenn man unter einem Gesetz eine wahre Gesetzesaussage ver-
steht, muss man den Vorwurf etwas umformulieren, denn dann ist die
Rede vom „Verstoß“ oder einer „Verletzung“ schief. Der Einwand
muss dann so lauten, wie von Inwagen ihn in seinem Konsequenzar-
gument für den Inkompatibilismus formuliert: Niemand kann Natur-
gesetze falsch machen. 5
Dass niemand Naturgesetze falsch machen kann, glaubt der Liber-
tarier auch, denn dies ist eine der Prämissen des Konsequenzarguments,
das er typischerweise akzeptiert. Der Streit geht um die Frage, ob man
Naturgesetze falsch machen kçnnen m"sste, um in den Genuss liberta-
4 Vgl. Hume, 1748, Sect. X, pt. i.
5 Das Konsequenzargument für den Inkompatibilismus besteht aus zwei Prä-
missen und einer Konklusion: (P1) Wenn der Determinismus wahr ist, folgen
unsere Handlungen aus Naturgesetzen und Ereignissen der fernen Vergan-
genheit. (P2) Es liegt nicht in unserer Hand, die Naturgesetze zu ändern, noch
die Ereignisse vor unserer Geburt. (K) Also liegen auch die kausalen Konse-
quenzen der Vergangenheit und der Naturgesetze, eingeschlossen unsere ei-
genen Handlungen, nicht in unserer Hand. Vgl. Inwagen, 1983, 16; 56.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 289
rischer Freiheit zu kommen. Dies wäre aber nur der Fall, wenn man den
Determinismus schon als wahr voraussetzt, also behauptet, die Natur-
gesetze seien halt so, dass sie alle Handlungsmöglichkeiten bis auf eine
verschließen. Solange keines dieser Naturgesetze vorgewiesen wird,
sollte der Libertarier von diesem Argument nicht allzu beeindruckt sein.
Naturgesetze schreiben ja nicht vor, was zu geschehen hat, sondern
beschreiben in systematisierter Form, was stets geschieht. Um wahre
Allsätze zu sein, dürfen Naturgesetze keine Gegeninstanzen haben.
Menschen können Naturgesetze in der Tat nicht falsch machen, das
liegt aber allein daran, dass in den Gesetzesbegriff das Merkmal des
Wahrseins schon eingebaut ist. Menschen können sehr wohl Geset-
zeskandidaten als falsch erweisen. Durch eine solche Falsifikation wird
gezeigt, dass etwas, was man für ein Gesetz hielt, keines war, sondern
nur eine Gesetzeshypothese. Wunder braucht es dafür nicht.
Die Behauptung, dass Libertarier Handelnde als Erste Beweger auf-
fassen, die Kausalketten in Gang setzen, ist nicht so leicht zurückzu-
weisen, denn in der Tat gibt es prominente Libertarier, die dies ver-
treten haben. Der Akteurskausalist Roderick Chisholm spricht dieses
große Wort gelassen aus: „Each of us, when we act, is a prime mover
unmoved“ (Chisholm, 1964, 32). Von Kant sind ähnliche Formulie-
rungen bekannt: Wir hätten das Vermögen, „mitten im Laufe der Welt
verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen“
und also „aus Freiheit zu handeln“ (Kant, 1781/87, B 478/A 450).
Diese Formulierungen sind interpretationsbedürftig. In der neueren
Literatur sind drei kausalitätstheoretische Interpretationen der libertari-
schen Freiheitsauffassung unterschieden worden.6 Libertarier können
das Anderskönnen unter gegebenen Umständen akausal, akteurskausal
oder indeterministisch ereigniskausal auffassen:
a) Akausalisten oder Nonkausalisten behaupten, dass freie Entscheidun-
gen oder freie Handlungen keine Ursachen haben (Ginet, McCann).
Man spricht hier auch von „kontrakausaler Freiheit“.
b) Akteurskausalisten behaupten, dass Entscheidungen oder Handlungen
durch Akteure verursacht werden (Kant, Chisholm, R. Taylor,
Clarke, O’Connor, Lowe, Runggaldier, Meixner).
c) Indeterministische Ereigniskausalisten behaupten, dass Entscheidungen
und Handlungen auf nichtdeterministische Art durch Ereignisse
verursacht werden (Kane, Ekstrom, Mele, Keil).
6 Vgl. z. B. Clarke, 2005.
290 Geert Keil
Die Lehre von der akausalen oder kontrakausalen Freiheit gibt dem
Einwand Nahrung, dass der Libertarismus mit einem wissenschaftlichen
Weltbild unvereinbar sei. Entscheidungen und Handlungen sind ja
Ereignisse oder gehen jedenfalls mit solchen einher. Das allgemeine
Kausalprinzip lautet in Kants Formulierung: „Jedes Ereignis hat eine
Ursache“. Wenn nun der Libertarier behauptet, dass Entscheidungen
oder Handlungen unverursacht geschehen, so leugnet er das allgemeine
Kausalprinzip, und das zu tun ist keine Kleinigkeit.
Nun ist das Kausalprinzip nicht mit dem Determinismusprinzip
identisch. Dass jedes Ereignis eine Ursache hat, ist nicht gleichbedeutend
damit, dass jedes Ereignis unter deterministische Sukzessionsgesetze
fällt.7 Die Gesetzesauffassung der Kausalität ist vielmehr eine kausali-
tätstheoretische Zusatzannahme, zu der es Alternativen gibt. Zum
akausalen Libertarismus – zur Annahme einer kontrakausalen Freiheit –
neigen Libertarier, die das Kausalprinzip mit dem Determinismus
identifizieren. Auch Kant konnte sich schlicht nicht vorstellen, was denn
Verursachung sonst sein sollte, wenn nicht Determination durch strenge
Naturgesetze. Und dass Letzteres mit der Freiheit unvereinbar ist,
kennzeichnet ja gerade den Inkompatibilismus, den der Libertarier
vertritt. Sobald alternative, nichtdeterministische Auffassungen der
Kausalität entwickelt werden, sollte die Attraktivität der kontrakausalen
Freiheit für den Libertarier sinken.
Eine dieser Alternativen ist die Akteurskausalit!t. Kant führte zur
Auflösung des Freiheitsproblems eine zusätzliche Kausalitätsart ein, die
er der gewöhnlichen Naturkausalität zur Seite stellte und „Kausalität aus
Freiheit“ nannte. In der analytischen Handlungstheorie hat Chisholm
diese Idee unter dem Titel Agent Causality wiederbelebt und theoretisch
ausgearbeitet. Die Pointe dieser zusätzlichen Kausalitätsart gegenüber
der gewöhnlichen Ereigniskausalität besteht darin, dass Akteurskausa-
listen als erstes Relatum der Kausalrelation nicht ein Ereignis ansehen,
sondern eine Person. Wenn eine Person „eine Reihe von Begeben-
heiten von selbst anfängt“, also eine Kausalkette in Gang setzt, dann ist
nicht etwas in ihr die Ursache für ihre Körperbewegung, sondern sie selbst
verursacht im Wortsinne ihre Handlung. In Chisholms Worten: „In
doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or
no one – causes us to cause that events to happen.“ (Chisholm, 1964,
32).
7 Vgl. dazu Keil, 2003; 2007, Kap. 2.5.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 291
Die größte theoretische Schwierigkeit der Akteurskausalität besteht
im sogenannten Datiertheitsproblem. Es wurde von Charlie Broad in die
Debatte eingeführt und lautet wie folgt: Handlungen sind etwas, was zu
einem bestimmten Zeitpunkt vorkommt. Die Nennung der Ursache für
eine Handlung sollte erklären, warum sie zu diesem bestimmten Zeit-
punkt vorkommt und nicht früher oder später. Der schlichte Verweis
auf die Person kann dies aber nicht erklären. Die Person war ja schon
vorher da und wird auch nachher noch da sein. Sie ist, wie Aristoteliker
sagen, eine beharrende Substanz, die den Veränderungen, die an oder in
ihr stattfinden, zugrunde liegt. Als beharrende Substanzen überdauern
Personen ihre Handlungen, und deshalb kann die Nennung der Person
nicht die Frage beantworten, warum jetzt eine Handlung stattfindet.
Also können Personen nicht im Wortsinne Ursachen von etwas sein.8
Der Datiertheitseinwand gegen die Annahme einer eigenen Ak-
teurskausalität ist ein sehr starkes Argument, das bisher niemand ent-
kräften konnte. Eine nahe liegende Antwort wäre diese: Dann ist die
Ursache für die Handlung eben nicht die Person selbst, sondern ihr
Entschluss oder ihre Entscheidung, also ein geistiger Akt, welcher der
Person zurechenbar ist. Diese Antwort entspricht aber eben der Auf-
fassung der ereigniskausalen Theorie der Handlungsverursachung, welche
die Ursache als etwas ansieht, was im Handelnden stattfindet und der
Handlung unmittelbar vorausgeht.
Allerdings ist die ereigniskausale Lesart nach Auffassung der Ak-
teurskausalisten freiheitsgefährdend. Kant und Chisholm meinen, dass
unser Vermögen, eine Handlung anzufangen, nur durch die Annahme
einer eigenen Kausalitätsart verständlich gemacht werden kann. Das
Argument dafür ist bei Chisholm ganz einfach: Wenn die Handlung
durch Ereignisse verursacht wurde, und seien es mentale Ereignisse,
dann stand die Handlung ja nicht in der Macht der Person. Wenn
Ereignisse in mir die Ursache waren, dann gilt, dass ich in der gege-
benen Situation nicht anders hätte handeln können, als ich eben ge-
handelt habe.9
Dieses Argument verfängt aber nur, wenn Ursachen kausal hinrei-
chende Bedingungen sind, wenn man also die Gesetzesauffassung der
Kausalität zugrunde legt. Tut man das nicht, so bräuchte es einen zu-
sätzlichen Grund, warum Verursachtsein freiheitsgefährdend sein soll.
8 Zur Auseinandersetzung mit der Lehre der Akteurskausalität vgl. Keil, 2000,
319–373.
9 Vgl. Chisholm, 1964, 25.
292 Geert Keil
Diesen zusätzlichen Grund gibt es auch, er verbirgt sich in Chisholms
nur halb ironischer Rede, Handelnde müssten unbewegte Beweger sein.
Diese Rede zeigt an, dass es neben dem So-oder-Anderskönnen noch
ein zweites Modell oder ein zweites Merkmal der libertarischen Freiheit
gibt, nämlich die Vorstellung des Akteurs als einer ersten Quelle seiner
Handlung – das Ursprungsmodell („source model“). Dieses Modell, oder
genauer, die kausale Deutung dieses Modells, provoziert die einschlä-
gigen Einwände. Wenn anlässlich jeder Handlung eine neue Kausalkette
beginnt, scheinen Kräfte oder Energien aus dem Nichts zu entstehen,
und das würde die physikalischen Erhaltungssätze wie auch das allge-
meine Kausalprinzip verletzen. Dass dem Weltlauf ein erster Beweger
zugrunde liegt, ist schwer genug zu verstehen; dass es gleich Scharen
unbewegter Beweger geben soll, würde Naturwissenschaft sehr
schwierig machen.
Die Probleme, die aus der kausalen Deutung des Ursprungsmodells
entstehen, kann man auch in die Frage kleiden, wie Akteurskausalität
denn mit der gewöhnlichen Ereigniskausalität vermittelt werden soll, so
dass beide Verursachungsarten in derselben Welt nebeneinander beste-
hen können. Kant hat die beiden Kausalitätsarten auf zwei Welten
verteilt, die empirische und die intelligible; dieser Zug löst das Ver-
mittlungsproblem nicht, sondern lässt es umso schärfer hervortreten.
Wenn man die akteurskausale und die akausale Variante des Li-
bertarismus ablehnt, bleibt nur die ereigniskausale. Hier besteht die
Herausforderung darin, zu erklären, wie Handlungen Ursachen haben
können, und es zugleich wahr sein soll, dass die Person unter den ge-
gebenen Umständen auch anders hätte handeln können. Umgekehrt
gefragt: Warum sollte man ein Ereignis oder ein Ensemble von Ante-
cedensbedingungen, das seine Wirkung nicht unausweichlich macht, noch
eine Ursache nennen? Die Entkopplung von Kausalprinzip und De-
terminismusprinzip gibt ja noch keine positive Antwort auf die Frage,
worin eine Kausalbeziehung denn dann besteht, wenn nicht in einer
Instanz einer strengen Gesetzmäßigkeit. Der Begriff einer indeterminis-
tischen Ereigniskausalit!t müsste also präzisiert werden. Der prominenteste
Vertreter des ereigniskausalen Libertarismus, Robert Kane, hat diese
Auffassung kausalitätstheoretisch nicht näher ausgearbeitet. Doch erst
wenn man das getan hat, wird der Libertarier den Mythos des Ersten
Bewegers überzeugend zurückweisen können. Erst dann kann er zei-
gen, warum das Vermögen, unter gegebenen Bedingungen so oder
anders zu handeln, nicht die Fähigkeit erfordert, unverursachte Ursa-
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 293
chen in die Welt zu setzen, Wunder zu bewirken oder Naturgesetze zu
verletzen.10
2.4 Der Mythos der Lücke
F"r freie Entscheidungen muss es eine spezielle Art von neuronaler Indetermi-
niertheit geben – Determinationsl"cken in Gehirnprozessen, in die der freie
Wille hineinstoßen kann.
Dies ist eine Auffassung, die durch Epikur und Descartes bekannt ge-
worden und in Verruf gekommen ist. Nach Epikur lässt die Natur
geringe „willkürliche“ Bahnabweichungen der Seelenatome zu (clina-
men atomorum). Diese geringfügigen Abweichungen machen es den
Lebewesen möglich, willentlich eine Bewegung in Gang zu setzen, sind
aber so klein, dass sie die beobachtbare Regelmäßigkeit der Natur nicht
tangieren. Descartes hatte ein ähnliches Argument: Die Zirbeldrüse sei
so locker im Gehirn aufgehängt, dass an dieser Stelle, und nur dort, die
Lebensgeister (esprits animaux) auf die Körperwelt einwirken können.11
Im 20. Jahrhundert hat eine Reihe von Physikern und Philosophen,
angefangen mit Pascual Jordan, dafür argumentiert, dass der quanten-
mechanische Indeterminismus die libertarische Freiheit ermöglicht. Der
Hirnforscher John C. Eccles lehrte, dass Quantenunbestimmtheiten in
den Synapsen dem nichtmateriellen Geist einen kleinen Freiraum zur
Kontrolle von Gehirnprozessen verschaffen. Heute vertritt der Liber-
tarier Robert Kane eine Variante der Clinamen-Auffassung: Im Gehirn
gebe es chaotische Prozesse, die durch Quantenereignisse beeinflusst
werden können. In Situationen, in denen Personen zwischen ver-
schiedenen Motiven hin- und hergerissen sind und sich letztlich für eine
der Handlungsoptionen frei entscheiden, werden chaotische neuronale
Prozesse in Gang gesetzt, die für minimale Schwankungen der An-
fangsbedingungen sensibel sind.12
Mehrheitlich ist die Auffassung, dass Quantensprünge uns frei ma-
chen, mit Hohn und Spott überzogen worden, wobei der Zufallseinwand
die zentrale Rolle gespielt hat. Wie sollten, so fragte Erwin Schrödinger
10 Kausalitätstheoretisch befriedigend und zugleich freiheitskompatibel ist meines
Erachtens am ehesten eine Variante der kontrafaktischen Auffassung der Kausalität.
Vgl. dazu Keil, 2000, 272–300; 431–473.
11 Vgl. Descartes, 1649, § 31; §34.
12 Kane, 1996, 128–130; 172–174.
294 Geert Keil
schon 1936, bloße Zufallsereignisse unsere Freiheit gewährleisten? Und
wie schafft es der Geist, seine Entscheidungen zeitlich exakt in die
minimalen Kausallücken zu platzieren, deren Auftreten schließlich
unvorhersehbar ist? 13 Ähnlich argumentierte schon Cicero gegen Epi-
kurs Clinamen-Theorie. Worin genau der Zusammenhang zwischen
neuronalem Chaos und freien Entscheidungen bestehen soll, kann auch
Kane nicht erklären. Entsprechen chaotische Prozesse freien Entschei-
dungen, ermçglichen sie sie, erkl!ren sie sie?
Meines Erachtens liegt der Auffassung, es müsse für freie Ent-
scheidungen eine spezielle Art von neuronaler Indeterminiertheit
geben, ein Missverständnis über die Natur des Determinismus und
entsprechend des Indeterminismus zugrunde. Wer nach einer speziellen
Art von Indeterminiertheit bei freien Entscheidungen sucht, scheint
allgemein den Determinismus für wahr zu halten. Genau diese Auffas-
sung wird dem Libertarismus auch von seinen Kritikern zugeschrieben:
„Die Idee der Willensfreiheit mutet uns zu, in einem ansonsten deter-
ministisch verfaßten Bild von der Welt lokale Löcher des Indetermi-
nismus zu akzeptieren.“ (Prinz, 1996, 92). Wohlverstanden ist Inde-
terminiertheit aber kein lokaler Zug der Welt, sondern ein globaler.14
Indeterminismus – und vielleicht sollte man besser vom Nichtdeter-
minismus sprechen – ist nichts anderes als die Auffassung, dass der
Laplacesche Determinismus nicht wahr ist, dass also der Weltlauf keinen
ausnahmslosen Sukzessionsgesetzen unterliegt. In diesem Sinne ist dann
aber kein Ereignis determiniert. Dafür muss es keine L"cken oder ge-
setzlose Inseln im Meer der strengen Determination geben, denn schon
dieses Meer gibt es nicht.
Die Rede von einzelnen nichtdeterminierten Ereignissen ist streng
genommen ein Kategorienfehler, denn der Gehalt des Laplaceschen
Determinismus zeigt sich erst in der allquantifizierten Form determi-
nistischer Gesetze bzw. des von Laplace fingierten Supergesetzes. Dass
in einem Einzelfall das Vorausgesagte geschieht, belegt den Determi-
nismus nicht, denn dieser behauptet, dass nichts dazwischenkommen
kçnnte. Diese modale Behauptung wird aber nicht dadurch wahr, dass
oft genug das Erwartete geschieht.
13 „How does the mind arrange to have its decisions occurring simultaneously
with that unpredictable leap, so that they, too, may be undetermined?“ (Thorp,
1980, 70).
14 Vgl. dazu Keil, 2007, Kap. II.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 295
Die Rede von „Lücken“ ist ebenso metaphorisch wie die von
einem „lückenlosen Zusammenhang“. Was genau soll da lückenlos
sein? Die zugrunde liegende Metapher dürfte die von der Weltmaschine
sein, also die mechanistische Vorstellung der Welt als eines kraft-
schlüssigen Räderwerks, in dem alle Zahnräder ohne Spiel ineinander
greifen. Das ist eine eindrucksvolle Metapher, aber sie erklärt den Sinn
der deterministischen Lehre nicht und ersetzt auch kein Argument für
deren Wahrheit. Ohne die suggestive Metapher ist man auf die Frage
zurückverwiesen, woher der Determinismus seine modale Kraft be-
ziehen soll. Die einschlägige Antwort lautet: aus den Naturgesetzen. Es
ist einfach nicht zu sehen, wie man bei der Erläuterung des Laplaceschen
Determinismus die Frage umgehen könnte, ob der Weltlauf aus-
nahmslosen Sukzessionsgesetzen folgt oder eben nicht.
Der Mythos der lokalen Determinationslücken ist so tückisch, weil
er so nahe an der Wahrheit ist. Wer partout von „Determinationslü-
cken“ sprechen will, kann dies tun, er muss nur erklären, was er damit
meint. Die Rede von Lücken könnte einfach eine Reformulierung des
Prinzips der alternativen Möglichkeiten sein. Lücken sind dann offene
Möglichkeiten, also diejenigen möglichen Verläufe, die durch Natur-
gesetze nicht ausgeschlossen sind. Wenn ich anders gehandelt hätte, als
ich tatsächlich gehandelt habe, hätte ich meine Handlungen in eine
solche „Determinationslücke“ platziert.
Behauptet der Indeterminismus als globale Doktrin, dass die Welt
sich vollständig aus Determinationslücken im besagten Sinne zusam-
mensetzt? Nein, Indeterminismus ist nicht die Auffassung, dass jederzeit
Beliebiges geschehen kann. Viele mögliche Verläufe sind durch Naturge-
setze ausgeschlossen. Zum Beispiel ist es, soweit wir wissen, naturge-
setzlich unmöglich, dass jemand sich schneller als das Licht bewegt.
Doch alles, was nicht naturgesetzlich unmöglich ist, bleibt möglich. Die
Naturgesetze fasst man am besten als constraints auf, als Restriktionen, die
einige Möglichkeiten verschließen, aber viele andere offen lassen. Wenn
den Naturgesetzen Genüge getan ist, gibt es nicht noch einmal einen
Mechanismus, der Spielräume vernichtet. Nichts anderes behauptet der
Indeterminismus: die Abwesenheit einer Vorrichtung, die alle Mög-
lichkeiten bis auf eine verschließt. Es kann daher keine Rede davon
sein, dass der Libertarier die Naturgesetze leugnet oder abändern will.
Vielmehr weist er auf den Umstand hin, dass die naturgesetzlichen
„constraints from physics are only partial constraints. There is much
freedom left after they are satisfied.“ (Suppes, 1994, 467).
296 Geert Keil
Damit schließe ich meine Liste der Mythen über den Libertarismus.
Die Argumentationslinie war die folgende: Vieles, was dem Libertarier
an Auffassungen zugeschrieben wird, gehört nicht zu den definierenden
Merkmalen seiner Position. Übrig bleibt das Anderskönnen unter ge-
gebenen Bedingungen. Es ist dasjenige Merkmal, das die libertarische
Freiheitsauffassung auszeichnet.
3. Der Zufallseinwand
Nicht auf einer Fehlzuschreibung beruht der Zufallseinwand gegen die
libertarische Freiheitsauffassung. Er markiert ein echtes und vermutlich
das schwierigste Problem des Libertarismus. Hier sind einige Formu-
lierungsvarianten: Eine indeterminierte Wahl wäre zufällig, und Zufall
nützt dem Freiheitsfreund nichts. Wenn wir unter identischen Bedin-
gungen so oder anders entscheiden könnten, wären unsere Entschei-
dungen irrational und unerklärlich. Indeterminiertheit vergrößert un-
sere Freiheit nicht, sondern unterminiert Vernünftigkeit, Kontrolle und
Verantwortlichkeit.
Der Zufallseinwand markiert ein ernstes Problem, aber er trifft den
Libertarier nicht wehrlos. Ich habe an anderer Stelle fünf Antworten auf
den Zufallseinwand skizziert,15 von denen ich hier nur eine rekapitu-
liere. Die Antwort auf den Einwand, dass der Indeterminismus dem
Libertarier doch „nichts nützt“, „nicht weiterhilft“ oder seine Freiheit
„nicht verständlich macht“, muss lauten, dass der Indeterminismus auch
nicht diese Aufgabe hat. Allgemein ist zwischen dem positiven und dem
negativen Teil einer Freiheitslehre zu unterscheiden: Freiheit muss zum
einen positiv erläutert werden, beispielsweise als das Vermögen, prak-
tische Überlegungen anzustellen und diese Überlegungen handlungs-
wirksam werden zu lassen. Diese positive Erläuterung fällt nicht bei
allen Libertariern gleich aus; der gemeinsame Nenner aller Libertarier ist
ja allein das ,starke‘ Freiheitsverständnis, welches Anderskönnen unter
gleichen Umständen erfordert. Es liegt auf der Hand, dass der bloße
Indeterminismus für eine positive Erläuterung nicht ausreicht. Die
ontische Möglichkeit alternativer Verläufe besteht ja auch für Wesen
oder Dinge, denen der Libertarier keine freie Wahl zugestehen würde.
„Frei“ im hier interessierenden Sinne kann auch nicht nur heißen
„ungehindert“, sonst wäre auch ein fallender Stein frei. Eine positive
15 Vgl. Keil, 2007, Kap. IV, 5.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 297
Erläuterung der Freiheit muss ein echtes Vermçgen beschreiben, keine
bloße Möglichkeit.
Zum anderen muss dieses Vermögen in die Welt passen. Die phy-
sische Welt darf nicht so sein, dass die Ausübung dieses Vermögens
unmöglich wäre. Dafür ist der negative Teil einer Freiheitslehre zu-
ständig, nämlich das Merkmal des Ungehindertseins. Für den Libertarier
spielt diese Rolle der Indeterminismus: Er gewährleistet, dass der
Ausübung des fraglichen Vermögens nichts entgegensteht. Nur insofern
der Weltlauf nicht deterministischen Sukzessionsgesetzen unterliegt,
gibt es für freie Wesen einen Spielraum, in dem sie ihr Entscheidungs-
und Handlungsvermögen ausüben können. Indeterminismus ist also
keine positive Erläuterung von „freier Entscheidung“, sondern er ist nur
für das Nihil obstat zuständig.
Die genannte Variante des Zufallseinwands beruht mithin auf einer
Verwechslung der Aufgaben des positiven und des negativen Teils einer
Freiheitslehre. Vom negativen Teil wird fälschlich erwartet, dass er das
Vermögen der Freiheit positiv erläutert oder verständlich macht. Als
Vermögen muss die Freiheit aber unabhängig erläutert werden; danach
bleibt nur noch zu prüfen, ob das derart erläuterte Vermögen auch in
die Welt passt. – Der Zufallseinwand ist damit freilich nicht insgesamt
ausgeräumt; dafür bedarf es weiterer Argumente.16
4. Epilog: Zur Evolution der Freiheit
Das Verursachtsein unserer Handlungen ist solange nicht freiheitsge-
fährdend, wie Kausalität nichtdeterministisch aufgefasst wird. Dass un-
sere Handlungen nichtdeterministische Ursachen haben, gew!hrleistet
aber nicht schon das Anderskönnen. Eine positive Erläuterung der
Freiheit muss, wie gesagt, ein echtes Vermögen beschreiben, bei-
spielsweise das Vermögen, praktische Überlegungen anzustellen und das
Ergebnis dieser Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen,
eingeschlossen die schon von Locke beschriebene Fähigkeit, vorfindli-
che Wünsche oder Antriebe zu suspendieren, eingehend zu prüfen und
sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren.17
16 Vgl. Keil, 2007, Kap. IV, 5.
17 Nida-Rümelin hat gegen die empiristische Standardauffassung der mentalen
Verursachung überzeugend herausgearbeitet, dass für diese Fähigkeit Handeln
nach Gr"nden erforderlich ist, nicht bloß die Abhängigkeit meiner Handlung
298 Geert Keil
Dass Menschen die komplexe Fähigkeit besitzen, ihre vorhandenen
Wünsche und Antriebe vernünftig zu prüfen und sich gegebenenfalls
von ihnen zu distanzieren, ist eine anthropologische Behauptung, die
der Überprüfung durch psychologische Forschung zugänglich ist. Von
Schimpansen ist bekannt, dass sie, vor die Wahl zwischen zwei Fut-
ternäpfen gestellt, stets den volleren wählen, selbst wenn sie gelernt
haben, dass der gewählte Napf einem Artgenossen gegeben wird. Auch
Kinder unter vier Jahren wählen stets die größere Portion. Offenbar
können sie nicht anders. Es wäre nicht erhellend, dieses fehlende Ver-
mögen der Selbstdistanzierung einfach unter das Nichtbestehen alter-
nativer Möglichkeiten im Sinne des Determinismus zu subsumieren,
und es wäre ein echter Fehler, im Umkehrschluss dieses Vermögen
durch den Indeterminismus gewährleistet zu sehen. Die Fähigkeit zur
vernünftigen Prüfung und Wahl ist etwas, das zur physikalischen In-
determiniertheit noch hinzukommen muss.
Bei der fähigkeitsbasierten Erläuterung der menschlichen Freiheit
gibt es freilich noch eine sprachliche Komplikation. „Frei“ ist im
Wortsinne nicht Attribut einer Fähigkeit oder eines Vermögens. Den
Trägern des fraglichen komplexen Vermögens, also Menschen, lässt sich
das Prädikat „frei“ hingegen zuschreiben. Der Zusammenhang lässt sich
dann wie folgt darstellen: Im positiven Teil einer philosophischen
Freiheitstheorie wird das fragliche Vermögen charakterisiert; den
Menschen nennen wir dann „frei“, wenn und insofern er das be-
schriebene Vermögen besitzt.
Wenn das Vermögen der freien Wahl eine komplexe Fähigkeit
menschlicher Säugetiere ist, dann muss diese Fähigkeit in der Natur-
oder in der Kulturgeschichte erworben worden sein. In diesem Fall
sollte es Vor- und Zwischenstufen gegeben haben. Nun hatte Descartes
das Vermögen des So-oder-anders-Wählens als eine vollkommene,
gottgleiche Fähigkeit beschrieben, die aus logischen Gründen keine
Graduierung zulässt: Ein Vermögen zur Ja/Nein-Stellungnahme, das
den gesamten logischen Raum ausschöpft, ist nicht graduierbar. Es liegt
auf der Hand, dass diese Überlegung, selbst wenn sie richtig ist, die
Frage nach der evolutionären Genese nicht hinfällig macht. Es gibt eben
verschiedene Arten der Graduierung von Fähigkeiten.
Evolutionäre Gradualitätsdebatten werden auch in Bezug auf andere
humanspezifische Fähigkeiten geführt. Sprache, Vernunft, Geist waren
von passenden W"nschen, und seien es höherstufige wie in Harry Frankfurts
Theorie der hierarchischen Motivation (Nida-Rümelin, 2005, 79–92).
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 299
nicht immer vorhanden, sie haben nicht mit dem Urknall das Licht der
Welt erblickt. Heute sind sie vorhanden, also müssen sich entwickelt
haben. Es wird in der Phylogenese Vor- und Zwischenstufen gegeben
haben, und in jeder Ontogenese können wir das allmähliche Erwachen
des Geistes von neuem beobachten. Wie weit unser theoretisches
Verständnis dieses Vorgangs reicht, steht auf einem anderen Blatt.
Dass mentale Fähigkeiten und Eigenschaften sich graduell entwi-
ckeln, mithin Abstufungen zulassen, ist im Rahmen eines wissen-
schaftlichen Weltbilds schwer zu leugnen. Die Frage ist, ob für unser
Verständnis der menschlichen Freiheit daraus etwas philosophisch In-
teressantes folgt. Müssen wir vielleicht unser Selbstverständnis als
überlegungs-, entscheidungs- und handlungsfähige Wesen revidieren,
wenn wir zugestehen, dass die fraglichen Fähigkeiten sich graduell
entwickelt haben?
Der evolution!re Naturalismus ist eine Position, die philosophische
Konsequenzen aus dem Umstand zieht, dass der Mensch mit all seinen
Fähigkeiten ein kontingentes Produkt der Evolutionsgeschichte ist. Für
manche Philosophen kommt schon das bloße Anerkennen der evolu-
tionären Entstehung einer naturalistischen Position gleich: „A philo-
sophical approach is naturalist if its procedures are consistent with the
assumption that its subject matter has come into being as a result of
evolutionary processes.“ (Roughley, 2004, 51). Doch das Vertreten von
Auffassungen, die mit der Evolutionstheorie vereinbar sind, sollte je-
manden noch nicht zum Naturalisten machen. Andernfalls wäre Roy
Wood Sellars zuzustimmen, der in seinem Buch Evolutionary Naturalism
verkündete: „We are all naturalists now.“ (Sellars, 1922, i).Nach Sellars
ist jeder, dem es an kreationistischen oder obskurantistischen Neigungen
gebricht, ein Naturalist. Dies spricht aber nicht für den Naturalismus,
sondern gegen eine Begriffsbestimmung, die diese Konsequenz hat.18
Ebenfalls zu schwach, aber ungleich poetischer, ist folgende Bestim-
mung: „To be a naturalist is to see human beings as frail complexes of
perishable tissue, and so part of the natural order.“ (Blackburn, 1998,
48).
Es ist charakteristisch für den evolutionären Naturalismus, dass er
mit sehr schwachen theoretischen Annahmen über die Entwicklungs-
geschichte des homo sapiens auskommt. Wichtig scheint allein zu sein,
dass alles, was Menschen sind, tun und können, Ergebnis der Natur-
geschichte ist, nicht, wie diese Geschichte im Einzelnen verlaufen ist.
18 Zur Begriffsbestimmung von „Naturalismus“ vgl. Keil/Schnädelbach, 2000.
300 Geert Keil
Ein beliebter Philosophenkommentar zu Auffassungen dieses Allge-
meinheitsgrades lautet, dass sie entweder trivial oder falsch seien. Dieser
Kommentar liegt auch hier nahe: Dass wir und unsere Fähigkeiten in
dem Sinne Resultat der Naturgeschichte sind, dass wir und diese Fä-
higkeiten nicht vorhanden wären, wenn die natürliche Evolution anders
verlaufen wäre, ist eine Behauptung von sehr geringem empirischem
Gehalt. Sie richtet sich gegen nichts außer dem Kreationismus.
Es könnte aber auch etwas Stärkeres gemeint sein. Betrachten wir
die ,Evolution‘ des Mentalen: Heute gibt es auf der Erde Lebewesen,
die intentionale Zustände haben, also Wünsche, Überzeugungen, Ab-
sichten und andere propositionale Einstellungen. Dies kann man eine
kontingente Tatsache nennen, in dem Sinne, in dem auch das Vor-
handensein von Sauerstoff in der Erdatmosphäre oder der Wert der
Gravitationskonstante kontingente Tatsachen sind. Wenn man weiter
danach fragt, worauf unsere heutigen Fähigkeiten beruhen, oder wie sie
in die Welt gekommen sind, so wären zwei lange Geschichten zu er-
zählen: zum einen die Naturgeschichte des homo sapiens, zum anderen
seine Kulturgeschichte. Unsere Vorfahren müssen im Zuge einer Ko-
Evolution von Sprache und Kognition damit begonnen haben, sich
einen Reim darauf zu machen, was in, mit und zwischen ihnen geschah.
Später machten sie sich Reime auf andere Reime. Philosophen sagen,
wir könnten uns intentional auf etwas beziehen oder auf etwas richten.
Manche von uns können auch komponieren, Schach spielen, Spring-
fluten berechnen oder philosophische Aufsätze schreiben. Dass Men-
schen diese Dinge tun können, ist eine harte Tatsache. Es ist aber keine
Naturtatsache, denn diese Fähigkeiten sind in der Menschheitsge-
schichte bei weitgehend unveränderter genetischer Ausstattung ausge-
bildet worden. Es ist eine Kulturtatsache, denn die Ausbildung dieser
Fähigkeiten bedurfte der Weitergabe erworbener Eigenschaften durch
das animal symbolicum. 19
Tomasello betrachtet allerdings die Kulturgeschichte als Teil der
menschlichen Naturgeschichte und bezeichnet die kulturelle Vermitt-
lung als einen „biologischen Mechanismus“.20 Doch anders als diese
Formulierung vermuten lässt, sieht Tomasello das Verhältnis von Kultur
19 Wie man den Härtegrad von Tatsachen messen kann, ist alles andere als klar,
aber wer ein gutes Argument dafür hat, dass aufgrund der biologischen Evo-
lution bestehende Tatsachen härter sind als aufgrund der Kulturentwicklung
bestehende, der möge hervortreten.
20 Vgl. Tomasello, 2002.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 301
und Natur als ein dialektisches an. Während die Soziobiologie eine
biologische Prägung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Institu-
tionen behauptet, nimmt Tomasello auch einen Einfluss der kulturellen
Lebensform des homo sapiens auf seine biologische Evolution an: „Die
menschliche Gemeinschaft stellt die adaptive Umgebung dar, in der sich
die menschliche Kognition phylogenetisch entwickelte“ (Tomasello,
2002, 10).
Kommen wir auf die Frage zurück, ob aus der Einsicht in die natur-
und/oder kulturgeschichtliche Entstehung menschlicher Fähigkeiten
und Eigenschaften etwas Interessantes für unser Verständnis der Freiheit
folgt, und ob wir insbesondere unser Selbstverständnis als überlegungs-,
entscheidungs- und handlungsfähige Wesen revidieren müssen. Von
einer Folgerung war bereits die Rede: Wir müssen die Existenz von
Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten annehmen.
Diese Vor- und Zwischenstufen angemessen zu beschreiben ist
notorisch schwierig, weil uns dafür buchstäblich die Worte fehlen.
Unser intentionales Vokabular ist auf die Beschreibung des Vollbildes
zugeschnitten, also auf die Leistungen des heutigen, ausgewachsenen
Exemplars des homo sapiens im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Doch wie
viel weniger als dieses Vollbild reicht für die Zuschreibung mentaler
Fähigkeiten aus? Um erneut hinsichtlich der Ontogenese zu fragen:
Wann genau beginnt ein Menschenkind, Überzeugungen zu haben, an
welchem Tag erwacht das Selbstbewusstsein, wann hat es zum ersten
Mal eine Absicht, wann kann es vernünftige Entscheidungen treffen?
Jede genaue Zeitangabe wäre stipulativ. Man ist versucht, mit Witt-
genstein zu sagen: „Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf“
(Wittgenstein, 1970, §141). Für einzelne rechtlich bedeutsame Fähig-
keiten wie Strafmündigkeit, Geschäftsfähigkeit oder Heiratsfähigkeit
ziehen menschliche Gesellschaften konventionelle Grenzen, doch auch
diese Grenzziehungen heben die Kontinuität der fraglichen Entwick-
lungen nicht auf, sondern kaschieren sie nur. Hier besteht ein ernstes
Problem, das nicht einmal für die Evolutionsgeschichtsschreibung spe-
zifisch ist, sondern kontinuierliche Verläufe jedweder Art betrifft. Für
die phänomennahe Beschreibung kontinuierlicher Veränderungen
scheinen die natürlichen Sprachen nicht besonders gut ausgerüstet.
Nicht alle evolutionären Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten
müssen stabil gewesen sein. Es spricht vieles dafür, dass die Evolution
des Geistes nicht in konstantem Tempo verlaufen ist. Die in der Pa-
läoanthropologie verbreitete Rede von „Sprüngen“, „Revolutionen“
und „umgelegten Schaltern“ richtet sich aber nicht gegen das Prinzip,
302 Geert Keil
dass die Natur keine Sprünge macht. Ob eine evolutionäre Entwicklung
kontinuierlich genannt wird oder diskontinuierlich, ist nur eine Frage
der zeitlichen Auflösung bei der Beschreibung der fraglichen Vorgänge.
All dies sind keine philosophischen Fragen. Überhaupt ist zu be-
fürchten, dass die Philosophie zur Rekonstruktion der Naturgeschichte
der Freiheit nicht allzu viel beitragen kann, jedenfalls nicht aus eigenen
Mitteln. Die Paläoanthropologie ist auf Fossilienfunde angewiesen und
sucht insbesondere aus Artefakten auf Fähigkeiten und Fertigkeiten
rückzuschließen, die zu deren Herstellung notwendig waren. Dabei
kann die Philosophie wenig helfen. Wenn die Frage lautet, welche
mentalen oder protomentalen Fähigkeiten evolutionäre Vorläufer des
modernen Menschen besessen haben mögen, so stehen dürftigen em-
pirischen Befunden immense methodologische und begriffliche
Schwierigkeiten gegenüber. Zwar ist die Philosophie dafür zuständig,
die Anwendungsbedingungen anthropologisch relevanter Begriffe wie
Sprache, Geist, Vernunft oder Freiheit zu klären, aber es wäre rationalis-
tische Hybris, deren Intension und Extension in allen möglichen
Welten bestimmen zu wollen. Die Schwierigkeit ist hier nicht allein,
dass wir zu wenig wissen, sondern dass es wenig zu wissen gibt. Die Frage
lautet ja, mit welchen Worten die Fähigkeiten von Wesen, mit denen
wir nicht kommunizieren können und über die wenig bekannt ist, zu
beschreiben sind. Welche unserer Begriffe sind dafür angemessen? Man
denke an die hartnäckigen Streitigkeiten, ob bestimmte Spezies eine
„Sprache“ besitzen oder nicht, oder vielleicht nur ein „Kommunika-
tionssystem“. Der Gehalt dieser Kontroversen ist nicht ohne weiteres
klar. Wenn wir unter „Sprache“ die menschliche Begriffssprache oder
etwas ihr sehr Ähnliches verstehen, muss die Antwort regelmäßig
„nein“ lauten. Wenn allgemein gefragt ist, wie ein Kommunikations-
system beschaffen sein muss, um als Sprache zu gelten, sollte man keine
verbindliche Antwort erwarten. Das deutsche Wort „Sprache“ ist nicht
scharf genug definiert, um solche Fragen zu beantworten. Die Berufung
auf den normalen Sprachgebrauch hilft uns, wie Wittgenstein bemerkt,
nur innerhalb gewisser Grenzen: „Nur in normalen Fällen ist der Ge-
brauch der Worte uns klar vorgezeichnet. […] Je abnormaler der Fall,
desto zweifelhafter wird es, was wir nun hier sagen sollen.“ (Wittgen-
stein, 1971, §142)
Freilich kann man stipulativ vorgehen und Ausdrücke wie „Sprache“
oder „Freiheit“ fachsprachlich neu definieren. Dieses Verfahren wäre
aber von begrenztem Wert, denn es würde dann nicht mehr geklärt, ob
ein fragliches Phänomen in die Extension oder Intension eines be-
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 303
kannten, leidlich funktionierenden Prädikats fällt. Das neu definierte
Prädikat würde nur zur nachträglichen Bezeichnung eines Phänomens
dienen, das man schon anhand unabhängiger Merkmale abgegrenzt
haben müsste.
Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten zu beschreiben ist
notorisch schwierig, weil uns, so hatte ich behauptet, dafür buchstäblich
die Worte fehlen. Nun stellen sich ja im Falle der ontogenetischen
Entwicklung ähnliche Abgrenzungsprobleme, mit denen wir nicht so
defätistisch umgehen wie hier vorgeschlagen. Die Lebensäußerungen
von Kindern während ihrer kognitiven Entwicklung interpretieren wir
mit hermeneutischer caritas. Wir verstehen stets etwas mehr, als es zu
verstehen gibt. Wir nehmen Zuschreibungen vor, die im Lichte erwart-
barer sp!terer Entwicklungsstadien, auf deren Beschreibung unser inten-
tionales Idiom zugeschnitten ist, gerechtfertigt erscheinen. Wir nehmen
einen hermeneutischen Vorgriff auf Vollkommenheit vor, und wenn
wir dabei gelegentlich über das Ziel hinausschießen, ist der Schaden
gering. Die zu weit gehende Behauptung darüber, was Hänschen kann,
wird Hans bald vergessen machen. Diese Rechtfertigung mentaler
Zuschreibungen durch den Vorgriff auf erwartbare artgemäße Ent-
wicklungsfortschritte entfällt aber in phylogenetischer Perspektive wie
auch in der Tierforschung. Hier wird die Extrapolation zur Projektion.
Die Literatur zur kognitiven Ethologie ist allerdings voll von solchen
Projektionen. Es scheint auch für gut ausgebildete Verhaltensforscher
schwer zu sein, die kognitiven Leistungen beispielsweise von Men-
schenaffen ohne jede hermeneutische caritas zu beurteilen.21 Dass wir
uns diese caritas verkneifen müssen, sollte der Philosoph freilich nicht
dogmatisch behaupten. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass
unsere natürlichen Sprachen für die Charakterisierung evolutionärer
Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten nicht gut gerüstet sind.
Es ist eine Herausforderung für die künftige Forschung, an diesem
Zustand etwas zu ändern. Philosophen sollten dieses Unternehmen
zugleich kritisch und konstruktiv begleiten. Die Kritik anthropomor-
pher Projektionen gehört zum Kerngeschäft der Philosophie, doch das
Erarbeiten begrifflicher Differenzierungen gehört ebenfalls dazu. Ich
empfehle mithin keinen theoretischen Defätismus, sondern habe
einstweilen festgehalten, dass von unseren gewçhnlichen Begriffen von
„Sprache“, „Geist“ oder „Freiheit“ wenig Hilfe bei der Rekonstruktion
einer Naturgeschichte der Freiheit zu erwarten ist.
21 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band.
304 Geert Keil
Evolutionäre Naturalisten pflegen zu insistieren, dass der Mensch
mit allen seinen Fähigkeiten Teil des Evolutionsgeschehens bleibe, sich
von seiner biologischen Natur nicht abkoppeln könne, auf seine in der
Philosophischen Anthropologie beschworene „Sonderstellung“ ver-
zichten müsse. Diese Bemerkungen sind von bescheidenem empiri-
schem Gehalt und erklären nichts. Sie hatten ihren Sinn in der Aus-
einandersetzung mit dem Kreationismus, doch diese Schlacht ist ge-
schlagen.
Die Frage, ob aus der Einsicht in die natur- und/oder kulturge-
schichtliche Entstehung menschlicher Fähigkeiten etwas Interessantes
für die oben skizzierte libertarische Freiheitsauffassung folgt, findet eine
negative Antwort. Es ist nicht zu sehen, inwiefern der Libertarier seine
Freiheitsauffassung aufgrund entwicklungsgeschichtlicher Befunde än-
dern müsste. Anders sähe es aus, wenn er die menschliche Freiheit von
vornherein so konzipiert hätte, dass sie nicht mit der Naturzugehörig-
keit des Menschen vereinbar ist. Dass dies der Fall sei, wird in Bezug auf
den libertarischen Freiheitsbegriff oft genug behauptet. Dass diese Be-
hauptung auf Missverständnisse und falsche Unterstellungen zurück-
geht, hoffe ich plausibel gemacht zu haben.
Bibliographie
Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. München: Hanser.
Blackburn, Simon (1998): Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning.
Oxford: Clarendon Press.
Chisholm, Roderick M. (1964): Human Freedom and the Self. In: Watson,
Gary (Hg.): Free Will. Oxford/New York 1982: Oxford University Press,
24 – 35.
Clarke, Randolph (2005): Incompatibilist (Nondeterministic) Theories of Free
Will. In: Zalta, Edward N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy
(Fall 2005 Edition), <http://plato.stanford.edu/entries/incompatibilism-
theories/>.
Descartes, René (1641): Meditationen "ber die Erste Philosophie. Hamburg 1994:
Meiner.
Descartes, René (1649): Die Leidenschaften der Seele. Hamburg 1996: Meiner.
Hume, David (1748): An Enquiry Concerning Human Understanding. Aalen 1992:
Scientia.
Inwagen, Peter van (1983): An Essay on Free Will. Oxford: Clarendon Press.
Kane, Robert (1996): The Significance of Free Will. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Kant, Immanuel (1781/87): Kritik der reinen Vernunft. Berlin/New York 1903/
04: de Gruyter.
Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung 305
Keil, Geert (2000): Handeln und Verursachen. Frankfurt am Main: Klostermann.
Keil, Geert (2003): Kausalität und Freiheit. Antwort auf Peter Rohs. In: All-
gemeine Zeitschrift f"r Philosophie (28), 261 – 271.
Keil, Geert (2007): Willensfreiheit. Berlin/New York: de Gruyter.
Keil, Geert/Schnädelbach, Herbert (2000): Einführung. In: Keil, Geert/
Schnädelbach, Herbert (Hg.): Naturalismus. Philosophische Beitr!ge. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 7 – 45.
Nida-Rümelin, Julian (2005): #ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam.
Prinz, Wolfgang (1996): Freiheit oder Wissenschaft. In: Cranach, Mario von/
Foppa, Klaus (Hg.): Freiheit des Entscheidens und des Handelns. Heidelberg:
Asanger, 86 – 103.
Roth, Gerhard (2001): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roughley, Neil (2004): Naturalism and Expressivism. On the ,Natural‘ Stuff of
Moral Normativity and Problems with its ’Naturalisation’. In: Schaber,
Peter (Hg.): Normativity and Naturalism. Heusenstamm/Frankfurt: Ontos,
47 – 86.
Seebaß, Gottfried (2006): Handlung und Freiheit. Philosophische Aufs!tze. Tü-
bingen: Mohr Siebeck.
Sellars, Roy Wood (1922): Evolutionary Naturalism. New York: Macmillan.
Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von
Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Wil-
lensfreiheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 30 – 65.
Suppes, Patrick (1994): Voluntary Motion, Biological Computation, and Free
Will. In: Midwest Studies in Philosophy (19), 452 – 467.
Thorp, John (1980): Free Will. A Defence against Neurophysiological Determinism.
London: Routledge & Kegan Paul.
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wittgenstein, Ludwig (1970): #ber Gewißheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wittgenstein, Ludwig (1971): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Freiheit und Einbettung in die Umwelt –
ein relationales neurophilosophisches Modell
GEORG NORTHOFF
I. Einleitung: Konzepte der Freiheit
Im Alltag erleben wir das Gefühl der Freiheit, welches sich sowohl auf
Handlungsentscheidungen als auch auf unseren Willen bezieht, den wir
als frei verfügbar von unserer Seite erleben. Es wird daher in der ge-
genwärtigen philosophischen Debatte um Freiheit auch zwischen
Handlungsfreiheit und Willensfreiheit unterschieden. Jemand ist in
seinen Handlungen frei, wenn sein Wille sich ungehindert in seinen
Handlungen niederschlagen kann. Dabei muss der Wille die jeweilige
Handlung nicht direkt verursachen, es genügt, wenn die Handlung dem
Inhalt der Absicht entspricht, wenn die Handlung die Absicht erfüllt
oder ihren Inhalt verwirklicht. Zwei entscheidende Kriterien für das
Vorhandensein von Willensfreiheit, und ultimativ auch von Hand-
lungsfreiheit, sind die Verfügbarkeit von Alternativen und das Gefühl
der Urheberschaft. Es kann von Freiheit gesprochen werden, wenn ich
über alternative Möglichkeiten der Handlung verfüge. So besteht
Willensfreiheit z. B. darin, dass ich auch über den Willen verfügen
könnte, diesen Artikel über Freiheit nicht zu schreiben. Das zweite
Kriterium der Willens- und Handlungsfreiheit, die Urheberschaft, be-
zieht sich auf ein Gefühl, dass wir als handelnde Person der Urheber der
Handlung sind und somit am Beginn einer Kausalkette stehen. Dieses
wird gegenwärtig z. B. in Form des Konzeptes der Agenskausalität
diskutiert (Chisholm, 1976); Willensereignisse werden dann nicht mehr
bloß als innere Ereignisse aufgefasst die Körperbewegungen verursa-
chen, sondern es wird eine innere und äußere Ereignisse überbrückende
Kausalkette, die ihren Ursprung im wollenden Subjekt hat, angenom-
men. Der freiheitlich wollende Mensch erlebt somit ein Gefühl der
Urheberschaft, welches sich in der Fähigkeit manifestiert, eine neue
Kausalkette zu initiieren. So habe ich z. B. als Autor das Gefühl, der
Ursprung bzw. Beginn der Kausalkette zu sein, welche letztendlich in
308 Georg Northoff
einen geschriebenen Beitrag über das Konzept der relationalen Freiheit
einmündet.
Dieser Willens- und Handlungsfreiheit mit ihren beiden Kriterien
der Verfügbarkeit von Alternativen und der Urheberschaft steht das
Konzept des Determinismus gegenüber. Dieser Vorstellung zufolge ist
unsere Welt physikalisch und somit kausal geschlossen und festgelegt
(determiniert). Für unsere Welt und auch für unseren Körper ein-
schließlich unseres Gehirns würden die Gesetze der klassischen Physik
gelten, wo alles in Form von (effizient; siehe unten) wirkenden Kau-
salketten determiniert ist. Dieses schlösse alternative Möglichkeiten aus
und widerspräche dem Kriterium der Willens- und Handlungsfreiheit.
Willensfreiheit wäre somit weder mit einem deterministischen Uni-
versum im Sinne der klassischen Physik noch mit einem Gehirn, wel-
ches dem kausal-physikalistischen Determinismus unterliegt, vereinbar.
Auch das zweite Merkmal, nämlich die Urheberschaft, scheint vom
Determinismus betroffen zu sein. Wie können wir die Urheber unserer
Entscheidungen sein, wenn wir nicht neue Kausalketten verursachen
und starten können? Wenn wir aber, wie es der Determinismus will,
keine neuen Kausalketten verursachen könnten, sondern nur bereits
begonnene Ketten fortsetzen könnten, drohte unsere Urheberschaft
verloren zu gehen. Wir wären dann nicht mehr die Initiatoren, die am
Beginn von neuen Kausalketten stehen, sondern lediglich ein Glied in
den physikalistisch- und kausaldeterminierten Kausalreihen des Uni-
versums. Gerade die neuen Entwicklungen in den Neurowissenschaften
scheinen die kausal-physikalistische Determiniertheit der neuronalen
Prozesse unseres Gehirns nahe zu legen. Wenn aber unser Gehirn als
zumindest notwendige, wenn nicht auch hinreichende Bedingung
unserer psychischen Prozesse kausal determiniert wäre, würden auch die
Möglichkeit der Verfügbarkeit von Alternativen und das Gefühl der
Urheberschaft in Frage gestellt. Schließt unser Gehirn somit jegliche
Willens- und Handlungsfreiheit aus? Sind Gehirn und Freiheit nicht
kompatibel miteinander? Da wir auf unser Gehirn nicht verzichten
können, müssen wir offenbar das Konzept der Freiheit aufgeben –
Aufgabe der Freiheit zugunsten unseres Gehirns?
Das Ziel meines Beitrages besteht in der Entwicklung eines so ge-
nannten relationalen Modells von Freiheit. Das relationale Modell von
Freiheit zielt darauf, den Gegensatz zwischen dem Determinismus des
Gehirns und dem Konzept der Freiheit zu unterminieren, indem die
Beziehung zwischen Organismus, inkl. seines Gehirns, und Umwelt als
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 309
zentral für die Möglichkeit von Freiheit betrachtet wird. Freiheit in
einem relationalen Sinne wird nicht mehr ausschließlich in den neu-
ronalen Prozessen unseres Gehirns gesucht, sondern die Freiheit besteht
hier in der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. Die neu-
ronalen Prozesse unseres Gehirns können dann höchstens als notwen-
dig, aber auf keinen Fall mehr als hinreichend für die Freiheit des
Menschen betrachtet werden. Freiheitsprozesse sind dann weder neu-
ronale Prozesse noch psychische Prozesse, sondern relationale Prozesse
zwischen Organismus und Umwelt. An die Stelle der Realisierung der
Freiheit durch neuronale oder psychische Prozesse rücken die ver-
schiedenen Formen von Relationen bzw. Kontaktmöglichkeiten zwi-
schen Organismus und Umwelt als zentrales Moment. Es ist nicht mehr
die Art der neuronalen Prozesse von entscheidender Bedeutung, son-
dern die Art der Kopplung des Organismus mit seiner Umwelt. Auf der
Grundlage dieser Voraussetzungen möchte ich hier eine erste, zunächst
vorläufige, Definition von Freiheit geben, die im Weiteren noch näher
spezifiziert wird:
Erste, vorl!ufige Definition des Konzeptes von Freiheit in einem relationalen
Sinne:
Freiheit heißt eine Selektion von Stimuli der Umwelt treffen zu
können, je nachdem mit welcher Bedeutung sie der Organismus
erlebt.
Das hier vorgestellte relationale Modell von Freiheit macht die fol-
genden Voraussetzungen, die hier aufgrund des vorgegebenen Rahmens
nicht näher diskutiert werden können.
1) Das relationale Modell von Freiheit setzt einen biologisch orien-
tierten Freiheitsbegriff voraus. Biologisch muss hier als non-physi-
kalistisch im Unterschied zur klassischen Physik verstanden werden.
Dementsprechend muss auch der klassische physikalistisch orientierte
Kausalitätsbegriff im Sinne einer causa efficiens zurückgewiesen
werden und durch einen anderen bzw. erweiterten Kausalitätsbegriff
ersetzt werden.
2) Im Rahmen eines biologisch orientierten Freiheitsbegriffs setzt das
hier vorgestellte relationale Modell einen non-reduktiven Natura-
lismus voraus, wohingegen es mit einem reduktiven bzw. elimina-
tiven Naturalismus nicht vereinbar ist (siehe unten für Details).
3) Das hier vertretene relationale Modell von Freiheit setzt eine starke
epistemische Dimension voraus. Der Bezug zur Umwelt wird in
einer bestimmten Art und Weise vom Organismus erlebt und mit
310 Georg Northoff
einer bestimmten Bedeutung besetzt. Der Begriff des Erlebens bzw.
der Erfahrung ist somit zentral für das relationale Modell von Frei-
heit. Diese zentrale Stellung von Erfahrung und Bedeutung setzt
eine präreflexive und affektive Ebene voraus, die von einer refle-
xiven und kognitiven Ebene unterschieden werden muss. Dieses
steht im Gegensatz zu vielen gegenwärtig diskutierten Konzepten
von Freiheit in den Neurowissenschaften und der Philosophie, die
eher die reflexive und kognitive Dimension von Freiheit heraus-
stellen.
4) Es muss weiterhin betont werden, dass das hier vertretene relationale
Freiheitsmodell die ethische Dimension zunächst einmal unberück-
sichtigt lässt (siehe hierfür Gerhardt, 1999, dessen Ansatz zur
Selbstorganisation gut mit dem hiesigen relationalen Modell ver-
einbar ist). Dies heißt aber nicht, dass das relationale Modell von
Freiheit ethisch irrelevant ist sondern lediglich, dass es einer sepa-
raten Abhandlung bedarf. Da das relationale Konzept die Ver-
knüpfung zur Umwelt als zentrales Moment herausstellt, ist ein
Bezug zu sozialen und ethischen Dimensionen von vornherein ge-
geben. Obwohl hier nur der deskriptive Aspekt diskutiert wird, lässt
sich Freiheit im relationalen Sinne somit nicht von normativen
Aspekten und daher von ethischen Fragen trennen.
5) Der vorliegende Beitrag zur Entwicklung eines relationalen Modells
von Freiheit orientiert sich methodisch an einem neurophilosophi-
schen Ansatz. Hier spielt die empirische Kompatibilität der Konzepte
eine zentrale Rolle, d. h. das hier vertretene Konzept der Freiheit mit
seinen entsprechenden Voraussetzungen und Bedingungen soll
kompatibel mit der gegenwärtigen empirischen Datenlage sein.
Empirische Plausibilität bzw. Kompatibilität muss allerdings von
Reduktion und Elimination im Sinne eines Neuroreduktionismus
oder Neuroeliminativismus unterschieden werden. Anders als in
neuroreduktiven bzw. neuroeliminativen Strategien erfolgt im
neurophilosophischen Ansatz keine Vermischung bzw. Konfusion
zwischen empirischen und konzeptuellen Gegebenheiten. So kann
z. B. der empirische Gegenstand „Gehirn“ nicht mit dem theoreti-
schen Konzept der Freiheit vermischt bzw. verwechselt werden.
Obwohl die unterschiedlichen Kategorien berücksichtigt werden
sollten, kann dennoch ein Bezug zwischen ihnen hergestellt werden
– ein so genannter neurophilosophischer Bezug (Northoff, 2001;
2004). Weiterhin muss der neurophilosophische Ansatz auch von
rein philosophischen Ansätzen unterschieden werden. Aufgrund der
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 311
Berücksichtigung der empirischen Plausibilität bzw. Kompatibilität
bezieht sich der neurophilosophische Ansatz notwendig auf natür-
liche Bedingungen und impliziert somit, dass das relationale Modell
von Freiheit nur in einem natürlichen Geltungsraum und somit in
unserer gegenwärtigen Welt gültig ist. Im Unterschied zu philoso-
phischen Ansätzen kann ein neurophilosophischer Ansatz daher
keine Gültigkeit im logischen Raum und somit in allen möglichen
Welten beanspruchen, sondern nur in der gegenwärtigen Welt, in
der wir leben.
Es muss weiterhin gesagt werden, dass es hier weniger um die Dis-
kussion von Einzelheiten und Feinheiten der gegenwärtigen Debatte
über das Konzept der Freiheit in Philosophie und Neurowissenschaften
geht. Stattdessen wird hier der Schwerpunkt auf die Skizzierung eines
Rahmens für ein relationales Modell der Freiheit gelegt; Querbezüge
zur gegenwärtigen Debatte über die Freiheit in Philosophie und Neu-
rowissenschaften werden hier und da lediglich angerissen. Die aus-
führliche Diskussion der verschiedenen Positionen zur Freiheit im
Kontext eines relationalen Freiheitsmodells sollte daher in einem
zweiten Schritt erfolgen, der hier jedoch den Rahmen sprengen würde.
Im ersten Teil des vorliegenden Beitrages möchte ich zwei zentrale
Bausteine eines relationalen Freiheitsmodells vorstellen. Dieses umfasst
den Begriff der Umwelt, einschließlich des Begriffs der Selektion bzw.
der selektiv-adaptiven Kopplung zwischen Organismus und Umwelt,
und des empirischen Prozesses des self-related processing (SRP). In einem
zweiten Teil soll dann das relationale Modell der Freiheit anhand von
verschiedenen Fragen vorgestellt und diskutiert werden und dabei auch
skizzenhaft und präliminarisch in den Kontext der gegenwärtigen phi-
losophischen Diskussion um Freiheit gestellt werden.
II. Bausteine eines relationalen Modells der Freiheit
II.1 Begriff der Umwelt
Das Konzept der Umwelt muss von dem Begriff der Welt unterschieden
werden. Historischer Anknüpfungspunkt für das hier vertretene Kon-
zept der Umwelt ist der Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie,
wie er u. a. von Husserl und Merleau-Ponty eingeführt wurde. Eine
312 Georg Northoff
solche Lebenswelt ist nicht die reale Welt, sondern die Welt, die sie sich
auf meine Erfahrungen und Erlebnisse bezieht und wo die eigenen
Erlebnisse mit denen von anderen sich überschneiden. Die Lebenswelt
ist somit untrennbar von Subjektivität und Intersubjektivität. Die Le-
benswelt setzt eine präreflexive Ebene voraus in der Erfahrung bzw.
Erlebnisse dominieren; sie muss von einer kognitiven Ebene, wo die
Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt überhaupt erst getroffen
werden kann, differenziert werden.
Wie kann der Begriff der Umwelt in konzeptueller Hinsicht cha-
rakterisiert werden? Die Umwelt wird konstituiert durch eine selektiv-
adaptive Kopplung des Organismus zur Umwelt, wodurch die „reale
Welt“ in eine Umwelt transformiert wird. Die Kopplung des Orga-
nismus zur Umwelt ist selektiv, da sie sich nur auf eine Verknüpfung
bestimmter Eigenschaften des Organismus mit bestimmten Nischen
oder Gegebenheiten der Umwelt bezieht – Gibson spricht auch von so
genannten „Affordances“. So ist z. B. eine Fledermaus mit ihrem stark auf
Ultraschall ausgerichteten Design in einer ganz anderen Art und Weise
mit anderen Gegebenheiten bzw. Nischen („Affordances“) der Umwelt
verknüpft als der Mensch. Anders als die Welt, die durch ihre Objekte
charakterisiert wird, muss die Umwelt somit immer in Bezug zum
Organismus und somit in Hinsicht auf ihre Gegebenheiten bzw. Ni-
schen („Affordances“) beschrieben werden. Neben den „Affordances“
hängt die selektiv-adaptive Kopplung daher auch von dem Design des
Organismus ab – man kann von einer Co-Determination der Orga-
nismus-Umwelt-Relation durch das Design des Organismus und den
Gegebenheiten bzw. Nischen der Umwelt sprechen.
Diese Co-Determination muss auch in historischer Hinsicht be-
trachtet werden. Das Design des Organismus und die Gegebenheiten
bzw. Nischen der Umwelt entwickeln sich beide miteinander im
Wechselspiel, d. h. sie sind bilateral voneinander abhängig, so dass man
hier von einer sog. „biopsychosozialen Historizität“ der Organismus-
Umwelt-Relation sprechen kann (Northoff/Bermpohl, 2004). „Bio-
psychosoziale Historizität“ beschreibt die gemeinsame biologische,
psychologische und soziale Geschichte von Organismus und Umwelt,
die sie teilen. Durch den Begriff der „biopsychosozialen Historizität“
wird eine zeitliche Dimension in die Organismus-Umwelt-Relation
eingeführt, die für ihre gegenseitige Co-Evolution verantwortlich ist.
Eine solche Co-Evolution zwischen Organismus und Umwelt resultiert
in wechselseitiger Anpassung: Das Design des Organismus ist ausge-
richtet auf die Gegebenheiten bzw. die Nischen, welche die Umwelt
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 313
bietet, welche sich wiederum in Orientierung an dem Design des Or-
ganismus entwickeln. Organismus und Umwelt zeichnen sich somit
durch eine wechselseitige Sensitivität füreinander aus und stehen daher
schon immer, evolutionär bzw. historisch betrachtet, in einer Bezie-
hung zueinander. Dies ist, was ich hier als Organismus-Umwelt-Re-
lation bezeichne.
Die oben getroffene Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt
impliziert eine weitere Unterscheidung in epistemischer Hinsicht. Die
Art und Weise wie ein Organismus zu seiner Umwelt gekoppelt ist, ist
spezifisch und hängt, wie oben beschrieben, von der gemeinsamen
„biopsychosozialen Historizität“ ab. Diese spezies-spezifische Bestim-
mung und Determination der Umwelt durch einen spezifischen Or-
ganismus nenne ich spezies-spezifische Abhängigkeit (d); das „d“ steht
für die Determination der Umwelt durch die jeweilige Spezies. Diese
spezies-spezifische Abhängigkeit (d) muss von der spezies-unabhängigen
Existenz der Welt als solche, die unhängig von der jeweiligen Spezies
existiert, unterschieden werden. Die Existenz der Welt als solche, die als
Ausgangspunkt für die Transformation derselbigen in eine bestimmte
und spezies-abhängige Umwelt betrachtet werden muss, ist unabhängig
von der jeweiligen Spezies. Ich spreche daher von einer Spezies-Un-
abhängigkeit (e); das „e“ steht für die Existenz der Welt, die als solche
von der jeweiligen Spezies unabhängig ist.
II.2 Konzept der selbstreferenziellen Prozessierung
Es stellt sich die Frage, wodurch der Organismus in der Lage ist, sich
einerseits auf die Umwelt zu beziehen und andererseits die Umwelt auf
sich zu beziehen. Hier wählt der Organismus bestimmte Stimuli der
Umwelt aus, bezieht sie auf sich selbst und bezieht sich zugleich auf sie.
Wodurch kann der Organismus Stimuli der Umwelt, auf die er sich
beziehen will und die er auf sich beziehen will, von solchen, die er nicht
auf sich beziehen will und auf die er sich nicht beziehen will, unter-
scheiden? Es kann hier von einer so genannten selbstreferenziellen
Prozessierung ausgegangen werden, welches im Englischen auch als self-
related processing beschrieben werden kann (Northoff et al., 2006;
Northoff/Bermpohl, 2004). In der englischen Übersetzung kommt im
Begriff „related“ noch besser zum Ausdruck, dass die Relation zwischen
Organismus und Umwelt durch diese Art des Processing hergestellt
wird.
314 Georg Northoff
Die selbstreferenzielle Prozessierung wird im Folgenden als SRP
abgekürzt; sie zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus:
Erstens ist die SRP genuin relational, d. h., sie stellt eine Beziehung
zwischen Organismus und Umwelt her in Form von bestimmten Sti-
muli, auf die sich der Organismus beziehen kann.
Zweitens spiegelt die SRP sich in einer Erfahrung bzw. einem Er-
leben des Selbstbezuges von Stimuli wieder. Dieses Erleben muss auf
einer phänomenalen Ebene angesiedelt werden im Unterschied zu einer
kognitiven Ebene. Es ist ein basales subjektives Erleben eines Bezuges zu
bestimmten Gegebenheiten oder Nischen der Umwelt, welche hier-
durch eine bestimmte Bedeutung für den jeweiligen Organismus ge-
winnen.
Drittens kann die SRP als eine Manifestation einer selektiv-adapti-
ven Kopplung zwischen Organismus und Umwelt angesehen werden.
Sie stellt einen episodischen Kontakt mit der Umwelt her, wodurch sich
Organismus und Umwelt in Hinsicht auf einen bestimmten Stimulus
wechselseitig modulieren und determinieren. Die SRP ist selektiv, da
sie nur bestimmte Stimuli als selbstreferenziell auswählt und andere eher
vernachlässigt, die nicht selbstreferenziell sind. Die SRP ist adaptiv, da
sie den Organismus an den Stimulus der Umwelt anpasst und ande-
rerseits die Umwelt bzw. die Stimuli an den Organismus anpasst.
Viertens muss die SRP eng mit sensomotorischen Funktionen ge-
koppelt sein, die eine Exploration und Manipulation der Umwelt bzw.
der entsprechenden Gegebenheiten von Nischen in der Umwelt er-
möglichen. Durch die Verknüpfung ermöglichen. Durch die Ver-
knüpfung mit dem entsprechenden senso-motorischen Equipment des
Organismus kann die SRP sich direkt auf die Umwelt beziehen, be-
stimmte Gegebenheiten oder Nischen der Umwelt explorieren und
auch manipulieren, so dass die Stimuli bzw. die Umwelt an den Or-
ganismus angepasst werden können. Die selektiv-adaptive Kopplung
zwischen Organismus und Umwelt, so wird es hier postuliert, wird
somit durch die Verknüpfung von SRP mit senso-motorischen Funk-
tionen aufrechterhalten.
F"nftens ersetzt eine solche selektiv-adaptive Kopplung durch die
Verknüpfung von SRP und senso-motorischen Funktionen das Modell
der Repräsentation der Umwelt im Organismus bzw. in seinem Gehirn.
Das vor allem in der analytischen Philosophie des Geistes häufig dis-
kutierte Modell der Repräsentation setzt lediglich eine indirekte Be-
ziehung zwischen Organismus und Umwelt voraus, da letztere nur
repräsentiert wird. Es besteht keine direkte Kopplung zwischen Orga-
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 315
nismus und Umwelt; stattdessen wird die Umwelt im Organismus re-
produziert in Form von Repräsentationen. Der Organismus koppelt
sich nicht mehr zur Umwelt, sondern repräsentiert die Umwelt in
seinen Kognitionen. Da ein solches Konzept der Repräsentation nicht
mit der hier vertretenen Form der SRP (mit der SRP als rein kogni-
tivem Prozess wäre es kompatibel, nicht aber, wie hier vertreten, mit
der SRP als affektiv-präreflexivem Prozess) kompatibel ist, ist es nicht
mit der Verknüpfung von SRP und Umwelt mittels der senso-moto-
rischen Funktionen vereinbar (siehe auch Noe, 2005 und Northoff,
2004). Der direkte Kontakt zwischen Organismus und Umwelt mittels
der sensomotorisch vermittelten SRP ersetzt somit den indirekten
Kontakt zur Umwelt in dem Modell der Repräsentation.
II.3 Empirische Evidenz für die selbstreferentielle Prozessierung
Der vorliegende Ansatz beruht auf einer neurophilosophischen Me-
thodik, die wiederum eine empirische Plausibilität und Kompatibilität
erfordert. Oben habe ich die Bedeutung des Konzeptes der SRP als
zentrales Moment für die Konstitution der Organismus-Umwelt-Re-
lation herausgestellt. Wenn ein solcher relationaler Ansatz empirisch
plausibel und kompatibel sein soll, sollten empirische Evidenzen für die
SRP vorliegen, d. h., bestimmte physiologische bzw. neuronale Pro-
zesse im Organismus und seinem Gehirn sollten in Verknüpfung mit der
SRP gebracht werden können. Im Folgenden möchte ich solche em-
pirischen Evidenzen aus den Neurowissenschaften für die SRP kurz
schildern. Welche Prädiktionen für empirische Hypothesen ergeben
sich aus der oben dargestellten Konzeptualisierung der SRP und in-
wieweit können diese durch empirische Daten untermauert werden?
Erstens sollte die SRP sich über alle sensorischen Modalitäten und
Domänen erstrecken und aufgrund dessen möglicherweise in einer ei-
genen funktionellen Einheit im Gehirn prozessiert werden. Dabei sollte
diese eigene funktionelle Einheit einerseits einen engen Bezug zu den
verschiedenen sensorischen Modalitäten und Domänen aufweisen und
andererseits getrennt und eigenständig von ihnen sein, sodass eine
Vermischung zwischen basaler Sensorik und Selbstbezug ausgeschlossen
ist. Hierfür liegen in der Tat empirische Evidenzen vor. Die SRP kann
möglicherweise mit der neuronalen Aktivität in einer bestimmten
Funktionseinheit im Gehirn, den sog. kortikalen Mittellinien-Strukturen,
den KMS, die die medialen Regionen der Hirnrinde des Gehirns
316 Georg Northoff
umfassen, in Zusammenhang gebracht werden. Wir haben in einer
Metaanalyse alle bisherigen bildgebenden Studien zur SRP zusam-
mengefasst. Dabei zeigte sich eine Konzentration der entsprechenden
SRP-assoziierten Aktivierungen für verschiedene sensorische Domänen
und Modalitäten in den Medialregionen des Gehirns, den KMS. In-
teressanterweise zeigen diese Regionen auch enge bilaterale Verknüp-
fung mit allen sensorischen Sinnesorganen, sowohl den externen als
auch den internen Sinnessystemen (Northoff/Bermpohl, 2004; Nort-
hoff et al., 2006).
Zweitens, wenn die SRP in der Tat so zentral für die Organismus-
Umwelt-Relation ist, sollte sie auf einer präreflexiven Ebene unterhalb
der rein kognitiven Ebene angesiedelt sein. Dementsprechend sollte sie
zwischen der rein sensorischen Prozessierung einerseits und der ko-
gnitiven Prozessierung andererseits vermitteln und so Bezüge zwischen
Organismus und Umwelt herstellen, auf denen dann die Kognition in
entsprechender Weise aufbauen kann.
Drittens müsste die SRP eine Modulierung von feinen Unter-
schieden im Grad des Selbstbezuges und somit des Bezuges zwischen
Umwelt und Organismus erlauben. In empirischer Hinsicht würde man
hier somit vermuten, dass eine lineare bzw. parametrische Abhängigkeit
zwischen dem Grad des Selbstbezuges einerseits und der Intensität der
neuronalen Aktivität in den KMS andererseits besteht. Dies konnte in
der Tat in einer Studie unserer Arbeitsgruppe aufgezeigt werden. Ge-
sunde Probanden mussten emotionale Bilder hinsichtlich ihres Selbst-
bezuges auf einer visuellen Analogskala zwischen 0 und 10 evaluieren.
Diese Werte wurden mit der in der funktionellen Kernspintomographie
gemessenen neuronalen Aktivität während der Präsentation derselben
Bilder korreliert. Dabei zeigte sich eine lineare bzw. parametrische
Abhängigkeit der neuronalen Aktivität von dem Grad des Selbstbezuges
in genau den oben beschriebenen Regionen, den medialen Regionen
unserer Hirnrinde, den sog. KMS. Je stärker der Selbstbezug zu den
präsentierten emotionalen Bildern war, desto stärker und höher war
auch die neuronale Aktivität, die in den KMS beobachtet werden
konnte.
Viertens wurde oben eine Verknüpfung zwischen SRP und senso-
motorischen Funktionen postuliert. Wenn dies der Fall ist, sollten auch
motorische Regionen, die in der Konstitution von Körperschemata
involviert sind, einen Selbstbezug aufweisen. Dieses zeigte sich in der
Tat in der oben zitierten Untersuchung. Neben den medialen Regio-
nen in unserer Hirnrinde, den KMS, zeigten auch der prämotorische
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 317
Kortex und der bilaterale-parietale Kortex eine parametrische bzw. li-
neare Abhängigkeit vom Grad des Selbstbezuges. Der prämotorische
Kortex ist in die Generierung und Entwicklung von komplexen
Handlungen involviert, der laterale parietale Kortex stellt eine wichtige
Region in der Konstitution von Körperschemata dar. Die Tatsache, dass
die neuronale Aktivität in diesen beiden Regionen ebenfalls eine pa-
rametrische Abhängigkeit vom Grad des Selbstbezuges zeigte, indiziert
die enge Verknüpfung zwischen SRP einerseits und Sensomotorik
andererseits.
F"nftens, wenn die Relation des Organismus zur Umwelt in phä-
nomenaler Art und Weise erlebt wird, sollte die affektive bzw. emo-
tionale Komponente eine zentrale Rolle im Selbstbezug spielen. Die
emotionale und affektive Komponente sollte umso stärker sein, je
stärker der Selbstbezug ist. Der enge Zusammenhang zwischen Emo-
tionen bzw. affektivem Erleben und Selbstbezug konnte in der Tat
gezeigt werden. Emotionale Bilder wiesen einen stärkeren Selbstbezug
auf als non-emotionale Bilder. Interessanterweise zeigen die Regionen,
die bei der SRP involviert sind, auch einen Anstieg ihrer neuronalen
Aktivität bei emotionalen Stimuli.
Sechstens, die SRP sollte nicht als ein rein intrasubjektiver Prozess
konzeptualisiert werden, sondern als ein relationaler und somit inter-
subjektiver Prozess angesehen werden. Wenn die SRP als ein rein in-
trasubjektiver Prozess betrachtet wird, wird die relationale Komponente
der SRP vernachlässigt. Dieses wiederum hat zur Folge, dass die Be-
deutungskomponente und die affektive und präreflexive Erlebens- bzw.
Erfahrenskomponente bei der SRP nicht erklärt werden könnte. Sofern
die SRP als ein rein intrasubjektiver Prozess angesehen wird, muss sie
den kognitiven Funktionen zugeordnet werden. Dadurch bliebe aber
die Erfahrungs- bzw. Erlebensdimension unerklärt, die auf der affekti-
ven und präreflexiven Ebene angesiedelt werden muss.
Zusammenfassend müssen das Konzept der Umwelt, das Konzept
der SRP und die empirischen Evidenzen für die SRP als wesentliche
Bausteine für ein neurophilosophisch begründetes relationales Modell
der Freiheit angesehen werden.
318 Georg Northoff
III. Fragen zu dem Konzept
eines relationalen Modells der Freiheit
Im Folgenden soll das Konzept von Freiheit in einem relationalen Sinne
anhand von vier Fragen und klinischen Beispielen (klein gedruckt am
Ende) kurz skizziert werden. Dabei muss auch an dieser Stelle der
Hinweis erfolgen, dass es sich hierbei lediglich um einen skizzenhaften,
präliminarischen und hypothetischen Entwurf eines Konzeptes von
Freiheit in einem relationalen Sinne handelt. Vorrangiges Ziel ist die
Skizzierung der groben Linien eines solchen Konzeptes wohingegen die
Einordnung in die gegenwärtige Debatte, wenn überhaupt, nur grob
erfolgt und eine separate Arbeit notwendig macht.
III.1 Ist die Freiheit eine von der Umwelt isolierte Dimension?
In den gegenwärtigen Konzepten der Freiheit wird häufig ein Gegen-
satz von Innen und Außen bzw. zwischen Organismus und Umwelt
implizit vorausgesetzt. Die Person bzw. das Subjekt erlebt Handlungs-
alternativen und Urheberschaft. Hieraus folgern viele gegenwärtige
Konzepte, dass der Organismus und sein Gehirn indeterminiert seien.
Sie scheinen in der Lage zu sein, Alternativen zu entwickeln und ein
Gefühl der Urheberschaft aufzuweisen, d. h., der Organismus und vor
allem sein Gehirn scheinen indeterminiert zu sein. Dementsprechend
werden die Begriffe der Verfügbarkeit von alternativen Möglichkeiten
und der Urheberschaft auch ausschließlich mit dem Organismus selbst
und in der jüngsten Forschung vor allem mit seinem Gehirn in Ver-
knüpfung gebracht. Dem scheinbar indeterminierten Organismus mit
samt seines Gehirns wird häufig eine determinierte Umwelt gegen-
übergestellt. Die Umwelt wird als physikalisch-determiniert angesehen
und somit als kausal geschlossen betrachtet. Innerhalb eines solchen
kausal geschlossenen Modells der Umwelt ist kein Platz für indetermi-
nistische Momente, wie sie von der Freiheit notwendig impliziert
werden.1 Organismus und Umwelt werden somit als gegensätzliche
1 Kompatibilistische Modelle von Freiheit würden dafür argumentieren, dass
Freiheit nicht notwendig Indeterminismus impliziert. Neben dem relationalen
Modell der Freiheit, wie es in diesem Artikel vorgeschlagen wird, gibt es also
noch andere Modelle, die ebenfalls für eine Vereinbarkeit von Freiheit und
kausaler Geschlossenheit argumentieren.
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 319
Pole einer Dichotomie zwischen Innen und Außen gegenübergestellt,
die miteinander unvereinbar erscheinen.
Wie kann nun das Konzept der Freiheit in einem solchen indeter-
ministischen Sinne mit dem physikalischen Determinismus der Umwelt
vereinbart werden? Diese Frage betrifft vor allem die Neurowissen-
schaften, wo sich der Gegensatz zwischen Organismus und Umwelt auf
den Gegensatz zwischen Freiheit und Gehirn zuspitzt. Das Gehirn wird
als ein Teil der Umwelt angesehen, welches dementsprechend physi-
kalistisch determiniert und kausal in sich geschlossen ist. Dieses impli-
ziert, dass die neuronalen Prozesse unseres Gehirns mit einem inde-
terministisch begründeten Freiheitsbegriff inkompatibel sind. Müssen
wir also aufgrund der physikalistisch-deterministischen Funktionsweise
unseres Gehirns den Freiheitsbegriff aufgeben? Neurowissenschaftlich
orientierte Autoren, wie z. B. Libet und Wegner, versuchen das Kon-
zept der Freiheit zu retten, indem sie ein quasi „physikalistisches Frei-
heitsatom“ postulieren (Libet, 2002; Wegner, 2002). Freiheit wird dann
selbst ein Teil eines physikalistisch determinierten Gehirns.
Im Gegensatz zu einem physikalistisch-determinierten Modell der
Umwelt unterläuft das relationale Modell der Freiheit den Gegensatz
zwischen einem scheinbar indeterminierten Organismus und einer de-
terminierten Umwelt. Organismus und Freiheit werden nicht mehr im
Gegensatz zu einer physikalistisch determinierten und kausal geschlos-
senen Umwelt betrachtet. Stattdessen werden die Umwelt selbst und die
Beziehung des Organismus zu derselbigen als notwendige Bedingungen
für die Möglichkeit von Freiheit betrachtet. Das relationale Modell
verknüpft Freiheit somit nicht mehr ausschließlich mit dem Organismus
selber, sondern verlagert sie in die Beziehung zwischen Organismus und
Umwelt. An die Stelle der rein intra-psychischen und intra-neuronalen
Prozesse rückt die Relation zwischen Organismus und Umwelt als
zentrales konstituierendes Moment der Freiheit. Diese Verschiebung
der „Lokalisation“ der Freiheit vom „Inneren“ des Organismus/Gehirns
in das „Zwischen“ der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt
hat wichtige Implikationen für das Konzept der Freiheit, die im fol-
genden nur kurz angedeutet werden können.
1) Das Konzept der Freiheit kann nicht mehr als isoliert und losgelöst
von der Umwelt gedacht werden. Dieses bedeutet, dass Freiheit
immer als eine „eingebettete Freiheit“ und nicht mehr als eine
„isolierte Freiheit“ betrachtet werden muss. Dabei kennzeichnen die
Begriffe „eingebettet“ und „isoliert“ die Beziehung des Organismus
320 Georg Northoff
und seiner Freiheit zur Umwelt: Die Umwelt ist entweder konsti-
tuierend für die Freiheit, wie beim Begriff der „eingebetteten
Freiheit“, oder vernachlässigbar für die Konstitution der Freiheit,
wie es bei der „isolierten Freiheit“ der Fall ist.
2) Das relationale Modell der Freiheit postuliert nicht die prinzipielle
Unmöglichkeit des Konzeptes einer „isolierten Freiheit“, betrachtet
ein solches Konzept aber lediglich als eine logische Möglichkeit, die
in der gegenwärtigen Welt des Menschen mit ihren Entsprechungen
und somit natürlich nicht möglich ist. Die „isolierte Freiheit“ ist
daher eine logische Möglichkeit, nicht aber eine natürliche Mög-
lichkeit. Im Unterschied dazu postuliert das Konzept der „einge-
betteten Freiheit“, dass es sich hier auch um eine natürliche Mög-
lichkeit handelt, wie sie sich in der gegenwärtigen Welt des Men-
schen mit ihren natürlichen Bedingungen manifestiert.
3) Die Verschiebung der Freiheit vom Organismus in die Relation
zwischen Organismus und Umwelt impliziert einen weiteren und
anderen Begriff der Kausalität. Eine bloße causa efficiens, die mit
einem physikalischen Determinismus einhergeht und keinerlei te-
leologische Dimension aufweist, erweist sich als insuffizient zur
Beschreibung der Organismus-Umwelt-Relation. Stattdessen ist hier
eine teleologische Dimension, die die Zielrichtung und die Sinn-
haftigkeit des Handelns des Organismus in der Umwelt beschreibt,
notwendig. Aristoteles unterschied die causa efficiens von einer causa
finalis, die das ultimative Ziel von Handlungen beschreibt, die dann
durch eine causa efficiens realisiert werden können. Das relationale
Modell der Freiheit setzt eine solche teleologische Dimension und
somit eine causa finalis in der Relation zwischen Organismus und
Umwelt voraus. Hierdurch kann der Gegensatz zwischen dem
scheinbar non-kausalen Indeterminimus des Organismus und der
kausal geschlossenen Determiniertheit der Umwelt unterlaufen
werden. Einerseits ist der Organismus nicht völlig losgelöst von
jeglichen kausalen Beziehungen, wie es in der Gegenüberstellung
zwischen Organismus und Umwelt erscheint. Andererseits ist die
Umwelt nicht vollständig determiniert und geschlossen im Sinne
einer causa efficiens, sondern weist auch eine teleologische Di-
mension in Form der causa finalis und somit eine gewisse indeter-
ministische Komponente auf. Diese teleologische Dimension wird
im gegenwärtigen neurophysiologisch orientierten Freiheitsmodell
häufig vernachlässigt. So wird z. B. bei Libet die Bewegung in einem
rein physikalistischen Sinne verstanden, losgelöst von jeglicher
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 321
Zielrichtung und Sinnhaftigkeit in Hinsicht auf die Umwelt (Libet,
2002).
4) Das relationale Konzept der Freiheit unterläuft den Gegensatz zwi-
schen physikalischen und mentalen Zuständen. Physikalische Zu-
stände werden der Umwelt zugeschrieben und als determiniert be-
trachtet. Mentale Zustände werden hingegen als nonkausal und in-
determiniert und somit konstitutiv für die Freiheit betrachtet. Da im
relationalen Ansatz das Konzept der Freiheit vom Organismus selber
in die Organismus-Umwelt-Relation verlagert wird, kann es auch
nicht mehr mit ausschließlich mentalen Zuständen assoziiert werden.
Stattdessen wird das Konzept der Freiheit auf eine frühere Ebene, wo
mentale und physikalische Zustände noch nicht voneinander kate-
gorial unterschieden werden können, verlagert. Dementsprechend
kann eine Freiheit in einem relationalen Sinne nicht mehr aus-
schließlich mit mentalen Zuständen verknüpft werden.
5) Die Freiheit in einem relationalen Sinne kann nicht mehr in einem
rein physikalistischen Sinne verstanden werden. Da die Umwelt
nicht mehr in einem rein physikalistischen und kausal bzw. deter-
minierten Sinne vorausgesetzt wird, ist der relationale Freiheitsbe-
griff eher biologisch orientiert. Ein solcher biologischer Freiheits-
begriff schließt, wie oben beschrieben, die teleologische Dimension
des Organismus in Hinsicht auf die Umwelt mit ein. Ein solcher
biologischer Freiheitsbegriff kann nicht mehr auf einen Freiheits-
begriff, der quasi ein „physikalistisches Freiheitsatom“ voraussetzt,
reduziert werden. Dieses führt mich zu einer zweiten und jetzt nicht
mehr nur vorläufigen Definition von Freiheit in einem relationalen
Sinne:
Definition des Konzeptes von Freiheit in einem relationalen Sinne:
Freiheit heißt die Möglichkeit, verschiedene bzw. alternative Orga-
nismus-Umwelt-Relationen entwickeln und erleben zu können.
Die Freiheit wird in der gegenwärtigen Diskussion meist als eine primär
reflexive und kognitive Dimension vorausgesetzt. So wird z. B. das
Kriterium der Verfügbarkeit von alternativen Möglichkeiten mit einem
Prozess der rationalen Abwägung in Verknüpfung gebracht. Auf einer
rationalen Ebene ist es möglich verschiedene Möglichkeiten und
Handlungsalternativen zu entwickeln; das Kriterium der alternativen
Möglichkeiten setzt somit Rationalität und eine kognitive Ebene vor-
aus. Weiterhin setzt eine solche rationale Abwägung alternativer
Möglichkeiten ein Bewusstsein, vor allem ein reflexives Bewusstsein, im
322 Georg Northoff
Unterschied zum phänomenalen Bewusstsein (siehe unten), voraus. Es
muss ein Bewusstsein von Alternativen auf der rationalen Ebene vor-
handen sein. Freiheit wird somit als primär kognitiv und reflexiv be-
stimmt. Ein solch kognitiv und reflexiv charakterisiertes Konzept der
Freiheit schließt andere Dimensionen wie z. B. die affektive und prä-
reflexive Erlebens-Erfahrungsebene, das sog. phänomenale Bewusstsein,
aus. Auf einer solchen affektiv und präreflexiv dominierten Ebene spielt
die Unterscheidung zwischen mentalen Zuständen und physikalischen
Zuständen sowie zwischen Organismus und Umwelt noch keine zen-
trale Rolle. Stattdessen werden Organismus und Umwelt bzw. mentale
und physikalische Zustände hier noch nicht als Gegensätze erlebt, da sie
noch durch ihre Relationen miteinander verknüpft sind, welches auf
der kognitiven und reflexiven Ebene dann so nicht mehr wahrge-
nommen werden kann. An die Stelle der rationalen Abwägung tritt auf
dieser affektiven und präreflexiven Ebene die senso-motorische Ex-
ploration und Manipulation der Umwelt im Rahmen des self-related
processing (siehe oben).
Freiheit bedeutet dann nicht mehr, dass alternative Möglichkeiten
rational abgewägt werden, sondern dass verschiedene Möglichkeiten der
senso-motorischen Exploration und Manipulation der Umwelt mit
unterschiedlichen Formen der Relation vorhanden sind – Freiheit ist
dann quasi ein „Ausprobieren“ von verschiedenen Möglichkeiten von
Relationen zwischen Organismus und Umwelt. Was in der philoso-
phischen Diskussion als alternative Möglichkeiten diskutiert wird, kann
dann nicht mehr als rein kognitiv repräsentiert betrachtet werden,
sondern muss als die Erfahrung bzw. als das Erleben von möglichen
alternativen senso-motorischen Beziehungsmöglichkeiten zur Umwelt
beschrieben werden. Aus der Sicht eines so verstandenen relationalen
Freiheitskonzeptes, welches den Schwerpunkt auf die affektive und
präreflexive Dimension legt, muss das kognitiv-reflexiv orientierte
Freiheitsmodell der alternativen Möglichkeiten als abstrakt erscheinen,
da dieses jeglichen Bezug zur affektiven Dimension und somit zur Er-
fahrung bzw. zum Erleben der Umwelt vermissen lässt.
Die zentrale Bedeutung der affektiven und präreflexiven Dimension für die
Entwicklung von senso-motorisch dominierten alternativen Möglichkeiten der
Organismus-Umwelt-Relation wird am Beispiel der klinischen Depression
deutlich. Depression wird hier nicht als Depression im landläufigen Sinne
verstanden, sondern als das schwere Krankheitsbild der Depression, welches zur
stationären Aufnahme in einer Nervenklinik führt. Diese Patienten sind initial
sehr depressiv, haben traurige Gedanken und können nur noch negative Af-
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 323
fekte erleben. Schließlich kommen sie später, im Rahmen einer tieferen De-
pression, in ein Stadium, wo sie überhaupt keinerlei Gefühle mehr erleben
können; dieser Zustand wird als ein Gefühl der Gefühllosigkeit beschrieben.
Gerade diese Patienten zeigen sich auch in psychomotorischer Hinsicht völlig
starr. Sie sind nicht in der Lage, senso-motorischen Kontakt zu ihrer Umwelt
aufzunehmen und fühlen sich völlig isoliert von der Umwelt. Sie können ihre
Umwelt nicht mehr senso-motorisch explorieren und manipulieren, es besteht
keinerlei Kopplung und Verknüpfung mehr zur Umwelt. Sie sind nicht mehr
in der Lage, sich senso-motorisch begründete alternative Möglichkeiten in ihrer
Beziehung zur Umwelt zu schaffen. Dementsprechend erleben sie sich als völlig
isoliert und losgelöst von der Umwelt, welches mit einem fast vollständigen
Verlust der affektiven, präreflexiven Erfahrungs- bzw. Erlebensebene einher-
geht und dann schließlich in einen Zustand des Gefühls der Gefühllosigkeit mit
Selbstmordabsichten mündet. Der depressive Patient ist in diesem Stadium der
Krankheit nicht mehr frei. Er weist keine Freiheiten mehr im relationalen
Sinne auf, und er kann auch keine alternativen Möglichkeiten mehr auf der
kognitiv-reflexiven und somit rationalen Ebene entwickeln.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Freiheit in einem affektiven und präreflexiven
Sinne möglicherweise die Basis oder das Fundament für die Freiheit auf einer
kognitiven und reflexiven Ebene bildet. Dieses Verhältnis zwischen den beiden
Freiheitsbegriffen, dem eher affektiv-präreflexiv dominierten und dem eher
kognitiv-reflexiv charakterisierten, müsste allerdings Gegenstand einer weiteren
Untersuchung sein. Ist die hier hervorgehobene affektiv-präreflexive Dimen-
sion eines relationalen Freiheitsbegriffes empirisch plausibel und kompatibel mit
den vorliegenden neurowissenschaftlichen Daten? Wenn der depressive Patient
in der Tat nicht mehr in der Lage ist eine senso-motorische begründete Be-
ziehung zur Umwelt aufzubauen und alternative Relationsmöglichkeiten zu
entwickeln, müsste bei ihm eine Veränderung im selbstreferentiellen Processing
und den entsprechenden Hirnregionen, den kortikalen Mittellinien-Strukturen,
vorliegen. Und in der Tat weisen depressive Patienten in genau diesen Hirn-
regionen deutliche Veränderungen auf, wie z. B. im vorderen medialen prä-
frontalen Kortex bei emotionaler Stimulation.
III.2 Ist die Freiheit eine durch das Subjekt konstituierte Dimension?
In der philosophischen Diskussion wird, wie oben bereits beschrieben,
die Freiheit dem Subjekt zugeordnet und der Umwelt gegenüber ge-
stellt. In dem relationalen Modell wird die Freiheit von der einseitigen
Assoziation mit dem Subjekt quasi „losgelöst“ bzw. „befreit“ und in die
Relation zwischen Organismus und Umwelt verlagert. Dieses ist in den
beiden von mir vorgeschlagenen Definitionen zur Freiheit in einem
relationalen Sinne deutlich. In der ersten vorläufigen Definition (siehe
Einleitung) wird die Freiheit noch als eine Selektion von Stimuli der
Umwelt von Seiten des Subjektes definiert. Diese Definition muss als
324 Georg Northoff
eine moderate Version eines relationalen Freiheitskonzeptes angesehen
werden. Sie lässt offen, ob das Subjekt lediglich eine notwendige oder
sogar eine hinreichende Bedingung von Freiheit ist. Der Prozess der
Selektion von Stimuli der Umwelt kann ausschließlich durch das Sub-
jekt selber erfolgen, wobei die Umwelt hier lediglich zur Bereitstellung
von Stimuli dient. Das Subjekt wäre in diesem Fall sowohl eine not-
wendige als auch eine hinreichende Bedingung der Freiheit und die
Umwelt selber, wenn überhaupt, eine notwendige Bedingung. Ein
solches Missverständnis, d. h. eine Charakterisierung des Subjektes als
notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit, ist durch die
zweite Definition von Freiheit in einem relationalen Sinne ausge-
schlossen. Hier wird Freiheit als die Möglichkeit definiert, verschiedene
bzw. alternative Organismus-Umwelt-Relationen entwickeln zu kön-
nen. An der Stelle des Subjektes wird hier auf die Relationen selber
fokussiert und die Freiheit wird direkt mit den Relationen und nicht
mehr mit dem Subjekt in Verbindung gebracht. Dieses schließt die
Möglichkeit aus, dass das Subjekt sowohl als notwendige als auch als
hinreichende Bedingung der Freiheit angesehen werden kann. Es ist
somit klar, dass das Subjekt bzw. der Organismus dann lediglich eine
notwendige Bedingung von Freiheit darstellt. Aufgrund des notwen-
digen Ausschlusses der Charakterisierung des Subjektes als notwendige
und hinreichende Bedingung der Freiheit möchte ich diese zweite
Definition der Freiheit, die auf die Relationen selber und nicht nur auf
das Subjekt fokussiert, als radikale Version der Definition eines rela-
tionalen Freiheitsmodells bezeichnen.
Es soll aber auch angefügt werden, dass auch noch eine andere
Interpretation der beiden Definitionen möglich ist. Diese Definition ist
vorwiegend epistemisch. Sofern in der ersten vorläufigen Definition das
Subjekt nicht als notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit
angesehen wird, sondern lediglich als notwendige Bedingung, kann eine
solche moderate Definition auch als eine Definition der relationalen
Freiheit aus der Sicht des Organismus angesehen werden. Der Unter-
schied zwischen der moderaten und radikalen Version wäre dann nicht
mehr die Bedeutung des Subjektes für die Freiheit, sondern lediglich die
Perspektive, aus welcher die Freiheit im relationalen Sinne definiert
wird. Entweder wird die Perspektive der Umwelt bzw. der Relation
selber eingenommen, wie in der radikalen Definition, oder es wird die
Perspektive des Organismus, wie in der moderaten Definition, gewählt.
Eine solche perspektivische und letztlich epistemische Begründung der
Differenz zwischen moderater und radikaler Definition der Freiheit in
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 325
einem relationalen Sinne wird hier vorgeschlagen. Nur im Rahmen
einer solchen perspektivischen Interpretation der moderaten Version
kann von einer Co-Determination der Freiheit sowohl durch den
Organismus als auch durch die Umwelt gesprochen werden. Freiheit
wird dann nicht mehr ausschließlich durch das Subjekt definiert, wie es
der Fall ist, wenn das Subjekt als notwendige und hinreichende Be-
dingung der Freiheit angesehen wird. Stattdessen wird Freiheit sowohl
durch das Subjekt als auch durch die Umwelt bzw. durch die Relation
zwischen beiden determiniert – man kann daher von einer Co-Deter-
mination der Freiheit sprechen. Eine solche Co-Determination der
Freiheit zeichnet sich dadurch aus, dass weder Organismus noch Um-
welt als eine hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Freiheit
angesehen werden können. Organismus und Umwelt für sich selber
können lediglich als notwendige Bedingung nicht aber als hinreichende
Bedingung der Freiheit in einem relationalen Sinne angesehen werden.
Im Unterschied dazu muss die Relation selber, die Organismus-Um-
welt-Relation, als eine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit
von Freiheit in einem relationalen Sinne betrachtet werden.
Eine solche Co-Determination der Freiheit impliziert auch Verän-
derungen im Konzept der Urheberschaft. Das Subjekt selber kann dann
nicht mehr als alleiniger und ausschließlicher Urheber der Freiheit an-
gesehen werden. Stattdessen müssen Umwelt und Organismus ge-
meinsam quasi als Co-Urheber betrachtet werden – die Co-Determi-
nation der Freiheit geht somit notwendig mit einer Co-Urheberschaft
einher. Ein wesentliches Argument für das Kriterium der Urheberschaft
der Freiheit war unser Gefühl der Urheberschaft. Wir haben das Gefühl,
das wir der Urheber der Freiheit und der entsprechenden alternativen
Kausalketten sind. Wenn aber die Urheberschaft durch eine Co-Ur-
heberschaft abgelöst wird, kann auch dieses Gefühl nicht mehr in die-
sem Sinne interpretiert und somit als Kriterium der Freiheit angesehen
werden. Was aber ist dieses Gefühl? Da der relationale Freiheitsbegriff
die affektiv-präreflexive Dimension der Freiheit in den Vordergrund
stellt, kann er nicht, wie z. B. kognitive Ansätze, dieses Gefühl der
Urheberschaft negieren bzw. eliminieren. Wie aber muss das Gefühl der
Urheberschaft, das sehr stark ist und uns dominiert, interpretiert wer-
den? Was zeigt dieses Gefühl an, und was ist der Inhalt dieses Gefühls
der Urheberschaft? Ich postuliere, dass das Gefühl der Urheberschaft das
Erleben eines „Zusammenpassens“ bzw. „Fit“ oder „Matching“ in der
Kopplung bzw. Relation zwischen Organismus und Umwelt ist. Der
Organismus hat durch senso-motorische Exploration und Manipulation
326 Georg Northoff
einen Weg und eine Nische in der Umwelt gefunden, so dass Orga-
nismus und Umwelt geradezu ideal ineinander greifen. Es ist eine neue
funktionierende und ineinander greifende Relation zwischen Organis-
mus und Umwelt in Form einer spezifischen Kopplung entstanden;
dieses Zusammenpassen zwischen Organismus und Umwelt wird als ein
Gefühl der Urheberschaft erlebt bzw. erfahren, wodurch der Umwelt
eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Die Organismus-Um-
welt-Beziehung wird dabei nicht nur als Gefühl erfahren sondern als
bedeutungsvoll und somit semantisch relevant erlebt.
Aus der Perspektive eines relationalen Freiheitskonzeptes ist das
Gefühl der Urheberschaft somit nichts anderes als ein Gefühl der Co-
Urheberschaft, welches eine gelungene spezifische Kopplung zwischen
Organismus und Umwelt signalisiert – es ist quasi ein Indikator oder
Seismograph der Balance der Organismus-Umwelt-Relation. Was als
Agenskausalität in der Philosophie des Geistes diskutiert wird und vor
allem von Chisholm postuliert wird, kann somit nicht als eine Agens-
kausalität beschrieben werden, sondern eher als eine Relationskausalität;
anders als die Agenskausalität basiert die Relationskausalität nicht mehr
auf der causa efficiens sondern auf der causa finalis. Der hier von mir
eingeführte Begriff der Relationskausalität beschreibt nicht mehr den
Ursprung und Neubeginn einer kausalen Kette im Subjekt, wie es von
Kant oder Verfechtern der Agenskausalität postuliert wird, sondern eine
neue Form einer affektiv und semantisch relevanten Kopplung zwischen
Organismus und Umwelt im Sinne einer causa finalis.
Wie kann die Idee der Agenskausalität im Rahmen eines relatio-
nalen Freiheitskonzeptes erklärt werden? Eine notwendige Bedingung
für die Möglichkeit des Konzeptes der Agenskausalität ist die kognitiv-
reflexive Auffassung der Freiheit, die dann natürlich auch die alleinige
Urheberschaft des Subjektes mit der hieraus folgenden Agenskausalität
beansprucht. Eine zweite notwendige Bedingung ist die Inferenz von
einem epistemischen Charakteristikum (dem Gefühl der Urheberschaft
bzw. Co-Urheberschaft) auf eine ontologische Entität (das Subjekt als
Urheber der Kausalkette). Es ist genau dieser Schluss von einem epis-
temischen Charakteristikum auf eine ontologische Entität, der nicht
zulässig und in keiner Weise begründet ist – es kann hier somit von
einem epistemisch-ontologischen Fehlschluss gesprochen werden.
Ist ein Alkoholabhängiger frei? Ist die Nichtfreiheit des Alkoholabhängigen
ausschließlich durch sein eigenes Subjekt determiniert und somit durch seine
Sucht? Wenn die Freiheit als eine rein intra-subjektive Dimension betrachtet
wird, wo das Subjekt sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 327
Bedingung der Freiheit ist, muss auch die Nichtfreiheit des Alkoholabhängigen
und seine Determiniertheit durch seine Sucht als ein rein intra-subjektiver
Prozess aufgefasst werden. Dieses stimmt allerdings nicht mit den klinischen
Beobachtungen überein. Es ist gerade der Einfluss der Umwelt, der aus einer
Prädisposition zum Alkoholismus einen manifesten Alkoholiker macht. So
haben z. B. viele Patienten schon immer viel getrunken in ihrem Leben, ohne
einen Suchtdruck zu verspüren und alkoholabhängig zu werden. Erst wenn
bestimmte Veränderungen in ihrer Umwelt auftreten, so z. B. wenn sie ar-
beitslos werden und den ganzen Tag keine anderen Inhalte mehr haben, wird
die Prädisposition zur Sucht schließlich zu einer manifesten Sucht, der sie nicht
mehr widerstehen können. Der Übergang von der Prädisposition zur Mani-
festation erfolgt in dem Moment wo der entsprechende Patient seine Freiheit
verliert. Wenn dies der Fall ist, kann der Verlust der Freiheit nicht mehr auf
rein intra-subjektive kognitive Funktionen zurückgeführt werden, sondern auf
inter-subjektiven Veränderungen in seiner Beziehung zur Umwelt.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Unfreiheit des Alkoholabhängigen
nicht rein durch sein eigenes Subjekt determiniert wird, sondern dass seine
Unfreiheit sowohl durch seine Prädisposition als auch die Umwelt co-deter-
miniert wird. Der Urheber seiner Unfreiheit ist somit nicht nur er selber,
sondern auch seine Umwelt. Man kann hier somit von einer Co-Urheberschaft
seiner Unfreiheit, dem Alkohol zu widerstehen, sprechen. Der Alkohol be-
stimmt seine Beziehung zur Umwelt, es ist seine spezifische Art der Kopplung
zur Umwelt, die allerdings keine anderen bzw. und alternative Möglichkeiten
der Kopplung zur Umwelt mehr zulässt. Diese Unmöglichkeit der Entwicklung
alternativer Möglichkeiten der Kopplung zur Umwelt kann mit einem Verlust
der Freiheit gleichgesetzt werden. Dieses Beispiel macht somit deutlich, dass im
Rahmen der Unfreiheit des Alkoholabhängigen nicht die Agenskausalität von
zentraler Bedeutung ist, sondern das, was ich Relationskausalität genannt habe.
III.3 Ist die Freiheit eine durch das Gehirn determinierte Dimension?
In der gegenwärtigen Diskussion und vor allem gerade in neurowis-
senschaftlich orientierten Freiheitsbegriffen wird das Gehirn häufig
implizit nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinrei-
chende Bedingung von Freiheit oder der Unmöglichkeit von Freiheit
betrachtet. Dieses ist deutlich, wenn von einem „neuronalen Korrelat“
der Freiheit gesprochen wird, z. B. von Libet und Wegner, die durch
empirische Untersuchungen die der Freiheit zugrunde liegenden neu-
ronalen Prozesse bzw. neuronalen Korrelate auffinden wollen (Libet,
2002; Wegner, 2002). Dieses steht im Gegensatz zu dem hier vertre-
tenen Freiheitsbegriff in einem relationalen Sinne. Der relationale
Freiheitsbegriff setzt eine Exploration und Manipulation der Umwelt
voraus – dieses kann nur durch die Sensomotorik, die unseren Körper
328 Georg Northoff
charakterisiert, erfolgen. Dieses setzt allerdings voraus, dass das Gehirn
nicht mehr isoliert vom Körper betrachtet werden kann – das Gehirn
muss als ein verleiblichtes bzw. verkörpertes Gehirn betrachtet werden.
Dieses impliziert weiterhin, dass nicht nur das Gehirn, sondern auch der
Körper eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit
im relationalen Sinne darstellt. Neben Gehirn und Körper wird die
Freiheit, wie oben dargestellt, aber auch durch die Umwelt mit ihren
entsprechenden Gegebenheiten bzw. „Affordances“ determiniert. Die
Umwelt muss die Möglichkeit einer spezies-spezifischen Einbettung
von Gehirn und Körper des Organismus ermöglichen, d. h., die durch
das Gehirn unterstützen und durch seinen Körper möglichen senso-
motorischen Fähigkeiten müssen mit den von der Umwelt möglichen
Gegebenheiten koppelbar sein. Wenn z. B. die Umwelt solche Gege-
benheiten und Möglichkeiten, die sog. „affordances“, nicht bietet, kann
selbst bei optimalem Gehirn und Körper keine Freiheit entstehen.
Dieses zeigt die zentrale Bedeutung der Umwelt für das Gehirn auf. Das
Gehirn kann somit nicht mehr von der Umwelt im Sinne eines iso-
lierten Gehirnes betrachtet werden. Stattdessen muss das Gehirn als mit
der Umwelt eng verwoben und bilateral dependent betrachtet werden –
man kann hier somit von einem „eingebetteten Gehirn“ sprechen
(Northoff, 2001; 2004).
Das relationale Freiheitskonzept erfordert eine neue Definition des
Konzepts des Gehirns. Das Gehirn kann nicht mehr in einem rein
physikalistischen Sinne und somit als isoliert sowohl vom Körper als
auch von der Umwelt betrachtet werden. Stattdessen muss das Gehirn
in einem biologischen Sinne sowohl in den Körper als auch in die
Umwelt integriert und somit entsprechend bilateral dependent ange-
sehen werden. Ein solches eingebettetes Konzept des Gehirns unter-
scheidet sich von dem in der Philosophie des Geistes und den Neuro-
wissenschaften meist implizit vorausgesetzten Konzept des Gehirns als
isoliert von Körper und Umwelt im Sinne eines physikalischen De-
terminismus. Wenn das Gehirn als ein im Körper und Umwelt einge-
bettetes Gehirn betrachtet werden muss, kann es dementsprechend auch
nicht mehr rein physikalistisch und deterministisch bestimmt werden.
Stattdessen ist die Bestimmung des Gehirns als ein eingebettetes Gehirn
sehr wohl kompatibel mit einem biologistischem Ansatz und somit
einem relationalen Modell der Freiheit. Die Frage „Ist die Freiheit eine
durch das Gehirn determinierte Dimension?“ muss somit mit Ja und
Nein beantwortet werden. Ja, die Freiheit wird durch das Gehirn de-
terminiert, sie wird aber nicht ausschließlich durch das Gehirn deter-
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 329
miniert, sondern durch das Gehirn ein eingebettetes Gehirn mit co-
determiniert. Nein, die Freiheit wird nicht durch das Gehirn bestimmt,
da Körper und Umwelt als wesentliche Co-Determinatoren von zen-
traler Bedeutung sind und somit das Gehirn nicht als ein isoliertes
Gehirn betrachtet werden kann.
Viele gerade neurowissenschaftliche Ansätze zur Freiheit setzen eine
bestimmte methodische Strategie voraus, die ich hier als Methodik des
„neuronalen Korrelates“ kennzeichnen möchte. In einem ersten Schritt
wird die Freiheit in der Kognition lokalisiert und als kognitiv reprä-
sentiert betrachtet. In einem zweiten Schritt wird dann für eine solche
kognitive Repräsentation nach einem neuronalen Korrelat gesucht.
Wenn dieses neuronale Korrelat nicht gefunden wird, wird die Mög-
lichkeit der Freiheit in Zweifel gezogen und möglicherweise sogar als
reine Illusion der Kognition betrachtet. Die einer solchen Methodik des
„neuronalen Korrelats“ zugrunde liegende Annahme ist die folgende:
Wenn Freiheit nicht im Gehirn selber gefunden werden kann, kann es
auch keine Freiheit geben und die Freiheit muss somit als Illusion un-
serer Kognition entlarvt werden. Dieses methodische Vorgehen des
„neuronalen Korrelates“ muss von dem hier vertretenen neurophilo-
sophischen Ansatz deutlich unterschieden werden.
Wo sind die Unterschiede zwischen dem hier vorausgesetzten
neurophilosophischen Ansatz und der angewandten Strategie des
„neuronalen Korrelats“? Erstens erfolgt im neurophilosophischen Ansatz
keine Vermischung zwischen dem Gehirn als empirischen Objekt und
der Freiheit als theoretischem Konzept. Das Gehirn ist ein isoliertes
Gehirn und kann lediglich als ein empirisches Objekt, wie z. B. ein
Stuhl oder ein Tisch betrachtet werden. Im Unterschied dazu ist die
Freiheit ein theoretisches Konzept, welches sich daher in seiner Kate-
gorie von der Charakterisierung des Gehirns als ein empirisches Objekt
grundsätzlich unterscheidet. Beide Charakterisierungen, empirisches
Objekt und theoretisches Konzept, sind unterschiedlich und sollten
daher nicht miteinander vermischt bzw. gleichgesetzt oder miteinander
identifiziert werden. Genau dies aber ist der Fall in den Ansätzen,
welche eine „Methodik des neuronalen Korrelates“ voraussetzen. Hier
wird der Versuch unternommen, Freiheit als theoretisches Konzept im
Gehirn als ein empirisches Objekt zu lokalisieren. Da aber theoretisches
Konzept und empirisches Objekt völlig unterschiedliche Kategorien
darstellen, kann es nur als notwendig angesehen werden, dass der
Neurowissenschaftler das Konzept der Freiheit in den von ihm unter-
suchten neuronalen Prozessen des Gehirns nicht wiederfinden kann.
330 Georg Northoff
Das Scheitern der Versuche, ein neuronales Korrelat zu entdecken, liegt
somit möglicherweise nicht darin, dass das Konzept der Freiheit als
solches nicht existiert, sondern lediglich in dem von den Neurowis-
senschaftler gewählten methodischen Vorgehen. Wenn aber die Freiheit
lediglich aus methodischen Gründen nicht im Gehirn gefunden werden
kann, besteht auch keine Berechtigung, die Möglichkeit des Konzeptes
der Freiheit selber in Zweifel zu ziehen und es als Illusion zu entlarven.
Der im relationalen Freiheitskonzept vorausgesetzte neurophilosophi-
sche Ansatz versucht eine solche Vermischung von empirischen Ob-
jekten einerseits und theoretischen Konzepten andererseits zu vermei-
den. Stattdessen wird versucht Beziehungen zwischen den beiden ver-
schiedenen Kategorien herzustellen, indem die impliziten notwendigen
und hinreichenden Bedingungen für die Freiheit als theoretisches
Konzept untersucht werden, um sie dann in Hinsicht auf ihre empiri-
sche Plausibilität und Kompatibilität zu überprüfen.
Zweitens kann das Gehirn im Rahmen des relationalen Freiheits-
modell nicht mehr als ein bloßes empirisches Objekt charakterisiert
werden. Die Bestimmung des Gehirns als empirisches Objekt setzt ein
von Körper und Umwelt isoliertes Gehirn voraus, wie es z. B. bei an-
deren empirischen Objekten, Tisch, Stuhl etc. der Fall ist. Sobald aber
das Gehirn als ein in Umwelt und Körper eingebettetes Gehirn be-
stimmt wird, kann es nicht mehr als ein bloßes empirisches Objekt
betrachtet werden. Man könnte z. B. dann das Gehirn als ein empiri-
sches Subjekt bestimmen. Dieses würde aber wiederum heißen, dass,
wenn Gehirn und Subjekt gleich gesetzt werden, das Subjekt schließlich
auf das Gehirn zurückgeführt wird und nicht mehr auf seinen Körper
und seine Beziehungen zur Umwelt. Das Gehirn als ein empirisches
Subjekt zu bestimmen hieße somit letztendlich einen ähnlichen Fehler
zu begehen, wie die neurowissenschaftlich orientierten Freiheitstheo-
rien, die Freiheit quasi im Sinne eines „physikalistischen Freiheitsatoms“
im Gehirn lokalisieren wollen. Die einzige Möglichkeit, diesem Di-
lemma der Alternative der Bestimmung des Gehirns als empirisches
Objekt oder empirisches Subjekt zu entrinnen, ist die Unterminierung
des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt. Eine solche Untermi-
nierung wird gerade durch den Begriff des „eingebetteten Gehirns“
ermöglicht, der aber hier aus Kapazitätsgründen nicht näher erläutert
werden (Northoff, 2004).
Wird die Unfreiheit des Alkoholabhängigen notwendig und hinreichend durch
seine Veränderungen im Gehirn bzw. spezieller in den neuronalen Korrelaten
seines Belohnungssystems determiniert? Der Alkoholabhängige weist in der Tat
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 331
keine alternativen Möglichkeiten mehr auf. Dieses ist aber nicht der Fall auf der
kognitiven Ebene, denn kognitiv ist er sich sehr wohl bewusst, dass er auch
vom Alkohol loslassen könnte und sich für eine Entwöhnungs- bzw. Ent-
zugsbehandlung entschließen könnte. Das Problem ist, dass er diese rein ko-
gnitiv repräsentierten Möglichkeiten auf der affektiven-präreflexiven Ebene
nicht erlebt bzw. diese alternativen Möglichkeiten weisen keine entsprechende
Bedeutung in seinem Erleben seiner Beziehung zur Umwelt auf. Sie bekom-
men erst eine bestimmte Bedeutung, wenn sich seine Beziehung zur Umwelt
verändert, so z. B., wenn sich seine Partnerin von ihm aufgrund des Alkohols
trennt. In einem solchen Fall bekommt die alternative Möglichkeit der Ent-
wöhnungsbehandlung und des Verzichts auf Alkohol eine ganz andere Be-
deutung für ihn, die ihm möglicherweise auch die Freiheit gibt, sich hierfür zu
entscheiden. Die Wiedererlangung von Freiheit, bzw. die Transformation von
Unfreiheit in Freiheit, ist somit hier eng an eine Veränderung in seiner Re-
lation bzw. Kopplung zur Umwelt und die Bedeutung derselbigen geknüpft.
Dieses Beispiel zeigt, dass die alternativen Möglichkeiten nicht aus-
schließlich intra-subjektiv entstehen, sondern, dass die mit ihnen verknüpfte
Freiheit immer relational, durch Co-Determination mit der Umwelt, entste-
hen. Dieses bedeutet in Hinsicht auf das Gehirn, dass die Veränderungen in den
neuronalen Korrelaten seines Belohnungssystems zwar eine notwendige, nicht
aber eine hinreichende Bedingung für seine Unfreiheit sind. Erst durch die
Veränderung seiner Beziehung zur Umwelt und der Bedeutung, mit der er
diese erlebt, kann er seine Freiheit zurückgewinnen. Dieses Beispiel könnte
nahe legen, dass der Alkoholiker den Einflüssen der Umwelt hilflos ausgeliefert
ist. Dieses ist nicht der Fall, da der Alkoholabhängige seine Umwelt mit ge-
staltet und schaffen kann und er selber dazu beiträgt, dass sich seine Beziehung
zur Umwelt auf den Alkohol reduziert hat. Umgekehrt hat Freiheit somit
immer auch mit einem gestalterischen und kreativen Moment zu tun. Erst
wenn dieses Moment verloren geht, wie z. B. beim alkoholabhängigen oder
beim depressiven Patienten, schlägt die Freiheit in der Gestaltung der Orga-
nismus-Umwelt-Beziehung in eine Unfreiheit mit einseitiger Fixierung um.
IV. Schlussfolgerung: Relationales Freiheitsmodell
und die Grenzen unserer Erkenntnis
Was ist Freiheit? Freiheit in dem hier vertretenen relationalen Sinne ist
die Möglichkeit der Entwicklung von verschiedenen Relationen zwi-
schen Organismus und Umwelt. Dieses zeigt, dass Freiheit in einem
relationalen Sinne immer umweltgebunden und somit kontextabhängig
ist. Das Konzept der relationalen Freiheit beschreibt somit verschiedene
alternative Möglichkeiten der Kopplung, des „Matching“ bzw. des „Fit“
zwischen Organismus und Umwelt. Dieses soll an dem folgenden
Beispiel noch einmal kurz erläutert werden.
332 Georg Northoff
Unterschiedliche Komponisten werden die gleiche Melodie auf
unterschiedliche Art und Weise vollenden. Die verschiedenen Arten
von bspw. vier Komponisten werden aber alle möglicherweise zum
jeweiligen Kontext der Melodie passen. Es ist aber so, dass nicht
grundsätzlich alle Möglichkeiten der Vollendung auch zur entspre-
chenden Melodie passen würden. Dieses liegt allerdings nicht nur an der
Melodie selber, sondern auch an unserem Gehör, welches bestimmte
Möglichkeiten zulässt und andere Möglichkeiten nicht – dieses betrifft
somit die natürlichen Möglichkeiten unseres Gehörs. Diese natürlichen
Hörmöglichkeiten haben sich wiederum in Auseinandersetzung mit der
Umwelt herausgebildet, d. h. im evolutionären bzw. teleologischen
Kontext. Unser Gehör und unsere Hörmöglichkeiten können somit
nicht isoliert von der Umwelt betrachtet werden, sondern sind in sie
eingebettet. Aufgrund dieser Einbettung unseres Gehörs und seiner
entsprechenden Hörmöglichkeiten in eine gemeinsame Umwelt wer-
den wir all die verschiedenen Wege der Komponisten als eine passende
Vollendung der Melodie empfinden und erleben, wohingegen andere
Möglichkeiten, rein logische Möglichkeiten der Vollendung der Me-
lodie, von uns möglicherweise nicht als passend erlebt werden. Dieses
zeigt deutlich auf, dass eine Freiheit in einem relationalem Sinne immer
eine relative und kontextgebundene Freiheit und nicht eine absolute
und somit kontextunabhängige Freiheit ist.
Eine absolute Freiheit wäre eine von der Umwelt isolierte Freiheit.
Es stellt sich am Ende dieses Beitrages die Frage, ob wir von einer
absoluten Freiheit, die von der Umwelt isoliert ist, überhaupt sinnvoll
sprechen können, da wir in der Diskussion über eine solche schon
immer unsere eigene Umwelt notwendig voraussetzen (müssen). Wie
aber ist es möglich, eine von der Umwelt isolierte absolute Freiheit zu
definieren, wenn der Akt der Definition selber notwendig eine Umwelt
voraussetzt? Dieses ist die Frage nach unseren Möglichkeiten bzw. der
Grenze unserer Erkenntnis. Ich postuliere, dass wir aufgrund unserer
relationalen Verknüpfung mit der Umwelt keine Einsicht darin haben,
wie die Welt, unabhängig von unserer Umwelt, real und somit wirklich
ist und wie eine mit einer solchen Welt möglicherweise verknüpfte
absolute Freiheit aussehen könnte. Ich argumentiere hierfür aus zwei
Gründen: Erstens weist unsere Umwelt mitsamt ihrer relationalen
Freiheit eine Spezies-Abhängigkeit (D) auf, wohingegen eine Einsicht
in eine von unserer Umwelt unabhängige Welt mit einer möglichen
absoluten Freiheit eine Spezies-Unabhängigkeit (D) voraussetzen
würde. Ohne Spezies-Unabhängigkeit (D) ist ein Einblick in die Welt
Freiheit und Einbettung in die Umwelt 333
nicht möglich, welches wiederum die (positive; nicht nur negative)
Definition einer Freiheit im absoluten Sinne verunmöglicht. Zweitens
haben wir auch keine Einsicht in unser eigenes Gehirn als Gehirn. Wir
sind nicht in der Lage, die neuronalen Zustände unseres eigenen Ge-
hirns als solche, d. h. als meine neuronalen Zustände zu erleben, welches
ich an anderer Stelle „autoepistemische Limitation“ genannt habe
(Northoff, 2004; Northoff et al., 2006). Stattdessen erleben wir mentale
Zustände, die, anderes als neuronale Zustände, das Charakteristikum der
„Meinigkeit“ aufweisen (Metzinger, 2007; Northoff, 2004). Wenn wir
aber nicht in der Lage sind, unsere eigenen neuronalen Zustände als
solche zu erleben, wie sollen wir dann die Rolle des Gehirns für die
Konstitution der Freiheit bestimmen? Vorausgesetzt das Gehirn wäre
eine notwendige Bedingung von Freiheit in einem absoluten Sinne.
Wenn dies der Fall wäre, müsste das Gehirn indeterministisch in einem
absoluten Sinne sein. Wenn wir aber aufgrund der autoepistemischen
Limitation unser Gehirn als solches nicht erleben können, so wie wir
Freiheit erleben können, können wir auch nicht bestimmen, ob unser
Gehirn wirklich in einem absoluten Sinne indeterministisch ist. Wenn
dies nicht möglich ist, können wir eine notwendige Bedingung von
Freiheit, die neuronalen Prozesse unseres Gehirns, nicht bestimmen.
Bleibt aber eine notwendige Bedingung von Freiheit notwendig im
Verborgenen, kann auch das Konzept der Freiheit in einem absoluten
Sinne nicht sinnvoll definiert werden. Zusammenfassend markieren
diese beiden Limitationen unserer Erkenntnis, die Spezies-Abhängigkeit
(D) und die autoepistemische Limitation, die Grenze zwischen von uns
vertretbaren (d. h. relativen bzw. relationalen) und unmöglichen (d. h.
absoluten) Freiheitskonzepten. Die Grenzen unseres Wissens stellen
somit möglicherweise auch die Grenzen zwischen relativer und abso-
luter Freiheit dar.
Bibliographie
Chisholm, Roderick M. (1976): Person and Object. Open Court: LaSalle.
Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualit!t. Stutt-
gart: Reclam.
Libet, Benjamin (2002): Do We Have Free Will? In: Kane, Robert (Hg.):
Oxford Handbook on Free Will. Oxford/New York: Oxford University
Press.
Metzinger, Thomas (2007): Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity.
Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Noe, Alva (2005): Against Intellectualism. In: Analysis (64), 345 – 361.
334 Georg Northoff
Northoff, Georg (2001): Personale Identit!t und das Gehirn. (Personal Identity and
the Brain). Paderborn: Mentis.
Northoff, Georg (2004): Philosophy of the Brain. The Brain Problem. Amsterdam:
John Benjamin Publishing Company.
Northoff, Georg/Bermpohl, Felix (2004): Cortical Midline Structures and
Processing of the Self. In: Trends in Cognitive Science (8), 102 – 107.
Northoff, Georg/de Greck, Moritz/Bermpohl, Felix (2006): How Does Our
Brain Give Rise to the Self ? Process Specificity and Domain-Independence
of Cortical Midline Structures. In: Neuroimage (15), 447 – 457.
Wegner, Daniel (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massachu-
setts: MIT Press.
Die Diebe der Freiheit
Libet und die Neurophysiologen
vor dem Tribunal der Metaphysik
OLAF L. MÜLLER
1. Einleitung
Wissenschaftler widerlegen Willensfreiheit: Unter dieser Schlagzeile
versammeln sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
immer mehr experimentelle Evidenzen, die offenbar gegen die An-
nahme sprechen, dass wir unser Tun mithilfe bewusster Entscheidungen
frei zu steuern vermögen. In der Tat entspricht es gutem naturwissen-
schaftlichem Brauch, täglich vor dem Frühstück eine Lieblingshypo-
these zu beerdigen. Nur: Können wir es uns leisten, mit der Annahme
von Willensfreiheit so rabiat umzuspringen wie mit jeder x-beliebigen
Lieblingshypothese? Wollen wir uns das leisten? Oder bleibt uns auch
hier keine Wahl? Meine Antwort auf alle drei Fragen lautet: Nein.
Um mein Plädoyer für das Vertrauen in die Freiheit abzustützen,
möchte ich auf den folgenden Seiten eine neue und extreme Strategie
ausprobieren. Sie beginnt mit einem radikalen Zugeständnis an die
Gegner der Freiheit und deren neurophysiologische Extrapolationen, so
radikal, wie es meines Wissens bis heute kein Freund der Freiheit ge-
wagt hat. Und zwar möchte ich zum Zweck des Arguments annehmen,
dass uns die Empirie mit Fakten über das Gehirn überraschen wird, die
alles in den Schatten stellen, was uns im letzten Vierteljahrhundert
zugemutet worden ist (Abschnitte 2 bis 3). Dass Freiheit selbst unter
diesen unangenehmen Annahmen noch lange nicht verloren ist, wird
den zweiten Teil meiner Antwort ausmachen (Abschnitte 4 bis 5). Wie
ich zeigen will, ist Willensfreiheit nicht nur ein Thema für die Neu-
rophysiologie – sie gehört auch ins gute alte Arbeitsgebiet der Meta-
physik. Etwas ausführlicher: Naturwissenschaftliche Evidenzen können
allenfalls vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten – naturalistischen –
Metaphysik gegen Willensfreiheit sprechen. (Laut naturalistischer Me-
taphysik spielen sich alle Ereignisse, die es überhaupt gibt, gab oder
336 Olaf L. Müller
geben wird, in der einheitlichen kausalen Ordnung unseres natürlichen
Universums ab, und zwar innerhalb seiner räumlichen Grenzen.) Wie
wir sehen werden, lässt sich die naturalistische Metaphysik selber nicht
mehr naturwissenschaftlich begründen. Gäbe es keine Alternativen zu
dieser Metaphysik, so stünde es vielleicht wirklich schlecht um die
Willensfreiheit (genau wie die eingangs zitierte Schlagzeile sagt). Doch
darüber brauchen wir nicht zu streiten, denn: Es gibt Alternativen zur
naturalistischen Metaphysik; die Wirklichkeit könnte weit über die
räumlichen Grenzen unseres natürlichen Universums ausgreifen. Wer
solche Alternativen nicht im Blick hat, leidet an Phantasielosigkeit,
genauer gesagt: Sein Realitätssinn ist über- und sein Möglichkeitssinn
unterentwickelt. Dem möchte ich hier mit einer kleinen Lockerungs-
übung entgegentreten. Ich werde eine metaphysische Position vorf"hren
(nicht: begründen), die den Ort unserer Entscheidungen ins Jenseits
verlegt und so dem Zugriff unserer Naturwissenschaften entzieht. Da es
gar nicht so leicht ist zu sagen, was das heißen soll, werde ich viel
Sorgfalt aufbieten, um die Rede von Freiheit aus dem Jenseits ver-
ständlich zu machen, und zwar mithilfe eines Modells, das sich mit rein
naturalistischen Ressourcen beschreiben lässt. So hoffe ich, den frei-
heitsfeindlichen Naturalismus mit seinen eigenen Mitteln aus den An-
geln zu heben. Bevor es soweit ist, möchte ich meinen Gegnern in den
nächsten beiden Abschnitten ein weites Stück entgegenkommen, wie
versprochen. Ich werde neurophysiologische Experimente beschreiben,
die entweder schon durchgeführt worden sind oder vielleicht eines Tages
durchgeführt werden können und die eines gemeinsam haben: Sie sind
allesamt geeignet, unseren Glauben an die Willensfreiheit zu erschüt-
tern; es handelt sich um Experimente mit schockierendem Versuchs-
ausgang. Mir kommen Philosophen, die das nicht zugeben wollen,
erstaunlich abgebrüht vor. Und ich kann mir diese Abgebrühtheit der
Philosophen nicht anders erklären als mit Blick auf die Philosophiege-
schichte. Jahrhundertelang haben sich die Philosophen ganz allgemein
mit der Frage herumgeschlagen, wie sich ein Determinismus, der die
gesamte Natur durchzieht, mit Willensfreiheit versöhnen lassen könnte.
Das ist eine höchst abstrakte Frage, für deren Antwort viel Raffinement
aufgeboten wurde. Aber der Determinismus, der in dieser Debatte
durchdekliniert werden musste, blieb die ganze Zeit hindurch ein ab-
straktes Postulat, das uns Menschen sozusagen nicht nahe genug kam;
der Determinismus regierte die ganze Welt, nicht zielgenau ausge-
rechnet uns Menschen. Und so konnten wir uns an den Determinismus
in aller Ruhe philosophisch gewöhnen; daher die Abgebrühtheit. Nur:
Die Diebe der Freiheit 337
Uns entgeht etwas ungeheuer Wichtiges, wenn wir die neueren Ex-
perimente der Neurophysiologie bloß durch die Brille der alten Debatte
über Freiheit und Determinismus ansehen; uns entgeht dabei, dass die
neuen Experimente direkt mit uns zu tun haben. Die ganze Debatte
über Freiheit bekommt im Lichte dieser Experimente eine ungewohnte
Farbe. Um diese Farbe schnell zum Leuchten zu bringen, werde ich es
mir erlauben, die wohldokumentierte Debatte über Freiheit und De-
terminismus links liegen zu lassen und stattdessen als erstes den bele-
benden Schock vorzuführen, den wir der Neurophysiologie verdanken.
2. Libet und kein Ende?
Betrachten wir zum Auftakt das berüchtigte Experiment, das die Lawine
der Unfreiheit ins Rollen gebracht hat: Benjamin Libets zeitliche Un-
tersuchungen zu elektrischen Bereitschaftspotentialen, die sich im
Vorfeld willkürlicher Körperbewegungen aufbauen.1 Für diese Mes-
sungen wurden Versuchspersonen aufgefordert, ihre Hand zu einem
selbst, spontan und frei gewählten Zeitpunkt zu bewegen und dabei
(mithilfe einer sehr schnellen Uhr) präzise zu protokollieren, in wel-
chem Augenblick ihnen jeweils der Entschluss zu der fraglichen
Handbewegung bewusst vor Augen stand. Zusätzlich hat Libets Ar-
beitsgruppe am Kopf der spontan entscheidenden Versuchspersonen den
Aufbau des sogenannten Bereitschaftspotentials gemessen, einer Größe,
deren jäher Anstieg (wie man seit längerem wusste) einer jeden will-
kürlichen Körperbewegung zuverlässig vorausgeht.
Als Libet die Zeitpunkte des Aufbaus jener Bereitschaftspotentiale
mit den Zeitpunkten verglich, an denen seinen Versuchspersonen die
jeweilige Bewegungsentscheidung bewusst wurde, kam eine Überra-
schung heraus: Die Bereitschaftspotentiale pflegen sich aufzubauen,
lange bevor den Versuchspersonen die zugehörigen Entscheidungen für
die Handbewegung bewusst werden – das Bereitschaftspotential ist
durchschnittlich eine Drittelsekunde früher da (Libet et al., 1983, 623,
635, 631 (Tabelle 2 C)).
Anders als Libet selbst gehen einige der radikaleren Interpreten
dieser Befunde so weit zu behaupten, dass sich solche und ähnliche
Befunde "berhaupt nicht mit der Annahme vertrügen, wir seien in un-
1 Der locus classicus ist Libet et al., 1983. Für neuere Überlegungen siehe Libet,
1999, übersetzt als Libet, 2004.
338 Olaf L. Müller
seren Entscheidungen frei; sie behaupten, unser gegenteiliger Eindruck
von Freiheit beruhe am Ende auf nichts anderem als Illusion.2
Gegen diesen schnellen Schluss haben sich viele Freunde der Wil-
lensfreiheit zur Wehr gesetzt. Hier ist eines ihrer einflussreichsten Ar-
gumente, das in vielen verschiedenen Fassungen vorgetragen worden
ist: Unsere Entscheidungsfreiheit üben wir nicht so sehr dann aus, wenn
wir plötzlich aus heiterem Himmel die Hand bewegen, ohne dass dies
irgendeine größere Bedeutung für unser Leben hätte; vielmehr üben
wir sie dann aus, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht – und in
diesen Fällen geht der endgültigen Handlung oft ein langer Prozess
voraus, in dem wir uns unsere Optionen, Chancen und Ängste, Ziele
und Hoffnungen, unser Wissen und vieles mehr vor Augen führen und
miteinander ins Verhältnis setzen. Alle diese Elemente unserer Ent-
scheidung (so läuft das freiheitsliebende Gegenargument weiter) gehen
uns mitunter Tage, Wochen, Monate oder Jahre vor der endgültigen
Handlung durch den Kopf, also auch Tage, Wochen, Monate oder
Jahre vor dem Aufbau des Bereitschaftspotentials, das dann jene Kör-
perbewegungen einleitet, mit denen wir die fragliche Handlung
schließlich vollziehen.3
Trotz aller Vernünftigkeit hat dieses freiheitsliebende Gegenargu-
ment einen Haken. Denn Libets ursprüngliches Experiment bildet
vielleicht nur die Spitze eines riesigen Eisberges voller Unfreiheit.4
Zugegeben, im ursprünglichen Experiment ging es nur um einen
winzigen Ausschnitt dessen, was Entscheidungsfreiheit sein kann oder
doch sein sollte. Aber die Experimentalwissenschaftler feiern ihre ersten
Erfolge fast immer unter den exzessiven Einschränkungen innerhalb
ihres Labors; dann lösen sie sich Schritt für Schritt von diesen Ein-
2 Wolf Singer z. B. nennt unsere Erfahrung, frei zu sein, eine Illusion und plädiert
dafür, unsere Rechtspraxis zu überprüfen (Singer, 2004, 50, 63 f.). Dass dies die
zentrale Botschaft seiner Überlegungen ist, zeigt schon deren Untertitel: „Wir
sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“ (Singer, 2004, 30). – Libet war und
blieb in dieser Sache weitaus vorsichtiger, siehe Libet et al., 1983, 641.
3 Beispielsweise bezweifelt Kristian Köchy (unter Berufung auf Henrik Walter),
ob „ein Willensakt tatsächlich, wie bei Libet vorausgesetzt, ein zeitlich genau
umschriebenes und singuläres Ereignis ist. Faßt man den Willensbildungsprozeß
anders auf, nämlich als komplexes und langwieriges Geschehen, […] dann ist die im
Experiment von den Probanden gemachte Aussage kein Indiz mehr für die
gerade gefallene Willensentscheidung. Diese ist vielmehr bereits in dem Mo-
ment gefallen, in dem die Versuchsperson einwilligt, der Instruktion des Ex-
perimentators zu folgen“ (Köchy, 2006, 157, mein Kursivdruck).
4 Siehe Libet et al., 1983, 640 f. Ähnlich Libet, 2004, 281 f.
Die Diebe der Freiheit 339
schränkungen, bis es ihnen gelingt, auch die echten und komplizierten
Phänomene außerhalb des Labors in den Griff zu kriegen. Und in der
Tat hat Libet mit seinem ursprünglichen Versuchsaufbau ein giganti-
sches Experimentierfeld aufgetan, dessen Erträge noch lange nicht
ausgeschöpft zu sein brauchen.5 Vielleicht ist es nur noch eine Frage der
Zeit, bis unsere vornehmsten Willensakte von demselben unfreiwilligen
Schicksal ereilt werden wie vor einem Vierteljahrhundert die läppischen
Handbewegungen der ersten Probanden von Libet.
Fassen wir diese schreckliche Möglichkeit etwas genauer ins Auge.
Vielleicht können Libets Nachfolger schon bald nachweisen, dass die
neuronale Aktivität6 im Gehirn des durchschnittlichen Roulette-Spie-
lers auf ganz spezifische Weise in Schwung kommt, lange bevor dem
Roulette-Spieler bewusst wird, dass er all seine Jetons auf Rot setzen
will statt auf Schwarz.7 Das wäre bereits bedrohlicher für unsere Ent-
scheidungsfreiheit als Libets ursprüngliches Experiment, denn anders als
damals wären jetzt Entscheidungen betroffen, bei denen im wahrsten
Wortsinn etwas auf dem Spiel steht.
Zugegeben, solche Roulette-Entscheidungen machen wieder nur
einen Bruchteil dessen aus, worum es beim Streit über Entschei-
dungsfreiheit geht. Aber genau so funktioniert die Salamitaktik der
freiheitsfeindlichen Naturwissenschaftler: Stück für Stück wollen sie uns
die Entscheidungsfreiheit beschneiden; und wenn sich Libets Methode
wirklich auf Roulette-Entscheidungen ausdehnen ließe, dann wären die
5 Spätere Experimentatoren sind in verschiedenen Richtungen über die Be-
schränkungen in Libets ursprünglichem Experiment hinausgegangen, siehe z. B.
Haggard/Eimer, 1999, 129, 131 f.
6 Ich spreche hier allgemein von „neuronaler Aktivität“ (statt punktgenauer von
„Bereitschaftspotentialen“), weil ich mich nicht auf neurophysiologische De-
tails festlegen möchte. In den folgenden Überlegungen wird es auf solche
Details nicht ankommen, daher werde ich von nun an pars pro toto wieder mit
Bereitschaftspotentialen weiterarbeiten.
7 Wer das Experiment unter kontrollierten Bedingungen durchführen will, wird
viele Faktoren konstant halten müssen, die im Casino durcheinandergehen. Der
Roulette-Spieler muss immer an derselben Stelle des Spieltischs stehen, so dass
das Feld für Rot schräg links vor ihm liegt und das Feld für Schwarz gleich weit
und im selben Winkel schräg rechts vor ihm; seine Jetons müssen sich immer an
einem fixen Platz genau in der Mitte vor ihm befinden; keine Hindernisse
dürfen ihm beim Setzen in die Quere kommen; usw. Um alle diese Schwie-
rigkeiten zu umgehen, werde ich die Entscheidungen im nächsten Beispiel an
Mausklicks koppeln.
340 Olaf L. Müller
Gegner der Freiheit einen Schritt weiter als jetzt – nicht mehr und nicht
weniger.8
Wo könnten sie ihre übernächsten Erfolge feiern? Selbst nach dem
eben anvisierten Triumph bei Roulette-Entscheidungen hätten meine
Gegner noch keinerlei Evidenzen gegen Freiheit bei längerfristigen
Entscheidungen aufgespürt. Aber ich finde es nicht schwer, mir vor-
zustellen, was sie als Nächstes versuchen werden. Sie werden darauf
verweisen, dass sich mittelfristige Entscheidungen in viele kleine,
kurzfristige Einzelentscheidungen zerlegen lassen. Betrachten wir z. B.
die Entscheidung für eine bestimmte Speise im Schnellimbiss. Der Gast
wird durch ein menügesteuertes Computerprogramm geführt, das ihn
in folgenden Dialog verwickelt:
Möchten Sie vegetarisch essen, so drücken Sie bitte (mit dem linken
Zeigefinger) die linke Maustaste, andernfalls (mit dem rechten Zei-
gefinger) die rechte Maustaste.9
[Gast drückt die rechte Maustaste, doch lange bevor ihm die Ent-
scheidung zugunsten dieser Fingerbewegung bewusst wird, hat sich
schon das entsprechende laterale Bereitschaftspotential aufgebaut.]
Möchten Sie ein Fleischbrötchen essen, so drücken Sie die linke
Maustaste, möchten Sie ein Fischbrötchen essen, so drücken Sie bitte
die rechte Maustaste. Wenn Sie Ihre Entscheidung auf die vorige
Frage rückgängig machen wollen, so drücken Sie bitte beide Maus-
tasten.
8 Und dann könnten sie sich gegen einen Einwand wehren, den Lutz Wingert so
formuliert hat: „Zum Handeln gehört ein Urteil: ,Es ist ( jetzt) besser, das und
das zu tun, als es zu unterlassen.‘ Die Probanden von Libet & Co. hatten
allerdings keine Hinsicht, unter der es ihnen besser erschien, diese oder jene
Taste zu drücken. Deshalb mußten sie im Labor Handlungen simulieren“
(Wingert, 2004, 197).
9 Da Libets Methode bislang mit Handbewegungen besonders erfolgreich ge-
wesen ist, scheint sich mir die Maustastenbedienung besonders gut zu eignen,
um so etwas wie Kommunikation zu untersuchen. Bei längeren (geschriebenen
oder gesprochenen) Sprachspielzügen der Probanden dürfte Libets Methode
dagegen eher an ihre Grenzen stoßen. Denn die Bereitschaftspotentiale, die wir
messen können, sind weit davon entfernt, spezifisch anzuzeigen, welche Inhalte
der Proband zu kommunizieren sich anschickt. (Daher vermutlich setzt Libet in
seinen extrapolierenden Ausführungen nur auf Bereitschaftspotentiale, die „dem
Beginn des Sprechens oder Schreibens vorausgehen“ (Libet, 2004, 281, mein
Kursivdruck). Das ist fast nichts, wenn man bedenkt, dass man schon vor dem
Traualtar zwei dramatisch verschiedene Sprechakte beginnen kann!)
Die Diebe der Freiheit 341
[Gast entscheidet sich für das Fischbrötchen, und wieder ist das für die
rechte Maustaste einschlägige Bereitschaftspotential da, bevor ihm die
Entscheidung zugunsten von Fisch bewusst geworden ist.]
Möchten Sie Salzwasserfisch auf Ihrem Brötchen, so drücken Sie bitte
die linke Maustaste, andernfalls die rechte Maustaste. Wenn Sie Ihre
Entscheidung auf die vorige Frage rückgängig machen wollen, so
drücken Sie bitte beide Maustasten.
[Bereitschaftspotential zeigt die Entscheidung für Süßwasserfisch an,
bevor dies dem Gast bewusst geworden ist.]
Ich weiß, ich weiß, so ein Versuchsablauf ist noch nicht in Sichtweite.
Aber ich möchte mein Vertrauen in unsere Entscheidungsfreiheit nicht
gerne darauf bauen müssen, dass das so bleibt. Und wäre es nicht be-
drohlich, wenn die Zeitschrift Brain eines Tages solche Versuchspro-
tokolle zu publizieren begönne? 10 Gewiss, die eben skizzierte unfreie
Farce im vollautomatisierten Schnellimbiss muss niemanden anfechten,
der im Edelrestaurant sitzt und genüsslich die Speisekarte studiert. Aber
was wäre, wenn sich die kulinarische Unfreiheit empirisch weiter aus-
breitete? Was wäre mit Bereitschaftspotentialen, die sich aufbauen,
lange bevor dem Probanden bewusst wird, welches Tellerchen Nilgiri
er gleich vom Fließband seines Sushi-Restaurants herunternehmen
möchte? Und wer weiß, vielleicht geht es in diesem Stil immer weiter
bergab mit unserer Freiheit. Die menügesteuerte Partnerwahl im
weltweiten Netz könnte das nächste Opfer der Libet-Methode werden
genauso wie das Stimmverhalten unserer Parlamentarier bei Abstim-
mungen ohne Fraktionszwang.
10 Es lohnt sich, genau zu durchdenken, was solche Versuchsprotokolle beweisen
würden und was nicht. Nicht beweisen können sie die Behauptung, dass die
Essensentscheidung des Opfers bereits feststünde oder gar prognostiziert werden
könne, bevor der Gast den Schnellimbiss betritt und sich an den Computer
setzt. Vielmehr steht jede einzelne Teilentscheidung immer erst unmittelbar vor
ihrer Bewusstwerdung fest. Schon die jeweils übernächste Teilentscheidung
verschwindet gleichsam hinter dem neuronalen Horizont, und da die Ge-
samtentscheidung erst mit der allerletzten Teilentscheidung komplett wird,
wären wir im Lichte jener Versuchsprotokolle weit davon entfernt, im Voraus
prognostizieren zu können, an welches Ende des Entscheidungsbaumes der
Gast klettern wird. – Ohnehin kann man darüber streiten, ob die anvisierte
Zerlegung einer Entscheidung in eine Serie von Einzelentscheidungen nicht
doch die Phänomenologie unserer lebensechten Entscheidungen allzu sehr
zerrüttet.
342 Olaf L. Müller
Gr"nde! Gr"nde! Gr"nde! Endlich verschafft sich ein Protestschrei
meiner philosophischen Kollegen Gehör, denen unsere ausgedachten
Experimente gegen den Strich gehen. Sie sagen: Wir sind in dem Maße
frei, in dem wir unsere Entscheidungen an echten Gr"nden ausrichten,
und die ausgedachten Experimente sind für diesen Faktor allesamt
blind.11
Gründe zählen – einverstanden. Aber sie zählen natürlich nur, wenn
ihnen handfeste Taten folgen. Solange sich die Gründe und Gegen-
gründe im luftleeren Raum nutzlose Gefechte liefern, solange sind sie
für unser Problem irrelevant. Das legt folgendes Experiment nahe: Wir
setzen der Versuchsperson eine echte Entscheidung vor, z. B. zwischen
zwei schönen Wohnungen, deren Miete wir ein Jahr lang übernehmen
werden. (Das Experiment könnte z. B. mit Auslandsstipendiaten
durchgeführt werden.) Die beiden Wohnungen sind sehr verschieden:
Die eine ist hell, geräumig und liegt in Fußgängerentfernung vom In-
stitut – die andere liegt in der Nähe des Freibads und des besten Kinos,
sie ist ruhig, etwas kleiner und dunkler, hat dafür aber einen schönen
Balkon und den schnelleren Anschluss zum Netz. Folgt dreistündiger
Auftritt der Berater – Experten und Gegenexpertinnen tragen der
Versuchsperson die Gründe und Gegengründe vor und gehen immer
stärker ins Detail. Plötzlich heißt es: „Wir müssen uns beeilen, die Zeit
drängt! Alle wesentlichen Aspekte sind erwähnt worden. Heben Sie
bitte jetzt Ihre linke Hand, wenn Sie die Wohnung mit Balkon wollen;
anderenfalls heben Sie die rechte Hand“. Und wieder kommt es, fürchte
ich, wie es kommen muss – bevor dem Stipendiaten bewusst wird,
welche Wohnung er will, verrät ihn schon der Aufbau des Bereit-
schaftspotentials.12
11 So argumentiert z. B. Lutz Wingert (mit Blick auf Libets ursprüngliches Ex-
periment); den Titel seines Aufsatzes habe ich mir für den Auftakt meines
nächsten Satzes ausgeliehen (Wingert, 2004).
12 Einwand. Der Auslandsstipendiat hat die eigentliche Entscheidung schon in dem
Moment gefällt, wo er sich auf unsere Spielregeln einlässt und damit einver-
standen ist, seine Wahl auf zwei Wohnungen zu beschränken, deren Miete wir
ihm schenken. (Vgl. das Köchy-Zitat aus Fußnote 3.) – Erwiderung. Das aus-
gerechnet soll die Freiheit retten? Wer wagt es, gegen meine Prognose zu
wetten, dass so gut wie jeder Auslandsstipendiat die geschenkte Miete wird
haben wollen? (Ich werde natürlich nicht gegen den Auslandsstipendiaten oder
seine Freunde, Verwandten und Bekannten wetten, denn wenn der Einsatz
hoch ist, könnte das den Stipendiaten in die falsche Richtung locken; solche
Störeinflüsse müssen wir ausblenden.)
Die Diebe der Freiheit 343
Kurzum, wir Anhänger der Willensfreiheit sollten mit dem
Schlimmsten rechnen. Wir sollten unsere Verteidigungslinien auf einer
grundlegenderen Ebene setzen, statt uns darauf zu verlassen, dass Libets
Methode bei komplexeren und wichtigeren Handlungen (als ausge-
rechnet Fingerbewegungen) steckenbleiben muss. Einen neuartigen
Versuch dieser Art werde ich in den nächsten Abschnitten ausprobieren.
3. Ein extremes Szenario
Ich möchte nun eine Betrachtung vorführen, in deren Licht die Ent-
scheidungsfreiheit selbst dann unangetastet bleibt, wenn es empirisch so
schlimm kommt wie im letzten Abschnitt ausgemalt. Genauer gesagt,
möchte ich von außen eine Gemeinschaft fiktiver Wissenschaftler be-
trachten, deren Libet-Experimente hinsichtlich aller denkbaren Hand-
lungen niederschmetternde Resultate zeitigen und die dennoch falsch
lägen, wenn sie behaupteten: „Unsere Entscheidungen werden von
Gehirnprozessen determiniert, bevor wir uns der fraglichen Entschei-
dungen bewusst werden“. Was wäre mit der Beschreibung einer sol-
chen fiktiven Wissenschaftlergemeinschaft erreicht? Eine ganze Menge:
Sollte sich so eine Situation konsistent beschreiben lassen, so wäre be-
wiesen, dass wissenschaftlich korrekte neurophysiologische Analysen
nichts über Willensfreiheit besagen müssen, dass also der freiheitszer-
störende Schluss unzulässig ist. Und wenn der Schluss unzulässig ist,
brauchen wir uns von unseren Libet-Experimenten auch nicht ins
Bockshorn jagen zu lassen.
Die fiktiven Wissenschaftler, die ich nun betrachten möchte, haben
Gehirne genau wie wir, aber diese Gehirne stecken nicht in normalen
menschlichen Körpern. Vielmehr schwimmen sie in einem Tank mit
Nährflüssigkeit herum, in dem sie künstlich am Leben gehalten werden.
Die Input-Nervenbahnen dieser Gehirne (die im Fall normaler, voll-
ständiger Menschen mit Sinnesorganen verbunden wären) kommen aus
einem gigantischen Simulationscomputer, der die eingetankten Wis-
senschaftler zuverlässig mit sensorischer Information versorgt – und
zwar mit genau denselben Sinnesreizen, denen normale Menschen ty-
pischerweise ausgesetzt sind. Mehr noch, sobald sich in den einge-
tankten Gehirnen Bereitschaftspotentiale aufbauen (die im Falle nor-
maler vollständiger Menschen zu willkürlichen Körperbewegungen
führen würden, etwa zur Drehung des Kopfes), werden diese Impulse
von den Output-Bahnen des Gehirns in den Simulationscomputer ge-
344 Olaf L. Müller
leitet und dort verrechnet – mit dem Ergebnis, dass die ins Gehirn
strömende visuelle Information genau solche Verschiebungen des
Blickfelds anzeigt, wie sie beim kompletten Menschen mit Kopfdre-
hungen einhergehen; und um die Simulation perfekt zu machen, er-
rechnet und produziert der Computer sogar die propriozeptiven Si-
gnale, die – im Fall von Kopfdrehungen eines kompletten Menschen –
aus dessen Nackenmuskeln ins Gehirn strömen würden.13
Wie gelingt dem Simulationscomputer diese umfassende Um-
wandlung von Output-Signalen in Input-Signale täuschend echter
Qualität? Da die ganze Szenerie fiktiv ist, können wir aus dem Vollen
schöpfen und den Computer mit dem allerschnellsten Prozessor und mit
gigantischen Speicherkapazitäten ausstatten. Etwas genauer: In einem
Universalspeicher des Computers ist die gesamte physikalische Reprä-
sentation unseres Universums geladen. Jeder Speicherplatz des Univer-
salspeichers hat eine dreistellige Adresse <x, y, z> aus rationalen Zahlen
und enthält einen der folgenden vier Binärcodes: 01; 10; 11; 00.
Der erste Code steht im fraglichen Speicherplatz, wenn sich an der
Raumstelle <x, y, z> unseres Universums ein Elektron befindet; der
zweite Code, wenn dort ein Neutron steckt; der dritte Code reprä-
sentiert ein dortiges Proton; und der vierte Code (,00‘) repräsentiert
eine materiefreie Raumstelle <x, y, z>.
Um Codes nicht dauernd zu verwechseln, möchte ich eine neue
Redeweise einführen. Codes vom Typ ,01‘ sollen Bit-Elektronen heißen,
Codes vom Typ ,10‘ Bit-Neutronen und Codes vom Typ ,11‘ Bit-Pro-
tonen. Diese Redeweise lässt sich bequem erweitern. In unserer Welt
bilden zwei Neutronen und zwei Protonen in enger Nachbarschaft
einen Heliumkern – im Universalspeicher bilden die vier Codes ,10‘,
,10‘, ,11‘, ,11‘ dann einen Bit-Heliumkern, wenn sie in Speicherplätzen
abgelegt sind, deren Adressen benachbarte Raumpositionen repräsen-
tieren. (Es geht wirklich nur um die dreistelligen Namen der vier
Speicherplätze; die Speicherplätze selbst könnten in der physischen
Architektur des Simulationscomputers weit auseinanderliegen.) In
demselben Stil werden Bit-Atome, Bit-Moleküle usw. gebildet. Und
während in unserer Welt Sterne und Wasserstoffbomben aus vielen
Wasserstoffkernen bestehen, setzen sich Bit-Sterne und Bit-Wasser-
stoffbomben der Bit-Welt aus Bit-Wasserstoffkernen zusammen: aus
13 Das Gedankenspiel der Gehirne im Tank ist von Hilary Putnam bekannt ge-
macht worden (Putnam, 1981, 5 ff.).
Die Diebe der Freiheit 345
vielen Codes ,10‘ und ,11‘, die in passenden Speicherplätzen realisiert
sind.
Wenn wir uns zur Vereinfachung vorstellen, dass unser Universum
nur aus Elektronen, Protonen, Neutronen und deren Zusammenset-
zungen besteht, so wird man mit Recht sagen können, dass der Uni-
versalspeicher jenes Computers gleichsam ein Standbild des Universums
bietet. Um die Sache zu dynamisieren, nehmen wir an, dass in einem
weiteren gigantischen Speicher die Geschwindigkeiten und Richtungen
aller Elementarteilchen codiert sind und dass im Computer ein Algo-
rithmus läuft, dem alle Naturgesetze bekannt sind und der den Uni-
versalspeicher in Echtzeit weiterrechnet. Ein Code 01 im Speicher
<x, y, z> mit hohem Geschwindigkeitscode zur Zeit t0 wird also zur
Zeit t1 > t0 aus dem Speicher <x, y, z> gelöscht und dafür im Speicher
<x+d, y+d, z+d> abgespeichert. (Wir nehmen also an, dass sich das
zugehörige Elektron während des Zeitintervalls t1 – t0 in allen drei
Raumrichtungen um d Längeneinheiten weiterbewegt.) Alle simulier-
ten Experimente der eingetankten Wissenschaftler sollen newtonisch
funktionieren; dann sind im Tank natürlich besonders dramatische
Befunde à la Libet zu erwarten.14 Zudem wollen wir annehmen, dass die
eingetankten Wissenschaftler alle an ein und denselben Computer an-
geschlossen sind und sich mithilfe von Output-Signalen verständigen
können, die im Falle normaler Menschen zu Zungenbewegungen
führen würden und die stattdessen vom Simulationscomputer zuver-
lässig in akustische Input-Signale für alle Beteiligten umzumünzen
sind.15
14 Sicherheitshalber möchte ich darauf aufmerksam machen, dass der newtonisch-
deterministische Ausgang aller Experimente nicht auf die Feststellung hinaus-
läuft, der durchgängige Determinismus der Welt sei beobachtet worden. Nein, so
ein Determinismus geht weit über das hinaus, was sich beobachten lässt; er ist
und bleibt ein theoretisches Postulat der Experimentatoren, das allerdings gut
gerechtfertigt sein kann.
15 Genauer gesagt, geht beim Gespräch zwischen eingetankten Gehirnen allerlei
vor sich. Das sprechende Gehirn produziert elektronische Outputsignale, die
für seine (fehlende) Zungenmuskulatur bestimmt wären. Sie werden in ein
Kommunikationsmodul des Rechners geleitet und dort in Bit-Elektronen
umgewandelt, die auf die zugehörigen Bit-Zungenmuskelfasern einwirken und
deren Code-Bestandteile in andere Speicherplätze verschieben – eine simulierte
Muskelkontraktion. In der Folge werden viele andere Codes ihren Speicherort
wechseln (simulierte Luftwellen), und von gewissen Bit-Trommelfellen wer-
den Bit-Elektronen auf Bit-Nervenbahnen in Richtung von Bit-Gehirnen
wandern, wobei sie vom eingangs erwähnten Kommunikationsmodul aufge-
346 Olaf L. Müller
Soweit meine fiktive Beschreibung einer Gemeinschaft von Wis-
senschaftlern, die genau dieselben Erlebnisse und Versuchsergebnisse
registrieren werden wie wir. Ich gebe es zu, eine solche Konstellation ist
weit davon entfernt, tatsächlich realisiert zu werden. Aber ich bestehe
darauf, dass ihre Realisierung prinzipiell möglich ist; jedenfalls, wenn
diejenigen naturalistischen Neurophysiologen recht haben, die all unser
Erleben gerne auf Gehirnzustände und neuronale Feuermuster zu-
rückführen. (Und da sich die bevorstehenden Überlegungen gegen
diese Neurophysiologen wenden, darf ich mir zum Zwecke des Ar-
guments alle Annahmen zu eigen machen, die von meinen Gegnern
unterschrieben werden. Ich bekomme diese naturalistischen Annahmen
sozusagen kostenlos.)
Meine erste Frage lautet: Was bedeuten und bezeichnen die wis-
senschaftlichen Wörter der eingetankten Gehirne? Wir wollen anneh-
men, dass diese Gehirne seit Beginn ihrer Existenz im Tank stecken und
seitdem genau denselben deutschsprachigen akustischen Spracherwerbs-
Reizen ausgesetzt worden sind wie wir. Wovon reden diese Gehirne,
wenn sie z. B. „Elektron“ oder „Hand“ oder „Bereitschaftspotential“
oder „Wasser“ sagen? 16
Die Antwort auf diese Frage hängt vom sprachphilosophischen
Standpunkt ab. Man könnte behaupten, dass die eingetankten Gehirne
mit jenen Wörtern genau dasselbe bezeichnen und meinen wie wir;
immerhin verbinden sie mit ihnen genau dieselben Assoziationen und
Vorstellungsbilder. Aber mit dieser Interpretationsidee geraten wir ins
Stocken, sobald wir uns fragen, wie z. B. handartige Assoziationen und
Vorstellungsbilder (die den Tankgebrauch des Worts „Hand“ begleiten)
dafür sorgen sollen, dass das tanksprachliche Wort ausgerechnet echte
Hände bezeichnen kann. Denn die eingetankten Gehirne haben keine
echten Hände, und sie haben echte Hände nie gesehen, geschüttelt,
geküsst, gerochen oder gebrochen. Alle ihre handartigen Erlebnisse
stammen aus dem Simulationscomputer und gehen auf ganz bestimmte
Konfigurationen von Codes zurück. Wer Sprechen, Bezeichnen und
schnappt werden. Das wandelt sie in echte Elektronen um und leitet diese auf
den akustischen Input-Bahnen in die eingetankten Gehirne der Zuhörer und
des Sprechers. (Anderswo mehr zu derartigen Details, siehe Müller, 2003b, §4.2
bis §4.7.)
16 Viele Philosophen bestreiten, dass Gehirne etwas sagen oder tun können oder
dass sie sich entscheiden können (siehe z. B. Kemmerling, 2000 und Wingert,
2004, 198 f.). Doch da sich meine Gegner dieser Redeweise befleißigen, wird
sie auch mir erlaubt sein.
Die Diebe der Freiheit 347
Meinen gern im guten naturalistischen Geiste verstehen möchte, dem
sollte der mangelnde kausale Kontakt zwischen eingetankten Gehirnen
und echten Händen zu denken geben. Es wäre die reinste Zauberei,
wenn eingetankte Gehirne echte Hände bezeichnen könnten, obwohl
sie von diesen Händen kausal vollständig isoliert sind.17
Wie sähe eine weniger magisch anmutende Sicht der semantischen
Dinge aus? Einfach: Ihr zufolge gebrauchen eingetankte Gehirne das
Wort „Hand“ im Beisein enger kausaler Kontakte zu ganz bestimmten
Kombinationen von Codes im Universalspeicher; genau diese Codes
bezeichnet das tanksprachliche Wort „Hand“. Wir werden die fragli-
chen Codes als „Bit-Hände“ bezeichnen.18
Darüber kann man natürlich lange streiten; aber in unserer dialek-
tischen Lage ist der Streit nicht nötig. Denn wie gesagt richten sich
meine Überlegungen gegen naturalistische Denker. Und im Rahmen
einer naturalistischen Auffassung von Sprache steht fest, dass sich Wörter
ihre Bezugsobjekte nicht durch Zauberei heraussuchen, sondern durch
gediegene kausale Verbindungen. (Abermals mache ich mir hier die
Voraussetzungen meiner Gegner zu eigen, ganz so, wie’s immer erlaubt
ist.)
Was ich eben anhand des tanksprachlichen Worts „Hand“ vorge-
führt habe, dürfte sich auf das gesamte Vokabular der tanksprachlichen
Naturwissenschaft ausdehnen lassen. Das tanksprachliche Wort „Tiger“
bezeichnet keine echten Tiger, sondern Bit-Tiger, das tanksprachliche
Wort „Schädeloberfläche“ keine echten Schädeloberflächen, sondern
Bit-Schädeloberflächen, das tanksprachliche Wort „Bereitschaftspoten-
tial“ keine Ansammlungen von Elektronen im Gehirn, sondern An-
sammlungen von Bit-Elektronen im Bit-Gehirn, usw.
Diese naturalistische Interpretation der Tanksprache hat drei
wichtige Konsequenzen. Erstens handelt die tanksprachliche Natur-
wissenschaft nicht von derjenigen Welt, in die Tank, Simulations-
computer, Energiequelle usw. eingebettet sind, sondern nur von einem
Ausschnitt dieser Welt: vom Universalspeicher des Simulationscompu-
ters und dessen Speicherzuständen.
17 Hilary Putnams Einsicht (Putnam, 1981, 3 ff., 12 ff.).
18 Den Vorschlag hat Hilary Putnam ins Spiel gebracht (Putnam, 1981, 14), ohne
ihn vor konkurrierenden nicht-magischen Vorschlägen auszuzeichnen (Put-
nam, 1981, 14 f.). Warum diese konkurrierenden Vorschläge nicht plausibel
sind, habe ich anderswo begründet (Müller, 2003b, §4.14 bis §4.17).
348 Olaf L. Müller
Die zweite Konsequenz der naturalistischen Interpretation der
Tanksprache sichert die Zuverlässigkeit der Wissenschaft im Tank und
deren Beobachtungsfundament. Laut naturalistischer Interpretation der
Tanksprache sind die Beobachtungssätze der eingetankten Wissen-
schaftler typischerweise wahr. Denn die eingetankten Wissenschaftler
werden z. B. den Satz: „Da ist ein Tiger“ sagen (und damit die An-
wesenheit von Bit-Tigern behaupten), wenn sie in den Genuss tiger-
artiger Simulationen aus dem Computer kommen. Und da diese Si-
mulationen typischerweise von Bit-Tigern herrühren, passt der se-
mantische Gegenstand des betreffenden Satzes gut zu dem, was wirklich
im fraglichen Moment da ist: ein Bit-Tiger.
In der magischen Interpretation der Tanksprache, die wir zurück-
gewiesen haben, lägen die Dinge schlechter. Dort würde der Satz von
echten Tigern handeln, die natürlich nicht da zu sein brauchen, wenn
die Tankwissenschaftler tigerartige Sinneseindrücke genießen. Tank-
sprachliche Beobachtungssätze wie „Da ist ein Tiger“ wären bestenfalls
zufällig wahr – wenn nämlich im passenden Moment ein Tiger um den
Tank herumstriche –, also wären sie oftmals falsch und mithin ganz
unzuverlässig. Das bedeutet, dass die magische Interpretation der
Tanksprache nicht wohlwollend wäre; sie verstieße gegen die Inter-
pretationsmaxime, einem Sprecher keinesfalls unnötig viele Irrtümer
zuzuschreiben.19
Die dritte Konsequenz der naturalistischen Interpretation der
Tanksprache wird für unsere weiteren Überlegungen besonders wichtig
sein: Die eingetankten Gehirne können nicht über das Organ reden, in
dem sich ihr mentales Leben de facto abspielt – sie können nicht über
echte Gehirne reden. Denn wenn sie das tanksprachliche Wort „Ge-
hirn“ in den Mund nehmen, so meinen sie damit bestimmte Codes im
Universalspeicher, die Bit-Gehirne. Und die bestehen (wie überhaupt
alles, wovon die naturwissenschaftliche Tanksprache handelt) aus
Stromspannungen an Transistoren (also letztlich aus Elektronenhaufen)
– sie bestehen nicht aus Biomasse wie die echten Gehirne, in denen sich
das mentale Leben der eingetankten Wissenschaftler abspielt. Und mehr
noch, nicht nur können die eingetankten Wissenschaftler keine echten
Gehirne bezeichnen oder beschreiben, sie können sie ebenso wenig
19 Plädoyers für das Prinzip des Wohlwollens (in ganz unterschiedlichen Fassun-
gen) bieten Quine, 1960, 58 f., Davidson, 1986, 316, Williamson, 2004, 137 ff.
Anderswo habe ich das Prinzip in aller Ausführlichkeit auf die Tanksprache
angewandt (Müller, 2003b, §3.3 bis §3.9).
Die Diebe der Freiheit 349
beobachten, manipulieren, zerlegen oder durchleuchten. Alle neuro-
physiologischen Bemühungen der eingetankten Wissenschaftler gelten
den Bit-Gehirnen, nicht den echten Gehirnen: nicht den Trägern ihrer
Gedanken, Sinneswahrnehmungen, Wünsche oder Entschlüsse.
Wenn das stimmt, dann sind die neurophysiologischen Bemühun-
gen der eingetankten Wissenschaftler völlig irrelevant für die Frage, wie
ihr eigenes Urteilen, Fühlen, Wahrnehmen und Entscheiden funktio-
niert. Denn der tanksprachliche Satz:
(1) Gehirne urteilen, fühlen und entscheiden, indem ihre Neuronen
ein Gewitter von Elektronensignalen abfeuern und dabei elektrische
Bereitschaftspotentiale aufbauen,
bedeutet bei angemessener Übersetzung in unsere Sprache:
(1ü) Bit-Gehirne urteilen, fühlen und entscheiden, indem ihre Bit-
Neuronen ein kybernetisches Gewitter von Bit-Elektronensignalen
abfeuern und dabei bit-elektrische Bit-Bereitschaftspotentiale auf-
bauen.20
Zwar ist der Schlussteil dieses Satzes völlig richtig, denn in Bit-Gehirnen
spielt sich genau das bit-neuronale Geschehen ab, das der letzte Teil des
Satzes benennt. Aber der Auftakt des Satzes ist falsch – es sind (wenn
überhaupt) Gehirne, nicht Bit-Gehirne, denen man Urteile, Gefühle
und Entscheidungen zuschreiben muss.21
Hiergegen könnte man einwenden, dass wir den Bit-Gehirnen
besser doch ein echtes mentales Leben zugestehen sollten. Denn sind sie
nicht strukturell isomorph zu echten Gehirnen, also komplex genug,
um alle mentalen Leistungen zu vollbringen, die echte Gehirne voll-
bringen? Vor dieser verführerischen Idee möchte ich warnen. Stellen
Sie sich vor, Sie wären vor kurzem wissentlich Ihres Körpers beraubt, in
den Tank gesteckt und an den Simulationscomputer angeschlossen
worden, in dem unter anderem eine isomorphe Repräsentation Ihres
ehemaligen Körpers gespeichert ist, einschließlich einer isomorphen
Repräsentation Ihres noch vorhandenen Gehirns. Nehmen Sie an,
plötzlich müssten Kosten gespart werden und der Experimentator stellt
20 Hier setze ich voraus, dass mentale Vokabeln im Gegensatz zu physischen
Vokabeln nicht umzuinterpretieren sind, wenn sie von der Tanksprache in
unsere Sprache übertragen werden. Ich habe das anderswo genauer begründet
(Müller, 2003b, §25.12 bis §25.15; siehe auch Müller, 2007 (i. Ersch.),
142–144). Mehr dazu im nächsten Abschnitt.
21 Der Zusatz in Klammern war nötig im Lichte der Fußnote 16.
350 Olaf L. Müller
Sie vor folgende unangenehme Alternative: Entweder wird Ihr Gehirn
annulliert oder das Bit-Gehirn Ihres Bit-Körpers. Wofür werden Sie
sich entscheiden? Wenn Sie Ihr mentales Leben fortzuführen wün-
schen, dürfte die Antwort klar sein – jedenfalls für Naturalisten: Um
mental zu überleben, brauchen Sie Ihr echtes Gehirn aus Biomasse,
keine Codes aus Abermillionen Nullen und Einsen in irgendeinem
Computerspeicher. Und wenn Sie sich also für die Annullierung des
Bit-Gehirns entscheiden, so werden Sie sich nicht als Mörder fühlen,
nicht als Zerstörer von geistigem Leben. Und das ist ein Anzeichen
dafür, dass ich im letzten Absatz recht hatte, als ich behauptet habe, dass
der Auftakt des Satzes (1ü) falsch sei.
Was bedeutet das für die Neurophysiologie? Und was bedeutet es
für unser Thema – für Libet-Experimente und deren Interpretation?
Die Antwort auf die erste Frage ist nur zum Teil niederschmetternd.
Solange sich der Neurophysiologe darauf beschränkt, Gehirne in seiner
technischen Sprache der elektrischen Potentiale, neuronalen Feuer-
muster usw. zu beschreiben (wie im Schlussteil des Satzes (1)), solange
droht ihm von unserem Gedankenexperiment keine Irrtumsgefahr. Erst
dann, wenn er die Grenzen seines Faches überschreitet und mentale
Vokabeln in den Mund nimmt (wie im Auftakt des Satzes (1)), sind
seine Schlussfolgerungen vom Irrtum bedroht. Die eingetankten Kol-
legen des Neurophysiologen sind diesem Irrtum auf den Leim gegan-
gen; ob es um unsere Neurophysiologie genauso schlimm steht, können
wir nicht wissen, denn wir kçnnten allesamt in einer !hnlich misslichen
Lage stecken wie die eingetankten Kollegen. Genau wie sie würden wir
das nicht bemerken.22
Kurzum, die Neurophysiologie bewegt sich nur solange auf gesi-
chertem Terrain, wie sie ihren gesicherten Aussagen über Feuermuster,
Potentiale des Gehirns usw. keine Aussagen über dessen Urteile, Ge-
fühle, Wahrnehmungen und Entscheidungen hinzuzugesellen versucht.
22 An dieser Stelle muss man sehr vorsichtig sein. Dass wir nicht in derselben
misslichen Lage stecken können, dass wir also keine Gehirne im Tank sind, lässt
sich zwar nicht empirisch feststellen, aber es lässt sich a priori beweisen. (Den
bahnbrechenden Beweis hat zuerst Hilary Putnam gesehen (Putnam, 1981,
12 ff.)). Ich habe anderswo Verbesserungen des Beweises vorgeschlagen
(Müller, 2003a, Abschnitte 18–21). Doch der Beweis ist nicht stark genug, um
zu entscheiden, ob wir nicht in einer !hnlichen, analogen Lage wie die Gehirne
im Tank stecken könnten. Siehe Müller, 2003b, Abschnitt 15 (insbes. §15.6),
Abschnitte 19–23 (insbes. §23.5). Weitere Texte zum Thema der Gehirne im
Tank habe ich ins Netz gestellt unter Www.GehirnImTank.De.
Die Diebe der Freiheit 351
Was das für den letzten dieser vier Begriffe bedeutet, um den es uns hier
in erster Linie zu tun ist, will ich im nächsten Abschnitt genauer be-
leuchten.
4. Woran Libets eingetankte Kollegen scheitern
Ich behaupte: Kein noch so drastisches Libet-Experiment der Tank-
wissenschaft könnte etwas darüber besagen, ob die wirklichen Ent-
scheidungen der eingetankten Versuchspersonen frei sind oder nicht –
denn das hinge von den tatsächlichen Bereitschaftspotentialen der ein-
getankten Gehirne selbst ab (die deren empirischen und sprachlichen
Zugriff entzogen sind) und nicht von den Bit-Bereitschaftspotentialen
irgendwelcher Bit-Gehirne im Simulationscomputer.
An diesem Punkt drängt sich ein Einwand auf. Er ist einigermaßen
lang und lautet: Wenn wir in unserer Sprache von den „Entschlüssen“,
„Entscheidungen“ und „Willensakten“ des eingetankten Gehirns reden,
dann meinen wir damit die echten neuronalen Prozesse im fraglichen
Gehirn, nicht die bit-neuronalen Prozesse im Bit-Gehirn. Und diese
echten neuronalen Prozesse, für die wir uns also interessieren, kann in
der Tat kein eingetankter Wissenschaftler empirisch untersuchen, denn
dessen Libet-Experimente setzen bloß am Bit-Gehirn an. Nur: Die seit
Beginn ihrer Existenz eingetankten Neurowissenschaftler bedienen sich
ihrer eigenen Sprache, und in der Tanksprache bezeichnen dieselben
Wörter („Entschlüsse“, „Entscheidungen“, „Willensakte“) etwas an-
deres – nicht die echten neuronalen Prozesse, die sich in echten Ge-
hirnen abspielen, sondern (eine Ebene tiefer) gewisse bit-neuronale
Prozesse in Bit-Gehirnen.23 Demzufolge bietet das tanksprachliche
Resultat:
(2) Jede willkürliche freie Entscheidung ist von spezifischen Bereit-
schaftspotentialen determiniert, die sich aufbauen, lange bevor uns die
Entscheidung bewusst wird,
eine korrekte Beschreibung der tatsächlichen Lage. Denn bei angemes-
senem Verständnis dieses tanksprachlichen Satzes müssen wir dessen
23 Wer dagegen seit kurzem im Tank steckt, spricht immer noch unsere Sprache,
die er ja unter normalen Umständen gelernt hat, mithilfe von Kausalketten zu
den echten Dingen außerhalb des Computers. (Auf dieser Tatsache beruht
meine Antwort auf den Einwand aus Abschnitt 3.)
352 Olaf L. Müller
Übersetzung in unsere Sprache betrachten und auswerten, und hierfür
sind alle einschlägigen Wörter umzuinterpretieren:
(2ü) Jede willkürliche freie Bit-Entscheidung ist von spezifischen Bit-
Bereitschaftspotentialen determiniert, die sich aufbauen, lange bevor
uns die Bit-Entscheidung bit-bewusst wird.
Fazit des Einwandes: Auch in der Tankwissenschaft führen wahrheits-
gemäße Beobachtungen à la Libet zu korrekten Verdikten gegen das,
was die Tankwissenschaftler „Entscheidungsfreiheit“ nennen. Wenn das
richtig wäre, könnte ich das Tankszenario nicht wie geplant heranzie-
hen, um den parallelen Schluss unserer Neurowissenschaftler zu kriti-
sieren. Denn diese Kritik kann nur überzeugen, wenn sie einen Schluss
auszuschalten versucht, der erwiesenermaßen manchmal in die Irre
führt.
Um dem Einwand zu begegnen, möchte ich genauer auf die
Übersetzung der tanksprachlichen Wörter blicken, von der er lebt. Laut
Einwand bezeichnet unser Wort „Entscheidung“ gewisse neuronale
Prozesse in echten Gehirnen, während das tanksprachliche Wort
„Entscheidung“ – eine Ebene tiefer – bit-neuronale Prozesse in Bit-
Gehirnen bezeichnet. Was ist davon zu halten? Die erste Teilbehaup-
tung meiner Gegner betrifft unsere Sprache und ist strittig; meine na-
turalistischen Gegner verstehen mentale Ausdrücke als verkappte Be-
zeichnungen für natürliche Vorgänge im Gehirn – das lässt sich meiner
Ansicht nach zwar widerlegen, aber das ist ein anderes Thema, und so
steht es in dieser Sache bis auf weiteres unentschieden.24 Anders bei der
zweiten Teilbehauptung meiner Gegner, die von der Sprache einge-
tankter Gehirne handelt, genauer, von deren Ausdruck „Entscheidung“.
Ich möchte zeigen, dass dieser tanksprachliche Ausdruck bei Überset-
zung in unsere Sprache nicht umzuinterpretieren ist. Wenn das stimmt,
dann sollte der Einwand erledigt sein. – Ein eingetankter Sprecher sagt:
(3) Ich entscheide mich jetzt zu einer Handbewegung.
Was bedeutet das? Da der Sprecher keine Hände aus Fleisch und Blut
steuern kann, wohl aber Bit-Hände aus Nullen und Einsen, steht eines
fest. Die angemessene Übersetzung von (3) in unsere Sprache muss von
24 Genauer gesagt, kann meiner Ansicht nach folgende Behauptung widerlegt
werden: „Mentale Ausdrücke bedeuten begrifflich (d. h. analytisch) dasselbe
wie bestimmte Ausdrücke für natürliche Vorgänge im Gehirn“. Die Wider-
legung einer solchen Behauptung wird exemplarisch vorgeführt in Müller,
2007 (i. Ersch.), 146 – 149.
Die Diebe der Freiheit 353
Bit-Händen handeln. Aber wie steht es mit dem Anfang des Satzes?
Wenn der eingetankte Sprecher damit nur gewisse kybernetische Er-
eignisse im Bit-Gehirn meinen würde, dann würde er sich selber mit
einer komplizierten Speicher-Konfiguration verwechseln (mit dem Bit-
Gehirn). Dieser (untergeordneten) Speicherkonfiguration würde er alle
diejenigen Aktivitäten zuschreiben, die er bei Lichte besehen auf einer
höheren Ebene selbst vollzieht – in seinem Gehirn!
Da sich diese Angelegenheit nicht leicht durchschauen lässt, will ich
sie von einer anderen Seite beleuchten. Wenn Gehirne im Tank aktiv
werden und Veränderungen ihrer Außenwelt bewirken (nämlich Ver-
änderungen in den Inhalten des Universalspeichers), dann fühlt sich das
für sie genauso an wie für uns, wenn wir Veränderungen unserer Au-
ßenwelt bewirken; auch spielt sich dann in ihrem Gehirn dasselbe ab
wie in unserem Gehirn; zudem bedienen sich die eingetankten Gehirne
genau derselben voluntativen Vokabeln wie wir; und sie beachten dabei
dieselben Regeln wie wir. Der einzige Unterschied zwischen einge-
tankten Willensentscheidungen und unseren Willensentscheidungen
besteht im Aktionsradius dieser Entscheidungen: Wir bewirken durch
unsere Entscheidungen Änderungen in der Außenwelt – die einge-
tankten Gehirne Änderungen im Universalspeicher des Simulations-
computers (eines kleinen Ausschnitts unserer Außenwelt). Um diese
Unterschiede beim Übersetzen angemessen wiederzugeben, genügt es,
den tanksprachlichen Satz:
(3) Ich entscheide mich zu einer Handbewegung,
so zu übersetzen:
(3ü) Ich entscheide mich zu einer Bit-Handbewegung,
ohne Änderung des schwierigen Ausdrucks „ich entscheide mich“. Die
Übersetzung meiner Gegner:
(3ü’) Ich bit-entscheide mich zu einer Bit-Handbewegung,
entspringt dem übereifrigen Bedürfnis, alle Vokabeln der Tanksprache
so zu behandeln wie deren naturwissenschaftliche Vokabeln. Was sind
denn Bit-Entscheidungen? Hirngespinste meiner Gegner! Wenn es Bit-
Entscheidungen gibt, dann sind das vermutlich ganz bestimmte bit-
neuronale Ereignisse im Bit-Gehirn, die einen gewissen Output be-
354 Olaf L. Müller
wirken.25 Die angebliche Übersetzung (3ü’) wäre also in Wirklichkeit
eine Abkürzung für:
(3ü*) In meinem Bit-Gehirn spielen sich gewisse bit-neuronale Er-
eignisse ab, die zu einer Bit-Handbewegung führen.
Aber das bietet keine gute Übersetzung des Satzes (3); es bietet allenfalls
die Übersetzung eines anderen Satzes:
(3*) In meinem Gehirn spielen sich gewisse neuronale Ereignisse ab,
die zu einer Handbewegung führen.
Und an der Übersetzung dieses Satzes waren wir nicht interessiert; uns
interessierte der ursprüngliche Satz:
(3) Ich entscheide mich zu einer Handbewegung.
Diesen Satz haben unsere Neurowissenschaftler im Auge, wenn sie uns
die Entscheidungsfreiheit abspenstig machen wollen. Wenn sie sich
stattdessen mit dem Satz (3*) begnügten, so läge gar kein Angriff auf die
Entscheidungsfreiheit vor. Nur wenn sie das gefährliche Wort „Ent-
scheidung“ in den Mund nehmen, können sie ihren Angriff lancieren.
Ein weiterer Einwand gegen meine Überlegung versucht auf einem
anderen Weg, den tanksprachlichen Schluss von der neurowissenschaft-
lichen Behauptung:
(4) Das Bereitschaftspotential hat sich 350 Millisekunden vor dem
Zeitpunkt aufgebaut, den das Protokoll des Probanden als Zeitpunkt
der bewussten Entscheidung angibt,
zur folgenden weitergehenden Behauptung zu verteidigen:
(5) Also: Das Bereitschaftspotential baute sich 350 Millisekunden vor
der bewussten Entscheidung auf.
Der Einwand sagt nichts gegen meine Übersetzungsvorschläge der
beiden Sätze in unsere Sprache:
25 Dass unter diesen Vorzeichen sowieso keine plausible Übersetzung entstehen
kann, lehrt auch ein kleiner Blick auf die Pragmatik: Wir und die Gehirne im
Tank benutzen den Ausdruck „entscheiden“ nicht immer zum Zweck der
Beschreibung (sozusagen im Regierungsbereich von Freges Urteilsstrich).
Vielmehr drücken wir mit seiner Hilfe oft ganz andersartige Sprechakte aus,
etwa wenn es nach dem Verfahren heißt: „Das Hohe Gericht entscheidet…“
Dies zusätzliche Problem meiner Gegner will ich hier nicht weiterverfolgen.
Die Diebe der Freiheit 355
(4ü) Das Bit-Bereitschaftspotential hat sich 350 Millisekunden vor
dem Zeitpunkt aufgebaut, den das Bit-Protokoll als Zeitpunkt der
bewussten Entscheidung angibt.
(5ü) Also: Das Bit-Bereitschaftspotential baute sich 350 Millisekunden
vor der bewussten Entscheidung auf.26
Vielmehr behauptet der Einwand im Einklang mit meinen Überset-
zungen, dass die beiden Sätze wahr sind. Verhielte es sich so, dann wäre
es mir nicht gelungen, einen Fall zu beschreiben, in dem der Schluss
von Wahrem zu Falschem führt, und meine Kritik am gleichlautenden
Schluss unserer Neurowissenschaftler verlöre ihre Überzeugungskraft.
Dass der Ausgangspunkt (4ü) des tanksprachlichen Arguments wahr
ist, liegt (sagt der Einwand) auf der Hand: Wir haben die Bit-Gehirne
(genau wie den ganzen Rest des Bit-Universums: des Universalspei-
chers) als isomorphes Abbild dessen konstruiert, was eine Ebene höher
der Fall ist. ( Jedem Elektron, Proton, Neutron unserer Welt entspricht
ein Bit-Elektron, Bit-Proton, Bit-Neutron im Universalspeicher; den
räumlichen und topologischen Beziehungen zwischen den Elementar-
teilchen unserer Welt entsprechen gleichstrukturierte Beziehungen
zwischen den Namen der Speicherplätze, in denen ihre Codes abge-
speichert sind; also hat alles, was bei uns aus Elektronen, Protonen und
Neutronen zusammengesetzt ist, ein isomorphes Gegenstück im Uni-
versalspeicher und gehorcht parallelen Gesetzmäßigkeiten.)
Zwar können (sagt der Einwand weiter) eingetankte Neurowis-
senschaftler ihre eigenen Bereitschaftspotentiale nicht direkt empirisch
untersuchen – aber ihre empirischen Untersuchungen der Bit-Bereit-
schaftspotentiale betreffen exakt isomorphe Strukturen. Alle empiri-
schen Ergebnisse auf dieser untergeordneten Ebene sind mithin un-
trügliche Anzeichen für die parallelen Verhältnisse auf der darüberlie-
genden Ebene; dafür sorgt die Isomorphie, die wir von Anbeginn in das
Szenario der eingetankten Gehirne hineingesteckt haben. Also gibt es
(triumphiert der Einwand) auf der Ebene echter Gehirne keinen zeit-
lichen Spielraum für Entscheidungsfreiheit, denn dort bauen sich die
Bereitschaftspotentiale ebenfalls zu früh auf.
Auf diesen Einwand antworte ich in drei Schritten. Im ersten Schritt
gebe ich zu, dass der strittige tanksprachliche Schluss von (4ü) auf (5ü) bei
26 Warum zeitliche Vokabeln der Tanksprache bei Übersetzung in unsere Sprache
nicht verändert zu werden brauchen, habe ich anderswo angedeutet (Müller,
2003b, §22.16).
356 Olaf L. Müller
vollkommener Isomorphie zwischen übergeordneter Welt und Universal-
speicher des Simulationscomputers tatsächlich von wahren Vorausset-
zungen zu einer wahren Konklusion führen würde. Aber selbst in dieser
Situation sollten wir uns (zweiter Schritt) nicht auf die Zulässigkeit des
fraglichen Schlusses verlassen; es gibt viele unzulässige „Schlüsse“ von
wahren Prämissen zu wahren Konklusionen. Schlüsse sind nur zulässig,
wenn die Konklusion wahr sein muss, falls die Prämissen wahr sind. Und
es ist leicht einzusehen, warum dieser enge Zusammenhang zwischen
Prämissen und Konklusion in unserem Fall fehlt: Die eingetankten
Neurowissenschaftler untersuchen Bit-Gehirne (Prämisse) und haben
mit ihrer Konklusion nur recht, wenn es bei echten Gehirnen struk-
turell genauso zugeht wie bei Bit-Gehirnen. Muss das so sein? Zuge-
geben, wir haben unsere Geschichte so konstruiert, dass das eine iso-
morph zum anderen passt. Aber nichts hält uns davon ab, die Geschichte
leicht zu verändern: Damit bin ich beim dritten Schritt meiner Antwort
auf den Einwand. Anders als bislang bieten die Codes im Universal-
speicher diesmal kein vollst!ndig isomorphes Abbild der Elektronen,
Protonen und Neutronen unserer Welt. Vielmehr soll für unsere neue
Fassung der Geschichte nur außerhalb der Gehirne bzw. Bit-Gehirne
Isomorphie walten. Wir stellen uns also auf unserer Ebene eine Welt
vor, in der alle Libet-Experimente mit echten Gehirnen scheitern. Bei
allen Gehirnen aus Biomasse (so wollen wir annehmen) baut sich das
Bereitschaftspotential erst auf, nachdem den Gehirnen die jeweilige
Entscheidung bewusst vor Augen steht. (Niemand wird bestreiten, dass
wir uns eine solche Situation kohärent vorstellen können – die aller-
meisten von uns hätten sogar mit diesem beruhigenden Ergebnis der
Libet-Experimente gerechnet. Die tatsächlichen Versuchsergebnisse
waren überraschend, darum sind gegenteilige Versuchsergebnisse je-
denfalls denkbar. Das genügt für unsere Zwecke.)
Um nun die Isomorphie zwischen übergeordneter Wirklichkeit und
Bit-Wirklichkeit genau bei den Gehirnen zu durchbrechen, wollen wir
annehmen, dass die eingetankten Libet-Experimente (anders als ihre
ausgetankten Gegenstücke) nicht scheitern: Bit-Bereitschaftspotentiale
bauen sich auf, lange bevor den Versuchspersonen die Entscheidung zur
Bit-Handbewegung bewusst wird.
An dieser Stelle drängt sich ein kniffliger Einwand für Freunde des
Denksports auf. Er besagt, dass die soeben ins Auge gefasste Reihenfolge
der Ereignisse unmöglich realisiert werden kann: Wenn zuerst die freie
Entscheidung des eingetankten Gehirns da sein und sich erst danach das
Bereitschaftspotential an diesem Gehirn aufbauen soll, dann kann erst
Die Diebe der Freiheit 357
nach Aufbau dieses Bereitschaftspotentials ein entsprechendes Signal zum
Universalspeicher gelangen und ins zugehörige Bit-Bereitschaftspoten-
tial umgerechnet werden. (Denn natürlich wird der Simulationsalgo-
rithmus nicht vorhersehen können, zu welchen freien Entschlüssen sich
das Gehirn durchringt, das er mit neuronalem Input versorgt.) Kurzum,
die bewusste Entscheidung muss auf jeden Fall früher auftreten als das
Bit-Bereitschaftspotential, und die eingetankten Bit-Experimente à la
Libet können nur dasselbe Ergebnis bringen wie deren ausgetankte
Gegenstücke; Freiheit auf der oberen Ebene zieht automatisch Freiheit
in der simulierten Welt nach sich. Um den Einwand zu entkräften,
müssen wir uns genauer vor Augen führen, wie Libets ursprüngliches
Experiment angelegt war. Die Zeitmessung subjektiver Ereignisse
funktioniert nicht so einfach, wie es vom Einwand vorausgesetzt wurde.
Im Gegenteil, Libet schlug vor, die Zeitangaben seiner Probanden
systematisch zu korrigieren, indem er sie mit den Ergebnissen eines
anderen Experiments abglich. Hierfür wurden dieselben Probanden
gebeten, wieder durch Blick auf die schnelle Uhr festzuhalten, wann sie
den subjektiven Eindruck hatten, dass ihre Hand einen bestimmten
Reiz empfangen hat, der ihnen in einem zufälligen Moment von außen
versetzt wurde (Libet et al., 1983, 625).
Diese Zeitangaben waren zwar genauso subjektiv wie die Zeitan-
gaben fürs Bewusstsein der Willensentscheidung, aber anders als diese
ließen sie sich objektiv überprüfen. Es kam heraus, dass der subjektiv
festgehaltene Eindruck einen zu fr"hen Zeitpunkt liefert (der also vor
dem tatsächlichen Zeitpunkt der Stimulierung liegt).27 Daher hat Libet
in Betracht gezogen, die subjektiven Zeitangaben seiner Versuche sys-
tematisch durch Addition eines Zeitbetrages von etwa 50 Millisekunden
so zu korrigieren, dass immer ein späterer Zeitpunkt herauskam, als
seine Versuchspersonen angaben (Libet et al., 1983, 631).28
27 Libet et al., 1983, 630 f. Wie kann man sich dieses überraschende Ergebnis
erklären? Hier ist eine Möglichkeit: Die Verarbeitung der visuellen Uhrein-
drücke kostet Zeit, genau wie alle anderen Verarbeitungsprozesse im Gehirn; in
dem Moment, wo diese Eindrücke ins Bewusstsein gelangen, sind sie also schon
veraltet – und veraltete Zifferblatteindrücke zeigen einen zu frühen Zeitpunkt
an.
28 Für diese Korrektur spricht die – bisher von mir nicht erwähnte – empirische
Tatsache, dass andere objektiv überprüfbare Zeitprotokolle à la Libet ebenfalls
veraltete Zeitpunkte liefern, und zwar ungefähr gleich stark veraltete (Libet et
al., 1983, 627 f., 631, 639).
358 Olaf L. Müller
Seine eingetankten Kollegen werden dasselbe tun, und mit Recht.
An dieser Stelle können wir ansetzen, um dem Einwand zu begegnen:
Wir sorgen dafür, dass der Korrekturbetrag weiter erhöht werden muss.
Wie das? Einfach: Wir verlangsamen die Signalübertragung vom Uni-
versalspeicher zum Gehirn im Tank. Denn wenn diese Informationen
deutlich mehr Zeit von der Bit-Retina zur visuellen Schnittstelle des
Gehirns im Tank verbrauchen als die entsprechenden Informa-
tionsübertragungen beim kompletten Menschen, dann werden alle
Zeitprotokolle des Versuchsaufbaus verzerrt, weil sie von bereits lange
überholten Zeigerpositionen der Bit-Uhr stammen. Das wird den
eingetankten Wissenschaftlern nicht entgehen; sie verbessern die zeit-
lichen Berichte ihrer Versuchspersonen durch Addition eines höheren
Korrekturbetrags. Und wenn wir zusätzlich das Bereitschaftspotential
am eingetankten Gehirn besonders schnell in ein passendes Bit-Bereit-
schaftspotential am Bit-Gehirn ummünzen, dann werden Libets ein-
getankte Kollegen genau den zeitlichen Ablauf herausbekommen, den
ich oben in Anspruch nehme. Kurzum, Freiheit auf der übergeordneten
Ebene lässt sich sehr wohl mit scheinbarer Unfreiheit auf der unteren
Ebene vereinbaren.
5. Metaphysische Freiheit
Wenn die Überlegungen aus dem letzten Abschnitt richtig sind,
scheitert die freiheitsfeindliche Interpretation der eingetankten Libet-
Experimente. Sie beruht zwar auf korrekten, unverdächtigen Be-
schreibungen dessen, was sich tatsächlich beobachten lässt, wie z. B.
(4’) Das Bereitschaftspotential hat sich 600 Millisekunden vor der
Fingerbewegung aufgebaut.
(4’’) Der Proband gab zu Protokoll „Die Uhr zeigte einen Zeigerstand
T, als ich mir meiner Entscheidung bewusst wurde“.
(4’’’) Den Zeigerstand T hatte die Uhr 250 Millisekunden vor der
Fingerbewegung des Probanden erreicht.
(4’’’’) Also hat sich das Bereitschaftspotential 350 Millisekunden vor
dem Zeitpunkt aufgebaut, den das Protokoll des Probanden als
„Zeitpunkt seiner Entscheidung“ ausweist (denn: 350 = 600 – 250).
Alle diese empirischen Aussagen aus der Außenperspektive werden auch
im Tankszenario zuverlässig das beschreiben, wovon sie handeln (Bit-
Bereitschaftspotentiale, Bit-Finger, Bit-Uhren, Bit-Protokolle). Aber
die hieraus abgeleitete Interpretation:
Die Diebe der Freiheit 359
(5’) Das Bereitschaftspotential hat sich aufgebaut, bevor dem Pro-
banden seine Entscheidung bewusst wurde, und zwar 350 Millisekunden
vorher,
enthält (kursivgesetzte) Ausdrücke, deren Bezugsobjekte außerhalb der
experimentellen Reichweite der eingetankten Neurowissenschaftler
liegen, ohne dass ihnen dies auffiele. Und so kann es (wie wir gesehen
haben) den eingetankten Neurowissenschaftlern nicht auffallen, dass
Satz (5’) falsch ist, obwohl die Sätze (4’) bis (4’’’’) wahr sind.
Derselbe unbemerkte Fehler könnte sich bei freiheitsfeindlichen
Interpretationen unserer korrekten Versuchsbeschreibungen eingeschli-
chen haben. Vielleicht fällt auch uns nicht auf, dass unsere Entschei-
dungen an einem Ort stattfinden, der unserem experimentellen Zugriff
entzogen ist. Und wenn sie außerhalb unserer experimentellen
Reichweite stattfinden, dann finden sie dort vielleicht auch anders statt,
als irreführende Interpretationen hiesiger neuronaler Verhältnisse na-
helegen mögen. Vielleicht finden sie dort freier statt, als es in unseren
Experimenten scheint – nicht etwa blind verursacht vom gedankenlosen
Synapsengewitter in unseren Gehirnen.
Sie fragen, wo denn, wenn überhaupt, dieser Ort der Freiheit liegen
soll? Die Antwort lautet: nirgends, d. h. nicht in unserem räumlichen
Bezugssystem. Etwas gewagter: außerhalb unseres räumlichen Bezugs-
systems. Noch gewagter: im Jenseits.
Was heißt Jenseits? Um diese Frage in Andeutungen zu beant-
worten, möchte ich zum letzten Mal die Geschichte vom Gehirn im
Tank heranziehen. Denn die Rede vom „Jenseits“ lässt sich – aus der
Außenperspektive – besser überblicken als die parallele Redeweise in
unserer Sprache. Wenn die eingetankten Gehirne vermuten würden,
dass ihre Entscheidungen außerhalb der Grenzen dessen stattfinden, was
sie den „physikalischen Raum“ nennen (und was bei korrektem Ver-
ständnis ihrer Sprache nur der Universalspeicher des Simulationscom-
puters ist), dann hätten sie recht; sie könnten diese korrekte Vermutung
zwar artikulieren, aber sie könnten sie nicht begründen. Und genauso
hätten sie recht (im Lichte ihrer Evidenzen: unbegründeterweise), wenn
sie vermuteten, dass sich ihre Entscheidungen auf „immaterieller“
Grundlage ergeben. (Denn was sie „Materie“ nennen, besteht aus
Nullen und Einsen im Computer, und ihr Gehirn ist aus anderem Stoff
gewebt.)
Nicht anders steht es vielleicht bei uns. Wenn wir in einer analogen
Lage wie die Gehirne im Tank stecken, dann gibt es einen überge-
360 Olaf L. Müller
ordneten, ja: übernatürlichen Bereich der Wirklichkeit, in dem unsere
Naturwissenschaften nichts zu sagen haben, von dem sie nie etwas er-
fahren können und der dennoch von eminenter Bedeutung wäre. Über
diesen Bereich können wir mit der Sprache der Naturwissenschaften
nicht reden und noch nicht einmal Vermutungen anstellen. Die Me-
taphysik hat hingegen mit Ausdrücken wie „Jenseits“ einen größeren
sprachlichen Aktionsradius, aber auch sie wird uns hier kein Wissen
verschaffen. Ob es diesen übergeordneten Bereich der Wirklichkeit
gibt, lässt sich weder naturwissenschaftlich noch a priori entscheiden.
Naturalisten verneinen die Frage, aber ohne Beweis – ohne empirische
Evidenz.29 (Oder schlimmer noch, sie ignorieren die Frage aus Mangel
an Phantasie.)
Es lohnt sich vielleicht, meinen Vorschlag im Spiegel dessen anzu-
sehen, was Singer über seinen dualistischen Gegner sagt; der nämlich (so
Singer) „postuliert für die wollende Ich-Instanz einen immateriellen
Dirigenten, der das neuronale Substrat nur nutzt, um sich über die Welt
zu informieren und seine Entscheidung in Handlungen zu verwandeln.
Diese Position ist mit dem Verursachungsproblem konfrontiert und mit
bekannten Naturgesetzen unvereinbar. Sie hat den Status unwiderleg-
barer Überzeugungen” (Singer, 2004, 57). Dazu in umgekehrter Rei-
henfolge dreierlei. Erstens hat die naturalistische Behauptung, dass sich
alle realen Ereignisse innerhalb der kausalen und räumlichen Grenzen
unseres Weltalls abspielen und dass es darüber hinaus nichts gibt,
gleichfalls den Status unwiderlegbarer Überzeugungen; hier steht es eins
zu eins. Zweitens widersprechen die eingetankten Hypothesen über
„Immaterielles“ und „Übernatürliches“ nicht den im Tank bekannten
Naturgesetzen – warum muss es bei uns anders sein, wenn wir Wort für
Wort dieselben Hypothesen wiederholen? Immerhin haben wir genau
dieselben empirischen Evidenzen wie die Gehirne im Tank! Drittens zeigt
mein Gedankenspiel, wie das Verursachungsproblem gelöst werden
könnte: Was die Gehirne im Tank „immaterielle Verhältnisse“ nennen,
kann fraglos mit dem, was sie „materielle Verhältnisse“ nennen, kausal
wechselwirken, wenn es eine „höhere Kausalität“ gibt, die beide Be-
reiche umfasst. Die hçhere Kausalität aus Sicht der Gehirne spielt sich aus
29 Soll man hierauf etwa erwidern, dass jene Möglichkeit zwar denkbar sei, aber
sehr, sehr unwahrscheinlich? Das hilft nicht, denn die Wahrscheinlichkeiten,
auf die sich diese Erwiderung stützen müsste, entstammen wieder nur dem
Bereich unserer empirisch gegebenen Natur; außerhalb der Natur greifen sie
nicht.
Die Diebe der Freiheit 361
unserer Sicht innerhalb des bekannten kausalen Terrains ab, in dem wir
das Gedankenspiel aufgebaut haben. Aber es könnte, analog, für uns
noch eine höhere Kausalität geben als die, um die sich unsere Natur-
wissenschaftler kümmern. Um diese Möglichkeit zu illustrieren, die von
Naturalisten immer rundheraus geleugnet wird, habe ich das Gedan-
kenspiel vom Gehirn im Tank hier so ausführlich beschrieben. Aus der
Außenperspektive folgt das Gedankenspiel allen kausalen Vorgaben der
Naturalisten. Doch sobald sie sich auf die Innenperspektive einlassen
und sich in das Gehirn im Tank hineinversetzen, sprengt das Gedan-
kenspiel den engen naturalistischen Rahmen.
Hiergegen hat Oliver Wachsmuth (in einer elegraphischen Mittei-
lung) folgenden Einwand vorgebracht. Trotz allem bleibt es dabei, dass
die freien Entscheidungen der Gehirne im Tank das durchbrechen, was
sie „durchgängigen kausalen Determinismus innerhalb unseres Weltalls“
nennen, und zwar genau an der Stelle, wo die echten Entscheidungen
dieser Gehirne in Bit-Elektronen umgewandelt und von außen in die
Bit-Welt eingespeist werden. Zeigt dies nicht, dass Singer recht hat,
wenn er behauptet, dass sich immaterielle Freiheit nicht mit „bekannten
Naturgesetzen“ vereinbaren lasse?
Ich antworte: Sehen wir Singer zuliebe von allen Komplikationen
ab, die sich aus dem Indeterminismus der Quantenphysik ergeben,
betrachten wir also weiter von außen die newtonische Welt der Gehirne
im Tank. Ich behaupte, der Simulationsalgorithmus lässt sich so ein-
richten, dass die eingetankten Naturforscher ihre jeweiligen Bit-Ge-
hirne berechtigterweise im Griff durchgängig determinierter Kausal-
ketten sehen. Um das zu begründen, möchte ich zuerst daran erinnern,
wie schwer es ist, Kausalketten durchs chaotische Milliarden-Gewirr
von Neuronen und Synapsen tats!chlich zu verfolgen; man kann der
Kausalität nicht bei jedem Zahnrad über die Schulter schauen. Mithin
wird es im Tank keinen empirischen Beweis „durchgängiger Gehirn-
kausalität“ geben, und es fragt sich nur, ob deren Postulat berechtigt ist.
Dass dies Postulat den eingetankten Neurobeobachtungen zumindest
nie widersprechen muss, lässt sich leicht einsehen. Denn die kausale
Analyse der bit-neuronalen Vorgeschichte von Entscheidungen wird
immer nur eine kleine Zeitspanne in die Vergangenheit eindringen,
bevor sie sich im Dunkel des bit-neuronalen Chaos verliert. Beim ge-
genwärtigen Stand der Wissenschaft reicht diese Analyse bis zum Auf-
bau der Bit-Bereitschaftspotentiale zurück, was sehr grob ist angesichts
der vielen feinen Schwingungsmuster, die diesem Aufbau vorangehen
und ihn vermutlich verursachen. Aber selbst bei Verfeinerung und Aus-
362 Olaf L. Müller
dehnung dieser Rückwärtsanalysen wird sich die Spur der Kausalität
ganz sicher in irgendwelchen Details verlieren. Das letzte dann bekannte
Glied der Kausalkette heiße Y. Der Simulationsalgorithmus darf na-
türlich weder Y noch die Wirkungen von Y antasten; er muss die
echten Entscheidungen echter Gehirne (als Bit-Ereignis namens X) kurz
vor Y ins Bit-Geschehen einspeisen – und zwar ohne beobachtbare
Verletzung eingetankter Gesetzmäßigkeiten wie „Energie-, Impuls-
oder Materie-Erhaltungssatz“. Diese Gesetzmäßigkeiten lassen genug
Spielraum frei; problemlos lassen sich neuronale Netze oder Turing-
maschinen konstruieren, die den erwünschten Output X als notwendige
kausale Wirkung früherer Zustände erscheinen lassen; und es kann sehr
wohl vernünftig sein, sich auf diese Möglichkeit zu berufen, um am
Postulat der durchgehenden kausalen Determination aller Gehirnpro-
zesse festzuhalten.30
Dass diese Antwort in unserer dialektischen Lage kein Trick ist,
sollte auf der Hand liegen. Wie eingangs dargelegt, geht es mir hier
nicht um den alten Gegensatz zwischen Freiheit und abstraktem De-
terminismus. Mir geht es um die Frage, ob sich Freiheit mit den kon-
kreten Ergebnissen vereinbaren lässt, die uns von Neurophysiologen
vorgelegt worden sind oder noch vorgelegt werden könnten. Und
natürlich werden die Neurophysiologen niemals unser gesamtes Gehirn
en d$tail kausal durchleuchten können, soviel Zeit haben sie nicht.
Nichts von dem, was sie jemals konkret empirisch herausfinden werden,
wird der Idee von Freiheit aus dem Jenseits das Wasser abgraben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, dass Freiheit
aus dem Jenseits genau so oder perfekt analog funktionieren müsse wie in
dem Gedankenspiel, das ich vorgeführt habe. Nein, das Gedankenspiel
soll nur ein überschaubares Modell für Freiheit außerhalb der natürli-
chen Ordnung bieten. Laut Modell wären unsere Entscheidungen an
eine Art Übergehirn aus völlig anderem Stoff gebunden. Wir wären
30 Siehe oben Fußnote 14. – Neuauflage des Einwandes, diesmal mit Bezug auf
den Materie-Erhaltungssatz: Wird dieser Satz nicht genau in dem Augenblick
verletzt, wo sich die eingetankte Entscheidung in Bit-Elektronen verwandelt,
die von außen in die Bit-Welt eingespeist werden? – Antwort: Das hängt
abermals vom Simulationsalgorithmus ab; die Sache lässt sich auch ohne Ver-
letzung des Materie-Erhaltungssatzes programmieren. Denn die fraglichen Bit-
Elektronen können schon an passender Stelle – und (dem Energie-Erhal-
tungssatz zuliebe) mit geeigneter kinetischer Bit-Energie – abgespeichert sein,
bevor sie vom Algorithmus als bit-neuronale Signale instrumentalisiert werden,
die zu den Bit-Muskeln reisen.
Die Diebe der Freiheit 363
dann zwar Bürger zweier Welten (so wie die eingetankten Gehirne
erstens Bürger im Tank wären und zweitens Bürger im Simulations-
computer), aber diese beiden Welten wären nicht so radikal verschieden
wie in Kants berühmter oder berüchtigter Sicht der Dinge. Das macht
nichts; mit meinem Modell habe ich eine Möglichkeit vorgeführt, die
vielleicht ein bisschen besser zu verstehen ist als die Möglichkeit, der
sich Kant verschrieben hat. Wichtig ist nur eines: Sobald die Tür zu
einer einzigen solchen Möglichkeit aufgestoßen ist, entspannt sich die
Lage; wo es eine Möglichkeit gibt, da gibt es auch zwei, drei, viele
Möglichkeiten. Libets Experimente brauchen uns dann nicht mehr zu
beunruhigen; selbst wenn sie sich ad infinitum und ad libetum vermehren
sollten.31
Bibliographie
Davidson, Donald (1986): A Coherence Theory of Truth and Knowledge. In:
LePore, Ernest (Hg.): Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of
Donald Davidson. Oxford/Cambridge: Blackwell, 307 – 319.
Haggard, Patrick/Eimer, Martin (1999): On the Relation between Brain Po-
tentials and the Awareness of Voluntary Movements. In: Experimental Brain
Research (126), 128 – 133.
Kemmerling, Andreas (2000): Ich, mein Gehirn und mein Geist: Echte Un-
terschiede oder falsche Begriffe? In: Elsner, Norbert/Lüer, Gerd (Hg.): Das
Gehirn und sein Geist. Göttingen: Wallstein, 221 – 243.
31 Dieser Aufsatz bietet eine Ausarbeitung von Überlegungen, die ich unter der
Überschrift Freiheit aus dem Jenseits am 9. 11. 2002 auf der Tagung „Determi-
nismus und Freiheit in der Physik und der Philosophie“ in Iffeldorf gehalten
habe und am 20. 1. 2006 im Humanprojekt an der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften. (Den Text mit erweitertem Fußnoten-Apparat
findet man im Internet unter Www.GehirnImTank.De). Ich danke allen
Teilnehmern der beiden Diskussionen für saftige Kritik und schwierige Fragen,
die überhaupt nur in meine Seele dringen konnten dank der Einladung zwi-
schen die Stühle der Disziplinen von Harald Lesch, Wilhelm Vossenkuhl,
Bettina Walde (Iffeldorf) bzw. Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin
(BBAW): Mein herzlicher Dank an alle fünf; besonderer Dank an Volker
Gerhardt für seine Anregungen dazu, wo dem ursprünglichen Vortrag deutli-
chere Bezüge zur Neurowissenschaft gut täten. – Annika Keysers danke ich
dafür, dass sie mich gegen meinen freien Willen gezwungen hat, Libet & Co. zu
lesen; Dank an Jürgen Müller für Mühen mit Exegese, Bibliographie und
Rechtschreibreform sowie an Sabine Hassel fürs zuverlässige Abschreiben der
Bänder. Schließlich danke ich den Mitgliedern meines wissenschaftsphiloso-
phischen Kolloquiums, die mir in allerletzter Sekunde geholfen haben einzu-
sehen, welche Debatte ich besser nicht führen sollte.
364 Olaf L. Müller
Köchy, Kristian (2006): Was kann die Neurobiologie nicht wissen? Bemer-
kungen zum Rahmen eines Forschungsprogramms. In: Köchy, Kristian/
Stederoth, Dirk (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplin!res Problem. Freiburg/
München: Alber, 145 – 164.
Libet, Benjamin (1999): Do We Have a Free Will? In: Journal of Consciousness
Studies (6), 47 – 57.
Libet, Benjamin (2004): Haben wir einen freien Willen? In: Geyer, Christian
(Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 268 – 289.
Libet, Benjamin/Gleason, Curtis A./Wright, Elwood W./Pearl, Dennis K.
(1983): Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of
Cerebral Activity (Readiness-Potential): The Unconscious Initiation of a
Freely Voluntary Act. In: Brain (106), 623 – 642.
Müller, Olaf (2003a): Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder
Warum die Welt keine Computersimulation ist. Wirklichkeit ohne Illusionen.
Paderborn: Mentis.
Müller, Olaf (2003b): Metaphysik und semantische Stabilit!t oder Was es heisst, nach
hçheren Wirklichkeiten zu fragen. Wirklichkeit ohne Illusionen. Paderborn:
Mentis.
Müller, Olaf (2007, i. Ersch.): Jenseits. Eine metaphysische Provokation für
Naturalisten. In: Sukopp, Thomas/Vollmer, Gerhard (Hg.): Naturalismus:
Positionen, Perspektiven, Probleme. Tübingen: Mohr Siebeck, 137 – 154.
Putnam, Hilary (1981): Reason, Truth and History. Cambridge: Cambridge
University Press.
Quine, Willard van Orman (1960): Word and Object. Cambridge, Massachu-
setts: MIT Press.
Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von
Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Wil-
lensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 30 – 65.
Williamson, Timothy (2004): Philosophical ,Intuitions‘ and Scepticism about
Judgement. In: Dialectica (58), 109 – 153.
Wingert, Lutz (2004): Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bio-
naturalismus. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit.
Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 194 –
204.
III. Natur- und Kulturgeschichte
der Freiheit
Am (naturgeschichtlichen) Anfang
der Freiheit war das Spiel
EVA-MARIA ENGELEN
1. Einführenden Bemerkungen zu ,Spiel‘,
,Freiheit‘ und ,Notwendigkeit‘
Die Exploration des Begriffes ,Spiel‘ ist die Antwort Schillers auf die
Kantische Philosophie. Und Kants transzendentale Philosophie ist eine
Antwort auf das Problem empirischer Notwendigkeit, auf das ihn seine
Beschäftigung mit der Philosophie Humes geführt hat. Damit ist Kants
transzendentale Philosophie aber auch eine Antwort auf das Problem
der Freiheit.
Sich diesen Zusammenhang vor Augen zu führen, mag auch helfen
zu verstehen, warum die Diskussion um den freien Willen gerade in
Deutschland zu einer öffentlichen geworden ist, die über disziplinäre
Grenzen hinaus reicht.
Nach Kant gibt es eine scharfe Unterscheidung zwischen dem
moralischen Reich der Freiheit und dem empirischen Reich der Not-
wendigkeit. Am Ende seiner „Anthropologie“ (Kant, 1983a, B 319/A
321) nennt er drei Bereiche, in denen der Mensch sich als Mensch frei
gestaltet: Kultur, Zivilisation (Politik) und Moral. Alle anderen Berei-
che gehören zum Reich der Notwendigkeit und damit zu dem der
vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten der Natur oder der Logik.
Mit dieser Systematik steht Kant am Endpunkt einer Entwicklung,
die mit Descartes einsetzt. Das Reich der Notwendigkeit wird damit
vornehmlich den empirisch arbeitenden Naturwissenschaften (bzw. der
Logik) zugeordnet und das der moralischen Freiheit der Transzenden-
talphilosophie. Vor dieser Einteilung war das Konzept der Notwen-
digkeit in erster Linie ein Begriff der Logik und nicht der so genannten
Naturphilosophie, zu der vornehmlich die Physik, die Astronomie und
die später so genannte Biologie gehörten.
Indem der Begriff der Notwendigkeit zu einem der Naturphiloso-
phie wird, rückt die Freiheitsproblematik in das Zentrum philosophi-
368 Eva-Maria Engelen
scher Überlegungen. Denn wenn natürliche Vorgänge solche sind, die
sich nach notwendig geltenden Regeln oder Gesetzen vollziehen, stellt
sich die Frage, wie sich der menschliche Körper frei bestimmt bewegen
kann. Da es sich auch beim menschlichen Körper um einen natürlichen
Körper handelt, unterliegt auch dieser den Gesetzen der Natur. Wie also
kann der Mensch frei bestimmt denken, entscheiden und handeln,
wenn das menschliche Gehirn Teil dieses natürlichen und damit de-
terminierten Körpers ist?
Seit Kant ist die Frage der Freiheit wahrscheinlich das Hauptthema
der deutschen Philosophie, und so mag es kein Zufall sein, dass man
insbesondere in Deutschland auch in öffentlichen Foren die Frage des
freien Willens diskutiert. Das hinter dieser Fragestellung stehende
Weltbild hat Kant in seiner Abhandlung zur „Logik“ wie folgt be-
schrieben:
Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt,
geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen. –
Das Wasser fällt nach Gesetzen der Schwere, und bei den Tieren geschieht
die Bewegung des Gehens auch nach Regeln. Der Fisch im Wasser, der
Vogel in der Luft bewegt sich nach Regeln. Die ganze Natur überhaupt ist
eigentlich nichts anders als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach
Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit. Wenn wir eine solche zu
finden meinen, so können wir in diesem Falle nur sagen: daß uns die
Regeln nicht bekannt sind.
Auch die Ausübung unserer Kräfte geschieht nach gewissen Regeln,
die wir befolgen, zuerst derselben unbewusst, bis wir zu ihrer Erkenntnis
allmählich durch Versuche und einen längern Gebrauch unserer Kräfte
gelangen. […] Man spricht […] auch ohne Grammatik zu kennen; und
der, welcher, ohne sie zu kennen, spricht, hat wirklich eine Grammatik
und spricht nach Regeln, deren er sich aber nicht bewusst ist. (Kant, 1983b,
A 1,2)
Mit diesen Sätzen beginnt Kants Logikhandbuch für Vorlesungen.
Warum er mit den Regeln der belebten Welt beginnt, um dann über
die Regeln des Verstandes fortzufahren, mag durch den Hinweis ver-
ständlich geworden sein, dass Kant sich in einer Umbruchphase der
Zuordnung des Notwendigkeitsbegriffes zu den einzelnen Disziplinen
befindet, in welcher der zuvor hauptsächlich in der Logik verwendete
Begriff auch zu einem der Naturwissenschaften wird.
Fragen der Ethik oder der Moral und insbesondere die Begründung
der Moral gehören allerdings nicht zu den Erscheinungen in der Welt.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 369
Sie funktionieren daher auch nicht nach den Regeln oder Gesetzen der
Natur, wie Kant sie in dem angeführten Zitat beschreibt.1
Im Folgenden werde ich mich nun allerdings nicht mit der Frage
beschäftigen, wie wir die Regelhaftigkeit der Natur als dem Bereich der
empirisch zugänglichen Erscheinungen zugehörend mit dem der Frei-
heit des moralisch handelnden und verantwortlichen Menschen in
Übereinstimmung bringen können. Vielmehr werde ich fragen, ob es
stimmt, was Kant und mit ihm das deterministische Weltbild nahe
legen, nämlich dass „bei den Tieren die Bewegung des Gehens auch
nach Regeln [geschieht]. Der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft
[…] sich nach Regeln“ bewegen. Die Frage lautet mit anderen Worten:
Bewegen sich Tiere tatsächlich ausschließlich nach den ihre Bewe-
gungen bestimmenden Regeln oder haben sie, wenn auch in Grenzen,
selbst Kontrolle über ihre Bewegungen?
Für Kant endet das empirische Reich der Notwendigkeit(en) erst
bei der Freiheit des Menschen. Daher verfolgt er die hier aufgeworfene
Fragestellung nicht. Für ihn ist nur die Freiheit des Menschen ein
philosophisches Thema, nicht aber, ob Tiere immer den Gesetzen oder
Regeln der Natur unterworfen sind. Für sie gibt es in einem rein de-
terministischen und mechanistischen Weltbild keine Freiheit, d. h. keine
Kontrolle über ihre Bewegungsabläufe.
Diese Frage zu stellen ist insofern ein recht bescheidenes Anliegen,
als das Thema der Entscheidungsfreiheit des Menschen und dessen
Verantwortlichkeit für sein eigenes Tun damit noch gar nicht berührt
sind. Aber auch wenn diese Fragestellung vor dem Hintergrund so
großer Debatten bescheiden anmutet, verstößt sie doch gegen ansonsten
geteilte Grundannahmen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass wir
nicht erst auf der Ebene der menschlichen Entscheidungen nach freiem
1 Naturnotwendigkeit bei Kant ist etwa Kausalität (Verknüpfung eines Zustands
mit einem vorangegangenen nach der Regel) als transzendentale Kategorie.
Zudem können Vorgänge in der Welt nur in der Zeit vonstatten gehen, Raum
und Zeit sind transzendentale Formen der Anschauung. Da Raum und Zeit
sowie Kausalität als transzendentale Kategorien Bedingungen der Erfahrung
sind, sind sie an jeder empirischen Wahrnehmung beteiligt. Ohne diese Be-
dingungen der Erfahrung kann die Welt nicht wahrgenommen werden. Sie
sind zwar selbst nicht empirisch erfahrbar, zeigen sich jedoch nur beim empi-
rischen Betrachten der Welt. Das ist bei der Freiheit anders („die reine Ver-
nunft ist der Zeitform nicht unterworfen“), denn diese ist kein Zustand, der
den Erscheinungen mittels transzendentaler Kategorien, die sich nur beim
Betrachten der Welt zeigen, zu Grunde liegt.
370 Eva-Maria Engelen
Handeln oder dem Beginn von Freiheit fragen können, wenn ,Freiheit‘
ebenso wie ,Bewusstsein‘ oder ,Denken‘ eine naturgeschichtlich gra-
duelle Entwicklung hat, die nicht erst beim Menschen beginnt.
Eine minimale, notwendige, wenn auch nicht hinreichende Be-
dingung dafür, dass wir frei handeln können, ist die Fähigkeit, unseren
Körper kontrollieren zu können. Kontrolle bedeutet, dass ein Körper
nicht lediglich nach determinierenden Gesetzen und Reiz-Reaktions-
Mechanismen funktioniert, sondern in seinen Bewegungsabläufen von
dem Organismus selbst bestimmt wird. Was das im Einzelnen bei Tieren
bedeutet, wird im Folgenden am Beispiel des Spiels erläutert werden.
Damit schließt dieser Beitrag in gewisser Weise an Ausführungen
von Gerhard Roth2 an, in denen er u. a. die Frage der Impulskontrolle
durch den Einfluss von Gründen erörtert. In dem vorliegenden Beitrag
gehe ich allerdings davon aus, dass für Impulskontrolle nicht erst Gründe
erforderlich sind, sondern diese an der Spitze von Fähigkeiten stehen,
die dazu beitragen, Impulskontrolle auszuüben.
Mit einer Impulskontrolle, die bei der Kontrolle der Bewegungen
ansetzt, sind wir noch nicht bei der Freiheit als Selbstbestimmung aus
eigenen Gründen und aus eigenem Impuls angelangt. Aber wir be-
schäftigen uns mit Voraussetzungen dazu, nämlich damit, dass wir das
eigene Verhalten partiell kontrollieren können.
2. Notwendigkeit
Bevor ich mich den Aspekten der ,Freiheit‘ in der nun skizzierten
Weise weiter annähere, möchte ich allerdings zuvor klären, mit wel-
chen Begriffen wir operieren, wenn wir die zur Freiheit gegenteiligen
Konzepte bemühen. Die kurze Liste möglicher Bestimmungen von
Notwendigkeit oder Determiniertheit umfasst drei Punkte, von denen
ich mich im Wesentlichen nur mit den ersten beiden auseinandersetzen
werde:
1. Naturgesetze
2. Reiz-Reaktions-Mechanismen/Neuronale Reizübertragung
3. Logischer Zwang
Verstehen wir aber überhaupt genau, was mit irgendeinem der drei
Konzepte gemeint ist? Was könnte es etwa heißen, dass das Gehirn und
2 Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Roth in diesem Band.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 371
mit ihm der übrige Körper naturgesetzlich determiniert sind? Andreas
Herz3 hat Gründe dafür vorgebracht, dass deterministische Bewe-
gungsgleichungen auf der bio-physikalischen Ebene keine Anwendung
finden können, weil neuronale Prozesse stochastische Prozesse sind, die
stochastisch zu untersuchen sind. Stochastische Prozesse sind aber
Prozesse, die sich durch eine Zufallsvariable x (t) beschreiben lassen und
daher nicht deterministisch zu nennen sind. Für den stochastischen
Prozess ist der Begriff der Notwendigkeit, ohne den sich der des De-
terminismus nicht bestimmen lässt, also gerade nicht von Bedeutung.
Wichtiger ist vielmehr der des Zufalls.
Das ist auch insofern nicht verwunderlich, als der Begriff des De-
terminismus keiner ist, der für das Verständnis oder zur Erklärung von
Organismen entwickelt wurde, sondern zunächst ein erkenntnistheo-
retischer beziehungsweise physiktheoretischer Standpunkt zum Welt-
verlauf ist. Die Annahme, die dahinter steht, lautet, dass sich zwei
gleiche physikalische Systeme (in beiden Zeitachsen) bei gleichen An-
fangsbedingungen in derselben Weise verhalten. Der Weltverlauf ist,
wenn die Anfangsbedingungen gleich sind, also bestimmt; er verläuft,
wenn die Anfangsbedingungen gleich sind, notwendig so, wie er verläuft.
Erkenntnistheoretisch oder physiktheoretisch nennen wir einen solchen
Standpunkt, weil ,Notwendigkeit‘ oder ,Determiniertheit‘ keine Be-
griffe sind, die wir aus der Erfahrung gewinnen. Nicht einmal der
weniger strikte Begriff der Regularität ist einer, den wir aus den Er-
fahrungen gewinnen, die wir tagaus, tagein machen.
Denn um Regularitäten feststellen zu können, müssen wir die
Ebene des jeweils Erfahrenen immer schon verlassen haben. Beobachten
wir also beispielsweise neuronale Reizübertragungen, müssen wir, um
Regularitäten feststellen zu können, die reine Ebene der Erfahrung
bereits überschreiten. Denn auf der Ebene der neuronalen Reizüber-
tragung lassen sich zunächst nur Korrelationen ausmachen (vielleicht
auch Kausalität, aber das ist eine viel diskutierte und problematisierte
Annahme). Mit der Beobachtung von Korrelationen (oder Kausalitäten)
sind wir aber noch nicht bei der Beobachtung von Regelmäßigkeiten
angelangt. Letztere gehen nämlich mit einer logischen Verbindung
einher, nämlich der ,wenn-dann‘-Verbindung, die den Zusatz ,meist‘
erforderlich macht. Ohne die (hypothetische) Annahme der Regelhaf-
tigkeit oder Regelmäßigkeit gelangen wir allerdings erst gar nicht auf
die Ebene von wissenschaftlichen Erklärungen.
3 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band.
372 Eva-Maria Engelen
Wissenschaftliche Erklärungen dieser Art zu geben und damit auch
über Regelmäßigkeiten in der Natur Auskunft zu geben, ist die Aufgabe
der modernen Naturwissenschaften. Das kann sie aber erst, seit es auf-
grund der Theorien eines Galilei oder Newton möglich geworden ist,
genaue Voraussagen von Abläufen zu machen. Denn auch ehe diese
Theorien aufgestellt wurden, kannte man bereits den notwendigen
Verlauf beim Fall eines schweren Körpers, man konnte ihn aber nicht
vorausberechnen.4 Dieses hinreichend bekannte wissenschaftshistorische
Faktum zu betonen, ist deshalb erforderlich, weil die Definition von
,Determinismus‘ den Aspekt der Vorausberechenbarkeit gar nicht ent-
hält. In einer rein wissenschaftstheoretischen Bestimmung von ,Deter-
minismus‘ gehört ,Berechenbarkeit‘ nicht dazu.5 Die wissenschaftshis-
torische Dimension mag daher helfen zu verdeutlichen, dass für unser
Verständnis von Determinismus der Aspekt der Berechenbarkeit
durchaus zentral ist, auch wenn er nicht erforderlich ist, um ,Deter-
minismus‘ zu definieren. Denn: „Dass Prozesse voraussagbar sind,
macht die Regelhaftigkeit der zwischen ihnen bestehenden Notwen-
digkeiten sichtbar“ (Hampe, 2006, 153–174, hier 160), welche dann in
Naturgesetzen dargestellt werden.
Mir scheint es schon deshalb erforderlich, wissenschaftshistorische
Überlegungen hinzuzuziehen, weil physikalische Systeme sich auch im
Rahmen einer aristotelisch inspirierten Impetustheorie gleich verhalten,
obgleich ihnen gerade keine Vorstellung naturgesetzlicher Notwen-
digkeiten zugrunde liegt. In den neuzeitlich geprägten Wissenschaften
geht gerade die Vorstellung der Berechenbarkeit, und damit die der
Beherrschbarkeit und Nachbildbarkeit von Vorgängen, mit dem Ge-
setzesbegriff und mit der Frage der Determiniertheit einher. Da im
Rahmen des Erkenntnisinteresses der neuzeitlich geprägten Naturwis-
senschaften Erklärungen aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungen und
Gesetzesannahmen gesucht und gegeben werden, glaubt man, Recht-
fertigungsprojekte durch Erklärungsprojekte ersetzen zu können, und
das bedeutet, nur noch Ursachen, aber keine Gründe mehr anzuer-
kennen.
Daher werden auch die Zielsetzungen der Erkenntnistheorie und
der Ethik in erster Linie an zu gebenden Erklärungen ausgerichtet.
Konsequent wäre es in diesem Sinne, wenn es, wie Michael Hampe
treffend formuliert, eine einzige Notwendigkeit gäbe, der ebenso die
4 Vgl. etwa (Hampe, 2003, 10).
5 Siehe die Bestimmung des Begriffs ,Determinismus‘ oben.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 373
Beschlüsse des Geistes unterliegen wie die existierenden Dinge, weil
sich ein naturalistischer Szientismus oder Naturalismus auch auf den
Bereich des Normativen bezieht. Ziel all dieser Naturalismen ist
eine Täuschung über die normative Macht des Menschen zu beheben: Da
wo vermeintlicher Weise etwas durch Begründungen und Überzeugungen
etabliert worden sei […], herrsche tatsächlich die Notwendigkeit einer
Naturgeschichte. (Hampe, 2003, 11 ff.)
Man glaubt daher, Rechtfertigungsprojekte durch Erklärungsprojekte
ersetzen zu können, obgleich man, um erklären zu können, selbst auf
Strukturen des Denkens zurückgreifen muss, die nicht in den Bereich
des Erfahrbaren gehören.
Dass die Grundannahmen und Prinzipien, wie sie in der Neuzeit
entwickelt wurden, in Bezug auf die belebte und unbelebte Materie
nicht durchgehend dieselben sind, zeigt sich jedoch auch daran, dass für
Erklärungen innerhalb der Biologie Prinzipien herangezogen werden
müssen, die in der Physik keinen Platz haben. So hat Andreas Herz
darauf hingewiesen, dass das Trial-and-Error-Prinzip der Evolutions-
theorie in deterministischen Theorien nicht vorkommen kann.6 Und
wenn solche Prinzipien für Erklärungen herangezogen werden, wird
gerade nicht davon ausgegangen, dass der Weltlauf so bestimmt und
notwendig ist, wie es ein rigider neuzeitlicher Determinismus annimmt.
Dass ein solcher Determinismus nicht zu einer nach-darwinschen
Biologie passt, müssen daher auch Neurowissenschaftler zugeben, wenn
sie nicht grundlegende Prinzipien der modernen Biologie bestreiten
wollen. Im Bereich der Biologie lässt sich ein rein deterministisches
Weltbild wohl nicht aufrecht erhalten, wenn man nicht nur diejenigen
Forschungsgebiete berücksichtigt, die nach Ernst Mayr so genannte
funktionale Erklärungen liefern, sondern auch jene, die qualitative Er-
klärungen geben.7
6 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band.
7 Während bei funktional erklärenden Ansätzen die Frage nach unmittelbaren
Ursachen eines biologischen Vorgangs forschungsleitend ist, stehen bei quali-
tativ erklärenden Ansätzen Fragen nach mittelbaren, evolutionären Ursachen,
die lediglich in einem Zeitverlauf wirken, im Vordergrund. Vgl. (Mayr, 1984,
56–59).
374 Eva-Maria Engelen
3. Freiheit
Nachdem nun einige Überlegungen zum Determinismus und dem mit
ihm einhergehenden Weltbild angestellt wurden, können weitere Er-
örterungen der Freiheitsproblematik folgen. Mögliche Bestimmungen
dessen, was Freiheit ist, wären:
1. Individuelles Freiheitsbewusstsein als menschliche Selbsterfahrung.
2. Bedeutungsvariationen. Wir können uns verschiedene Situationen
vorstellen und verschiedene Konsequenzen abwägen. Weil die
Vorstellung ursächlich für die gewählte, ausgeführte Handlung ist,
hält etwa Gerhard Roth diesen Ansatz für vereinbar mit einem de-
terminierten Gehirn als dem Organ, das für die Verarbeitung von
Bedeutung zuständig ist.
3. Vom Reiz-Reaktions-Mechanismus verschiedene Vorgänge und
Prinzipien wären etwa: Trial-and-Error als evolutionäres Prinzip
(Andreas Herz), Emotionen8, aber auch spielerische Aktionen. Ge-
meint sind damit nicht Brettspiele, sondern bspw. junge Löwen, die
sich spielerisch balgen und auf diese Weise zukünftiges „ernsthaftes“
Verhalten einüben, indem sie es ausprobieren und Freude an
Möglichkeiten haben, die sich durch ein Abweichen von reinen
Reiz-Reaktions-Schemata ergeben.
4. Selbstbewegung aus eigenem Impuls am Beispiel der bewussten
Kontrolle des eigenen Bewusstseins.9
Auf diese vier Punkte werde ich nun im Folgenden eingehen.
3.1 Individuelles Freiheitsbewusstsein als menschliche Selbsterfahrung
Zum ersten Punkt lassen sich wohl formulierte Beispiele in der Belle-
tristik finden, in denen eben diese Selbsterfahrung geschildert wird:
Ich ging in die Schule.
Dann fiel mir in der ersten Pause ein, daß es doch schöner wäre, den
Straßenarbeitern zuzusehen, als hier vergeblich herumzusitzen. Denn
schreiben konnte ich schon. Ich riß eine Seite aus meinem Heft und
schrieb auf das Blatt:
8 So auch Peter Hammerstein in seinem Vortrag „Biologische Dimensionen der
Freiheit“ am 16. September 2005 im Rahmen des Humanprojekts.
9 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Gerhardt in diesem Band.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 375
LIEBE FRAU LEHRERIN ICH BITTE MEINEM SOHN FREI-
ZUGEBEN WEIL ER HEUTE GEBURTSTAG HAT UND DAS
WOLLEN WIR FEIERN
Und setzte den Namen meines Vaters darunter. In schöner Block-
schrift.
Als die Stunde begann, brachte ich den Zettel zur Lehrerin. Die
Lehrerin las, nickte und erlaubte mir, nach Hause zu gehen. Ich war
glücklich. Und bin nicht nach Hause gegangen. (Nádas, 2006, 55)
Nun kann man solchen Schilderungen mit dem kritischen Einwand, es
handele sich bei dieser Selbsterfahrung um eine Selbsttäuschung, be-
gegnen, da wir neurologisch weder ein ,Ich‘ ausfindig machen können
noch unser Handeln durch unseren ,Willen‘, den man gleichfalls neu-
rologisch nicht ausmachen kann, oder durch Gründe beeinflussen
können.
Aber warum sollten wir voreilig in einen solchen Skeptizismus
verfallen, da die Begriffe, um die es hier geht, keine der funktional
arbeitenden Biologie sind, die sich ihrer auf wissenschaftstheoretisch
schmaler Basis bemächtigen will?
3.2 Bedeutungsvariation als Ausdruck von Freiheit
Auch den zweiten Punkt, „Bedeutungsvariationen“, werde ich an dieser
Stelle nur mit einigen wenigen Bemerkungen streifen können. Wenn
das Gehirn des Menschen als Bedeutung verarbeitendes Organ ver-
standen wird, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis neurologische
Grundlagen und Bedeutungsverarbeitung zueinander stehen. Da sich
Bedeutungssysteme nicht eindeutig formalisieren lassen, ist auch nicht
zu erwarten, dass sie sich eindeutig materialisieren lassen. Bedeutungs-
systeme wurden daher auch stets unabhängig von ihrer Materialisierung
gesehen und zwar nicht nur, weil dieselbe Bedeutung in verschiedenen
Sprachen ausgedrückt sein kann, sondern diese auch noch in verschie-
denen Medien verwirklicht sind.10
Zwar können wir nicht ohne Körper denken oder sprechen; Be-
deutung und Denken werden aber nicht von der Materialbeschaffenheit
unseres Organismus bestimmt. Bedeutung und Logik haben auch keine
eindeutigen Ursachen in der Welt, sonst müssten alle Menschen ein und
10 Man denke etwa an die Verhältnisse zwischen Laut und Schrift sowie zwischen
unterschiedlichen Sprachen, etwa Deutsch und Chinesisch.
376 Eva-Maria Engelen
dieselbe Sprache sprechen, der dieselben Bedeutungen zu Grunde lie-
gen. Tatsache ist jedoch, dass wir denselben Reizen der Sinnesorgane,
z. B. dem Bild eines Kaninchens, durchaus verschiedene Bedeutungen
unterlegen können. William Van Orman Quines berühmtem Gavagai-
Beispiel zufolge könnte jemand, der, wann immer er ein Kaninchen
sieht und Gavagai sagt, damit auch die Zeitstadien oder Teile von
Kaninchen meinen (Quine, 1980, 59–147). Quine hat sein Beispiel
zwar entwickelt, um seine These von der Unbestimmtheit der Über-
setzung zu illustrieren, das Beispiel lässt sich aber auch anführen, um zu
zeigen, dass Sinnesreize und Bedeutung nicht in einem eindeutigen
Verhältnis zueinander stehen. Das eröffnet einen Bedeutungsraum, der
auch ein Möglichkeitsraum an Bedeutungen ist, die nicht eindeutig
festgelegt sind. Die Ebene von Bedeutung und Logik ist die der Gründe,
nicht der Ursachen.
3.3 Spiel als Ausdruck von Freiheit
Der dritte Punkt soll nun am Beispiel des Spiels bei Tieren ausführlicher
untersucht werden. Ehe ich mich diesem Gegenstand eingehender
widme, ist es erforderlich, ein ,caveat‘ vorauszuschicken. Das Spiel-
verhalten von Tieren lässt sich mit naturwissenschaftlich akzeptierten
Theorien und Methoden nicht leicht fassen, weil sich nur schwer de-
finieren lässt, was ,Spiel‘ ist. Dies liegt wohl auch daran, dass intentio-
nales Vokabular bei der Definition des Begriffs ,Spiel‘ schwer zu ver-
meiden ist.
Dennoch verfügen Biologen über eine Anzahl von Kriterien, um zu
beurteilen, ob Tiere spielen oder nicht. So antwortete der am Human-
projekt beteiligte Neurobiologe Giovanni Galizia auf die Frage, ob
Bienen spielen, dass er keine Verhaltensweise bei Bienen kenne, die als
Spiel bezeichnet werden könne.11 Die Begründung seiner Antwort,
verdient eine genauere Betrachtung. Sie setzt damit ein, dass ,Spiel‘ aus
biologischer Sicht genauer definiert wird: Wie definieren wir ,Spielen‘?
Und wozu ist ,Spielen‘ gut? Für die Entwicklungsneurobiologen ist
Spiel ein Austesten von Verhaltensformen der adulten Welt durch das
Kind, was für das Kind als zweckloser Zeitvertreib, „zum Vergnügen“,
11 Vgl. zu Experimenten über das Lernen von Bienen und die Bedeutung des-
selben für die Debatten um die Naturgeschichte der Freiheit den Beitrag von
Giovanni Galizia in diesem Band.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 377
geschieht. Vergnügen ist ein emotionaler Zustand: Das Kind freut sich
beim Spielen, und Freude kann eine sehr starke positive Belohnung in
einem Lernvorgang sein, selbst bei einer einfachen Konditionierung.
Es ist jedoch nicht bekannt, dass Bienen emotionale Zustände
haben. Wohl haben sie Motivationszustände, denn sie sind motiviert zu
essen (weil sie hungrig sind), zu trinken (weil sie durstig sind) usw. Aber
Bienen zeigen keinerlei Schmerzreaktionen, geschweige denn Verhal-
tensweisen, über die wir auf emotionale Zustände schließen könnten.
Ein weiteres Merkmal der Bestimmung von Spiel ist ,zweckloses
Agieren‘. Daher muss gefragt werden, ob Bienen Verhaltensformen
zeigen, die zum Zeitpunkt der Aktion als zwecklos erscheinen. Aber
auch solche Verhaltensweisen sind nicht bekannt, weshalb der zweite
Teil der Frage, ob, wenn es solche Verhaltensformen gäbe, diese
„echtes“, d. h. zweckgebundenes, Verhalten nachahmen würden, gar
nicht mehr beantwortet werden muss.
Da Spiel eine soziale Form der Interaktion ist, sollte sie, wenn
überhaupt bei Insekten, bei Bienen gefunden werden. Schließlich sind
Bienen unter allen Insekten diejenige Art, die die komplexesten In-
teraktionen untereinander aufweist. Verhaltensweisen wie die als Spiel
beschriebenen, lassen sich jedoch bei Bienen nicht beobachten – ebenso
wenig wie andere komplexe, soziale Verhaltensweisen. Wohl lernen
Bienen schnell und gut, sich in ihrer Umgebung zu orientieren, und
bestimmte Düfte, Farben, Blüten mit Belohnung zu assoziieren. Auch
lernen Bienen komplexe Verhaltensweisen, etwa wie man effizient
bestimmte Blüten aberntet, aber erlernte soziale Verhaltensweisen sind
von ihnen nicht bekannt. Die chemische Kommunikation über Düfte
ist ebenso wie vielfältige Verhaltensweisen beim Schwänzeltanz ange-
boren. Wir wissen also nicht, ob Bienen spielen oder nicht.
Bislang wurden folgende Kriterien für die Auszeichnung einer be-
stimmten Verhaltensweise als ,Spiel‘ genannt:
– Austesten von Verhaltensformen
– Lernvorgang von sozialem Verhalten
– zweckloser Zeitvertreib, d. h. „zum Vergnügen“
Dass Bienen spielen, wird vor diesem Hintergrund aus mehreren
Gründen verneint. Erstens, weil Bienen keine emotionalen Zustände
aufweisen, zweitens, weil sie kein (zunächst) zweckloses Verhalten
378 Eva-Maria Engelen
zeigen, und drittens, weil sie kein soziales Verhalten erlernen, obgleich
sie sehr wohl in kognitiver Hinsicht lernen.12
Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem der erste
und der dritte Grund. Die Kombination von emotionalem Zustand und
sozialem Lernverhalten könnte uns drauf hinweisen, dass man zu einem
nicht unmittelbar zweckbezogenen Lernen emotionale Zustände als
Motivatoren und zur Lenkung der Handlung benötigt, was bei einem
unmittelbar zweckbezogenen kognitiven Lernen nicht in demselben
Umfang erforderlich ist. Kurz gesagt: Wenn es keinen Zweck gibt, muss
wenigstens Lust an den Abläufen und Aktionen vorhanden sein. Au-
ßerdem könnte die Einsicht, dass Bienen zwar kognitiv, aber nicht sozial
lernen, ein Hinweis darauf sein, dass die neuronale Ausstattung für so-
ziales Lernen sehr viel komplexer sein muss als für rein kognitives
Lernen.
Warum nicht unmittelbar zweckbezogenes Lernen einen Überle-
bensvorteil darstellen könnte, wird noch zu erörtern sein. Als Hypo-
these wäre zu vermuten, dass sich Vergnügen im Laufe der Naturge-
schichte eingestellt hat, um bestimmte Lernvorgänge zu motivieren, die
dem Überleben dienlich sind.
Ehe ich diese Kriterien auf die Freiheitsthematik beziehe, möchte
ich kurz auf den Lehrbuchstand der Verhaltensbiologie für Spielen
eingehen.13 Dabei zeigt sich, dass vor allem Säugetiere und Vögel
spielen, die eine relativ lange Jugendzeit haben. Nun könnte dieser
Umstand sowohl mit der komplexeren Nervenausstattung zu tun haben,
und/oder auch mit dem Umstand, dass das Einüben und Erlernen von
Sozialverhalten Zeit und damit eine lange Jugend voraussetzen.
Selbstverständlich kann auch beides zugleich von Bedeutung sein.
Die Elemente des sozialen sowie des zweckfreien Verhaltens werden
auch in den Erläuterungen der Lehrbücher als Elemente des Spiels
hervorgehoben. Denn wenn dort angemerkt wird, dass es bestimmte,
artspezifische Signale gibt, die dem Gegenüber ankündigen, dass das,
was nun folgt, Spiel ist und nicht Ernst, wird damit auf das Sozialver-
halten abgehoben. Affen zeigen das Spielsignal zum Beispiel durch eine
typische Mimik, nämlich durch das so genannte Spielgesicht (Playface)
an. Typisch ist auch, dass Affen sich, wenn sie sich auf ihren Spielpartner
zubewegen, anders bewegen als in Situationen, die keine spielerischen
sind. Sie schlenkern bzw. torkeln ein wenig, was wie ein Bewe-
12 Vgl. dazu den Beitrag von Giovanni Galizia in diesem Band.
13 Vgl. etwa (Franck, 1997).
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 379
gungsüberschwang wirkt. Bei Hunden sieht die typische Spielauffor-
derung so aus, dass sie sich vorne ducken, das Hinterteil aber in der Luft
stehen lassen. Oft springen sie in dieser Haltung ein wenig hin und her,
knurren vielleicht bedrohlich, heben die bedrohliche Wirkung aber auf,
indem sie gleichzeitig mit dem Schwanz wedeln.
Im spielerischen Bewegungsablauf können also Verhaltensweisen
und Verhaltenssignale kombiniert werden, die sich widersprechen:
abwehrendes Knurren und Kontakt bejahendes Schwanzwedeln. Diese
Kombination weicht von den im Ernstfall gezeigten Verhaltensmustern
ab. Im Spiel laufen diese Verhaltensmuster also nicht in der üblichen
Reihenfolge ab, in der auf Bedrohung nur Knurren, nicht aber
Schwanzwedeln folgt etc. Die Normal- oder Ernstverläufe sind außer
Kraft gesetzt; es eröffnet sich im wahrsten Sinne des Wortes ein
Spielraum für Verhalten.
Auch im Tierreich ist Spielverhalten keineswegs nur auf Jungtiere
eingeschränkt. Daher dient es wohl nicht nur der Einübung von zu
erlernenden Verhaltensformen.14 Dennoch lässt sich festhalten, dass die
Funktion des Spiels meistens darin gesehen wird, dass damit bestimmte
Fertigkeiten geübt oder soziale Rollen erprobt und etabliert werden.
Nach Dierk Franck (Franck, 1997, 61 ff.) gehören zur Charakte-
ristik des Spielverhaltens dementsprechend die folgenden Gesichts-
punkte:
– Dem Spiel fehlt der spezifische Ernstbezug. Beutespiele sind oft auf
ein Ersatzobjekt gerichtet. Junge Katzen spielen etwa mit einem
Garnknäuel. Flucht spielende Ratten kommen unvermittelt wieder
aus dem Bau hervor, während sie bei wirklicher Gefahr länger warten
und vorsichtig sichernd den Bau verlassen. Bei Kampfspielen wech-
seln Tiere schnell von der überlegenen in die unterlegene Rolle und
umgekehrt.
– Die Einzelelemente sind im Spiel freier kombinierbar als im Ernstfall.
Sogar Elemente aus verschiedenen Funktionskreisen (z. B. Kampf
14 Dies zeigt etwa die folgende anschauliche Beobachtung aus einer älteren Un-
tersuchung: „Ein Servalweibchen fand heraus, wie es eine Maus in eine Spalte
zurückbefördern konnte, nur um sie dann wieder hervorzuholen. Sie nahm die
Maus vorsichtig auf, trug sie dann bis zum Spalt, stieß sie mit der Pfote hinein,
angelte dann nach ihr und zog sie wieder hervor, trug sie erst ein Stück davon
und wiederholte dann das Ganze.“ (Ewer/Leyhausen, 1976, 194). Die Ley-
hausensche Erklärung für ein solches spielerisches Verhalten von erwachsenen
Tieren besagt, dass es dem Abbau aufgestauter Erregung dient. Dieses Trieb-
modell gilt heute jedoch als überholt.
380 Eva-Maria Engelen
und Beutefang) können vermischt werden. Die Elemente des Spiel-
verhaltens folgen jedoch nicht rein zufällig aufeinander, typische
Verhaltensfolgen der Ernstsituation können auch im Spiel erkennbar
sein.
– Lebenswichtige Handlungsbereitschaften hemmen das Spielverhal-
ten, sie haben absoluten Vorrang. Bei Hunger und Gefahr spielen
Tiere nicht. Deshalb spielen Tiere in Gefangenschaft, wo sie meist
sicher und satt sind, häufiger.
– Das Spiel strebt keiner Endhandlung zu. Spielverhalten ist nahezu
unerschöpflich, solange keine anderen Handlungsbereitschaften ak-
tiviert werden und hemmend eingreifen. Das Beutefangspiel einer
Katze wird nicht mit dem Erhaschen der Beute beendet, sondern ist
im nächsten Augenblick wieder neu auslösbar.
– Im Ernstfall ist bei der Verhaltensbeobachtung Spielverhalten aber oft
schwierig von anderem Verhalten abzugrenzen, weil zum einen eins
ins andere übergehen kann und zum anderen manchmal nicht klar ist,
ob es einen so genannten „Ernstbezug“ gibt oder nicht.
Die Kantische Feststellung – dass „bei den Tieren die Bewegung des
Gehens auch nach Regeln [geschieht]. Der Fisch im Wasser, der Vogel
in der Luft […] sich nach Regeln“ bewegen – passt nicht zu den
Aussagen der Verhaltensforscher, nach welchen Tiere beim Spielen eine
freie Kombination von Verhaltenselementen zeigen, bei dem es sich
keineswegs um zufälliges Verhalten handelt. Dass Verhaltensrollen er-
probt und etabliert werden, passt ebenfalls nicht zur These Kants. Ein
Tier, dessen Bewegung ausschließlich nach Regeln zustande käme,
kombinierte diese Bewegungen nicht frei.
Nun ließe sich natürlich einwenden, dass das Erproben und Eta-
blieren von Verhaltensmechanismen seinerseits nach Regeln ablaufen
könnte. An dem Kantischen Diktum, demzufolge bei Tieren die Be-
wegung nach Regeln geschieht, wäre dann nach wie vor festzuhalten,
denn auch das Ausprobieren und das Herumspielen mit Verhaltens-
weisen wäre in diesem Sinn schlicht ein regelgeleitetes Tun. Wir hätten
es lediglich mit unterschiedlichen Regelniveaus zu tun.
Wenn wir diese Annahme einmal unterstellen, bleibt dennoch die
Frage zu beantworten, warum Bewegungsabläufe, die nach festen Re-
geln verlaufen, mit Mechanismen eingeübt werden müssen, für die es
weitere Regeln gibt, welche aber dazu dienen, das eigentlich schon
festgelegte Verhalten einzuüben. Warum sollte ein festgelegtes Verhal-
ten eingeübt werden müssen?
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 381
Oder aber wir nehmen an, dass es nur Regeln für das Einüben von
Verhaltensmustern gibt, die dann, einmal eingeübt, habitualisiert ab-
laufen. In diesem Fall gäbe es keine Regelhierarchisierung, sondern nur
eine einzige Regelebene. Der Einwand, dass festgelegtes Verhalten
nicht auch noch eingeübt werden muss, träfe dann nicht.
Zunächst lässt sich allerdings durchaus vorstellen, dass sogar die
Doppelung von Regelmechanismen (festgelegtes Verhalten wird, ob-
gleich es festgelegt ist, zusätzlich auch noch eingeübt) für das Einüben
von Abläufen einen guten Sinn haben könnte. Denn es könnte sein, dass
es für einen Organismus nachteilig ist, ausschließlich einem festen,
unabänderlichen Regelwerk des Verhaltens unterworfen zu sein. In
einer Umwelt, die ständig in Veränderung begriffen ist, ist das nur für
Arten praktikabel, die über sehr große Populationen verfügen (wie
Insekten), weshalb der Verlust eines einzelnen Organismus keine große
Rolle für das Überleben der Art spielt. Ist das nicht der Fall, ist es leicht
vorstellbar, dass Umweltveränderungen Verhaltensveränderungen er-
forderlich machen. Es müsste daher bei auftretenden Umweltverände-
rungen die Möglichkeit zur Verhaltensveränderung gegeben sein. Das
den Regelsituationen angepasste festgelegte Verhalten müsste bei Ver-
änderung dieser Situationen von einem anderen Verhalten, das weniger
starr determiniert ist, abgelöst werden, damit der Organismus flexibel
auf Verränderungen reagieren kann.
Diese Flexibilität bedeutet allerdings, dass der Möglichkeitsraum als
Freiheitsraum schon in solchen Fällen angelegt ist. Das Abweichen von
angeborenen und direkt zweckbezogenen Verhaltensmechanismen,
welches kein zufälliges Abweichen ist, ist die eine Facette, die den
Möglichkeitsraum öffnet. Die andere ist das soziale Verhalten. Denn
auch Sozialverhalten verlangt flexible Reaktionen. Oder umgekehrt:
Die Möglichkeit, flexibel zu reagieren, ermöglicht Sozialverhalten. In
jedem Fall ist auch hier ein Möglichkeitsraum eröffnet, der auf das
Moment der Freiheit hinführt. Und dies gilt auch unter der Annahme,
dass es lediglich Regeln für das Erlernen und Einüben flexibler Ver-
haltensreaktionen gibt.
Neueste Arbeiten (Spinka et al., 2001) 15 zum Spiel bei Säugetieren
wählen einen funktionalistischen Ansatz, der zu diesen Überlegungen
passt. Über die Güte dieser Forschungsarbeiten kann ich allerdings keine
15 Die Autoren gehören der Ethology Group, am Research Institute of Animal Pro-
duction in Prag an.
382 Eva-Maria Engelen
weiteren Auskünfte geben. Nach diesem funktionalistischen Ansatz
erlaubt es das Spiel Tieren, flexible kinematische und emotionale Re-
aktionen auf „unerwartete“16 bzw. neue Ereignisse zu zeigen, die an-
sonsten zu einem Kontrollverlust führen würden. Die Verfasser der Studie
spezifizieren ihre Hypothese dahingehend, dass die motorische Be-
weglichkeit der Tiere durch das Spiel gesteigert wird, was es ihnen
erlaubt, sich schneller „aufzufangen“, wenn sie die Balance verlieren
oder fallen. Unter emotionalen Reaktionen verstehen die Bearbeiter
zunächst Reaktionen auf stressreiche Situationen.
Das „Unerwartete“, nicht Gewohnte, das Neue, sind Situationen,
auf die ein Organismus, der mit einem starren, determinierten Reiz-
Reaktionsmechanismus ausgestattet ist, nicht vorbereitet ist. Termini
wie das ,Unerwartete‘ oder das ,Neue‘ passen auch generell nicht zu
einem deterministisch ausgerichteten Vokabular, für welches das Den-
ken in Vorhersagbarkeit und auch Vorausberechenbarkeit (zumindest
historisch gesehen) charakteristisch ist.
Bei lebendigen Organismen, die nicht, wie Insekten, in sehr großer
Zahl vorkommen, die zudem lange Aufzuchtzeiten und eine lange
Adoleszensphase haben, könnte es laut den Verfassern für die Gat-
tungserhaltung wichtig sein, wenn sich der individuelle Organismus
durch spielerisches Einüben von flexiblen Reaktionen auf Neues vor-
bereiten kann. Die Autoren behaupten sogar, dass die Tiere in Spielen
aktiv „unerwartete“, d. h. neue Situationen hervorrufen, um für das
nicht Gewohnte zu trainieren. Die Tiere ließen daher in ihrer Bewe-
gungskontrolle nach oder brächten sich im Spiel selbst in unvorteilhafte
Situationen und Positionen. Daher wechselten im Spiel auch rasch
Phasen der Bewegungskontrolle mit kontrollierten Bewegungsabl!ufen.
Der Wechsel zwischen Kontrolle und Kontrollverlust sei kognitiv an-
spruchsvoll, was bedeute, dass es für die Fähigkeit zu spielen sowohl
phylogenetische, als auch ontogenetische Beschränkungen gäbe, und er
zudem von neuroendokrinologischen Reaktionen begleitet sei, die den
emotionalen Zustand des Vergnügens oder der Freude hervorriefen.
Ob der Wechsel zwischen Kontrolle und Kontrollverlust intendiert
ist, sei dahingestellt. Auch wenn man unterstellt, er sei nicht intendiert,
ist die Hypothese dieser Forscher über das schon Festgestellte hinaus
interessant. Denn ebenso wie die bereits angeführten Analysen gehen sie
von einer Verbindung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten
16 Der Begriff ,unerwartet‘ steht wegen der in ihm enthaltenen intentionalen
Bedeutung in Anführungszeichen.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 383
aus.17 Und emotionale Prozesse sind bereits Überschreitungen rein
deterministischer Reiz-Reaktions-Mechanismen. Sie enthalten das
Moment der Einschätzung einer Situation oder eines anderen Orga-
nismus. Und dieses Moment wird den Sozialpartnern mittels Mimik,
Stimmfärbung und Körperhaltung auch mitgeteilt. Die Weitergabe
einer Evaluation an andere ermöglicht, auch wenn sie nicht bewusst
oder intentional vorgenommen wird, andere Bewegungs- und Reak-
tionsmöglichkeiten beim Adressaten der Mitteilung, als dieser sie ohne
die Mitteilung gehabt hätte. Der Adressierte muss nicht selbst die Er-
fahrung der durch einen Anderen eingeschätzten Situation machen, er
kann aufgrund der Mitteilung reagieren. Das bedeutet aber, dass die
Reaktionsmöglichkeiten für den einzelnen Organismus ansteigen.
Dieser kann so auf viele Situationen reagieren, die er nicht selbst erlebt
haben muss, auf die er nicht unmittelbar reagieren muss. Und auch dieses
Moment der mittelbaren Evaluation, die über andere Artgenossen er-
folgt, erhöht die Kontrolle über das Umweltgeschehen und die Reak-
tionsmöglichkeiten.
Was haben diese Überlegungen zu Emotionskommunikation mit dem
Konzept der Freiheit zu tun? Es ist offensichtlich, dass Freiheit erst
durch Distanz zu unmittelbaren Notwendigkeiten möglich ist. Eine
solche Distanz ist in einem zeitlichen und räumlichen Sinne allerdings
gegeben, wenn der Organismus nicht den Notwendigkeiten unterliegt,
die die unmittelbar erlebte Situation an ihn stellt. Wenn der Organismus
sich erst gar nicht den Erfordernissen einer Situation aussetzen muss,
weil er bereits über sie informiert ist, wird ihm aus der Distanz heraus
ein entsprechend adäquates Verhalten ermöglicht, ohne dass er sich in
Gefahr begeben muss. Dies ist ein weiterer kleiner Schritt hin zur
Freiheit.
Für den Menschen bedeutet die Distanz zu Notwendigkeiten hin-
gegen oft auch die bewusste Reflexion auf Notwendigkeiten, zu der
wohl er allein in der Lage ist:
17 Zu Emotionen hat Peter Hammerstein in seinem Vortrag in Rahmen des
Humanprojekts gleichfalls ausgeführt, dass einer Emotion wie Scham ein bio-
logischer Mechanismus zu Grunde liegt, der anzeigt, dass soziale Normen
übertreten wurden. Er selbst hatte auch darauf hingewiesen, dass soziale Nor-
men dem Bereich der Kultur angehören, nicht dem der biologischen Mecha-
nismen und damit bereits einen Hinweis auf ein Überschreiten reiner biolo-
gischer Reiz-Reaktions-Mechanismen gegeben.
384 Eva-Maria Engelen
In vielen Diskussionen wird Freiheit als Gegensatz zu Zwang und Not-
wendigkeit verstanden. […] Doch besteht Freiheit […] darin, mir durch
Beschreibungskompetenzen Notwendigkeiten vor Augen zu führen, ihnen
nicht lediglich zu unterliegen, sondern mich von ihnen zu distanzieren, um
so überhaupt einen Raum für mögliche Reaktionen zu schaffen. […]
Freiheit kann […] als die Fähigkeit begriffen werden, Möglichkeiten zu
erkennen und durch subjektive Reaktionen auszufüllen. (Hampe, 2006,
172 f.)
Letzteres kann nur mittels Sprache geschehen. Obgleich auch Tiere, wie
wir gesehen haben, im Spiel Raum für mögliche Reaktionen haben, ist
das Erkennen von Möglichkeiten und das Ausfüllen dieses Möglich-
keitsraums durch subjektive Reaktionen in letzter Konsequenz wohl
dem Menschen vorbehalten. Eine solche subjektive Reaktion haben wir
in dem oben zitierten literarischen Beispiel des kleinen Grundschülers
vor Augen geführt bekommen. Angetrieben von seinen persönlichen
Wünschen, ist er in der Lage, sich seinen eigenen Spiel- oder Frei-
heitsraum für den Tag zu schaffen und in seinem Sinne zu nutzen. In
diesem Fall sind es zwar soziale und nicht natürliche Notwendigkeiten,
denen gegenüber er sich einen Freiheitsraum schafft, aber es lassen sich
auch Beispiele dafür finden, dass natürliche Notwendigkeiten über-
wunden werden. So etwa wurde es möglich, den alten Menschheits-
traum vom Fliegen zu verwirklichen, als das Gesetz der Schwerkraft
und andere physikalische Gesetzmäßigkeiten verstanden waren. Dies
zeigt, dass die herrschenden Notwendigkeiten der Natur nicht gegen
die Freiheit stehen.
3.4 Selbstbewegung aus eigenem Impuls – ein Beispiel
Schließlich möchte ich noch kurz auf die besonderen Kontroll- und
Handlungsmöglichkeiten des Menschen eingehen. Oben ist dieser As-
pekt unter Punkt 4, „Selbstbewegung aus eigenem Impuls“, am Beispiel
der bewussten Kontrolle des eigenen Bewusstseins aufgeführt. Am Ende
dieser Ausführungen werden wir sehen, dass sich die bewusste Kontrolle
über das eigene Bewusstsein nicht nur als Impuls zur Selbstbewegung
verstehen lässt, sondern auch als Spiel des Bewusstseins mit sich selbst.
Was aber ist Kontrolle des eigenen Bewusstseins? Lassen Sie mich
ein Beispiel geben, um dies zu verdeutlichen: Ich lese meinem älteren
Sohn abends im Bett laut vor, dabei denke ich an etwas ganz anderes.
Dennoch lese ich den Text korrekt vor, weiß dabei aber nicht, was ich
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 385
im Einzelnen gelesen habe. Dieses Lesen ist insofern ein bewusstes
Lesen, als ich mir vorgenommen habe, ihm vorzulesen, und sogar
während des Lesens, bei dem ich an etwas anderes denke, denken kann,
dass ich ihm eigentlich vorlese, dabei aber an etwas anderes denke, und
dass das ein bemerkenswerter Zustand ist.
Dieses „Wissen über“ ist sicher ein höherer Zustand des Bewusst-
seins. Aber was ist dieses Lesen? Wenn ich lese und die vorgelesene
Geschichte dabei bewusst mitverfolge, weiß ich in einem doppelten
Sinne, was ich tue: Ich weiß, dass ich lese, und ich weiß, was ich lese.
Wenn ich lese, ohne dass ich mitverfolge, was ich lese, weiß ich es nur
in einem einfachen Sinne. Ich weiß, dass ich die Handlung des Lesens
vollziehe, aber ich weiß im Einzelnen nicht, was ich lese. Es handelt sich
also nicht um ein einfaches Problem der Fokussierung der Wahrneh-
mung, vielmehr geht die bewusste Handlung mit einem Wissen einher,
mit dem die „unbewusste“ nicht einhergeht. Bewusstsein ist in diesem
Fall also nicht auf die Fokussierung der Wahrnehmung zu reduzieren.
Damit das so genannte unbewusste Lesen zu einem bewussten wird,
reicht es aber nicht aus, irgendeinen höheren Zustand des Bewusstseins
einzunehmen, denn derjenige Zustand, in dem ich lese und gleichzeitig
darüber nachdenke, dass ich zwar lese, aber an etwas anderes als das
Gelesene denke, ist sicher auch eine Form eines höheren Zustandes des
Bewusstseins. Entscheidend ist vielmehr, dass sich das Bewusstsein nicht
auf die Handlung oder Wahrnehmung bezieht, die gerade vollzogen
wird.
Der Vorleser-Fall zeigt nicht nur, dass Bewusstsein letztlich nicht
lediglich eine Frage der Aufmerksamkeits-Fokussierung ist. Denn mein
Bewusstsein, meine Aufmerksamkeit kann durchaus auf den Akt des
Vorlesens gerichtet sein und dennoch weiß ich nicht, was ich vorlese,
weil ich darüber nachdenke, dass ich gerade vorlese. Dieses Vorlesen ist
in einem bestimmten Sinne auch nicht „unbewusst“, denn obgleich ich
nicht weiß, was ich lese, weiß ich doch, dass ich lese.
Was lenkt meine Aufmerksamkeit in dem einen Fall auf das Lesen
und in dem anderen auf den Inhalt des Gelesenen? Es ist kein äußerer
Reiz. Denn ich kann, wie es mir beliebt, zwischen bewusstem Vorlesen
und Nachdenken über unbewusstes Vorlesen hin und her wechseln. In
diesem freien Spiel mag für mich ein Reiz liegen, der von einer anderen
Art ist als äußere Wahrnehmungsreize. Dieser Reiz mag in der Kon-
trolle liegen, die ich darüber habe, welche Aspekte mir bewusst sind
oder werden sollen. Der Wechsel lässt sich nämlich nicht dadurch er-
klären, dass ein Reiz stärker ist als der andere. Wäre letzteres der Fall,
386 Eva-Maria Engelen
könnte der Wechsel nur einmal von statten gehen und nicht wiederholt
werden.
„Impulskontrolle“ bezieht sich beim Menschen also nicht nur auf
motorische Bewegungsabläufe, sondern auch auf das Bewusstsein und in
einem weiteren Schritt, der nicht Thema meines Vortrages ist, auf das
Denken in Form von Gründen.
Diese Form der Kontrolle ist sicherlich eine andere als die Im-
pulskontrolle, über die auch Tiere beim Spiel verfügen, aber wenn man
davon ausgeht, dass auch der Geist eine Naturgeschichte hat, muss diese
mehr oder weniger kontinuierlich erzählt werden können, und das Spiel
wäre sicherlich ein guter Anfang dafür.
4. Spiel und Freiheit
Enden möchte ich diesen Beitrag mit einigen Bemerkungen zu Fried-
rich Schiller, der bereits zu Beginn erwähnt wurde. Eines der be-
rühmtesten Zitate aus Schillers #ber die !sthetische Erziehung des Menschen
lautet:
Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (Schiller, 2000, 15. Brief, NA
XX, 359) 18
Für die Bestimmung dessen, was er Notwendigkeit nennt, hat Schiller
zahlreiche Ausdrücke: den natürlichen Trieb, die natürliche Notwen-
digkeit als Gesetz, die natürliche Empfindung und das, was er den
Naturstaat nennt. Dem stellt er die Vernunft, die (gedachte) Möglich-
keit, die Freiheit, das freie Denken und den sittlichen Staat gegenüber.
Die Freiheit zeigt sich nach Schiller im (ästhetischen) Spiel, weil
dieses kreative Möglichkeiten, die Entstehung von Neuem zu Tage
bringt, und damit einen Raum der Freiheit vorführt, der wiederum die
Vernunft erst ermöglicht. Kunst, die als Geistesarbeit Tochter der
Freiheit ist, dient nach Schiller der politischen Freiheit, deren Gesetze
allein von der Vernunft zu beurteilen sind.
Die aufgeklärte Vernunft, die politische Freiheit werden also aller-
erst durch den Raum der Freiheit, der ein Raum der Möglichkeiten ist,
eröffnet. Daran haben die Natur, die Empfindung, das natürliche Spiel
18 Darauf bezieht sich auch Birgit Recki in ihrem Beitrag in diesem Band, um die
Verbindung von Natur und Mensch im Spiel herauszuarbeiten.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 387
allerdings ihren Anteil. Selbst Schiller denkt Freiheit und Natur nicht als
vollständige Gegensätze. So führt er im siebenundzwanzigsten und
damit letzten Brief der Abhandlung #ber die !sthetische Erziehung des
Menschen aus, dass das Spiel der Tiere durchaus als eine Vorstufe zur
Freiheit des Menschen zu verstehen ist.
Das Spiel der Tiere sieht er in einem Überschuss der tierischen
Kräfte begründet:
Zwar hat die Natur auch schon dem Vernunftlosen über die Nothdurft
gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit
gestreut. […] Das Thier […] spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese
Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit sta-
chelt. […] So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein
Vorspiel des Unbegrenzten, und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf,
deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang
des Bedürfnisses oder dem physischen Ernste nimmt sie durch den Zwang
des Ueberflusses oder das physische Spiel den Uebergang zum ästhetischen
Spiel und ehe sie sich in der hohen Freyheit des Schönen über die Fesseln
jedes Zweckes erhebt, nähert sie sich dieser Unabhängigkeit wenigstens
von ferne schon in der freyen Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel
ist. (Schiller, 2000, 27. Brief)
Das Spiel der Tiere erinnert Schiller demnach durchaus an eine erste
Loslösung vom Notwendigen, denn wenn das Tier nicht seinen Trie-
ben folgt und seine Bedürfnisse wie den Hunger stillen muss, werden
die vorhandenen, aber nicht genutzten Kräfte für das Spiel eingesetzt,
weil es den natürlichen Notwendigkeiten des Überlebens nicht folgen
muss, die Schiller als natürliche Fesseln oder Notwendigkeiten be-
zeichnet.
Sehr nahe, das sei noch angemerkt, kommen sich Mensch und Tier
bei Schiller dadurch allerdings nicht. Denn zuvor hatte er im drei-
undzwanzigsten Brief dargelegt, dass der Übergang von der physischen
Natur zur ästhetischen der eigentlich schwierig zu bewältigende sei,
wohingegen der vom ästhetischen Dasein zum logisch-begrifflichen und
moralischen sehr viel leichter zu vollziehen sei, weil der eigentlich
Schritt hin zur Freiheit dann bereits vollbracht ist.
Wie wichtig es ihm dennoch war zu betonen, dass es keine ei-
gentliche Kluft zwischen der (moralischen) Freiheit und den natürlichen
Notwendigkeiten beim Menschen gibt, mag man an zwei weiteren
Zitaten aus dem fünfundzwanzigsten Brief sehen. Dort betont Schiller
zum einen, dass Schönheit das Ergebnis freien Betrachtens, also der
Wahrnehmung des Menschen ist, für die er seine Physiologie benötigt:
388 Eva-Maria Engelen
Die Schönheit ist allerdings das Werk der freyen Betrachtung, und wir
treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne
darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bey Erkenntnis und Wahrheit
geschieht.
Und zum anderen sieht er es als unbefriedigend an, dass die Philosophen
nichts weiter tun, als die Vernunft in normativer Weise für geboten zu
erklären:
wie denn auch wirklich die Analysten keinen bessern Beweis für die
Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen, als
den, daß sie geboten ist. (Schiller, 2000, 25. Brief)
Dafür, dass wir hinter Schiller nicht zurückgehen und uns daher der
Frage nach der Naturgeschichte der Freiheit stellen sollten, sind in
diesem Beitrag einige Überlegungen angestellt und Gründe vorgebracht
worden. Die wichtigsten waren, dass weder die Physik noch die Bio-
logie, durchgehend einen Begriff des Determinismus vertreten, wie er
formuliert wird, wenn die Möglichkeit zum freien Handeln geleugnet
wird. Am Beispiel des Spiels sollte zudem gezeigt werden, dass wir auch
aufhören müssen, Tiere, insbesondere höhere Säugetiere, als determi-
nierte Automaten zu verstehen, wie es Descartes uns vorgegeben hat.
Wenn wir allerdings Tiere nicht als determinierte Automaten verstehen,
dann sollten wir den Menschen erst recht nicht so verstehen.
Bibliographie
Ewer, Rosalie F./Leyhausen, Paul (1976): Ethologie der S!ugetiere. Berlin/
Hamburg: Paul Parey.
Franck, Dierk (1997): Verhaltensbiologie. Stuttgart/New York: Thieme.
Hampe, Michael (2003): Natur, die wir sind. Über einige Spielarten des Na-
turalismus. In: Neue Rundschau (114), 9 – 20.
Hampe, Michael (2006): Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko.
Berlin: Siedler.
Kant, Immanuel (1983a): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Wei-
schedel, Wilhelm (Hg.): Immanuel Kants Werke in zehn B!nden. Bd. 10.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 399 – 690.
Kant, Immanuel (1983b): Logik. In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Immanuel
Kants Werke in zehn B!nden. Bd. 5. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
gesellschaft, 423 – 567.
Mayr, Ernst (1984): Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt,
Evolution und Vererbung. Berlin/Heidelberg/New York: Springer.
Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel 389
Nádas, Peter (2006): Ein Lügner, ein Betrüger. In: Nádas, Peter (Hg.): Frei-
heits"bungen und andere Kleine Prosa. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag,
55 – 60.
Quine, Willard Van Orman (1980): Wort und Gegenstand. Stuttgart: Reclam.
Schiller, Friedrich (2000): #ber die !sthetische Erziehung des Menschen. Stuttgart:
Reclam.
Spinka, Marec/Newberry, Ruth C./Bekoff, Marc (2001): Mammalian Play.
Training for the Unexpected. In: Quarterly Review of Biology (76), 141 –
168.
Technik und Natur
Eine neue Dialektik der Aufklärung
oder: Wie es der weißen Frau möglich wird,
den Affen zu lieben
BIRGIT RECKI
Unter den Kinogängern dürften die Rousseauisten eine verschwin-
dende Minderheit bilden. Wer seine Passion auf die avancierteste
Technik der Sichtbarkeit baut, wird gegen die Verklärung des Natür-
lichen ein stark begründetes Misstrauen hegen. Das könnte sich jetzt –
mit der zunehmenden Qualität der computeranimierten Filmproduk-
tion – ändern. Gerade die Technikbewussten und von den Techniken
artifizieller Darstellung Begeisterten unter den Cineasten haben in
einem Film wie Peter Jacksons „King Kong“ aus dem Jahr 2005 einen
Anlass, ihre Sicht der Natur und das Verhältnis von Natur und Kultur
noch einmal zu überdenken.
Echte Körper – wirklich
Mit dem neuen „King Kong“, der trotz großer Nähe zur gemeinsamen
literarischen Vorlage (Wallace et al., 2005) den Kultfilm von 1933 weit
hinter sich lässt, ist eine bisher unbekannte wirklichkeitssuggestive
Qualität der Körperlichkeit von computeranimierten Wesen in die Welt
gekommen, von Wesen wie bezahnten Mollusken, Rieseninsekten,
Dinosauriern und – dem mythischen Gorillagott. Während die Dinos
im historischen Film in wohlweislicher Distanz durch Hinter- und
Mittelgrund des Bildes schwanken – weil sie nämlich mit ihrer kon-
ventionellen Zackenlitze auf dem Rückgrat noch aussehen wie die
Anwärter auf eine Rolle in „Siegfried und der Drache“ –, wird der
Zuschauer im neuen „King Kong“ mit den menschlichen Protagonisten
gleichsam zwischen die Füße der panischen Tiere und damit in einer
hochdramatischen Verfolgungsjagd mitgerissen, bei der es evident wird:
Hier sind sie. Sie sind nicht von Pappe und schon gar nicht bloße
392 Birgit Recki
Trickzeichnungen oder Pixels – sie sind räumlich, sie sind körperlich,
sie sind tonnenschwer, die Fleischmassen ihrer die Erde stampfenden
Beine wabern und beben bei jeder Bewegung, und wenn sie stürzen,
dann wuchten sie ausweglos mit in die Tiefe ihres schwerfälligen Falles,
was ihnen gerade im Weg ist. Im Blick auf die überraschende Qualität
dieser Animation lassen sich die nicht immer bewusst zur Disposition
stehenden Realitätskriterien unseres Weltbezuges mit einem Mal mü-
helos aus der Phänomenologie der Bilder gewinnen: Neben dreidi-
mensionaler Räumlichkeit, Masse und Gravität ist es – außer der
raumgreifenden Dynamik – auch die interne Beweglichkeit körperli-
cher Substanz, Elastizität als Indiz für Konsistenz. Ohne es zu merken,
bestätigen wir das Aristotelische Kriterium der gelungenen Fiktion und
erleben diese Ungetüme, als ob sie wirklich w!ren.
Das beseelte Tier
Durch dieselbe technische Perfektion, die das möglich macht, wird auch
die schwarze Bestie zu einem lebendigen Wesen von unseresgleichen.
Nicht nur ist der Körper, sind die Bewegungen des großen Kong die
eines animalischen Königs des Urwalds – was sich in seinem Gesicht:
um seine Nüstern und seine Mundwinkel, um seine Augen und in
seinem schlauen Blick abspielt, macht uns zu Zeugen gleichsam einer
Protogeschichte der Menschwerdung. Der mimische Ausdruck ist so
überzeugend, dass man dem New Yorker Museum of Natural History
hätte raten mögen, den neuen „King Kong“ ins Beiprogramm seiner
großen Darwin-Ausstellung (2005) aufzunehmen, um die aufklärerische
Kampagne gegen die Kreationisten durch anschauliche Indizien aus dem
vollen Leben noch zu verstärken. Wer sich, aus dem Kino torkelnd,
seinen Assoziationen unkontrolliert überlässt, der wird sich unweiger-
lich bei der Überlegung ertappen, dass der Darsteller des King Kong
doch den Oscar verdient hätte. Dem Filmtheoretiker fliegt mit dieser
Perfektion der bilderzeugenden Computertechnik hier endlich wie die
gebratenen Tauben des Schlaraffenlandes das Argument in den offenen
Mund, das ihm zur Stützung seiner hartnäckigen Behauptung noch
gefehlt hat: Weit davon entfernt, das Realitätsparadigma des photo-
graphischen Films in Frage zu stellen und etwa durch ,ein ganz neues
und anderes Paradigma‘ abzulösen, eifert die bildanimierende Compu-
tertechnik ihm vielmehr nach und kann – gerade im Streben nach der
Technik und Natur 393
perfekten Illusion der Anschauung – gar nicht anders, als es zu be-
kräftigen.
Wichtig für den neuen „King Kong“ ist daran: Durch die zauber-
hafte Lebendigkeit dieses animierten Affengesichts, durch die Glaub-
würdigkeit seiner empfindsamen und mimetischen Reaktionen, konnte
aus der Horrorgeschichte von der Bedrohung der weißen Frau durch
die zerstörerische Macht der schwarzen Bestie eine Liebestragödie von
herzzerreißender Zartheit werden. Zwar führt gemäß seiner literari-
schen Vorlage auch der „King Kong“ von 1933 bereits die frei erfun-
dene „arabische“ Weisheit im Vorspann: „Das Tier schaute ins Ange-
sicht der Schönen, seine mörderische Hand erstarrte. Und von diesem
Tag an war es wie tot.“ Doch hatte der Film tricktechnisch damals noch
nicht das Zeug, aus dieser Leitlinie der Handlung mehr zu machen als
eine trockene Behauptung: Was wir sehen, ist ein ungeschlachter
Pappkamerad, der sich ruckartig in der Kulisse bewegt, ein ausdrucks-
loses Monster, dessen gebleckte Zähne aussehen wie aus Holz geschnitzt
und weiß angemalt, und dessen Gesicht selbst bei großem Wohlwollen
eher an eine groteske Karnevalsmaske als an einen Primaten erinnert.
Kein Wunder, dass die behauptete Faszination holzschnitthaft bleibt –
und vor allem einseitig: Die weiße Frau ist bis zum Schluss von Furcht
und Entsetzen paralysiert und froh, aus der Gewalt des Affen befreit zu
werden. Das Remake von Dino de Laurentiis aus dem Jahr 1976, das
sich zu seinem Nachteil in vielem vom Plot der Vorlage verselbständigt,
intendiert jedoch auch schon ein gegenseitiges Verhältnis zwischen dem
Affen und der weißen Frau. Es kündigt sich an in ihrem Mitgefühl mit
dem überrumpelten und in die Falle gegangenen Tier und in dessen
tobsüchtigem Befreiungsversuch, als ihm im Bauch des Schiffes, in dem
es gefangen nach New York verfrachtet wird, durch das Gitter ihr Schal
vor die empfindliche Nase geweht wird und die Erinnerung entfacht.
De Laurentiis ist der einzige der drei Regisseure, der in die Geschichte
von Kongs Ergebenheit an die Schöne den Geruchssinn miteinbezieht.
Trotzdem bleibt der Film die Plausibilität dieses Verhältnisses im ent-
scheidenden Punkt schuldig: Der Körper des Gorillas ist ein künstlicher
Balg aus Plastik und Plüsch, ein Golem eher als ein Primat; das Gesicht,
das aussieht, als hätte sich ein lieber Kerl mit leuchtenden braunen
Augen eine schlechtsitzende Ledermaske über den Kopf gezogen und
Omas dritte Zähne eingesetzt, gerät insbesondere in der perspektivi-
schen Verzerrung der Kopfdrehungen regelmäßig zur schlechtgezeich-
neten Karikatur.
394 Birgit Recki
Dagegen ist die Darstellung im neuen Remake ein ästhetischer
Befreiungsschlag. In der entscheidenden Szene, als Kong die weiße Frau
von der Opferstätte der Eingeborenen abgeholt und auf seinem Berg-
vorsprung oberhalb des Waldes in Sicherheit gebracht hat, ist es die
hohe Qualität der Animationstechnik, die den korresponsiven Blick-
kontakt zwischen der im Interesse an ihrer Selbsterhaltung wachsamen
Frau und dem aufgewühlten Tier glaubwürdig macht. Bei diesem Blick,
mit dem die Frau auf die nächsten Absichten ihres Eroberers spannt,
springt der Funke über von der Wildnis in die Zivilisation und wieder
zurück, und von hier an ist es die Geschichte einer Liebe, die ihren Lauf
nimmt.
Das Schöne und das Spielerische
Das Nadelöhr, durch das diese Liebe – mit ihrer individuierenden und
humanisierenden Wirkung – hindurch muss, ist, wie der Vorspann
ankündigt und der Schlusssatz didaktisch repetiert, die Schönheit, damit
aber auch das Spiel als Ort ästhetischen Erlebens. Es gehört zu den
großen Stärken des Films, wie Peter Jackson die Wirkung der Schönheit
auf das Tier und damit die Geschichte der Humanisierung einfädelt,
indem er das Spielerische als Vermittlung von verständigungsorientier-
tem Kontakt und von wechselseitiger Sympathie inszeniert. Dies dürfte
auf gattungsgeschichtliche Befunde zurückgehen, auf Einsichten in die
spielerische Natur des Menschen,1 wie sie auch bei einigen der großen
Idealisten schon in anthropologischer Perspektive vertreten werden:
„Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur,
wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt,“ heißt es bei Schiller im fünfzehnten seiner Briefe
#ber die !sthetische Erziehung des Menschen (Schiller, 1795, 95). Das heißt
aber auch, und Schiller notiert es mit aller gebotenen Vorsicht, dass wir
überall dort, wo wir Spielerisches in der Natur antreffen, schon auf dem
Weg zum Menschlichen sind.
Der Film illustriert ebendiese Auffassung in einer atemberaubenden
Sequenz, in deren Verlauf das Spielerische entdeckt und ausprobiert,
genossen und ebenso ins existentiell Bedrohliche entgrenzt wie in den
Ernst der allgemeinen Bedeutung gesteigert wird. Die phänomenale
Naomi Watts, der wir mit der Casting-Szene in David Lynchs „Mul-
holland Drive“ die heißeste erotische Phantasie des vergangenen Jahr-
1 Siehe etwa Bataille, 1955.
Technik und Natur 395
zehnts verdanken, leistet auch hier Großes. In den Reaktionen und
Aktionen des animierten Affen sind es vier Schritte der Menschwerdung, die
uns anschaulich werden. Gleich nach der Ankunft auf dem erhöhten
Aussichtsposten vor seiner Höhle unternimmt die weiße Frau ihren
ersten Fluchtversuch und scheitert damit. Der Affe hat sie unter im-
ponierendem Gebrüll wieder in die Hand bekommen und gibt seinem
Ärger bedrohlichen Ausdruck. Sie ist entmutigt, eingeschüchtert, und
beobachtet angstvoll sein Gesicht. Sie kriegt im Blick auf seine Mimik
etwas mit von dem Anteil, den das Imponiergehabe an seinem Ver-
halten hat. Gleichsam frei nach Goethes ungeheurem Spruch fängt sie
seinen Blick auf und hält ihn fest – und besinnt sich in der kurzen
Spanne seines Innehaltens auf die gauklerischen Künste, die sie als
Darstellerin in einem Vaudeville-Theater beherrscht. Sie springt um die
eigene Achse hin und zurück, sie schlägt das Rad, sie biegt sich und
streckt sich, sie jongliert und macht ihre Männchen. Das Tier sieht dem
beweglichen Püppchen verblüfft zu, es staunt, es traut seinen Augen
nicht, blickt hektisch weg wie verlegen, blickt wieder hin. Die Wirkung
der Schönheit, das Zarte, Grazile, die Überraschungseffekte souveräner
Körperbeherrschung, die Anmut der Bewegung tun ihre Wirkung.
Can’t take my eyes off you, könnte diese Szene im Soundtrack unterlegt
sein. Wider Willen ergreift die Miene des Lachens ganz schief von
Kongs Zügen Besitz. Er grollt und schnorchelt heiter, ungläubig noch,
durch die Nase. Dann ist es passiert: Er muss lachen. Sie hat ihn
amüsiert. Der erste Schritt der Menschwerdung ist vollzogen: Er tut ihr
nichts, er will sie nur ansehen. – Nicht ganz! Denn kaum gewonnen die
neue Sensation, will er mehr davon. Als sie innehält, um sich zu ver-
schnaufen, stößt er sie locker aus dem Handgelenk, gutmütig in der
Absicht, schmerzhaft im Effekt, zu Boden. Er ist auf den putzigen
Anblick aus, den sie bietet, wenn sie sich aufrappelt. Der erste Schritt der
Menschwerdung ist demnach eigentlich: Er tut ihr nichts, er will nur, dass sie
weiterspielt. Doch das gerade erst begonnene besänftigende Spiel wird
damit bedrohlich. Er kann nicht genug davon kriegen, wie sich dieses
grazile Püppchen vor ihm abarbeitet. Sie spielt um ihre Unversehrtheit,
um ihr Leben. Da weiß sie sich nicht anders zu helfen und brüllt ihn an,
dass sie genug habe und er endlich aufhören solle. Der Anfall von
Enttäuschung und Zorn, der sich daraufhin entlädt, ist gänzlich unab-
sehbar.
Ein einfaches Naturgeschehen kommt ihr zu Hilfe: Der Affe tobt so
heftig herum, dass sich aus dem Bergmassiv über dem Höhleneingang
ein riesiger Felsbrocken löst und ihm in den Nacken fällt. Er verstummt
396 Birgit Recki
und hält inne, benommen. Wieder ist es faszinierend, wie sich ein
Vorgang in seinen Zügen Ausdruck verschafft – diesmal der innere
Vorgang der Schmerzausbreitung. Der arme Kerl leidet Arges und wird
darüber ganz kleinlaut. Und schon ist er um die Ecke und zieht sich
zurück.
Obwohl dies eigentlich das Ende des Spieles ist, dürfen wir so, wie
im Plot dieser Zufall angelegt ist, darin durchaus die glückliche Fort-
setzung der großen Initiation in das menschliche Wesen sehen. Indem
die Kausalmechanik der umgebenden Natur mitspielt, mündet die
Lektion des Spiels in den zweiten Schritt der Menschwerdung: Das ist die
Konditionierung in den Respekt vor der Entscheidungsfreiheit der
amüsanten kleinen Gauklerin: Wenn sie nicht mehr weiterspielen will,
dann darf man sie bei Strafe großer Schmerzen nicht bedrängen. Si-
cherlich eine Konditionierung; doch darum nicht die bloße hetero-
nome Mechanik. Es dürfte unstrittig sein, dass hier bereits ein Lern-
prozess in Gang kommt – Lernen zumindest als Koordination von sti-
mulus und response im Blick auf umgebende Naturbedingungen, das in
der aktiven Aufnahme von Abschwächungs- oder Verstärkungseffekten
besteht.2
Beim Wiedersehen in New York gibt es – vor der finalen Jagd der
Kampfgeschwader und Kongs tödlichem Sturz vom Empire State
Building – die wunderbare Szene, in der das Komplement zu dieser
Entdeckung des Spielerischen zu sehen ist: Nach wüstem Getobe im
Theater und auf den Straßen hat Kong seine weiße Frau wiederge-
funden, er hat sie wieder in seine große Faust genommen und sich mit
seiner diesmal glücklichen Beute in den Central Park zurückgezogen.
Hier rutscht er auf der vereisten Fläche eines Sees aus, lernt an ihrem
amüsierten Lachen, dass dieses Missgeschick lustig ist, findet Geschmack
daran, versucht es mit absichtsvollem Schwung gleich noch einmal, und
erfindet so f"r sich selbst und seine Kleine mit dem Eisschlittern auch die
spielerische Distanz ganz neu, ganz ursprünglich. Jetzt ist sie es, die
Freude hat an seinen mutwillig ungeschickten Bewegungen, und er
vollzieht, geleitet durch ihre vergnügte Reaktion, den wichtigen dritten
Schritt der Menschwerdung: Den Spielraum des eigenen Handelns wahr-
2 Es ist zu fragen, ob darin auch eine Option für einen teleologischen Natur-
begriff liegt: Muss eine Natur, die diese Spanne und damit den Spielraum
menschlicher Freiheit eröffnet, mit Kants Argument in der Kritik der Urteilskraft
als zweckmäßig gedacht werden? – Vgl. Recki, 2001: Kap. II.2 Die Nötigung
zur Teleologie und II.3 Die praktische Implikation eines ästhetischen Begriffs.
Technik und Natur 397
zunehmen und in der lustvoll tentativen Bewegung zu nutzen; nicht
nur fasziniert zu sein vom schönen Schein des Spiels, sondern – Un-
mittelbarkeit und Distanz in die souveräne Verfügung bringend – selbst
zu spielen. Hier schließt sich unter dem belustigten Blick der Geliebten
der Bogen der Identität zwischen Zuschauer und Akteur. Es ist das reine
Gl"ck.
Es gibt aber einen weiteren, vierten Schritt der Menschwerdung, der in
der Einschärfung der Bedeutung von Schönheit als etwas Ernsthaftem
besteht. Auch dieser Schritt ist im Film in symmetrischer Anlage re-
präsentiert – er erfolgt einmal in der wilden Natur des Urwalds, das
andere Mal komplementär in der Großstadt. Anlass und Gegenstand der
Erfahrung sind in schöner Symmetrie Sonnenuntergang und Sonnen-
aufgang. Am Ende des ereignisreichen Tages, an dem die Menschen-
opferung der Eingeborenen die weiße Frau in den Besitz des Affen-
gottes brachte und ihn nach der wilden Jagd durch den Urwald in die
Freiheit initiierte, sitzt er erschöpft und ruhig auf dem Felsplateau vor
seiner Höhle und blickt ins Weite – in den Sonnenuntergang. Die
weiße Frau sieht ihn an. Sie legt mit inniger Gebärde, in der sie seine
noch unartikulierte Geste des defensiven Beeindrucktseins aufzugreifen
scheint, die flache Hand auf die Brust und sagt nachdrücklich: „Wun-
derschçn!“ Die Gebärde – protosprachliche Begleitung der semantischen
Einschärfung – markiert die Aufforderung zur Kontemplation des Be-
zugsobjekts. Nur vordergründig wird durch den andächtigen Ernst
dieser Innigkeit der spielerische Charakter überschritten: In der ruhigen
Betrachtung wird der gerade erst eingeübte Eigen-Sinn des Spiels
vielmehr zum freien Spiel der Erkenntniskräfte sublimiert. Kant hatte
wie vor ihm Lessing die Metapher des freien Spiels für die ästhetische
Kontemplation in voller Absicht gewählt; denn in der selbstbestimmten
und sich selbst genügenden Betrachtung ist eine Form der Freiheit zu
sehen – „die Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der
Lust zu machen“, wie es in § 5 der Kritik der Urteilskraft heißt (Kant,
1790, 210); sie impliziert die Freiheit von willensbestimmenden Af-
fekten und Motiven aller Art.3
3 Siehe auch Recki, 2007.
398 Birgit Recki
Das Schöne und die Individualität
Das Glück der Liebe zwischen dem Affen und der weißen Frau, au-
genblickskurz wie alles Utopische, ist radikal gebunden an die Indivi-
dualität der beiden Protagonisten. Es gibt eine Sequenz, in der die
Individuierung der Affekte und Emotionen zu bewegender Anschau-
lichkeit gebracht wird: In das gefangene Tier, das – in einem Theater
am Broadway zur Schau gestellt – völlig apathisch, ja: deprimiert in
seinen Ketten hängt, kehrt unversehens das Leben zurück, als die
Protagonistin der vulgären Show vor seiner Nase aus dem Bühnenbo-
den hochgekurbelt wird, eine blonde Darstellerin im weißen Cock-
tailkleid, in der Kreuzigungspose des Opfers dem Monster szenisch
preisgegeben, so wie es die weiße Frau auf der legendären Insel beim
Menschenopfer der Eingeborenen wirklich war. Kong wird unruhig
beim Anblick dieser schlanken Blondine, deren Gestalt an die tatsäch-
liche Heldin seines Urwaldabenteuers erinnert. Die hat sich nach der
Rückkehr in die Stadt dem kommerziellen Missbrauch der Kreatur
entzogen und bleibt dem Spektakel fern. So durch die kurze Illusion des
Wiedersehens reanimiert, kennt Kongs Enttäuschung und kennt sein
Furor keine Grenzen, als er beim Blick in ein vulgäres, billig ge-
schminktes Gesicht den theatralischen Betrug wahrnimmt. Er befreit
sich tobend aus den Ketten, schlägt das zu Hunderten zählende horri-
fizierte Sensationspublikum in die Flucht, verwüstet das Theater. Es ist
exemplarisch für den rousseauistischen Effekt des Films, dass Kinogän-
ger, deren zivilisatorische Standards keinen Zweifel leiden, diese Se-
quenz mit dem Bekenntnis kommentieren, sie hätten da so etwas ge-
dacht wie: „Ja! Mach die alle platt!“ Die nichtswürdige Steigerung des
Unrechts, das der gequälten Kreatur durch die Gefangenschaft ohnehin
schon zugefügt worden ist, im Fake der einzig geliebten Mit-Spielerin
dürfte zu diesem identifikatorischen Impuls entscheidend beitragen.
Das arme Tier tobt durch die Straßen von Midtown Manhattan. Es
greift sich eine schlanke Blondine nach der anderen aus der panischen
Menge und wirft sie jedes Mal völlig enttäuscht wieder weg: Es sucht
eben nur die eine! Als sie sich dann naht, im weißen Cocktailkleid von
mythischer Lichtaureole umstrahlt, kehrt Frieden ein, und wir genießen
mit den Protagonisten die bereits geschilderte selbstgenügsame Freude
jener Schlitterpartie auf der Eisfläche des Sees im Central Park.
Technik und Natur 399
Theater und Film – die Apotheose des Kinos
(ein filmästhetischer Exkurs)
Die Puristen unter den Kinogängern neigen, womöglich snobistisch
befangen in einem literaturwissenschaftlich erprobten Topos, zu der
normativen These, ein filmisches Meisterwerk zeichne sich dadurch aus,
dass es stets auch "ber Film, "ber Kino, "ber das Medium und seine
Möglichkeiten handle. Wir haben nichts dagegen, Filme wie John Fords
„Der Mann, der Liberty Valance erschoß“, Hitchcocks „Fenster zum
Hof“, Fellinis „Achteinhalb“, Woody Allens „Stardust Memories“,
Peter Weirs „Truman Show“ und Altmans „Gosford Park“ durch diese
These gewürdigt zu sehen. Doch ist Mediumreflexivität wirklich un-
abdingbar? Wie auch immer – man muss kein Purist sein, um wahrzu-
nehmen, mit welcher gleichsam augenzwinkernden Leichtigkeit der
neue „King Kong“ diesem Kriterium Genüge tut. Die Rede ist nicht
von der Rahmenhandlung einer Filmexpedition auf die sagenhafte Insel
in der Südsee und deren Verwicklungen; sie hält sich in ihrer hand-
lungspragmatischen Buchstäblichkeit auf einem eher naiven Niveau.
Die Reflexion auf die Überlegenheit des Mediums Film erfolgt viel-
mehr durch einen so unscheinbaren wie subtilen Kunstgriff – durch die
Anstiftung des Zuschauers zu einer naheliegenden Projektion auf die
Aussage der Handlung. Zu den großen Ereignissen der Handlung ge-
hört die kathartische Sequenz der Befreiung von den Ketten und die
darauf folgende Verwüstung des Theaters. Das Publikum eleganter und
blasierter Bürger wohnt dem Furor der Kreatur mit ungläubigem
Staunen bei, in das sich mehr und mehr Schrecken und Furcht mischen.
Die Frauen sehen ihren Begleitern angstvoll fragend ins Profil, man will
es allgemein noch nicht so recht wahrhaben, dass da hier und jetzt das
volle Leben in die kunstvoll arrangierte Szene bricht, doch dann greift
Panik um sich, und jeder sucht sich zu retten, wie er kann. Bei der
großen Menge des Publikums geht es mit der Flucht ins Freie nicht so
schnell, wie es gehen sollte. Kong tobt von der Bühne herunter und
greift ins Parkett, er erkennt auf einem der Ränge den Liebhaber seiner
Geliebten, der sie auf der Insel aus seiner Obhut gestohlen und gerettet
hat und dessen Anblick seinen Zorn ins Fürchterliche steigert. Er tobt
das schräg ansteigende Parkett hoch und greift in die Ränge. Es ist eine
jener Fluchtsequenzen, bei denen sich – trotz allem identifikatorischen
Überschuss – die Spannung, der Schrecken auf den Zuschauer über-
trägt. Und während wir dies, diesen Schrecken und diese Ambivalenz
400 Birgit Recki
erleben und genießen wie der attische Theaterzuschauer die Katharsis
der Tragödie, vollziehen wir performativ die Apotheose des Kinos: Es
sind die Theaterbesucher, die von ihren Sesseln hochspritzen und da-
vonlaufen müssen. Es sind die Theaterbesucher, die von solchem Ein-
bruch der Natur in die Kunst real bedroht sind; sie sind es, für die es jäh
mit der ästhetischen Distanz ein Ende hat. Wir sind im Kino und bleiben
ruhig auf unseren Sesseln sitzen. Wir können uns dergleichen vorführen
lassen, ohne uns auch nur im mindesten bedroht fühlen zu müssen.
Während die Sicherheit des Theaterpublikums sich als bloß scheinbar
erweist, sind wir – nach Kant die elementare Voraussetzung, das
Schreckliche in der Natur als erhaben ästhetisch genießen zu können –
wirklich in Sicherheit. Im Kino.
Der edle Wilde
In allen drei „King Kong“-Filmen nimmt das Abenteuer der weißen
Frau mit dem Affengott seinen Ausgang bei der Ankunft auf jener
sagenhaften Insel, auf deren Entdeckung es der Karrierist der Expedition
(ursprünglich der bilder- und abenteuersüchtige Regisseur, bei De
Laurentiis 1976 durch den Manager einer Ölfirma ersetzt, bei Jackson
im Zuge der Rückkehr zum Original wieder der Regisseur) abgesehen
hatte. Die kleine Gruppe von Abenteurern trifft auf ein Volk von
Eingeborenen, die beim Anblick der weißen Frau sofort an das Opfer
denken, mit dem sie ihren Gott besänftigen können. Im „King Kong“
von 1933 sind diese Eingeborenen putzige Sarottimohren in Bast-
röckchen, wie gemacht zu einem Reklameplakat für ein idyllisches
Südsee-Ferienparadies; in „King Kong und die weiße Frau“ von 1976
sind sie athletische Tänzer, die sich auf phantastische Rauschdrogen und
eine sehnsuchtsvoll elastische, discogeeignete Musik verstehen. Jede
Zeit projiziert mit ihrer eigenen Sehnsucht ihre eigene Lösungsstrategie
in das Bild des edlen Wilden. Die Eingeborenen in Jacksons Remake
haben nichts Edles. Sie sind elende Existenzen mit allen Anzeichen der
Degeneration, mit zahnlosen Schlünden und entzündeten oder fisch-
blinden Augen, die Hände zu mageren Krallen verkümmert, überwu-
chert von moosig-schleimigem Haargespinst, und die in der Ekstase vor
dem großen Frauenopfer dumpf vor sich hinschunkeln. Die Passage des
Suchtrupps, der sich auf die Fährte der Entführten begibt, führt über
einen mit schauerlichen Skelettresten übersäten Platz, den die Bestie
offenbar bei ihren früheren Beutegängen zum Massaker an den Opfern
Technik und Natur 401
benutzt hat. Es sieht so aus, als läge hier die Erklärung für die völlige
Depravation dieses Eingeborenenstammes: Mythische Angst hält sie in
ihrer Zurückgebliebenheit befangen.4
Nur auf den ersten Blick liegt in dieser Darstellung eine rabiate
Absage an den romantischen Rousseauismus. Der Film kann sich die
Desillusionierung durch solchen ethnologischen Hyperrealismus aber
deshalb leisten, weil er die Entlassung der edlen Wilden aus ihrer Sys-
temstelle im vollen Umfang zu kompensieren vermag. Jede Zeit pro-
jiziert ihre eigene Sicht des Edlen auf das Wilde, so hatten wir festge-
halten, und das gilt ungeschmälert auch für den neuen „King Kong“ mit
seinen denkbar depravierten Wilden; unsere Zeit nämlich projiziert ihre
humanistischen Ideen auf das Tier als den edleren Wilden, und sie kann
dies tun, weil ihr eine Technik zu Gebote steht, die diese Projektion
trägt. Kong ist mit seiner sensiblen Mimik, seinem schnell kultivierten
Sinn für das Schöne, seiner protohumanen Intuition für das Authenti-
sche, seiner ausgleichenden Gerechtigkeit so lauter und unverdorben,
dass er die Identifikation mit dem edlen Wilden herausfordert und
aushält. Es ist die Animationstechnik in der Figur des Gorillas, die den
Verzicht auf die konventionelle Projektion erträglich macht; denn
dieser Verzicht wird im Kontext einer Verschiebung der rousseauisti-
schen Intuition auf die animalische Kreatur entschärft, und diese Ver-
schiebung kann nur gelingen, weil uns die animierten Bilder eine
glaubwürdige Identifikationsfigur bieten. Gesichtszüge, Mimik, Hand-
bewegungen, elementare mentale Aktionen und Reaktionen müssen
auf überzeugende Weise gezeigt werden – indem sie zeigen, dass da
einer das Spiel entdeckt und damit eine Handlung von selbst beginnt.
Die Schlussszene macht die Gegenprobe auf diesen Anspruch. Als
der große König der Wälder nach aussichtslosem Kampf schließlich
vom Empire State Building gestürzt ist, wird die verzweifelte weiße
Frau dort zum zweiten Mal von ihrem Liebhaber gerettet. Wirklich –
„gerettet“? Der Affengott war zu jedem Zeitpunkt der städtischen
Treibjagd der ergebene Liebhaber und umsichtige Beschützer der
kleinen weißen Frau. Er war der Held der Handlung, der edle Wilde.
Der affizierte Zuschauer bleibt trotz des unzweifelhaften happy endings
4 Zur Phänomenologie des mythischen Bewusstseins, insbesondere seiner Am-
bivalenz zwischen der Verfallenheit an den unmittelbaren Eindruck und der
Befreiung in ersten Akten der symbolischen Artikulation siehe Cassirer, 1925;
Cassirer, 1944 Kap. VII. Mythos und Religion, 116–170; siehe auch Recki,
2004 Kap. B. III. Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos, 84–108.
402 Birgit Recki
enttäuscht zurück: Er kann sich selbst im Blick auf einen intellektuellen
jugendlichen Liebhaber, der das Zeug zu einem Sympathieträger hat,
des Gefühls nicht erwehren, dass das wahre, das eigentliche Liebespaar
soeben auf tragische Weise durch den gewaltsamen Tod des Helden
entzweit worden ist.
Kleines kulturphilosophisches Postskriptum: „King Kong“
als Illustration grundlegender anthropologischer Theoreme
Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich der Film „King Kong“ von
Peter Jackson durch seine intelligente Anlage wie durch seine realisti-
sche Illusionsqualität als Illustration eines Naturalismus der Freiheit (1)
eignet, der Freiheit bereits in den Verhaltens- und Entscheidungs-
spielräumen anderer Lebewesen als des Menschen angelegt sieht und
insofern mit der Option eines Hervorgehens von Freiheit aus der Natur
den Kompatibilismus für verzichtbar hält. Insofern der Film in der
Darstellung des Lernprozesses, den der mythische Gorilla in seinem
Umgang mit der weißen Frau durchläuft, protohumane Züge expo-
niert, ist mit seiner Sicht überdies die anthropologische These vom Spiel
als Medium der Menschwerdung zur Geltung gebracht (2).
Noch eine weitere These scheint darin gleichsam bebildert und mit
Evidenz versehen: Das kulturphilosophische Theorem von der Befrei-
ung durch Symbolisierung (3), in der Ernst Cassirer den grundlegenden
und durchgängigen Sinn der Kultur ausmacht. Symbolische Formung in
allen ihren Ausprägungen hat ihre Funktion und ihren Effekt darin, „die
passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst be-
fangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzu-
bilden“, heißt es programmatisch (Cassirer, 1923, 10). In solcher Um-
bildung bildet sich durch den Distanzgewinn der Verobjektivierung für
das Subjekt zugleich jener Spielraum der Verfügung über den Gegen-
stand und sich selbst, in dem Freiheit entspringt. Übrigens: auch eine
Theorie der selbsttätigen Entlastung von der Reizüberflutung des Be-
wusstseins. Der eingängige Refrain der Philosophie der symbolischen
Formen behauptet die Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten
Ausdruck als vielförmige und mit zunehmender Reflexionsdistanz fort-
schreitende Dynamik der Freiheit. Symbolische Artikulation ist aber
nach diesem Ansatz nicht exklusiv in den Manifestationen der Hoch-
kultur zu sehen – sie reicht als Verkörperung von Sinn in einem
Technik und Natur 403
sinnlichen Medium von den elementaren Ausdrucksakten bis zu den
elaborierten Werken. Sprache, Mythos und Religion, Kunst und
Wissenschaft sind die symbolischen Formen, in denen sich je eigen-
tümliche „Modalitäten der Sinngebung“ (Cassirer, 1929, 230) realisie-
ren. Zur Sprache gehören indes auch schon die Mimik und die Ge-
bärdensprache als elementare Formen des artikulierten Ausdrucks: „Ein
äußerer Reiz greift vom Sensiblen ins Motorische über, aber dies
letztere bleibt dabei, wie es scheint, ganz innerhalb des Gebiets der
bloßen mechanischen Reflexe, ohne daß sich in ihm vorerst eine hö-
here geistige ,Spontaneität‘ ankündigte. Und doch ist schon dieser
Reflex das erste Anzeichen einer Aktivität, in der eine neue Form des
konkreten Ichbewußtseins und des konkreten Gegenstandsbewußtseins
sich aufzubauen beginnt“ (Cassirer, 1929, 125). So erläutert Cassirer –
mit direkter Überleitung zu Darwins Schrift über den Ausdruck der
Gem"thsbewegungen bei den Menschen und den Thieren (1872) – seine
Auffassung vom mimischen Ausdruck als einer elementaren Weise der
Symbolisierung.
Wenn wir zusehen, wie sich auf Kongs dumpfer Miene der Aus-
druck ungläubigen Staunens und Amüsiertseins abzuzeichnen beginnt,
wie er mit zorniger Drohgebärde die widersetzliche Gauklerin gefügig
zu machen sucht, wie er im Anblick des Sonnenuntergangs mit unge-
lenken Händen die Fingerspitzen an die Brust schlägt, werden wir
demnach zu Zeugen einer ersten Regung von Freiheit, in der zugleich
ein erster und gefährdeter Aufbruch in die Kultur zu sehen wäre –
Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck.
Bibliographie
Bataille, Georges (1955): Lascaux oder die Geburt der Kunst. Genf: Skira.
Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die
Sprache. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 11. Hamburg
2001: Meiner.
Cassirer, Ernst (1925): Philosophie der symbolischen Formen. Teil II: Das mythische
Bewußtsein. Hamburg 2004: Meiner.
Cassirer, Ernst (1929): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil:
Phänomenologie der Erkenntnis. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte
Werke. Bd. 13. Hamburg 2002: Meiner.
Cassirer, Ernst (1944): Versuch "ber den Menschen. Einf"hrung in eine Philosophie
der Kultur. Frankfurt am Main 1990: Fischer.
Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urtheilskraft. Berlin/New York 1902 ff.: de
Gruyter.
404 Birgit Recki
Recki, Birgit (2001): %sthetik der Sitten. Die Affinit!t von !sthetischem Gef"hl und
praktischer Vernunft. Frankfurt am Main: Klostermann.
Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einf"hrung in Ernst Cassirers Philo-
sophie der symbolischen Formen. Berlin/New York: Akademie Verlag.
Recki, Birgit (2007): Entspannte Intensität und belebender Schock. Eine kleine
Phänomenologie der Freiheit in der Kunst. In: Liessmann, Konrad Paul
(Hg.): Die Freiheit des Denkens. 10. Philosophicum Lech. Wien: Zsolnay,
219 – 244.
Schiller, Friedrich (1795): #ber die !sthetische Erziehung des Menschen. Stuttgart
1965: Reclam.
Wallace, Edgar /Cooper, Merian /Lovelace, Delos W. (2005): King Kong. New
York: Modern Library.
Natur und Kultur der Freiheit
NORBERT MEUTER
1. Pragmatischer Perspektivendualismus
Die Philosophie verwendet – spätestens seit Kants dritter Antinomie der
Kritik der reinen Vernunft – große Mengen geistiger Energie darauf,
entweder die Kompatibilität oder die Inkompatibilität von Freiheit und
Determinismus aufzuzeigen. Das Abstraktionsniveau der Diskussion ist
hoch. Ausgehend von Kant selbst erscheint ein pragmatischer Per-
spektivendualismus immer noch als die beste Lösung.
Für Kant sind wir „Bürger zweier Welten“. Die eine Welt – die
Welt der Natur – konstruieren wir mit den Kategorien unseres Er-
kenntnisapparates. Kausalität ist eine dieser Kategorien. Die Welt der
Natur erscheint uns daher als vollständig kausal verknüpft. Zu uns selbst
jedoch bzw. zum „intelligiblen Charakter“ (Kant, 1976, A440) in uns
haben wir noch einen grundsätzlich anderen Zugang. Wir erkennen uns
selbst „durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und in-
neren Bestimmungen, die gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen“.
(Kant, 1976, A545). Nur handelt es sich dabei nicht um ein theoreti-
sches Erkennen, sondern um einen praktischen bzw. normativen
Selbstbezug. Wir können uns nämlich bei jeder Handlung fragen, ob
wir auch so handeln sollen, wie wir handeln wollen. Das Sollen drückt, so
Kant „eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus,
die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“. (Kant, 1976, A547).
Wir können in der Tat nicht fragen, was in der Welt der Natur ge-
schehen soll. Das Sollen zielt auf eine mögliche Handlung, deren Ur-
sache „nichts anderes, als ein bloßer Begriff ist“. (Kant, 1976, A547). Es
handelt sich aber um keine Ursache im kausalen Sinne der Natur,
sondern um einen Grund der Vernunft, der nicht angibt, was faktisch
geschieht, sondern vorschreibt, was in der Welt des Handelns geschehen
sollte.
Man darf diese „Zwei-Welten-Lehre“ allerdings nicht ontologisch
verstehen, sondern als eine Aspekt- bzw. Beschreibungsdifferenz. Es
sind nicht zwei Welten (das ist nur eine Metapher), sondern eine
406 Norbert Meuter
Wirklichkeit, die in zwei Perspektiven beschrieben werden kann. In der
einen Perspektive suchen wir nach kausalen Beziehungen zwischen
natürlichen Ereignissen, in der anderen nach praktischen Gründen, die
unser Handeln frei – d. h. „unangesehen aller empirischen Bedingun-
gen“ (Kant, 1976, A555) – bestimmen sollten. Freiheit bezeichnet also
diejenige Lebensform oder dasjenige Sprachspiel, in dem wir bereit sind,
empirische Ursachen zugunsten von Gründen aus der Bewertung des
Handelns auszuschließen. Die Annahme der Freiheit ist die regulative
Idee des sozialen Handelns, die Annahme der Kausalität die regulative
Idee der Naturwissenschaften. Da sich mit regulativen Ideen jedoch
keine Wahrheitsansprüche verknüpfen lassen, handelt es sich bei
„Freiheit“ und „Kausalität“ um Konzepte, die unserem Handeln in
unterschiedlichen Kontexten eine sinnhafte Orientierung geben.
Auch Wolf Singer sieht sich offenbar zu dieser pragmatischen Lösung
gezwungen, wobei eine mögliche theoretische Integration der beiden
Perspektiven für ihn ein offenes Problem bleibt:
Die zwei komplementären Beschreibungssysteme existieren auch im
Hirnforscher alltäglich nebeneinander. Ich kann bei der Erforschung von
Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die
eigene Verantwortung finden – und dennoch gehe ich abends nach Hause
und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen
Blödsinn angestellt haben. […] Wir sind gespalten zwischen dem, was wir
aus der Erste-Person-Perspektive über uns wahrnehmen, und dem, was uns
wissenschaftliche Analyse aus der Dritte-Person-Perspektive über uns lehrt.
Wir müssen in beiden Welten gleichzeitig existieren. Trotzdem vermute
ich, dass wir irgendwann eine Metasprache finden werden. (Singer, 2003,
12; 22)
Bei allen Differenzen zielt Jürgen Habermas in eine durchaus ähnliche
Richtung. Der „Dualismus von Erklärungsperspektiven und Sprach-
spielen“ habe zwar „nur einen methodischen, keinen ontologischen
Sinn“, aber es komme dennoch darauf an, ihn mit „einer monistischen
Auffassung des Universums, die unserem Bedürfnis nach einem kohä-
renten Bild der Welt entgegenkommt, in Übereinstimmung“ zu brin-
gen (Habermas, 2005, 166 f.). Habermas stört sich daher an einer nur
pragmatischen Fundierung der Perspektiven. Die „Wahrheit von
Theorien“ gehe „im Erfolg der Instrumente, die wir mit ihrer Hilfe
konstruieren können, nicht auf“. (Habermas, 2005, 170). Wir müssten
daher „das, was wir von Kant über die transzendentalen Bedingungen
unserer Erkenntnis gelernt haben, mit dem, was uns Darwin über die
natürliche Evolution gelehrt hat, in Einklang bringen“. (Habermas,
Natur und Kultur der Freiheit 407
2005, 156 f.). Wie kann ein solcher Versuch, „Kant mit Darwin [zu]
versöhnen“ (Habermas, 2005, 175), aber aussehen? Gibt es wirklich
eine Metasprache, mit der sich beide Perspektiven zugleich erfassen
lassen?
Diese Frage ist vom heutigen Standpunkt aus sicher nicht zu be-
antworten. Man kann aber versuchen, beide Perspektiven in ein Ge-
spräch zu bringen. Dazu sollte man jedoch, so mein Vorschlag, die
schematische und abstrakte Gegenüberstellung von Freiheit und De-
terminismus versuchsweise einmal verlassen. Die begrifflichen Argu-
mente sind hinreichend formuliert.1 Stattdessen könnte man, zunächst
einmal unabhängig von den Engführungen der eingespielten Diskussi-
on, nach inhaltlich sinnvollen Verständnissen von Freiheit fragen, die
sich aus den jeweiligen Perspektiven der Wissenschaften (Dritte-Person)
und der Philosophie (Erste-Person) entwickeln lassen.2 Dazu will ich im
Folgenden unter den Titeln Natur der Freiheit und Kultur der Freiheit
einige Aspekte skizzieren. Die Begriffe „Natur“ und „Kultur“ stehen
somit im Folgenden für zwei unterschiedliche Problemzugänge: Der
erste zielt auf die Frage, ob und wie sich ein naturwissenschaftlicher –
und insbesondere ein evolutionstheoretischer – Freiheitsbegriff entwi-
ckeln lässt; der zweite darauf, welches Freiheitsverständnis sich aus einer
genuin philosophisch-phänomenologischen Reflexion entwickeln läßt.
Abschließend werde ich auf mögliche Bezugspunkte zwischen beiden
Verständnissen eingehen.
2. Die Natur der Freiheit
In einer evolutionstheoretischen Perspektive muss Freiheit sich als ein
adaptives Verhaltensmerkmal beschreiben lassen, dass sich im Prozess
der biologischen Evolution ausgebildet hat. Es muss sich um einen
entsprechend weiten Freiheitsbegriff handeln, der seine Grundlage im
natürlichen Verhalten lebendiger Organismen besitzt, also nicht ex-
1 Vgl. z. B. die vorzügliche Darstellung bei Pauen, 2004, der selbst eine kom-
patibilistische Position entwickelt.
2 Die Identifizierung der Wissenschaften mit der Dritte- und der Philosophie mit
der Erste-Person-Perspektive kann heuristisch in Anspruch genommen werden,
insofern das Ideal der Wissenschaften auf die Generierung eines methodisch
kontrollierten, subjektunabhängigen Wissens, das der Philosophie auf die Ar-
tikulation der individuellen Aspekte von Erfahrungen zielt (auch wenn Phi-
losophie stets mehr als nur das ist).
408 Norbert Meuter
klusiv auf die menschliche Existenz – oder sogar auf das Handeln aus
Gründen – zu beziehen ist. Zumindest Vorformen und Tendenzen zur
Freiheit müssen sich auch schon im tierischen Verhalten finden lassen.
Als ein naheliegender Kandidat für ein solches adaptives Merkmal
kommt das allmähliche Überlagern und Ergänzen von Reflexbögen
bzw. schematischen Reiz-Reaktions-Ketten durch flexiblere Verhal-
tensformen bei höher entwickelten Organismen in Frage.3
Komplexität der neuronalen Systeme
Das Überlagern von Reiz-Reaktions-Ketten ist organisch an die zu-
nehmende Komplexität der neuronalen Systeme der Organismen ge-
bunden. Einfache Organismen (z. B. Seeanemonen) haben nur ein
einziges Neuron, das zur Reizaufnahme, Reizverarbeitung und reakti-
vem Verhalten dient. In einem nächsten Entwicklungsschritt (z. B. bei
einigen Quallenarten), sind die sensorischen und motorischen Funk-
tionen auf zwei Neurone verteilt. Dies erlaubt sehr schnelle Reflex-
bögen, das sind zweischichtige Verschaltungen, die effektiv ein sche-
matisiertes motorisches Verhalten in Bezug auf einen spezifischen Reiz
ermöglichen.
Im Verlauf der Evolution werden die neuronalen Systeme immer
komplexer und binnendifferenzierter.4 Säugetiere bilden ein voll zen-
tralisiertes System aus. Das Gehirn des Menschen enthält dabei ca.
hundert Milliarden Nervenzellen. Die Zahl der neuronalen Verbin-
dungen ist noch bei weitem höher. Man schätzt die Zahl der Synapsen
allein zwischen den Nervenzellen der Großhirnrinde auf viele Billio-
nen. Die in unserem Zusammenhang vielleicht entscheidende Beson-
derheit dieses hochkomplexen neuronalen Systems besteht darin, dass
die Zahl derjenigen Neurone, die in direkter Weise am sensorischen
Input und motorischem Output beteiligt sind – verglichen mit der Zahl
der internen Verschaltungen – sehr gering ist. „Man schätzt“, so Ger-
3 Zu dieser Perspektive auf den Freiheitsbegriff vgl. u. a. Goschke/Walter, 2005;
auch Pauen betont: „Im Verlauf der Evolution haben sich unterschiedliche
Formen der Verhaltenssteuerung ausgebildet; sie unterscheiden sich vor allem
in der Variabilität und Komplexität der Informationen, die verarbeitet werden
können, und der Variabilität des Verhaltens, das für die Reaktion zur Verfü-
gung steht.“ (Pauen, 2004, 188). Zum Thema vgl. auch den klassischen Aufsatz
von Dewey, 1896.
4 Vgl. Oeser/Seitelberger, 1995, 25 ff.
Natur und Kultur der Freiheit 409
hard Roth, „dieses Verhältnis rund Eins zu Hunderttausend, d. h. die
Beschäftigung des Cortex mit sich selber ist hunderttausendmal stärker
als die Kommunikation mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde
sonst noch passiert.“ (Roth, 2003, 24). Die Neurowissenschaftler
sprechen hier von „Interkonnektivität“ (Oeser/Seitelberger, 1995, 25).
Da Gehirne sich jedoch nicht in einem „Tank“,5 sondern in einem
lebendigen Körper befinden, ist die Evolution des Gehirns stets im
Zusammenhang mit der Ausbildung komplexerer Verhaltensweisen des
Organismus in Bezug auf seine Umwelt zu sehen. Vor allem bei der
Evolution der Säugetiere ist zu beobachten, dass das gesamte Verhalten
bei gleichzeitig zunehmender neuronaler Zentralisierung flexibler wird.
Es bilden sich neuronale Repräsentationen nicht nur der sensorisch
erfassten Umweltereignisse, sondern auch der eigenen motorischen
Aktionen. Die ab den höheren Tierprimaten und dann insbesondere bei
den Hominiden zu beobachtende Entspezialisierung des Verhaltens setzt
ein hochkomplexes neuronales Zentralsystem voraus, dass über Ge-
dächtnisleistungen, die Fähigkeit zum Lernen und zu emotionalen
Bewertungen eine erhebliche individuelle Modifikation des Verhaltens
in Bezug auf wechselnde Umwelt- und Situationsbedingungen erlaubt.
Das Verhalten des Organismus wird insgesamt offener. Dies bedeutet
bei nichtstabilen Umweltverhältnissen einen enormen evolutionären
Vorteil. Das Neue und Nichtvorhersehbare wird für das Verhalten in-
tegrierbar.
Diese Offenheit und Flexibilität des Organismus verdankt sich –
scheinbar paradox – der zunehmenden Schließung des neuronalen
Systems durch Interkonnektivität. Der Organismus gewinnt durch die
Zunahme der internen Verschaltungen seines Gehirns eine „Eigenzeit“
und einen „Spielraum“. Er muss nicht mehr unmittelbar und direkt auf
die sensorisch erfasste Umwelt reagieren, sondern das Gehirn erlaubt
durch die interne Kombination von Gedächtnis und Lernen für das
Verhalten einen Aufschub und die Abwägung von Möglichkeiten sowie
schließlich auch die kreative Erschließung neuer Verhaltensoptionen.
Menschen – und ansatzweise auch höhere Tierprimaten – reagieren
nicht nur auf ihre Umwelt, sondern suchen eigenständig nach neuen
und manchmal überraschenden Antworten.
Die neuronalen Grundlagen der Kreativität sind Gegenstand
jüngster neurowissenschaftlicher Forschungen. Von zentraler Bedeu-
tung ist dabei, so François Ansermet und Pierre Magistretti, das Phä-
5 Vgl. hierzu den Beitrag von Olaf Müller in diesem Band.
410 Norbert Meuter
nomen der Plastizit!t. Man kann inzwischen zeigen, dass jede Erfah-
rung, die der Organismus macht, auf neuronaler Ebene „Spuren“
hinterlässt: „Die Verbindungen zwischen den Neuronen werden be-
ständig durch die Erfahrung verändert, und die Veränderungen sind
sowohl strukturell als auch funktional. Das Gehirn muss also als ein
äußerst dynamisches Organ betrachtet werden, das in ständiger Bezie-
hung zu seiner Umgebung steht.“ (Ansermet/Magistretti, 2005, 20) 6.
Die Autoren ziehen daraus direkte Konsequenzen für die Freiheitsdis-
kussion: Aufgrund der Plastizität des Gehirn erweise sich „jedes Indi-
viduum als einzigartig und unvorhersehbar“, es reiche „über die Be-
dingungen, die seine genetische Ausstattung mit sich bringt, hinaus“
und könne daher „als biologisch zur Freiheit bestimmt angesehen
werden“ (Ansermet/Magistretti, 2005, 21; 26).
Komplexität der sozialen Verhältnisse
Ein weiterer Aspekt erschließt sich durch Einbeziehung der sozialen
Sphäre. Auch und gerade im Bereich des Sozialen lässt sich eine zu-
nehmende Entschematisierung des Verhaltens beobachten. Verglichen
mit dem Sozialleben z. B. vieler Insektenarten zeigen höhere Tierpri-
maten ein hohes Maß an sozialer Individualisierung. Freilebende
Schimpansen bilden Gruppen von über 50 Mitgliedern. Charakteristisch
dabei ist, dass sich die Gruppen in kleinere Untergruppen mit häufig, oft
täglich wechselnder Besetzung aufteilen, ohne dass der Gesamtzusam-
menhang aufgegeben wird. Die Primatologen sprechen von einer fissi-
on-fusion-Struktur.7 In den Gruppen und Untergruppen befinden sich
erwachsene Tiere beiderlei Geschlechts sowie Jungtiere jeden Alters.
Entlang von (matrilinearen) Verwandtschaftslinien gibt es langfristige
Koalitionen, kurzfristige Bündnisse und besondere Rivalitäten und
Freundschaften, wobei Hierarchieverhältnisse mit einem Alpha-Tier an
der Spitze ordnungsbildend sind. Schimpansen etwa können – wie viele
6 Auch Roth diskutiert Kreativität als „Plastizität neuronaler Netze“ (Roth,
2001, 181–187).
7 Vgl. Boesch/Boesch, 2000, 89 f. Boehm sieht in der fission-fusion-Struktur „an
important clue for the origins of the human type of communication system,
which is so vocally dominated. This is because these highly social primate
individuals are constantly changing sub-group membership within territorial
community, and communicate their locations to one another for a variety of
purposes.“ (Boehm, 1992, 328).
Natur und Kultur der Freiheit 411
andere Tierprimaten auch – nicht nur ihre eigene soziale Rangposition,
sondern auch die Dominanzbeziehungen zwischen den anderen Mit-
gliedern erkennen; ein Wissen, das es ihnen erlaubt, eine Ranghierar-
chie ihrer Gruppengenossen zu konstruieren.8
In einer solchen sozialen Umgebung bedeutet es für das Individuum
ohne Zweifel einen adaptiven Vorteil, wenn es sich immer besser in die
emotionale Situation der sozialen Interaktionspartner hineinversetzen
kann. Die auch in der Forschung kontrovers diskutierte Frage in diesem
Zusammenhang ist, ob und inwieweit man den höheren Tierprimaten
bereits Empathiefähigkeiten bzw. eine „Theorie des Geistes“9 unter-
stellen darf. Mir kommt es hier jedoch auf einen anderen Punkt an. Die
komplexe und offenbar höchst anregende soziale Umgebung impliziert
noch einen weiteren Vorteil. Sie erlaubt – vor allem den Jungtieren –
das Aus- und Durchleben nicht-funktionaler Situationen.10
Mimesis in nicht-funktionalen Situationen
Ähnlich wie beim Menschen sind die Jungtiere höherer Tierprimaten
von der unmittelbaren Existenzsicherung entlastet, so dass es ihnen
möglich ist, sich ihre Umwelt – und vor allem: ihre soziale Umwelt –
spielerisch anzueignen.11 Und wie beim Menschen besteht die erste
Form dieses Weltzugangs in Mutter-Kind-Spielen.12 Nach ca. vier bis
fünf Monaten werden diese zunehmend abgelöst von Spielen unter
Gleichaltrigen (peer play). Insbesondere das konzentrierte Beobachten
8 Tomasello sieht hier den entscheidenden Unterschied zwischen Primaten und
den übrigen Säugetieren: „Was den sozialen Bereich angeht, so haben nur
Primaten, aber keine anderen Säugetiere, ein Verständnis von sozialen Bezie-
hungen Dritter, also von Beziehungen, die zwischen anderen Individuen be-
stehen, beispielsweise verstehen sie Verwandtschafts- und Dominanzbezie-
hungen, die andere Individuen untereinander haben.“ (Tomasello, 2002, 27).
9 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band.
10 Jedenfalls nicht unmittelbar funktional; im weiteren Verlauf evolutiver Prozesse
können sich natürlich Funktionen anschließen (hier z. B. soziale Stabilität).
11 Vgl. dazu den Beitrag von Eva-Maria Engelen in diesem Band.
12 „Like human mothers, great ape mothers engage their motorically helpless
infants in vestibular play, dangling and swinging them in the air, tickling an
poking them, and pushing and pulling them. Like human infants, great ape
infants respond with the play face (relaxed, open mouth face), and panting
vocalizations, and expectant watching of their mothers.“ (Taylor-Parker/
Milbrath, 1994, 119).
412 Norbert Meuter
und mimetische Nachahmen von expressiven facial displays der anderen
spielt dabei eine große Rolle.13 Die vom Verhaltensdruck entlastete
Spielsituation trägt dazu bei, dass mimetische Experimente mit dem Aus-
druck möglich sind. Im Spiel muss man z. B. nicht immer in der glei-
chen Weise auf den Ausdruck eines anderen reagieren, da buchstäblich
nichts oder doch nur sehr wenig auf dem Spiel steht. Variationen in
Bezug auf Intensität und übriges Verhalten sind für alle Beteiligten
möglich. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Bereich expressiv-mime-
tischer Kreisprozesse bei der Hominidenentwicklung weiter ausbildet,
stabilisiert und höhere Niveaus erreicht. Der Ausdruck gerät unter zu-
nehmende Kontrolle, löst sich im spielerischen Umgang ab von seiner
relativ festen Einbindung in bestimmte Verhaltensmuster, erlangt so
eine immer stärkere Eigendynamik und kann schließlich auch in nicht-
entlasteten Situationen eingesetzt werden.
Ein weiteres mimetisches Spielverhalten, das sich ansatzweise bereits
bei höheren Tierprimaten finden lässt, sind kollektive mimetische Akte.
Frans de Waal berichtet z. B., dass sich „heranwachsende“ Schimpansen
im Arnheimer Zoo „einen Spaß daraus [machten], in einer Reihe hinter
einer [Schimpansen-] Frau herzumarschieren, die Krom hieß, was soviel
wie ,verkrüppelt‘ bedeutet, allesamt im gleichen gravitätischen Gang.
Gelegentlich stützen sie sich beim Gehen auch auf beide Handgelenke
[…] und ahmten so die unbeholfene Fortbewegung eines erwachsenen
Mannes in der Gruppe nach, dessen Finger bei einem Kampf übel zu-
gerichtet worden waren.“ (Waal, 2000, 93). Auch hier sind es offenbar
die Jungtiere, die das neue Verhalten initiieren, und es handelt sich
wiederum um entlastete Situationen jenseits eines existentiellen
Zwangs, sich in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen. Auch
wenn man berücksichtigt, dass es sich hier um singuläre Beobachtungen
handelt und zudem von Tieren stammt, die nicht in ihrer natürlichen
Umgebung leben, zeigt sich doch in prägnanter Weise das Potential zu
nicht funktional orientierten Akten kollektiver Nachahmung. Bei sol-
chen Verhaltensformen greift der mimetische Prozess auf mehrere In-
dividuen oder sogar die ganze Gruppe über. Man kann hier durchaus
die ersten Anfänge eines spontanen rituellen Verhaltens erkennen.
13 „Great ape youngsters also learn to calibrate their dominance displays by en-
gaging in teasing, provoking, and imitation games aimed at adults. Thes games
generate new tripartite relationships among peers, their reatives, and other
animals.“ (Taylor-Parker/Milbrath, 1994, 119).
Natur und Kultur der Freiheit 413
Ein weiteres Beispiel geht bereits über den Bereich der leiblichen
Mimesis hinaus. De Waal berichtet von mimetischen Verhaltensweisen
in Bezug auf, wie er sagt, „absolut nutzlose Aktivitäten“: Die Mitglieder
einer bestimmten Population von Japanmakaken sammeln Kieselsteine,
transportieren sie an einen ruhigen Platz, breiten sie vor sich aus, reiben
und schlagen dann die Steine aneinander, wobei zwar ein lautes kli-
ckendes Geräusch, aber kein sichtbarer Nutzen entsteht. Dieses offen-
sichtlich nicht funktionale Verhalten (stone handling) wird von den
nachwachsenden Jungtieren intensiv beobachtet und nachgeahmt
(Waal, 2002, 217 f.).14
Die angeführten Beispiele eines nicht-funktionalen mimetischen
Verhaltens markieren vielleicht die am weitesten entwickelten Phäno-
mene, die man im Kontext einer „Natur der Freiheit“ findet. Das
schematische Verhalten auf bestimmte Umweltreize ist weitgehend
aufgelöst und hat einem spielerischen Umgang mit sozialen Interakti-
onspartnern Platz gemacht, in dem sich kreativ neue Verhaltensweisen
ausbilden können. Die Beispiele enthalten aber noch einen weiteren
wichtigen Hinweis. In dem beschriebenen mimetischen Verhalten las-
sen sich nämlich auch die ersten Schritte hin zu einem symbolischen
Weltverhältnis erkennen. Die nicht funktionale mimetische Expressi-
vität bildet das Material, an dem Symbolisierungsakte anschließen
können.15
Symbolisierung
Ob und in welcher Weise bereits höhere Tierprimaten zu symbolischen
Leistungen in der Lage sind, kann hier offen bleiben. Aus evolutions-
theoretischer Sicht müssen sich jedenfalls auch diese Leistungen im
langen Prozess der Hominidenentwicklung ausgebildet haben, und zwar
– sollen sie nicht von einem metaphysischen oder transzendentalen
Himmel gefallen sein – auf natürlichem Weg! Phylogenetisch sind also
Vorstufen und Vorformen der Symbolisierung anzunehmen. Systema-
tisch kommt es auf die Unterscheidung von Signalen und Symbolen an.16
14 Eine ausführliche Dokumentation dieses Verhaltens findet sich bei Huffmann,
der ebenfalls den nicht-funktionalen Status des stone handling betont (Huffman,
1996).
15 Diese These müßte natürlich ausführlicher begründet werden, vgl. hierzu
Meuter, 2006a, 291–360.
16 Zu dieser Unterscheidung vgl. Cassirer, 1996, 57 f.
414 Norbert Meuter
Symbole unterscheiden sich von Signalen vor allem durch zwei
Struktureigenschaften:
– Repr!sentation: Signale binden den Organismus an die momentan
durchlebte Situation; sie haben eine bloß situative Relevanz. Dage-
gen erlauben es Symbole, die Grenzen einer Situation – d. h. das, was
durch sinnliche Wahrnehmung verfügbar ist – zu überschreiten. Das
Verhalten orientiert sich nicht mehr nur noch an dem, was räumlich
und zeitlich aktuell präsent ist, sondern auch an dem, was durch das
Symbol repräsentiert wird. Symbole können nicht-anwesende Dinge
oder Ereignisse in einer Situation verfügbar machen. Erst dadurch
wird schließlich auch zielorientiertes Handeln möglich. Das nicht-
anwesende Ziel wird durch seine symbolische Repräsentation zum
Bezugspunkt des Verhaltens.
– Perspektivit!t: Symbolischer Weltbezug erlaubt aber nicht nur das
Überschreiten von konkreten Situationen, sondern auch und zu-
nächst die Möglichkeit zu einem vielfältigen, nicht schematisch
festgelegten Verhalten in einer Situation. Symbolisch wahrnehmen
heißt: verschieden wahrnehmen, nicht festgelegt sein auf nur eine
Möglichkeit.17
Der Zusammenhang zum Freiheitsproblem wird an dieser Stelle deut-
lich. Aufgrund der beiden Struktureigenschaften ermöglicht ein sym-
bolischer Weltbezug – im Unterschied zu einem nur signalhaften
Reagieren auf Umweltreize – einen doppelten Freiheitsgewinn: Der
17 Vgl. hierzu Tomasello: „Wenn das Kind die sprachlichen Symbole seiner
Kultur zu beherrschen lernt, erwirbt es dadurch die Fähigkeit, vielfältige Per-
spektiven auf ein und dieselbe Wahrnehmungssituation einzunehmen. Als
perspektivenbasierte, kognitive Repräsentationen beruhen also sprachliche
Symbole nicht auf der Registrierung unmittelbarer sensorischer oder motori-
scher Erfahrungen, wie es bei den kognitiven Repräsentationen anderer
Tierarten oder bei Kleinkindern der Fall ist. Vielmehr gründen sie in den
verschiedenen Kategorisierungen, die Individuen aus einer gewissen Anzahl
von Möglichkeiten auswählen, welche durch die anderen verfügbaren
sprachlichen Symbole verkörpert sind, die sie ebenfalls wählen könnten.
Sprachliche Symbole befreien somit die menschliche Kognition von der un-
mittelbaren Wahrnehmungssituation nicht einfach dadurch, dass sie eine Be-
zugnahme auf Dinge außerhalb dieser Situation ermöglichen („Verschiebung“),
sondern vielmehr durch die Ermöglichung verschiedenartiger, gleichzeitiger
Repräsentation aller vorstellbaren Wahrnehmungssituationen.“ (Tomasello,
2002, 19).
Natur und Kultur der Freiheit 415
Organismus ist in seinem Verhalten nicht mehr an die aktuell durchlebte
Situation gebunden und kann zudem in der Situation flexibler agieren.18
Soweit der Versuch einer an der Evolutionstheorie orientierten
Skizze über die „Natur der Freiheit“. Ich möchte nun – unter dem Titel
„Kultur der Freiheit“ – versuchen, die Annäherung auch von der an-
deren Seite – d. h. der Perspektive der Philosophie – ein Stück weit zu
betreiben. Auch hier kommt es darauf an, den Freiheitsbegriff zunächst
möglichst weit zu fassen und sich nicht durch die Engführungen der
Determinismus-Diskussion beschränken zu lassen.
3. Die Kultur der Freiheit
Prinzip der alternativen Möglichkeiten
In der philosophischen Diskussion wird Freiheit zumeist in Bezug auf
das so genannte „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ bestimmt.19
Nach diesem Prinzip kann das Handeln einer Person dann als frei be-
zeichnet werden, wenn die Person unter den gegebenen Umständen
auch anders handeln könnte. Ein freies Handeln zeichnet sich dadurch
aus, dass bei unveränderten Kontextbedingungen eine oder mehrere
Handlungsalternativen existieren, von denen jede tatsächlich realisiert
werden könnte.
Das Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten ist durchaus
nahe an unseren lebensweltlichen Intuitionen, insofern ist es nicht
falsch. Aus einer Vielzahl von Gründen ist es jedoch problematisch: Es
steht z. B. in Konflikt mit einem anderen wichtigen Prinzip der Freiheit
– dem „Prinzip der Urheberschaft“20 –, es lässt sich, da identische
Kontextbedingungen nicht vollständig reproduzierbar sind, empirisch
nicht überprüfen und es verdeckt den phänomenalen Gehalt wirklicher
18 Ein drittes freiheitsrelevantes Merkmal des Symbolbegriffs könnte in der Ar-
bitrarität (sprachlicher) Zeichen gesehen werden: dadurch lässt sich der
Übergang vom Erleben zum Ausdruck nicht mehr abbildtheoretisch verstehen
und wird strukturell „frei“.
19 Vgl. hierzu Pauen, 2004, 106 ff.
20 Vgl. Pauen: Durch eine strenge Fassung des Prinzips „würde man die Hand-
lung vom Eintreten eines Zufalls abhängig machen und damit von einer Be-
dingung, auf die die Person keinen Einfluss hat“ (Pauen, 2004, 131).
416 Norbert Meuter
Entscheidungsprozesse.21 Ein weiterer Nachteil könnte darin bestehen,
dass die abstrakte Fassung des Prinzips geradewegs in die fruchtlose
Kontroverse zwischen Freiheit und Determinismus führt. Dies zeigt sich
vielleicht besonders gut an den Libet-Experimenten, deren Design di-
rekt der Logik des Prinzips entsprungen scheint.22 Sich innerhalb von
drei Sekunden für eine von zwei vorgegebenen und vollständig be-
stimmten Alternativen zu entscheiden, erzeugt im Hinblick auf das
Freiheitsproblem jedoch eine Scheinklarheit. Gerhard Roth hält in der
Tat den Versuchsaufbau für vollkommen ausreichend, um die Struktur
des Problems zu erfassen: Es sei gleichgültig, „ob es sich um den linken
oder rechten Tastendruck oder um das Verkaufen oder Nichtverkaufen
eines Aktienpaketes“ handele, wichtig sei allein die Wahl zwischen zwei
Alternativen (Roth, 2001, 442). Entweder wir haben diese Wahl oder
wir haben sie nicht – tertium non datur. Die Diskussion ist an diesem
Punkt im Prinzip beendet. Inhaltliche Fragen nach einem sinnvollen
Verständnis von Freiheit brauchen erst gar nicht mehr gestellt zu wer-
den. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten ist also kein guter
philosophischer Ausgangspunkt. Man sollte den Freiheitsbegriff nicht –
jedenfalls nicht zunächst und ausschließlich – auf isolierte und schon
bestimmte – z. B. durch moralische oder rationale Gründe bestimmte –
Handlungsoptionen beziehen. Worauf aber dann? Eine mögliche
Antwort besteht darin, konsequent die Erste-Person-Perspektive aus-
zuschreiben. Dies bedeutet, den Begriff von seiner erlebten Bedeutung
her zu erfassen, die er für das einzelne Individuum besitzt.
Freiheit als individuelles Selbst- und Weltverhältnis
Entsprechend zielt der im Folgenden zu skizzierende Vorschlag darauf,
Freiheit als ein Aspekt des individuellen Selbst- und Weltverh!ltnisses auf-
zufassen. Die Referenz des Freiheitsbegriffs wird damit verschoben auf
ein Phänomen, das in Philosophie, Psychologie und Soziologie unter
dem Begriff der Identit!t untersucht wird. Die Identität einer Person ist
etwas, das sich in – vor allem in narrativen23 – Selbstorganisations-, aber
21 Auf den zuletzt genannten Punkt komme ich weiter unten mit Henri Bergson
noch einmal zurück.
22 Vgl. Libet, 2004, 2005 und zu einer Kritik u. a. Pauen, 2004, 187 ff., sowie
Herrmann et al., 2005.
23 Vgl. hierzu Meuter, 2004.
Natur und Kultur der Freiheit 417
Abb. 1
auch in Selbstreflexionsprozessen ausbildet, entwickelt und permanent
verändert. Dadurch erhält auch der Freiheitsbegriff eine grundsätzlich
prozessuale Form. Freiheit verstanden als ein Aspekt individuellen
Selbst- und Weltverhältnisses zielt auf einen Prozess der Befreiung,
genauer einen Prozess der Selbstbefreiung. Freiheit ist demnach auch kein
Entweder/Oder-Begriff, sondern kennt durchaus unterschiedliche
Grade. In der philosophischen Tradition findet sich bei Henri Bergson
eine Konzeption, auf die man bei der Entwicklung eines solchen
Freiheitsbegriffs zurückgreifen kann.24
Konzeption von Bergson
Die Konzeption Bergsons beginnt mit einer phänomenologischen
Kritik am Prinzip der alternativen Möglichkeiten. So plausibel das
Prinzip auf den ersten Blick auch erscheint, es verfehlt jedoch den
phänomenalen Gehalt wirklicher Entscheidungsprozesse. Es bedeutet
nämlich eine hochschematisierende Vereinfachung von Abläufen, die
tatsächlich viel komplexer sind. Bergson bringt das Prinzip der alter-
nativen Möglichkeiten in folgende Figur (Abb. 1).
O ist der Entscheidungspunkt, X und Y die beiden Handlungsop-
tionen, mit der geschlängelten Linie MO soll das Oszillieren angedeutet
werden, das der Entscheidung vorausgehen kann. Entscheidungen sind
jedoch keine punktuell stattfindenden Ereignisse, sondern weisen eine
mehr oder weniger lange zeitliche Erstreckung auf. Der isolierte Punkt
24 Da Bergson in der aktuellen Freiheitsdiskussion so gut wie keine Rolle spielt,
werde ich etwas ausführlicher auf seine Konzeption eingehen.
418 Norbert Meuter
Abb. 2
O ist eine Abstraktion, er ist in Wirklichkeit der nicht-herauslösbare
Teil eines Prozesses. Bergson schlägt daher eine vollkommen andere
Darstellung vor (Abb. 2).
Diese Figur muss zunächst verwundern. Was besonders auffällt, ist
das Fehlen einer Gabelung in die verschiedenen Alternativen X und Y.
Aber Bergsons Position ist in der Tat genau die, dass es diese beiden
Alternativen gar nicht gibt, zumindest nicht im Sinne von Möglich-
keiten, die bereits klar und deutlich strukturiert sind und die nur noch
realisiert werden müssten. Die scheinbar in sich vollkommen be-
stimmten Alternativen X und Y sind theoretische Handlungskonstruk-
tionen. Die konkret sich ereignende Wirklichkeit lässt sich jedoch mit
keiner Konstruktion erfassen: „Ich mag mir noch so sehr im einzelnen
vorzustellen versuchen, was mir zustoßen wird: wie arm, abstrakt,
schematisch ist doch eine solche Vorstellung im Vergleich zu dem dann
wirklich eintretenden Ereignis! Die Verwirklichung bringt ein unvor-
hersehbares gewisses Etwas mit sich, das alles verändert“. (Bergson,
1985, 110).
Für Bergson zeigt sich im Prinzip der alternativen Möglichkeiten
ein grundsätzlich falsches bzw. verkürztes Verständnis über das Ver-
hältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit. Das Prinzip geht von der
Vorstellung aus, dass „die Möglichkeit der Dinge ihrer Existenz vor-
ausgeht“; die Alternativen X und Y können daher „vor ihrer Ver-
wirklichung gedacht werden“ (Bergson, 1985, 119). Genau dies ist je-
doch falsch: anzunehmen, „das Mögliche wäre von vornherein dage-
wesen wie ein Gespenst, das auf die Stunde seines Erscheinens wartet; es
wäre also Wirklichkeit geworden durch Hinzufügung von irgend
etwas“ (Bergson, 1985, 121). Es ist vielmehr umgekehrt so, dass die
Möglichkeit der bereits abgelaufenen Wirklichkeit etwas hinzufügt:
„das Wirkliche schafft das Mögliche, und nicht das Mögliche das
Wirkliche“ (Bergson, 1985, 124). Das Mögliche wird retrospektiv er-
stellt, es ist „das Wirkliche mit einem zusätzlichen Geistesakt, der dieses
Wirkliche, wenn es einmal da ist, in die Vergangenheit zurückwirft“
(Bergson, 1985, 119).
Die erste Figur bildet daher auch nicht den konkreten Prozess des
Entscheidens ab, sondern eine gewissermaßen zeitlose Situation oder
Natur und Kultur der Freiheit 419
zumindest die Situation nach einer bereits vollzogenen Entscheidung. Das
Prinzip der alternativen Möglichkeiten funktioniert nur, wenn man mit
der Hypothese eines schon gefassten Entschlusses operiert. Es zeigt „die
Handlung nicht, wie sie sich vollzieht, sondern die bereits vollzogene
Handlung“ (Bergson, 2006, 135). Im Prozess des Entscheidens selbst
finden sich jedoch höchstens Richtungen, die überhaupt noch keine
klare Bestimmung besitzen und die einem beständigen Prozess der
Veränderung ausgesetzt sind, weil – und dies ist eine von Bergsons
zentralen Einsichten – auch das Ich oder das Subjekt der Entscheidung
sich in einem permanenten Prozess der Entwicklung befindet: Dadurch,
dass ich bestimmte Möglichkeiten erwäge, verändere ich mich selbst
und dadurch wiederum erscheinen auch die Möglichkeiten in einem
neuen Licht.25 Bergson wählt daher für freie Entscheidungen auch eine
ganz andere Metapher als die der Weggabelung:
Es wird dabei dann als ausgemacht zu gelten haben, daß dies [die Alter-
nativen X und Y] symbolische Vorstellungen sind und daß es in Wirk-
lichkeit nicht zwei Tendenzen, selbst nicht zwei Richtungen gibt, wohl
aber ein Ich, das da lebt und sich gerade vermittelst seiner Schwankungen
soweit entwickelt, bis die freie Handlung sich von ihm ablöst gleich einer
überreifen Frucht. (Bergson, 2006, 132).
Mit dem Bild der „überreifen Frucht“ verschiebt sich die Vorstellung
dessen, was eine freie Handlung sein kann, in einer grundsätzlichen
Weise: Eine freie Handlung entwickelt sich, und sie stellt einen kon-
zentrierten und prägnanten Ausdruck dieser Entwicklung dar. Sich frei
zu entscheiden bedeutet dann primär nicht, eine fokussierte Wahl
zwischen Möglichkeiten zu vollziehen, sondern beschreibt den Sach-
verhalt, sich aufmerksam der fließenden Komplexität des eigenen in-
dividuellen Erlebens zu überlassen und diesem Erleben dann in seinem
25 Vgl.: „Der Determinist aber […] wird uns zeigen, wie dieses Ich zwischen zwei
entgegengesetzten Gefühlen schwankt, von einem zum anderen geht und sich
schließlich für eines von ihnen entscheidet. Das Ich und die Gefühle, die es
bewegen, werden also völlig wohldefinierten Dingen gleichgestellt, die wäh-
rend des ganzen Verlaufs des Hergangs mit sich selbst identisch bleiben. […]
Die Wahrheit ist vielmehr, daß das Ich allein dadurch, daß es das erste Gefühl
erlebte, schon eine gewisse Veränderung erlitten hat, bis das zweite dazu kam;
in allen Zeitpunkten der Erwägung modifiziert sich das Ich und modifiziert es
folglich auch die beiden Gefühle, die es bewegen. So bildet sich eine dyna-
mische Reihe von Zuständen, die sich durchdringen, einander verstärken und
durch eine natürliche Entwicklung in eine freie Handlung ausmünden.“
(Bergson, 2006, 128 f.)
420 Norbert Meuter
Handeln eine neue Form zu geben.26 Sich in dieser Weise zu verhalten,
ist allerdings nicht die Regel. Oft und meistens besteht unser Handeln
aus sozialen Routinen und vorgefertigten Mustern. Bergson sagt hier:
„Wir räumen dem Determinismus übrigens gerne ein, daß wir […] aus
Trägheit oder Schlaffheit eben diesen lokalen Prozeß sich vollziehen
lassen, wo doch unsre ganze Persönlichkeit sozusagen mitklingen soll-
te.“ (Bergson, 2006, 127). Das pragmatische passiv-lokale Handeln aus
Routinen ist durchaus notwendig, da sich nur so die meisten Alltags-
situationen schnell und effektiv bewältigen lassen. Es ist aber – im Sinne
Bergsons – kein freies Handeln, da es sich nur auf der Oberfläche un-
serer individuellen Persönlichkeit abspielt und nicht ihre tieferen
Schichten erreicht. Erst wenn die Handlung in Beziehung zum „fun-
damentalen Ich“ bzw. „Tiefenich“ unserer individuellen Persönlichkeit
steht und in diesem Sinne Ausdruck dieser Persönlichkeit ist,27 lässt sich
von einer freien Handlung sprechen. „Die Augenblicke aber, wo wir so
uns selbst wieder ergreifen, sind selten, und deshalb sind wir selten frei.
Meistenteils leben wir uns selbst gegenüber äußerlich“ (Bergson, 2006,
171).
Die Freiheit des Menschen manifestiert sich demnach darin, ob es
uns gelingt, im Handeln einen angemessenen oder authentischen Aus-
druck für unsere individuelle Persönlichkeit zu finden.28 Durch das freie
Handeln fügen wir dieser Persönlichkeit einen neuen Aspekt hinzu.
Bezogen auf Entscheidungssituationen besteht die eigentliche Leistung
26 Vgl. hierzu auch Schwemmer: „Freiheit ist eine Qualität im ,Werden zur
Form‘“, sie besteht darin, die verschiedenen figurativen Dynamiken sich mit-
einander verschränken und sie dadurch wirken zu lassen, dass man diesem
Wirken – in einer aufmerksamen Bereitschaft für dessen möglich Entwick-
lungen – folgt.“ (Schwemmer, 2005, 248).
27 Vgl. „[Wenn man die] psychischen Zustände mit der besonderen Nuance
erfaßt, die sie bei einer bestimmten Person besitzen […], dann bedarf es keiner
Assoziation mehrerer Bewußtseinstatsachen, um so die Persönlichkeit wieder
zusammenzusetzen: sie ist dann in einer einzigen solchen Tatsache voll und
ganz enthalten […] Und die Äußerung dieses inneren Zustands wird gerade das
sein, was man eine freie Handlung nennt, weil dann das Ich allein ihr Urheber
gewesen ist, weil sie das ganze Ich zum Ausdruck gebracht hat.“ (Bergson,
2006, 125)
28 Vgl.: „Kurz, wir sind frei, wenn unsre Handlungen aus unsrer ganzen Per-
sönlichkeit hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken, wenn sie jene undefinierbare
Ähnlichkeit mit ihr haben, wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und
seinem Schöpfer findet.“ (Bergson, 2006, 129). Dabei ist „Ähnlichkeit“ nicht
abbildtheoretisch zu verstehen, sondern als praktische Selbstbestimmung!
Natur und Kultur der Freiheit 421
darin, dass diese Situationen und die mit ihr verbundenen Optionen
überhaupt hergestellt werden. Die Konstruktion einer Wahl zwischen
klaren Alternativen liegt ja nicht einfach so vor, sondern ist das Ergebnis
eines u. U. mühsamen und langwierigen Prozesses, in dessen Verlauf
unsere Persönlichkeit berührt wird und sich weiterentwickelt. Die
kreative Leistung unserer Freiheit liegt in diesem Prozess und weniger
in der abschließenden Wahl. In diesem Sinne sagt Bergson, dass nicht
die Freiheit durch die Möglichkeiten, sondern vielmehr die Möglich-
keiten „durch die Freiheit selbst geschaffen“ werden (Bergson, 1985,
124).
Für Bergson wären daher auch die Libet-Experimente keine sinn-
volle Überprüfung der Willensfreiheit. Sich auf eine Anweisung zu
entschließen, bereits vollständig definierte Körperbewegungen auszu-
führen oder nicht, hat überhaupt nichts mit Freiheit zu tun. Das Fin-
gerbeugen oder der rechte bzw. linke Tastendruck bleiben der Per-
sönlichkeit des Handelnden vollkommen äußerlich. Allenfalls könnte es
sich bei dem Entschluss, an dem Experiment teilzunehmen, um eine
freie Entscheidung handeln. Aber auch nur dann, wenn er nicht einfach
gedankenlos getroffen wurde, sondern wenn unsere ganze Persönlich-
keit mitklingt.29
Das freie Handeln Bergsons bezieht sich daher – anders als in der
kantischen Tradition – auch nicht auf rationale und/oder moralische
Gründe. Eine freie Handlung kann gerade eine solche sein, zu der wir
uns, „ohne Gründe entschieden haben, vielleicht sogar gegen alle
Gründe“ (Bergson, 2006, 128). Gründe und Argumente sind in dieser
Sicht zunächst einmal sprachliche Artikulationen, die mehr mit einem
intersubjektiven Konsens zu tun haben als mit uns selbst.30 Gründe sind
in dieser Perspektive lediglich eine Art „Kruste“ (Bergson, 2006, 128)
an der Oberfläche des Ichs.
Dieser Auffassung wird man sich allerdings nur unter Vorbehalt
anschließen wollen, zumindest ist sie zu radikal formuliert. Es ist sicher
29 Vgl. hierzu auch Schwemmer, der darauf hinweist, dass die „die im Experiment
auszuführenden Bewegungen als solche für die Teilnehmer völlig belanglos
sind. […] Die Bereitschaft, sie tatsächlich – und zwar so, wie sie vom Ver-
suchsleiter beschrieben werden – auch auszuführen, entsteht dann schon bei der
Erklärung des Experiments. Es bedarf keiner eigenen Entscheidung zu genau
diesen Bewegungen mehr.“ (Schwemmer, 2005, 230 f.)
30 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Jung in diesem Band, der hier
allerdings von Symbolen sprechen würde, da für ihn Artikulationen unver-
tretbar in der ersten Person vollzogen werden.
422 Norbert Meuter
richtig, dass Gründe – und vor allem auch moralische Gründe – ihre
motivierende Kraft nur im Kontext der eigenen Person entfalten kön-
nen. Der Rekurs auf begründetes Handeln muss durch eine solche
(aristotelische) Position jedoch nicht aufgegeben werden. Gründe
spielen immer dann eine Rolle, wenn es darum geht, ob wir unsere
hinreichend verstandenen Gefühle und Wünsche und die daraus re-
sultierenden Handlungen auch billigen können. Man kann daher an
dieser Stelle eine (kulturphilosophische) Korrektur vornehmen und in
Absetzung von der (lebensphilosophischen) Konzeption Bergsons die
positive Bedeutung des Symbolischen für die Prozesse der Identitäts-
bildung und Selbstbefreiung herausarbeiten. Diese Prozesse sind, so
lautet die These, fundamental angewiesen auf die Artikulation symbo-
lischer Formen. Gründe wären dann eine späte und sehr spezifische
Form symbolischer Artikulation und müssten nicht in einen theoreti-
schen Widerspruch zur Entwicklung der Persönlichkeit gebracht wer-
den.31
Freiheit und Symbolisierung
Die These, dass Freiheit auf Symbolisierung angewiesen ist, schließt in
ihrem philosophischen Grundgehalt nach an Hegel, in einer spezifi-
scheren Form an die Kulturphilosophie Ernst Cassirers an. Eine der
31 Vgl. auch Bieri, der (mit anderen Referenzen) ein durchaus ähnliches Pro-
gramm verfolgt (Bieri, 2003). Bieri spricht von der „flukturierenden Freiheit
eines fließenden Selbst“ (Bieri, 2003, 408) und kommt in seinem Konzept der
„angeeigneten Freiheit“ (Bieri, 2003, 381 ff.) einigen Vorstellungen Bergsons
recht nahe. So betont auch er den „gestaltenden, schöpferischen Aspekt des
Entscheidens“ (Bieri, 2003, 382). Ganz ähnlich wie bei Bergson ist auch der
Gedanke, dass die Freiheit des Willens etwas ist, „das man sich erarbeiten muß“
(Bieri, 2003, 383). Man kann dabei mehr oder weniger erfolgreich sein, und es
kann Rückschläge geben, was man an Freiheit erreicht hat, kann wieder ver-
loren gehen. Willensfreiheit ist ein „zerbrechliches Gut“, um das man sich stets
von neuem bemühen muss. Dabei haben für Bieri sprachliche Artikulationen
und auch Gründe eine wichtige Funktion. Der Zugang zur eigenen „tiefen
Persönlichkeit“ ist nicht einfach gegeben, sondern wir müssen diesen Zugang
über die sprachliche Artikulation von Gefühlen und Wünschen selbst herstel-
len. Diese Artikulationen sind der erste Schritt zu einem möglichen Verständnis
unserer Person. Und erst mit diesem Verstehen wächst auch unsere Freiheit.
Der freie Wille ist der „artikulierte“ (Bieri, 2003, 385) und der „gebilligte
Wille“ (Bieri, 2003, 397). Denn nur aufgrund einer solchen Billigung erscheint
uns unser Handeln als freier Ausdruck unserer Persönlichkeit und nicht als
zwanghaftes Resultat eines Bedürfnisses.
Natur und Kultur der Freiheit 423
zentralen Einsichten Hegels besteht darin, dass der Geist nur über seine
Entäußerung – d. h. die konkreten Formen und Gestalten der Welt-
geschichte – zu sich selbst kommt. Cassirer übernimmt diese Denkfigur
insofern, als er den Prozess des Geistes als einen Selbstbefreiungsprozess
im Durchlaufen der verschiedenen symbolischen Formen (Mythos,
Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft etc.) begreift. Er wendet sich
damit gegen alle romantischen, lebensphilosophischen und kulturkriti-
schen Positionen, die – von Rousseau über Bergson bis Heidegger – das
„Eigentliche“ der menschlichen Existenz in einem direkten, unmittel-
baren Selbstverhältnis sehen. Der Mensch ist jedoch, so Cassirers zen-
trale anthropologische Formel, immer und unaufhebbar ein animal
symbolicum (Cassirer, 1996, 51). Jeder Bezug des Menschen, auch sein
Selbstbezug, ist symbolisch vermittelt. In einer Anspielung auf Kleist
sagt Cassirer, dass uns im Unterschied zur tierischen Existenzform die
„Vordertür zum Paradies“ (der Eigentlichkeit, der Unmittelbarkeit, der
Natur …) verschlossen ist, uns aber die Möglichkeit bleibt, den Umweg
(über die symbolischen Formen, die Kultur, die Öffentlichkeit etc.) zu
beschreiten, um zu sehen, ob wir nicht doch durch die „Hintertür“
hineinkommen (Cassirer, 1993, 32 f.). Dieser notwendige Umweg ist
zugleich der Weg der Selbstbefreiung des Menschen.
Symbolisierung bedeutet, daran sei noch einmal erinnert, Reprä-
sentation und Perspektivität. Symbolisierung ermöglicht das Über-
schreiten von und Flexibilität in Situationen und damit ein distanzier-
teres und freieres Verhalten. Identitätsbildung und Selbstbefreiung sind
demnach nur über den Weg der Kultur – d. h. expressive Artikulation
und Symbolisierung – möglich. Diese Annahme darf jedoch nicht zu
der (hegelschen) Vorstellung führen, es handle sich dabei um einen wie
auch immer zu bestimmenden Fortschrittsprozess hin zu einem „immer
authentischerem Individuum“ bzw. zu „immer mehr Freiheit“. Im
Gegenteil, kulturelle wie individuelle Erfahrung lehrt, dass Symboli-
sierungen stets gefährdet sind. Erworbene Selbstverhältnisse sind nicht
stabil, errungene Identitäten und Freiheiten können auch wieder ver-
loren gehen. Das ambivalente Verhältnis von Freiheit und Symbolisie-
rung lässt sich durch einen kurzen Rekurs auf psychoanalytische
Grundeinsichten aufzeigen.32
32 Vgl. auch Bieri, der auf Freud als einer der „Paten“ seiner Konzeption verweist
(Bieri, 2003, 445).
424 Norbert Meuter
Ambivalenz des Symbolisierens
Die Psychoanalyse bietet sich im Zusammenhang der Freiheitsproble-
matik auch deshalb an, weil sie in ihren theoretischen Grundlagen wie
kaum eine andere Disziplin das fundamentale Bedingtsein der
menschlichen Existenz aufgezeigt hat. Sie ist für überzogene Auffas-
sungen über die menschliche Freiheit wenig anfällig. Die oft verwen-
dete Formel vom Ich, das nicht „Herr im eigenen Haus“ sei, fasst das
menschliche Bedingtsein prägnant zusammen. Wir sind in unserem
Erleben und Handeln von Einflüssen bestimmt, die uns größtenteils
unbewusst sind. Auf der anderen Seite bietet uns die Psychoanalyse als
eine Form der Praxis jedoch eine Möglichkeit an, zu diesen Einflüssen
ein neues und anderes Verhältnis zu gewinnen. Die Psychoanalyse ist,
wie Freud sagt, „ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende
Eroberung des Es ermöglichen soll“ (Freud, 1975, 322). Die Praxis der
Psychoanalyse ist dabei als eine Praxis des Symbolisierens und symbo-
lischen Verstehens aufzufassen. Sie ist talking cure im klassischen Sinne:
Der Analysand überlässt sich dem inneren Strom der Gedanken und
Vorstellungen und überführt diese in die symbolische Form der „asso-
ziativen Erzählung“. Der Analytiker sucht in und hinter dieser Form
nach dem, was sich an Ungesagtem versteckt. Das Ziel der psycho-
analytischen Praxis besteht darin, dass der Analysand in zunehmender
Weise Aufklärung über die Verstrickungen seines Erlebens und Han-
delns gewinnt und die Freiheit eines möglichen anderen Erlebens und
Handelns in den Blick bekommt, ohne dass dieses schon inhaltlich
bestimmt wäre. Die psychoanalytische Praxis kann daher als ein Prozess
der Selbstbefreiung durch Artikulation und Symbolisierung verstanden
werden.33
Dabei ist zu beachten, dass Symbolisierungsprozesse nie ab ovo,
sondern immer in einer Welt des bereits Symbolisierten beginnen. Zum
Ausdruck der „eigenen“ Erlebnisse müssen notwendig die schon vor-
handenen „fremden“ Symbole verwendet werden. Wir sprechen von
Anbeginn die Sprache der Anderen, benutzen die Symbole, die von
33 Vgl. hierzu Lorenzer, der in seiner psychoanalytischen Symboltheorie explizit
an Cassirer und insbesondere an Susanne Langer anschließt (Lorenzer, 1972,
1995). Seine interessante Deutung lautet, dass der Freudsche Primärprozess
durch präsentative, der Sekundärprozess durch diskursive Symbolisierungsfor-
men strukturiert wird. Darüber hinaus sucht Lorenzer, das Gespräch mit den
Neurowissenschaften (Lorenzer, 2002).
Natur und Kultur der Freiheit 425
anderen gemacht worden sind. Der Selbstwerdungsprozess besteht in
dieser Perspektive darin, mit dem „fremden“ Material einen authenti-
schen, stimmigen Ausdruck für das „eigene“ Erleben zu finden, das
eigene individuelle Selbst im Fremden zu artikulieren. Selbstwerdung
spielt sich demnach zwischen idiosynkratischen Unverständlichkeiten
und sozialen Klischees ab.34 Die bleibende Ambivalenz dieses Prozesses
hängt mit weiteren Struktureigenschaften der Symbolisierung zusam-
men:35
– Verschiebung: Symbolisierung repräsentiert die symbolisierten Inhalte
bzw. Erlebnisse nicht einfach abbildhaft, sondern unterzieht sie einer
eigenständigen Formung. Die Formbildung eines Erlebnisses schließt
an bereits vollzogene Symbolisierungen an. Der psychoanalytische
Begriff der Verschiebung bezeichnet die dabei entstehenden Ver-
zerrungen. Im symbolisierten Erlebnis werden über Formentspre-
chungen immer auch andere Inhalte gleichsam mitrepräsentiert. Je
mehr sich das Verhalten an diesen anderen Inhalten orientiert, desto
stärker erscheint es „verschoben“.
– #bertragung: Werden die Interaktionen mit dem Anderen symbolisch
organisiert, führt dies auch in sozialer Hinsicht zu Verschiebungen.
Mit dem Phänomen der Übertragung bezeichnet die Psychoanalyse
den Vorgang, dass wir nie nur den jeweiligen individuellen Anderen
in einer konkreten Situation meinen, sondern im Anderen immer
auch weitere Andere bzw. Aspekte dieser Anderen, insbesondere aus
frühkindlichen Erfahrungen, mitrepräsentiert sind. Symbolische In-
teraktionen sind daher prinzipiell von Konflikten und Missverstehen
geprägt.
– Verdr!ngung: In Symbolisierungen finden sich in vielfältiger Weise
Inhalte (versteckt), die in den Bereich der vom Bewusstsein nicht-
akzeptierten Triebwünsche fallen und überhaupt nur in verschobener
Form zugänglich sind. Symbolisierungen führen daher nicht nur zu
befreiten, sondern auch zu „neurotischen“ Selbstverhältnissen.
34 Auch hierzu Lorenzer, 1995.
35 Vgl. die entsprechenden Eintragungen bei Laplanche/Pontalis, 1973.
426 Norbert Meuter
Praxis der Selbstbefreiung
Der hier kulturphilosophisch und psychoanalytisch anvisierte Frei-
heitsbegriff zielt demnach auf die symbolischen Kompetenzen des Indivi-
duums. Der Titel „Kultur der Freiheit“ bekommt dann über seinen
methodischen Sinn hinaus auch eine inhaltliche Bedeutung: Er zielt
darauf, dass das Individuum in der Lage ist, die Möglichkeiten, aber
auch die Ambivalenzen, die sich aus den symbolischen Ressourcen
seiner Kultur ergeben, in sein Verhalten zu integrieren. Um dieses Ziel
zu erreichen, muss es sich selbst in seinem Handeln verstehen und in der
Lage sein, dieses Verständnis symbolisch zu artikulieren. Dabei stellen
Verständnis und Artikulation sich wechselseitig bedingende Aspekte
eines Prozesses dar: Die Möglichkeiten der Artikulation sind abhängig
von der Tiefe des Selbstverständnisses, und die gelungene Artikulation
vertieft ihrerseits das gewonnene Verständnis. Insbesondere gilt es, die
strukturell schwierigen Aspekte der Symbolisierung zu durchschauen.
Verschiebung, Übertragung, Verdrängung und andere „Schattenseiten“
des Symbolisierens lassen sich jedoch nie vollständig ausschalten oder
überwinden, sie gehören konstitutiv mit zum Prozess der Identitäts-
bildung dazu. Eine freie Handlung ist somit Ergebnis der langwierigen
und oft mühevollen symbolischen Arbeit an der eigenen Identität bzw.
an der Ausbildung der „tiefen Persönlichkeit“ des Individuums. Wenn
diese Arbeit gelingt, fällt sie in der Tat ab wie eine „überreife Frucht“
vom Baum.
4. Zur Diskussion zwischen
Philosophie und Neurowissenschaften
Gerhard Roth und Wolf Singer haben mit ihrer These, dass es sich bei
der – lebensweltlich als selbstverständlich vorrausgesetzten – Annahme,
der Mensch besitze einen freien Willen, um eine „Illusion“ handle, die
aktuelle Diskussion um den Freiheitsbegriff ausgelöst.36 Bei der Insze-
nierung dieser These handelt es sich ohne Zweifel um eine herausra-
gende wissenschaftsstrategische Leistung, die dazu beigetragen hat, den
Status der Neurowissenschaften als eine neue Leitdisziplin zu manifes-
tieren. Die These selbst ist natürlich hochgradig metaphysisch und lässt
36 Vgl. Roth, 2001, 2003, 2004a und Singer, 2002, 2003, 2004.
Natur und Kultur der Freiheit 427
sich empirisch nicht überprüften.37 Ohne Zweifel stehen Menschen als
physische Entitäten bzw. lebendige Organismen in kausalen Zusam-
menhängen. Auch unser – freies – Wollen und Handeln geschieht nicht
im luftleeren Raum, sondern steht unter vielfältigen – auch neuronalen
– Bedingungen, sonst könnten wir überhaupt nicht von einem Wollen
und Handeln sprechen.38 Aber wer behauptet, unser Wollen und
Handeln sei determiniert, behauptet viel mehr. Er macht eine Aussage
über die Welt insgesamt, denn seine Behauptung impliziert, dass es von
Beginn an nur eine möglichen Weltverlauf hat geben können.39 Es gibt,
anders formuliert, keinen lokalen Determinismus.
Die Philosophie hat das Diskussionsangebot der Neurowissen-
schaften vielleicht ein wenig zu schnell angenommen. Man sollte sich
jedenfalls nicht freiwillig ins 19. Jahrhundert zurückführen lassen. Die
„Kompatibilität“ von Philosophie und Neurowissenschaften erschöpft
sich jedoch nicht in der Teilnahme am metaphysischen Sprachspiel
„Freiheit und/oder Determinismus“. Der theoretische Rahmen einer
produktiven gemeinsamen Forschung lässt sich zumindest program-
matisch in zwei Hinsichten skizzieren: (1) Die Basis muss in der Evo-
lutionstheorie liegen und (2) sind die Eigendynamiken der kulturellen
Symbolismen zu berücksichtigen.
37 Auch die Libet-Experimente können diese Ansprüche nicht erfüllen, wie Libet
selbst ausdrücklich betont: „Die Annahme, dass die deterministische Natur der
physikalisch beobachtbaren Welt (in dem Maß, in dem sie zutrifft) subjektive
bewusste Funktionen und Ereignisse erklären kann, ist ein spekulativer Glaube
und keine wissenschaftlich bewiesene Aussage.“ (Libet, 2004, 285).
38 Vgl. dazu insgesamt Bieri, 2003; Schwemmer zitiert in diesem Zusammenhang
einen prägnanten Satz von Cassirer (Schwemmer, 2005, 234): „Es ist nicht die
Abwesenheit eines Motivs, sondern der Charakter des Motivs, was eine freie
Handlung ausmacht.“ (Cassirer, 1985, 375).
39 Determinismus ist, so auch Goschke/Walter die These, „dass der gesamte
Zustand der Welt zu jedem Zeitpunkt eindeutig festgelegt ist und sich der
Zustand zum Zeitpunkt t aus dem Zustand zu früheren Zeitpunkten notwendig
und wiederum eindeutig ergibt“ (Goschke/Walter, 2005, 85). Eine solche
Aussage kann sinnvoll nur in Bezug auf vollkommen geschlossene Systeme –
wie sie z. B. in der Mathematik konstruierbar sind – formuliert werden.
428 Norbert Meuter
Evolutionstheorie als gemeinsame Basis
Menschliche Gehirne sind – wie alle anderen biologischen Phänomene
auch – ein Ergebnis evolutionärer Prozesse. Sie befinden sich jedoch,
wie bereits erwähnt, nicht in einem „Tank“, sondern in einem leben-
digen Organismus und organisieren dessen Umweltbeziehungen.40
Lenkt man den Blick systemtheoretisch auf das Umweltverhalten bio-
logischer Organismen, lässt sich, wie hier vorgeschlagen, ein naturalis-
tischer Freiheitsbegriff entwickeln, der seinen Fokus im Überlagern
schematischer Reiz-Reaktions-Muster41 und der Ausbildung zuneh-
mender sozialer Komplexität und Individualisierung der Interaktions-
partner findet. Es entstehen, insbesondere in frühen Phasen der Onto-
genese, nicht-funktionale Spiel- und Freiräume, die von einem un-
mittelbaren Verhaltensdruck entlastet sind. Diese können – auf der
neuronalen Grundlage der Plastizität des Gehirns – für kreative Ver-
haltensweisen genutzt werden. Diese Entwicklung führt dann bei der
Evolution der Hominiden zum Phänomen der Symbolisierung und
damit zu kulturellen Leistungen. Kultur entsteht aus natürlichen
Grundlagen. Die Genese des menschlichen Geistes – und damit auch die
seiner Freiheit – muss naturalistisch erklärt werden – wie sonst? 42
Auch der eingangs skizzierte pragmatische Perspektivendualismus
besitzt ein evolutionäres Fundament. Die beiden Sprachspiele der em-
pirisch kausalen Naturerklärung und der auf Freiheit und Gründe re-
40 Die Relevanz des Embodiment gilt es auch im Hinblick auf neuronale Prozesse
zu sehen. Die Redeweise „das Gehirn entscheidet“ (die von Roth ausdrücklich
verteidigt wird (Roth, 2004b)) ist nicht deswegen problematisch, weil das
Prädikat „entscheiden“ unzulässigerweise aus der Sphäre menschlichen Han-
delns herausgenommen und auf eine biologische Referenz angewendet würde,
sondern weil diese biologische Referenz – das Gehirn – unzulässigerweise
isoliert wird: Nicht das Gehirn entscheidet, sondern der ganze Organismus ist
das „Subjekt“ des Entscheidens; andernfalls droht ein Dualismus zwischen
„Ich“ und „meinem Gehirn“, siehe dazu Goschke/Walter, 2005, 112.
41 Goschke/Walter vertreten daher einen Kompatibilismus: „Für eine kompati-
bilistische Konzeption von Willensfreiheit ist der entscheidende Punkt […],
dass als Folge der Evolution kognitiver Antizipations- und Selbstkontroll-
kompetenzen die Verhaltensselektion beim Menschen nicht länger aus-
schließlich durch die unmittelbare Reizsituation und Bedürfnislage determi-
niert wird, sondern dass wir in Abhängigkeit von mental repräsentierten Zielen
und Erwartungen auf ein und dieselbe Situation in nahezu beliebig unter-
schiedlicher Weise reagieren können.“ (Goschke/Walter, 2005, 95).
42 Vgl. hierzu Meuter, 2006b.
Natur und Kultur der Freiheit 429
kurrierenden Beschreibung unseres Handelns lassen sich offenbar nicht
aufeinander reduzieren. Die, so Habermas, „komplementäre Ver-
schränkung anthropologisch tief sitzender Wissensperspektiven“ (Ha-
bermas, 2005, 175) impliziert nämlich einen evolutionären Vorteil, der
nicht aufgegeben werden kann. Naturerklärungen liefern uns Wissen
über die Welt, nicht-kausale Handlungsbeschreibungen erweitern un-
sere soziale Kompetenz. Die beiden Sprachspiele sind somit als Ergeb-
nisse der Anpassung an verschiedene Umwelten aufzufassen: der na-
türlichen und der sozialen Umwelt. Beide sind – unter evolutions-
theoretischen Gesichtspunkten – unverzichtbar. „Wir sind Beobachter
und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.“ (Habermas, 2005,
173).
Der in der kantischen Tradition in Anspruch genommene „Raum
der Gründe“ kann daher auch nicht als bloße Illusion bzw. Epiphäno-
men konzeptualisiert werden, denn wenn das Sprachspiel der Gründe
keine kausale Funktion besäße, bliebe „aus evolutionstheoretischer
Sicht rätselhaft, warum sich die Natur den Luxus eines ,Raums von
Gründen‘ überhaupt leistet.“ (Habermas, 2005, 186) 43
Vom allmählichen Lockern von Reiz-Reaktions-Ketten bis zum
„Raum der Gründe“ ist es natürlich ein weiter Weg. Aber es gibt diesen
Weg; er führt über die Symbolisierung. Deren Ursprünge liegen in
natürlichen Prozessen des emotionalen Sozialverhaltens höherer Tier-
primaten bzw. evolutionärer Vorläufer der Hominiden; voll entwickelt
ermöglicht sie die sprachliche Artikulation von Argumenten. Die an-
visierte „Versöhnung von Darwin und Kant“ wäre demnach in der
genetischen und strukturellen Analyse von Symbolisierungsprozessen zu
suchen. Dabei ist von Seiten der Philosophie und der Kulturwissen-
schaften – gegen ausschließlich naturalistische Ansätze – jedoch die
Eigendynamik der Symbolisierung zu betonen.
43 Searle hat darauf hingewiesen, „dass er [scil. der Epiphänomenalismus] allem
zuwiderläuft, was wir über die Evolution wissen. Die Prozesse der bewussten
Rationalität sind ein so wichtiger Teil unseres Lebens, und vor allem ein
biologisch so kostspieliger Teil unseres Lebens, dass es so anders als alles wäre,
was wir von der Evolution wissen, wenn ein Phänotyp dieser Größenordnung
überhaupt keine funktionale Rolle im Leben und für das Überleben des Or-
ganismus spielen würde. Bei Menschen und höheren Tieren wird ein enormer
biologischer Preis für bewusste Entscheidungen gezahlt, angefangen von der
Art und Weise, wie die Jungen großgezogen werden, bis zur Blutmenge, die
zum Gehirn fließt.“ (Searle, 2004, 50).
430 Norbert Meuter
Eigendynamik der Symbolisierung
Die symbolische Aktivität des Menschen ist zwar auf eine neuronale
Grundlage angewiesen, die Symbole selbst jedoch sind außerorganische,
materielle Gegenstände, deren Relationszusammenhänge sich nicht auf
rein immanente neuronale Aktivitäten zurückführen lassen.44 Symbole
sind emergente Formen expressiver Interaktionen und Kommunika-
tionen.45 Aufgrund ihrer außerorganischen Materialität bilden sie ei-
gendynamisch eine neue geistige Wirklichkeit. Daher lassen sich die
Strukturen kultureller Werke – in klassisch philosophischer Termino-
logie: die Strukturen des „objektiven Geistes“ – auch nicht mit rein
naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen. Ein Roman z. B. oder ein
Gedicht besitzt eine immanente ästhetische und keine neuronale
„Logik“. Zu ihrem Verständnis benötigt man entsprechendes kulturelles
und historisches – und u. U. durch Kulturwissenschaften aufgearbeitetes
– Wissen, neurowissenschaftliches Wissen über Gehirnprozesse hilft
hier nicht weiter. Mit Aussagen darüber, ob und welche Neuronen z. B.
beim Verfassen oder Lesen bzw. Hören eines Gedichts feuern, sind ja
noch keine gehaltvollen Aussagen über das Gedicht selbst verbunden.
Dies gilt entsprechend für alle geistigen Leistungen des Menschen, d. h.
für Verhaltensweisen, die auf symbolische Formen zurückgreifen. Die
geistigen Leistungen besitzen also eine naturale Grundlage, lassen sich
aber nicht vollständig naturalistisch erfassen.
Mit den beiden genannten Aspekten – Evolutionstheorie und Ei-
gendynamik der kulturellen Symbolismen – wäre jedenfalls ein theo-
retischer Rahmen skizziert, innerhalb dessen sich eine gemeinsame
(naturwissenschaftliche und philosophische) anthropologische Erfor-
schung des Menschen und seiner Leistungen – zu bewegen hätte. Man
könnte sie mit dem Etikett eines „Kritischen Naturalismus“ versehen.
Nicht-Funktionalität der Freiheit
Konkret in Bezug auf das Freiheitsproblem habe ich dazu einige Punkte
ausgeführt. Aus der Dritten-Person-Perspektive der Wissenschaften
erlauben es die angesprochenen Aspekte – Überlagern von Reiz-Re-
aktions-Ketten auf der Grundlage komplexer neuronaler Systeme, zu-
44 Vgl. hierzu Schwemmer, 1997, 2005.
45 Vgl. hierzu Meuter, 2006a.
Natur und Kultur der Freiheit 431
nehmende Individualisierung der Sozialpartner mit rudimentären em-
pathischen Fähigkeiten, spielerische mimetische Aktivitäten mit be-
ginnender Symbolisierung – , die Umrisse eines evolutionstheoretischen
bzw. naturalistischen Freiheitsbegriffs zu skizzieren, ohne auf die ein-
gefahrenen Fragen der Determinismus-Diskussion einzugehen. Mit
Bergson (sowie der kulturphilosophischen und psychoanalytischen Er-
weiterung) lässt sich ein gehaltvoller philosophischer Freiheitsbegriff
entwickeln, der die Erste-Person-Perspektive ausschreibt, ebenfalls
ohne sich in der Determinismus-Diskussion zu verstricken. Das Indi-
viduum erarbeitet sich seine Freiheit in dem Maße, wie es in der Lage
ist, soziale Handlungsroutinen aufzulösen, sich der fließenden Kom-
plexität seines Erlebens anzuvertrauen, aber auch, diese Komplexität
symbolisch zu artikulieren und damit der sich ständig entwickelnden
Persönlichkeit einen authentischen Ausdruck zu geben.
Beide Perspektiven haben ein Strukturmoment gemeinsam, das
einen fruchtbaren Bezugspunkt für die Diskussion zwischen Wissen-
schaften und Philosophie darstellen könnte: Die prim!re Nicht-Funk-
tionalität der Freiheit, sowohl die Natur als auch die Kultur der Freiheit,
vertragen sich offenbar schlecht mit den Zwängen funktionalen Ver-
haltens.46
Bibliographie
Ansermet, François/Magistretti, François (2005): Die Individualit!t des Gehirns.
Neurobiologie und Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bergson, Henri (1985): Das Mögliche und das Wirkliche. In: Bergson, Henri
(Hg.): Denken und schçpferisches Werden. Frankfurt am Main: Syndikat, 110 –
125.
Bergson, Henri (2006): Zeit und Freiheit. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Bieri, Peter (2003): Das Handwerk der Freiheit. #ber die Entdeckung des eigenen
Willens. Frankfurt am Main: Fischer.
Boehm, Christopher (1992): Vocal Communication of Pan Tranglogytes.
Triangulating to the Origin of Spoken Language. In: Wind, Jan /Chiarelli,
Brunetto /Bichakjian, Bernhard /Nocentini, Alberto (Hg.): Language
46 Der Zusatz „primär“ soll dabei andeuten, dass es darum geht, reduktionistische
Funktionalismen zu vermeiden, d. h. solche, in denen eine externe, dem er-
lebenden Selbst evolutionär vorgegebene Funktion behauptet wird. Mit an-
deren Worten: Freiheit ist nicht auf bloße Instrumentalität zu reduzieren, kann
aber selbstverständlich für das Selbst und seine Identität funktionale Bedeutung
(z. B. als Bedingung wertrationaler Deliberationen) besitzen. Für diesen und
weitere Hinweise bedanke ich mich bei Matthias Jung.
432 Norbert Meuter
Origin. A Multidisciplinary Approach. Dordrecht/Boston/London: Kluwer,
323 – 350.
Boesch, Christophe/Boesch, Hedwige (2000): The Chimpanzees of the
Ta&–Forest. Behavioural Ecology and Evolution. Oxford/New York: Oxford
University Press.
Cassirer, Ernst (1985): Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen
Verhaltens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Cassirer, Ernst (1993): ,Geist‘ und ,Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart.
In: Orth, Ernst W. (Hg.): Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften. Leipzig:
Reclam, 32 – 60.
Cassirer, Ernst (1996): Versuch "ber den Menschen. Einf"hrung in eine Philosophie
der Kultur. Hamburg: Meiner.
Dewey, John (1896): The Reflex Arc Concept in Psychology. In: Psychological
Review (3), 357 – 370.
Freud, Sigmund (1975): Das Ich und das Es. In: Freud, Sigmund: Psychologie des
Unbewußten. Studienausgabe Bd. 3. Frankfurt am Main: Fischer, 273 – 330.
Goschke, Thomas/Walter, Henrik (2005): Bewußtsein und Willensfreiheit.
Philosophische und empirische Annäherungen. In: Herrmann, Christoph
S. /Pauen, Michael /Rieger, Jochem W. /Schicktanz, Silke (Hg.): Be-
wußtsein. Philosophie, Neurowissenschaften, Ethik. München: Fink, 81 – 119.
Habermas, Jürgen (2005): Determinismus und Freiheit. In: Habermas, Jürgen
(Hg.): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufs!tze. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 155 – 186.
Herrmann, Christoph S./Pauen, Michael/Min, Byoung K. /Busch, Niko A. /
Rieger, Jochem W. (2005): Eine neue Interpretation von Libets Experi-
menten aus der Analyse einer Wahlreaktionsaufgabe. In: Herrmann,
Christoph S./Pauen, Michael/Rieger, Jochem W./Schicktanz, Silke (Hg.):
Bewußtsein. Philosophie, Neurowissenschaften, Ethik. München: Fink, 120 –
134.
Huffman, Michael A. (1996): Acquisition of Innovative Cultural Behaviors in
Nonhuman Primats. A Case Study of Stone Handling, a Socially Trans-
mitted Behavior in Japanese Maquaques. In: Heyes, Cecilia M. /Gallef Jr.,
Bennet G. (Hg.): Social Learning in Animal. The Roots of Culture. San Diego:
Academic Press, 267 – 289.
Kant, Immanuel (1976): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner.
Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1973): Das Vokabular der Psychoanalyse.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Libet, Benjamin (2004): Haben wir einen freien Willen. In: Geyer, Christian
(Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 268 – 290.
Libet, Benjamin (2005): Mind Time. Wie das Gehirn Bewußtsein produziert.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lorenzer, Alfred (1972): Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Lorenzer, Alfred (1995): Sprachzerstçrung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer
Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Natur und Kultur der Freiheit 433
Lorenzer, Alfred (2002): Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches
Grundverst!ndnis und Neurowissenschaften. Stuttgart: Klett-Cotta.
Meuter, Norbert (2004): Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das
narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften. In: Jaeger, Fried-
rich /Straub, Jürgen (Hg.): Sinn–Kultur–Wissenschaft. Bd. 2: Die Kultur in
der Wissenschaft: Epistemologie, Methodologie und Methodik der Kul-
turwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 140 – 155.
Meuter, Norbert (2006a): Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivit!t des
Menschen zwischen Natur und Kultur. München: Fink.
Meuter, Norbert (2006b): Natur/Kultur. Zwei Aspekte einer anthropologi-
schen Differenz. In: Krois, John M. /Meuter, Norbert (Hg.): Kulturelle
Existenz und symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien.
Berlin: Parerga, 91 – 115.
Oeser, Erhard/Seitelberger, Franz (1995): Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Pauen, Michael (2004): Illusion Freiheit. Mçgliche und unmçgliche Konsequenzen der
Hirnforschung. Frankfurt am Main: Fischer.
Roth, Gerhard (2001): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard (2003): Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Roth, Gerhard (2004a): Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von
Illusionen. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur
Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 218 – 222.
Roth, Gerhard (2004b): Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher
Weise. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur
Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 66 – 85.
Schwemmer, Oswald (1997): Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin/New
York: Akademie-Verlag.
Schwemmer, Oswald (2005): Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundle-
gung. München: Fink.
Searle, John R. (2004): Freiheit und Neurobiologie. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp.
Singer, Wolf (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Singer, Wolf (2003): Ein neues Menschenbild. Gespr!che "ber Hirnforschung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von
Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Wil-
lensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 30 – 65.
Taylor-Parker, Sue/Milbrath, Constance (1994): Conributions of Imitation
and Role-Playing Games to the Construction of Self in Primates. In:
Taylor-Parker, Sue/Mitchell, Robert W. /Boccia, Maria (Hg.): Self-
Awarness in Animals and Humans. Developmental Perspectives. Cambrigde:
Cambrigde University Press, 108 – 128.
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
434 Norbert Meuter
Waal, Frans de (2000): Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei
Menschen und anderen Tieren. München: dtv.
Waal, Frans de (2002): Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der
Tiere. München/Wien: Hanser.
Verkörperte Freiheit –
Der Beitrag des klassischen Pragmatismus
MATTHIAS JUNG
Es ist zwar erst einige Jahre her, dass die aktuelle Debatte um den
Begriff, die Neurobiologie und die Lebenswirklichkeit der Freiheit
durch eine Reihe von Beiträgen in der FAZ eröffnet worden ist,1
dennoch soll hier bereits ein historisierender Blick riskiert werden. Mit
seiner Hilfe lässt sich erkennen, in welchem Maß die erste Phase der
Diskussionen durch etwas geprägt war, was ich ein wenig salopp als
Phänomen der explanatorischen Weltverdoppelung bezeichnen möchte.
Damit bezeichne ich ein methodisches Grundproblem, von dem die
konfliktreiche Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
nicht erst neuerdings geprägt ist: Der methodisch fundamentale Schritt,
ohne den jede Gesprächsanbahnung misslingen muss, besteht hier
nämlich darin, die Explananda unterschiedlicher Theorieansätze so weit
einander anzunähern, dass eine Erklärung im theoretischen Rahmen
von a – sagen wir der Neurobiologie – durch die Protagonisten von b –
sagen wir einer geisteswissenschaftlichen Denktradition – überhaupt als
eine Erklärung ein und desselben Phänomens anerkannt werden kann.
Vom Explanans ist hier überhaupt noch nicht die Rede, denn zur
Debatte steht zunächst eine korrekte Identifizierung des Explanandums.
Man kann Freiheit nur verteidigen, als Illusion entlarven, ihre Be-
dingtheit aufzeigen, sie kompatibilistisch oder alternativistisch deuten
etc., wenn man dabei jeweils über dasselbe spricht. Und genau diese
Grundbedingung war in der ersten Phase der Debatte nicht erfüllt.
Freiheitsfreunde und Freiheitsgegner hatten häufig so verschiedene
Explananda, dass ein gemeinsamer Bezug auf die Sache gar nicht erst
zustande kam.
Um das plastisch zu verdeutlichen, bietet sich ein Vergleich von
Gerhard Roths Schrift F"hlen Denken Handeln (Roth, 2003) mit Peter
Bieris Handwerk der Freiheit (Bieri, 2001) an. Diese Bücher verfolgen
offensichtlich sehr unterschiedliche Absichten und bei Roth ist Freiheit
1 Vgl. Geyer, 2004.
436 Matthias Jung
nur eines unter mehreren Themen; nach deskriptiver Angemessenheit
darf aber dennoch gefragt werden, und auf den deskriptiven Teil, die
Phänomenologie des Begriffs, kommt es mir hier an. In Roths Buch
wird die Identifikation des Explanandums auf zweieinhalb („Kleine
Phänomenologie des Ich“, S. 379–381) bzw. drei („Kurze Phänome-
nologie des Willens und der subjektiv empfundenen Willensfreiheit“, S.
495–498) Seiten versucht; Bieri hingegen verwendet hunderte von
Seiten darauf, subtile Nuancen der Freiheitserfahrung durch narrative
Mittel und solche der phänomenologischen Beschreibung herauszuar-
beiten. Auf der einen Seite der fast exzessive Versuch, hermeneutisch
die Binnenperspektive frei Handelnder zu rekonstruieren, auf der an-
deren Seite eine aufs Äußerste reduzierte prima-facie-Skizze, in der auch
die Rekonstruktion der Freiheitserfahrung schon von der Theorie-
sprache des Neurobiologen imprägniert ist. Der Gegensatz besteht hier
zwischen „dichten“, die Sinnstrukturiertheit ihres Gegenstandes ein-
beziehenden, und „dünnen“, externalistischen Beschreibungen. Gegen
die Fähigkeit letzterer, ihre Objekte erfolgreich zu identifizieren, sind
zahlreiche Einwände vorgebracht worden, die von Dieter Sturma prä-
gnant zusammengefasst werden: „nur in einer dichten Beschreibung,
die auch die Semantik selbstreferentieller Ausdrucks- und Verstehens-
zusammenhänge mit einbezieht, können sich spezifisch menschliche
Fähigkeiten und Eigenschaften zeigen“ (Sturma, 2006, 202).2 Es dürfte
einleuchten, dass sich unter solchen Umständen der Vorwurf des Re-
duktionismus weniger auf das Erklärungsmodell selbst, sondern schon
vorher auf die Entfaltung dessen, was als Gegenstand der Erklärung
gelten soll, beziehen dürfte.
Man könnte nun einwenden, die Vorstellung, Explananda ließen
sich unabhängig von Theoriesprachen bestimmen, sei ohnehin naiv,
und überdies erhebe sich hier der Verdacht einer Immunisierungsstra-
tegie: Die Geisteswissenschaften wollten sich ein Monopol für die
Identifizierung des Explandanums sichern, um dann jede naturwissen-
schaftliche Erklärung als Fehlidentifikation abtun zu können. Hier
kommt nun aber folgender Punkt zur Geltung: Beim Thema der
Freiheit handelt es sich weder um eine natürliche Entität,3 die sich mehr
2 Zu einer auf Ryle zurückgehenden Analyse solcher „dichten“ Beschreibungen
vgl. Sturma, 2006, 199 ff.
3 Damit will ich keineswegs die Möglichkeit ausschließen, Freiheit als ein na-
türliches Phänomen zu behandeln, sondern nur herausstellen, dass es sich hier
um einen „Gegenstand-unter-einer-Beschreibung“ handelt, dessen Identifi-
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 437
oder minder unkontrovers den Sinnen darbieten könnte, noch um eine
theoriegeladene Entität, wie wir sie im Teilchenzoo der Atomphysik
antreffen. Freiheit ist vielmehr ein zentraler Aspekt der Selbsterfahrung
der menschlichen Lebensform, in dem sich deskriptive und normative
Aspekte untrennbar durchdringen. Wer sich als frei erfährt und dies zum
Ausdruck bringt, konstatiert nicht das Vorliegen eines mentalen Zu-
standes, dessen Realität vom Akt des Ausdrucks gänzlich unabhängig
wäre; er steht in einer expressiven Tradition, die auch normative
Komponenten einschließt. Und deshalb ist die Artikulation der Frei-
heitserfahrung in kulturellen Traditionen ein interner Bestandteil ihrer
Phänomenologie. Methodisch formuliert: Die Beschreibungen, die die
Trägersubjekte des Explanandums von diesem liefern, sind normativ für
dessen Identifizierung. Als eine Erklärung des kulturellen Phänomens x
kann nur diejenige Theorie gelten, die vorher ihr Explanandum in Be-
griffen identifiziert hat, die aus der Perspektive der betroffenen Subjekte
als eine – nicht in allen Facetten, so doch in den wesentlichen Zügen –
zutreffende Charakterisierung anerkannt werden können.
Es ist nun sicherlich mehr als eine pro-domo-Argumentation, wenn
man betont, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften im Laufe ihrer
Geschichte subtile Instrumente entwickelt haben, um solche Phäno-
mene angemessen zu beschreiben, deren Eigenart an die Binnenper-
spektive einer sozial vermittelten Selbsterfahrung gebunden ist. Aus der
Perspektive der Naturwissenschaften ist eine hermeneutische Vorge-
hensweise, die es erlaubt, zu verstehen, um was es überhaupt geht,
natürlich nur ein erster Schritt. Aber ohne diesen Schritt können na-
turwissenschaftliche Erklärungen nicht erfolgreich sein, weil sie, bildlich
gesprochen, dann nur einen zahnlosen Papiertiger zur Strecke bringen
können.4 Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass das Kriterium der
Erste-Person-Normativität für die Identifikation des Explanandums zwar
zierung deshalb nur mittels einer kritischen Aneignung dieser lebensweltlich
gebräuchlichen Beschreibung(en) gelingen kann, nicht dadurch, dass durch
deiktische Akte irgendeine Merkmalskonfiguration in der natürlichen Welt
herausgegriffen wird. Diese Kulturabhängigkeit der Identifizierung des Expla-
nandums impliziert aber nicht, um es nochmals zu betonen, auch die Kultur-
abhängigkeit des Explanans.
4 Eine innerneurowissenschaftliche Parallele zu dieser Struktur bildet das Ver-
hältnis von Beobachtungsdaten und Erste-Person-Erlebnissen. Die aufrichtigen
Äußerungen der Probanden über ihre mentalen Zustände sind hier insofern
autoritativ, als sich durch sie überhaupt erst ein Explanandum konstituiert, mit
dem dann bildgebende Verfahren und schließlich theoretische Erklärungen auf
neuronaler Ebene korreliert werden können.
438 Matthias Jung
auf dieser – und nur dieser – Ebene eine Art prima-facie-Heimvorteil für
die auf Sinnstrukturen spezialisierten Geisteswissenschaften mit sich
bringt, aber natürlich keineswegs das Gelingen geisteswissenschaftlicher
Deutungen verbürgen kann. Denn auch geisteswissenschaftliche und
philosophische Theorien können sich in ihrer Theoriesprache so weit
von ihrem Gegenstand entfernen, dass ihnen seine Identifikation miss-
lingt. Ein klassisches Beispiel hierfür bietet Jean-Paul Sartres Behandlung
der Freiheit in seinem populären Vortrag Ist der Existentialismus ein
Humanismus? Die dort entwickelte Theorie einer völlig dekontextu-
alisierten „radikalen Wahl“ („Sie sind frei, wählen Sie, das heißt er-
finden Sie.“) 5 (Sartre, 1968, 19) entfernt sich so weit vom lebenswelt-
lichen Freiheitsverständnis, dass ihr jedenfalls keine identifizierende
Beschreibung gelingt. – Dass eine erfolgreich identifizierende Theorie
Revisionen im prima-facie-Verständnis ihres Gegenstands – und damit
im Selbstverständnis seiner Trägersubjekte – vorschlägt, ist damit na-
türlich keineswegs ausgeschlossen. Was sich aber verbietet, ist eine re-
duktionistische Argumentation nach dem Schema „Ihr denkt, Freiheit
sei x, ich behaupte aber, sie sei y“ (wobei y nicht nur die lebenswelt-
lichen Erklärungen, sondern auch den phänomenalen Tatbestand revi-
diert). An seine Stelle muss, um das Angemessenheitsprinzip in Bezug
auf das Explanandum zu wahren, folgendes Muster treten,: „Ihr denkt
Freiheit sei x, ich behaupte aber, dass die von Euch als x artikulierten
Phänomene besser als y verstanden werden können, und dass y zugleich
eine Erklärung dafür liefert, warum ihr x als x und nicht als y versteht.“
Wenn diese hier sehr summarisch vorgetragene Einschätzung, dass
die erste Phase der Freiheitsdebatte weithin durch das Misslingen der
Identifizierung eines gemeinsamen Explanandums charakterisiert war,
auch nur einigermaßen plausibel ist, bietet es sich an, eine zweite Phase
einzuläuten, die dieses Problem vermeidet. Die Beiträge zu diesem
Band unter dem Titel einer Naturgeschichte der Freiheit erscheinen mir als
überfällige Schritte in eben diese Richtung. Wer nämlich Freiheit
programmatisch eine Naturgeschichte zugesteht, der möchte die dua-
listische Absonderung des Geistes von der Natur ebenso unterlaufen wie
die Obsoleterklärung unseres lebensweltlichen Selbstverständnisses
durch naturalistische Metaphysiken, die aus den Naturwissenschaften
extrapoliert werden. Die genetische Sichtweise vermeidet vorab die
Gefahr, die Frage nach der Freiheit im Sinne einer positiven oder ne-
gativen Existenzaussage zu behandeln, die sich auf eine überzeitlich
5 Vgl. auch Charles Taylors Kritik dieser Auffassung in: Taylor, 1992, 29.
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 439
verstandene Ontologie des Menschlichen bezieht. Pointiert gesprochen
wird damit die Aufmerksamkeit von essentiellen Attributen der Gattung
Mensch zu kontingenten Errungenschaften eines zukunftsoffenen
Prozesses verlagert.
Nun lässt sich die Formulierung von einer „Naturgeschichte der
Freiheit“ in mindestens zwei verschiedenen Weisen deuten. Eine
mögliche Lesart wird prominent von Daniel Dennett vertreten, laut
Merlin Donald dem „capo di tutti capi of the Hardliner school“ (Donald,
2001, 39), aber auch in einer freundlicheren Deutung sicherlich der
prominenteste Vertreter einer philosophischen Richtung, die der erst-
personalen Perspektive jede begriffliche Selbständigkeit absprechen
möchte. Freedom evolves – so lautet der programmatische Titel seines
einschlägigen Buchs (Dennett, 2003). Freiheit erscheint dann nicht als
ein exklusives proprium unserer Gattung, sondern als Resultat einer
evolutionären Tendenz der Vervielfältigung von Möglichkeiten, die
zwar nur im homo sapiens die Form einer wirklichen Wahl zwischen
Alternativen annimmt, aber eben dennoch in Kontinuität zu einer na-
turalistischen Weltsicht steht, in deren Begriffen sie denn auch besser
erläutert werden kann als in der sinnstrukturierten Sprache der Geis-
teswissenschaften. Inwieweit diese naturalistische Rettung der Freiheit
mit einer reichen Phänomenologie unserer Alltagserfahrung als frei
Handelnde verträglich ist und also ihr Explanandum erfolgreich identi-
fiziert, ist die entscheidende Frage. Sie wird in ihrer Dringlichkeit
unabweisbar, wenn man sich auf eine alternative Lesart der „Naturge-
schichte der Freiheit“ konzentriert, die bislang in den Debatten, wenn
ich recht sehe, keine große Rolle gespielt hat: Ich meine die Behand-
lung des Themas im klassischen Pragmatismus.
Mit Dennett und anderen uns zeitgenössischen Autoren haben die
pragmatistischen Autoren gemeinsam, dass Darwins Evolutionstheorie
als der umfassende Rahmen gedeutet wird, in dem sich auch kultur-
und moralphilosophische Erörterungen bewegen müssen. Vor allem
von John Dewey wird Darwins Prinzip der natürlichen Auslese gera-
dezu als vernichtende Widerlegung des Essentialismus aristotelischer
Provenienz gedeutet, den er durch die Dominanz unveränderlicher
Formen bzw. Zweckursachen charakterisiert sieht. Der von Dewey
enthusiastisch begrüßte „Einfluss Darwins auf die Philosophie beruht
darauf, dass er die Phänomene des Lebens für das Prinzip des Übergangs
erobert hat und dadurch die neue Logik für eine Anwendung auf Geist
und Moral und Leben befreit hat.“ (Dewey, 2004, 36) . Doch obwohl
dieses Diktum sicherlich Dennetts Zustimmung finden würde, geht die
440 Matthias Jung
pragmatistische Behandlungsart des Themas – bei allen Unterschieden
etwa zwischen James und Dewey – in eine ganz andere Richtung. Was
die pragmatistische Position in der heutigen Diskussion interessant
macht, ist ihre Aufwertung lebensweltlicher Erfahrung und sinnhafter
Strukturen innerhalb eines evolutionistischen Rahmens. Der Beob-
achterstandpunkt der Naturwissenschaften wird von diesen Autoren
nicht als die ontologisch überlegene Erschließung einer „an sich“
sinnfreien Natur betrachtet, sondern als die interne Ausdifferenzierung
eines basal durch Interaktion mit der sozialen wie natürlichen Umwelt
bestimmten Weltverhältnisses.
Diese Grundstellung führt nun zu einer stärkeren Lesart des Aus-
drucks „Naturgeschichte der Freiheit“. Für einen darwinistischen Autor
wie Dennett stellt sich die Sache so dar, dass der – an sich teleologie-
und sinnfreie – Evolutionsprozess die Mitglieder der Gattung homo sa-
piens in „autonomous human agents“ verwandelt hat: „Human freedom
is real – as real as language, music, and money – so it can be studied
objectively from a no-nonsense, scientific point of view.“ (Dennett,
2003, 305) Diese Formulierung ist insofern bezeichnend, als sie den
„no-nonsense point of view“ mit dem wissenschaftlichen Standpunkt
gleichsetzt. Zwar betont auch Dennett, dass Freiheit als kontingentes
Produkt der Evolution eine fragile Errungenschaft darstellt, von der gilt:
„its persistence is affected by what we believe about it.“ (Dennett, 2003,
ebd.). Die Überzeugungen aber, die über die Fortexistenz der Freiheit
mit entscheiden, sind, wenn man diese beiden Sätze zusammennimmt,
für Dennett wissenschaftliche Überzeugungen. Der Evolutionstheoretiker
wird damit ironischerweise zum Verteidiger der Freiheit auf der Basis
einer naturalistisch-selbstobjektivierenden Perspektive, die für die
Teilnehmerperspektive derer, die sich selbst als frei empfinden, gar
keinen begrifflichen Raum mehr vorsieht. Dennett möchte die Freiheit
retten und gleichzeitig, wie exemplarisch in der Schrift The Intentional
Stance vorgeführt, das mentalistische Sprachspiel zu Grabe tragen. In-
sofern erinnert seine Vorgehensweise an das bekannte Aperçu Nietz-
sches über Kant aus der Frçhlichen Wissenschaft, dieser habe „auf eine ,alle
Welt‘ vor den Kopf stossende Art beweisen“ wollen, „dass ,alle Welt‘
Recht habe“ (Nietzsche, 1988, 504).
Nicht so die pragmatistischen Autoren: Sie hätten Dennetts Dik-
tum, dass das Fortbestehen der Freiheit von unseren Überzeugungen
über sie abhängt, emphatisch bejaht, aber einen ganz anderen Akzent
gesetzt. Für diese Autoren war die Vorstellung, das Selbstverständi-
gungsvokabular unserer alltäglichen Sprache müsse durch das externa-
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 441
listische Beobachtungsvokabular der (Natur-)Wissenschaften nicht nur
ergänzt, sondern ersetzt werden, zutiefst abwegig. Sie unterscheiden
sich von idealistischen und supranaturalistischen Positionen durch ihre
Deutung humaner Sinnstrukturen im Bezugsrahmen eines evoluti-
onären Kontinuums und teilen mit Dennett die Betonung einer „for-
schenden“ Einstellung (Inquiry), die vor nichts halt zu machen braucht,
leugnen aber die von weltanschaulichen Naturalisten unterstellte
Überlegenheit einer sinnasketischen Beobachter- über die sinnzentrierte
Teilnehmerperspektive. Im Gegenteil: Die evolutionäre Kontinuität
menschlicher Kulturgeschichte mit der Geschichte des Lebens über-
haupt erscheint etwa Dewey als zentrales Argument für die praktische
wie epistemische Legitimität einer verstehenden Teilnehmerperspektive
und für die Irrationalität einer Wissenschaft, die sich externalistischen
Reduktionsprogrammen verschreibt. Während also für Dennett die
Naturgeschichte der Freiheit ihre Fortsetzung in der Naturalisierung
lebensweltlicher Selbstverhältnisse findet, geht Dewey den umgekehr-
ten Weg: In die als Naturgeschichte begriffene Evolution einer sinn-
zentrierten Teilnehmerperspektive muss die evolutionäre Errungen-
schaft wissenschaftlicher Untersuchungen integriert werden. In einem
Text aus dem Jahr 1931 artikuliert er diesen für den Pragmatismus
zentralen Punkt als Vorrang der Bedeutung vor der Wahrheit: „Sinn
oder Bedeutung ist von größerem Umfang und höherem Wert als
Wahrheit.“ (Dewey, 2003a, 8) Diese Einsicht darf aber nicht, so beeilt
er sich hinzuzufügen, als Lizenz zur Ermäßigung von Wahrheitsan-
sprüchen verstanden werden.
Eine solche Behauptung ist gefährlich; sie wird leicht in dem Sinn miss-
verstanden, als bedeute sie, Wahrheit sei nicht unter allen möglichen
Umständen von großer Wichtigkeit; während Wahrheit in Wirklichkeit,
wenn überhaupt, so unendlich wichtig ist, nämlich bei der Aufzeichnung
von Ereignissen und Beschreibung von Realitäten, dass wir ihre Ansprüche
sogar auf Gebiete ausdehnen, wo sie keinerlei Rechtsprechung hat. Aber
selbst in Hinblick auf Wahrheiten ist Sinn oder Bedeutung die umfassen-
dere Kategorie: Wahrheiten sind nur eine Klasse von Bedeutungen,
nämlich diejenigen, in denen ein Anspruch auf Verifizierbarkeit durch
Konsequenzen ein immanenter Teil ihrer Bedeutung ist. (Dewey, 2003a,
8 f.)
Ich deute diesen Passus als den Versuch, die epistemische Einstellung der
neutralen Perspektive als interne Ausdifferenzierung der praktisch-sinn-
strukturierten Einstellung von Teilnehmern am Lebensprozess zu deu-
ten und damit zwei Fehldeutungen gleichzeitig abzuweisen: die „Ko-
442 Matthias Jung
lonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) durch szientifische Selbst-
objektivierung und die axiologische Überformung der Forschungsfrei-
heit durch sachfremde Werthaltungen.
Damit sollte die Pointe dieser Lesart einer „Naturgeschichte der
Freiheit“ deutlicher geworden sein: Für Pragmatisten ist die Sinn-
strukturiertheit der Lebenswelt kein epiphänomenales Anhängsel von
Naturprozessen, sondern konstitutiver Bestandteil des evolutionären
Prozesses. Und genau deshalb habe ich oben von einer st!rkeren Lesart
des Begriffs gesprochen: In dem Maß, in dem Freiheit durch ihren
Gebrauch Wirklichkeit gewinnt, geht die Naturgeschichte der Freiheit
in eine Freiheitsgeschichte der Natur über (die freilich, anders als im
Deutschen Idealismus, ohne externe Teleologie auskommen muss und
deshalb kontingent und partiell bleibt). Dieser Gedanke kann wiederum
in einer eher naturalistischen Variante auftauchen, wie in Deweys Ex-
perience and Nature, oder in Gestalt der pluralistischen, religiös aufgela-
denen Metaphysik des späten William James (A Pluralistic Universe). In
beiden Spielarten geht es aber um die Idee einer „Evolution der Evo-
lution“ (Mead, 1980, 357) und spezifisch um die Abhängigkeit der
Freiheit von der Selbstinterpretation der Handelnden und der im Zu-
sammenhang mit dieser hervorgebrachten individuellen und sozialen
Wirklichkeit.
Die Naturgeschichte der Freiheit wird also im Pragmatismus als ein
kontingent-ergebnisoffener Prozess behandelt, der durch graduelle
Abstufungen und durch kontingente, pfadabhängige Entwicklungen,
keineswegs aber durch die vollständige Disjunktion frei/unfrei geprägt
ist. Was wir über Freiheit denken, ob wir uns für ein binnenperspek-
tivisches oder ein externalistisches Vokabular entscheiden, welche Rolle
wir in der Öffentlichkeit szientifischen Objektivierungen zubilligen – all
das bildet nicht ein davon unabhängiges Phänomen nur besser oder
schlechter ab, sondern hat den Charakter von Vollzügen, die den von
ihnen artikulierten Wert selbst realisieren und damit über seine Zukunft
mitbestimmen.
Die Artikulation von Freiheit ist für den pragmatistischen Ansatz
also selbst immer ein performativer Akt, und zwar in dem starken Sinn,
dass sie nicht nur eine vorausgehende Kompetenz (etwa metaphysischer
Freiheit) instantiiert, sondern diese mit erzeugt und fortbestimmt –
ähnlich, wie im Sprechen nicht nur die parole ein Exempel der langue
statuiert, sondern die langue durch die kreative Weiterbestimmung in
einzelnen Sprechakten jeweils neu erzeugt werden muss. Dabei lassen
sich entlang der Linie „Individuum-Gesellschaft-Natur“ typisierend
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 443
drei Ebenen der Verkörperung von Freiheit unterscheiden, die für die
Pragmatisten zugleich Dimensionen der Integration von lebensweltli-
chem Freiheitsverständnis und evolutionärer Perspektive darstellen:
erstens die artikulierende Aneignung des eigenen Willens, zweitens die
pädagogisch-sozialpolitische Schaffung gleicher Freiheitsbedingungen,
drittens die Einbettung des Freiheitsbegriffs in die Naturgeschichte der
Selektivität. Diese drei Dimensionen gehe ich nun, beginnend mit der
biographischen Ausbildung der Freiheit durch, um auf der dritten Stufe
die persönliche und sozioökonomische Ebene mit der naturgeschicht-
lich-evolutionären Perspektive wieder zu verbinden.
Die artikulierende Aneignung des eigenen Willens
Nach einer langen und tiefen seelischen Krise trägt William James am
30. 4. 1870 in sein Tagebuch ein:
Ich denke, gestern war eine Krisis in meinem Leben. Ich beendete den
ersten Teil von Renouviers zweitem ,Essai‘6 und sehe keinen Grund,
warum seine Definition des freien Willens – das ,Festhalten eines Gedan-
kens, weil ich mich dazu entschloss, während ich andere Gedanken gehabt
haben könnte‘ – die Definition einer Illusion sein muß. Auf jeden Fall will
ich für jetzt – bis zum nächsten Jahr – annehmen, dass es keine Illusion ist.
Mein erster Akt freien Willens soll sein, an den freien Willen zu glauben.
( James, 1920, 147)
Diese eindrucksvollen Sätze, Jahre vor der Entstehung des Pragmatismus
im engeren Sinn niedergeschrieben, enthalten in nuce die zentralen
Bestimmungen des pragmatistischen Verständnisses von Freiheit. Sie
vollziehen das, was sie beschreiben – genauer: verschränken in der Per-
formanz die deskriptiven und normativen Aspekte ihres Themas – und
formulieren damit zugleich eine praktische Konsequenz des Glaubens an
die Freiheit, ein Bewährungskriterium, dessen Eintreffen oder Aus-
bleiben zum Zeitpunkt des Vollzugs noch gar nicht antizipiert werden
kann. James entschließt sich, sein Leben aus der Überzeugung heraus zu
gestalten, er habe einen freien Willen. Gerechtfertigt wird dieser Ent-
schluss nicht erst dadurch, dass überzeugende Gründe f"r die Annahme
der Freiheit sprechen, sondern bereits durch die Nichterkennbarkeit
6 Es handelt sich um den zweiten Teil von Charles Renouviers Hauptwerk Essais
de critique g$nerale mit dem Titel Trait$ de psychologie rationelle d’apres les principes
du criticism.
444 Matthias Jung
überzeugender Gegenargumente. (Ähnlich verläuft später die Argu-
mentation in der bekannten Schrift Der Wille zum Glauben. Dass keine
rationalen Ausschlusskriterien vorliegen, sichert dort in Verbindung mit
einem praktisch motivierten Wunsch zum Glauben die Rationalität der
Entscheidung.) Die Kautele „bis zum nächsten Jahr“ macht aber deut-
lich, dass dies nicht im Geist einer dogmatischen Selbstimmunisierung,
sondern fallibilistisch geschieht: Der praktische Glaube soll, sofern nicht
irrational, handlungsleitend werden, weil er nur so imstande ist, zur
Entwicklung der Realität beizutragen, von deren keimhaften Bestehen
er überzeugt ist. Im Bewusstsein dessen, dass die Entfaltung eines Wertes
von der inneren Einstellung der Subjekte zu ihm zum Teil abhängig ist,
nimmt ein Subjekt einen Wert tentativ, in einer aus Hoffnung und
kognitiven Überzeugungen untrennbar gemischten Einstellung an, um
dann den eigenen Lebensvollzug im Lichte dieses Werts als Bestätigung
– mit dem Risiko der Enttäuschung – erfahren zu können. Ich borge
mir, um diese Struktur zu charakterisieren, eine geglückte Formulierung
von Daniel Dennett, die bei ihm allerdings eine Deutung erhält, die von
der erstpersonalen Perspektive gerade absieht: „bootstrapping ourselves
free.“ (Dennett, 2003, 259)
Indem James seinen eigenen Willen zur Freiheit artikuliert, vollzieht
er nicht nur einen performativen Sprechakt in dem oben erläuterten
Sinn, er praktiziert auch gleichzeitig dasjenige, was die Renouviersche
Definition des freien Willens ausmacht, nämlich die Fähigkeit zur
„attentionalen Fixierung“ (Herms, 1979, 80) bestimmter Bewusst-
seinsinhalte. Die zwanzig Jahre später vollendeten Principles of Psychology
rücken, vor allem im Kapitel XI (Attention), diese Fähigkeit so ent-
schieden ins Zentrum, dass James mit einer prägnanten Formulierung
sagen kann: „My experience is what I agree to attend to.“ ( James, 1950,
402) 7 In diesem minimalen Sinn ist Freiheit eine operative Konstante
des Bewusstseinslebens. Weil Menschen aber als Symbolverwender, die
in eine intersubjektive Lebensform eingebettet sind, zu ihrem qualita-
tiven Erleben reflexive Distanz entwickeln, kann diese operative
Konstante ihre humanspezifische Bedeutung erst entfalten, wenn sie
reflexiv angeeignet (bestätigt) 8, also Teil des subjektiven Selbstverhält-
7 Kursiv im Original.
8 Ich knüpfe hier an das Konzept des „reflective endorsement“ an, das Christine
Korsgaard in ihrer Schrift The Sources of Normativity entwickelt hat (Korsgaard,
1996, lecture two). Bei Korsgaard steht die Frage nach dem Verhältnis von
moralischen Intuitionen und geltungskritischer Reflexion im Mittelpunkt. Ich
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 445
nisses und -verständnisses wird. Die Fähigkeit der aufmerksamen Fi-
xierung erweist sich damit als unselbständige, jedoch unentbehrliche
Komponente eines Strukturganzen der Selbsterfahrung und praktischen
Selbstbestimmung. Dies geschieht durch die Artikulation der Freiheit,
einen lebenslangen Prozess, an dem sich wiederum zwei Aspekte un-
terscheiden lassen.
Der erste Aspekt betrifft das grundlegende Selbstverständnis des
Handelnden als frei, also die reflexive Selbsteinholung der gleichsam im
Rücken des Subjekts operativen attentionalen Fixierung. Sie kann, wie
das Beispiels von James‘ Tagebucheintrag eindrücklich zeigt, selbst
emphatischen Handlungscharakter haben, oder aber, weniger krisen-
haft, mit dem zweiten Aspekt artikulierter Freiheit verschmelzen. Dieser
besteht in der sukzessiv-biographischen Aneignung des eigenen Willens.
Hier ist der Gedanke leitend, dass das genaue Profil dessen, was eine
Person wirklich will, nicht einfach durch Introspektion gleichsam dem
empirischen Charakter abgelesen werden kann, sondern erarbeitet, und
das heißt artikuliert werden muss. „Es ist“, wie Peter Bieri lakonisch
formuliert, „erstaunlich schwierig zu wissen, was man will“, denn
„Wünsche sind dem Wünschenden nicht schon dadurch transparent,
daß er sie hat.“ (Bieri, 2001, 385). Dabei ist eine Doppeldeutigkeit der
Rede von „wirklichen“ bzw. „transparenten“ Wünschen zu beachten:
Sie kann nämlich einerseits auf die reflexive Bewusstmachung meiner
first-order-desires 9 zielen, andererseits auf ihre Bewertung durch Werte
und/oder Normen. Ob jemand wissen will, was er faktisch will, oder
was er wollen will, macht einen entscheidenden Unterschied, denn:
„Die Tatsache, daß etwas gewünscht wird, wirft die Frage nach seiner
Wünschbarkeit nur auf; sie beantwortet sie nicht.“ (Dewey, 2001, 260).
Ohne diese Unterscheidung zwischen dem faktisch Gewünschten und
dem gerechtfertigt Wünschbaren kommt eine reflexiv-freie Selbstbe-
ziehung nicht zustande, und „[n]ur ein Kind glaubt […] die Frage nach
verallgemeinere ihren Gedanken hier im Blick auf das Verhältnis des reflexiven,
sprachlich-intersubjektiven Selbst zu den Bedingungen des bewussten Erlebens.
9 Hier greife ich die Terminologie Harry G. Frankfurts auf. Auf die umfangreiche
Diskussion zu dessen Unterscheidung von Wünschen erster und zweiter Stufe
und sein darauf aufbauendes Freiheitsverständnis kann ich hier nicht eingehen,
vgl. aber den Sammelband Freiheit und Selbstbestimmung (Frankfurt, 2001), spez.
die Einführungen durch die Hrsg. Barbara Guckes und Monika Betzler. Meine
eigene Deutung Frankfurts entwickele ich im Kontext des Freiheitsproblems in
Jung, 2006, 204; ausführlicher, aber im Blick auf den Begriff der Erfahrung in
Jung, 2005, 124 f.
446 Matthias Jung
der Wünschbarkeit durch die wiederholte Verkündigung ,Ich will es,
ich will es, ich will es‘ erledigen zu können“. (Dewey, 2001, ebd.)
Den eigenen freien Willen anzueignen, heißt also nicht einfach, ihn
möglichst präzise zu beschreiben. So sicher Sorgfalt, Genauigkeit und
Aufrichtigkeit notwendige Bedingungen sind, um zum Ausdruck
bringen zu können, was man will, sowenig geht es hier in erster Linie
um eine deskriptiv-kenntnisnehmende Einstellung. Wer artikuliert, was
er will, der transformiert qualitativ-intensiv gespürte persönliche Re-
gungen in öffentlich zugängliche Sprechakte und benutzt dazu eine
natürliche Sprache, die von kontrastiven, starken Wertungen,10 mora-
lischen und anderen Normen etc. durchzogen ist. Dieser artikulierende
Sprechakt setzt die in attentionaler Fixierung begonnene Selbstbestim-
mung fort und ist strukturell insofern frei, als zwischen qualitativem
Erleben und sprachlichem Sinn keine abbildrealistische Beziehung
hergestellt werden kann, die dann ein Kriterium dafür liefern könnte,
welche Ausdrucksgestalt welchem Erleben angemessen ist. Bewusstes
Erleben einschließlich seiner intentionalen Fokussierung erzeugt Mög-
lichkeitsräume semantischer Bestimmung, individuiert aber für sich
noch keine semantischen Gehalte. Dies geschieht erst durch die arti-
kulierende Selektion einer bestimmten Möglichkeit. Dieser Selektions-
prozess stellt eine Bewertung dar, und deshalb ist der deskriptive Teil
des Projekts, sich über seine eigenen Wünsche klar zu werden, mit
seinem bewertenden Aspekt („Ich entscheide darüber, von welchen
meiner Wünsche ich will, dass sie mein Selbst bestimmen“) untrennbar
verbunden. Dementsprechend schlage ich vor, die von Peter Bieri an-
geführten drei Facetten der Aneignung, nämlich Artikulation, Verstehen
und Bewertung, (Bieri, 2001, 384) als die nur analytisch trennbaren As-
pekte eines Prozesses zu begreifen, der insgesamt artikulatorischen
Charakter hat.
Der erste Aspekt, den alleine Bieri als Artikulation bezeichnet, be-
zieht sich auf die Gewinnung von Klarheit über die authentischen
Volitionen eines Selbst. Schon hier wäre aber das Bild einer wertfreien
Beschreibung schief, weil es die Interdependenz von Werten und
qualitativen Impulsen unterschlägt. So lässt sich leicht vorstellen, dass
etwa eine Person, die mit einer rigiden und dualistischen Sexualmoral
aufgewachsen ist, den deskriptiven Aspekt der Artikulation ihres freien
Willens erst dann angemessen zur Geltung bringen kann, wenn sie auch
die moralische Bewertung ihrer Sexualität so weit verändert hat, dass
10 Vgl. dazu Taylor, 1992, 11 ff.
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 447
eine unbefangene Wahrnehmung sexueller Impulse überhaupt erst
möglich wird. Freiheit im Sinne der Fähigkeit zur Revision von
Werthaltungen und Freiheit im Sinne der reflexiven Aneignung des
qualitativen Bewusstseinslebens greifen hier ineinander.
Vergleichbares gilt für den hermeneutischen Aspekt, der zwischen der
beschreibenden und der bewertenden Komponente vermittelt. Denn
die biographische Aneignungsarbeit, die mir meinen Charakter in sei-
nem So-sein einschließlich seiner von mir nicht oder nur zögernd ge-
billigten Aspekte verständlich machen kann, greift zwar auf die mir
unverfügbar vorgegebenen Kontingenzen meiner Herkunft etc. zurück;
zu einem verständlichen Ganzen fügen sich aber die Fragmente der
Erinnerung nicht von selbst, sondern erst durch ihre – in der Regel
narrative – Artikulation im Licht bestimmter Werthaltungen, deren
Angemessenheit dabei wiederum dem Test persönlicher Erfahrung
unterworfen wird.
Und vollends ist der Aspekt der Bewertung nicht etwas, das zeitlich
oder logisch erst nach dem Prozess der Ausdrucksbildung anzusiedeln
wäre. Ich kann zwar meine Wünsche nicht angemessen bewerten, wenn
ich sie weder kenne noch verstanden habe. Verstehen und identifizie-
rende Beschreibung erweisen sich aber ihrerseits als abhängig von
Werthaltungen, in denen der qualitative Gehalt und die Bedeutung des
Erlebens nach Maßgabe von intersubjektiven Standards interpretiert
werden. Die drei Aspekte der Artikulation des Willens sind in herme-
neutischen Zirkeln ineinander verschlungen. Wie Peter Bieri über-
zeugend gezeigt hat,11 kommt der Idee des Verstehens seiner selbst bei
diesem Prozess jedoch eine herausgehobene Stellung zu, weil sie es ist,
deren Realisierung erst zwischen den empirischen Volitionen und Er-
lebnissen einer Person und ihren Werthaltungen ein Verhältnis erzeugt,
dass das Selbst emphatisch als frei erfahren kann. Letzteres setzt nämlich
voraus, dass die Person nicht nur ihre faktischen Volitionen, sei es
billigend oder ablehnend, bewertet, sondern dass auch ihre second-order-
Werthaltungen selbst ihrerseits nicht heteronom aufgezwungen sind,
sondern aus einer authentischen Artikulation des eigenen Erlebens er-
wachsen sind, die dieses für die Person selbst verständlich macht. Anders
formuliert: Die reflexive Distanzierung vom qualitativen Bewusst-
seinsleben erzeugt nur dann Freiheit, wenn es sich um, wie Dewey
formuliert, „praktische Teilhabe von innen“ (Dewey, 2003a, 269)
11 Vgl. Bieri, 2001, 404 f., wo sich auch viele subtile Erörterungen von Beispielen
finden, auf die hier aus Platzmangel nicht eingegangen werden kann.
448 Matthias Jung
handelt, um eine Form der Bewertung, die nicht nur zensiert und
subsumiert, sondern das Selbst für sich selbst expliziert.
Durch attentionale Fixierung und semantische Artikulation reali-
sieren Personen ihre – mithin immer bedingte – Freiheit. Dieser bio-
graphische Prozess ist aber eingebettet in interpersonale Beziehungen,
kulturelle Werte, soziale Institutionen und vielfältige Interaktionen mit
der natürlichen Welt. Für die pragmatistische Konzeption einer essen-
tiell verkörperten Freiheit sind diese Einbettungen keine Applikati-
onsfelder einer unverlierbaren Eigenschaft des menschlichen Wesens,
sondern geradezu Bestandteile ihres Begriffs. In seinem Aufsatz Philo-
sophien der Freiheit, dem ich mich nun zuwende, behandelt John Dewey
deshalb die Frage nach einer angemessenen Phänomenologie der Frei-
heit in engstem Zusammenhang mit ihren sozialen und natürlichen
Bedingungen.
Die soziale Konkretisierung der Freiheit
Wer in einem biographischen Prozess der Aneignung des Willens an der
eigenen Freiheit arbeitet, der verhält sich selektiv, wählt bestimmte
Handlungen oder Selbstdeutungen und weist dadurch andere zurück.
Freiheit, Wahl und Individualität stehen so in einem gegenseitigen
Bedingungsverhältnis. Eine der entscheidenden Einsichten des prag-
matistischen Denkens aber ist die soziale Konstitution des Selbst, die
Wechselseitigkeit von Individuierung und Vergesellschaftung, wie sie
im Zentrum des Werkes von Deweys Freund George Herbert Mead
steht. Es wäre daher ein schwerer Fehler, die Artikulationsbedürftigkeit
der Freiheit auf die private Sphäre zu beschränken. Und sobald diese
Sphäre verlassen wird, gerät die gesellschaftliche Wirklichkeit als
Schauplatz von Machtbeziehungen, sozialen Asymmetrien, wirtschaft-
lichen Ungleichgewichten etc. in den Blick. Freiheit konkretisiert sich
dort als Handlungsmacht, als die Fähigkeit, eigene Entscheidungen
nicht nur in der Binnensphäre persönlicher Reflexion, sondern auch
gegenüber anderen und sozialen Institutionen zur Geltung zu bringen.
„Es gibt“, wie Dewey daher betont, „eine immanente Verbindung
zwischen Wahl als Freiheit und Macht des Handelns als Freiheit.“
(Dewey, 2003b, 280). Diesen Gedanken entfaltet er durch eine Kritik
des klassischen Liberalismus, der in seinen Augen das Junktim von
Wahlfreiheit und Handlungsmacht zwar ins Zentrum rückt, es aber
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 449
gleichzeitig auf eine die wirklichen Machtverhältnisse verzerrende
Weise interpretiert.
John Locke, so referiert Dewey, definiert als klassischer Vertreter
des Liberalismus Freiheit als „our being able to act, or not to act, ac-
cording as we shall chuse, or will.“ (Locke, 1975, 248) Diese Definition
verbinde sich in der Folge mit einem politischen Emanzipationsmotiv,
das auf die aktive Wahrnehmung von Rechten ziele, und dem öko-
nomischen Motiv der Entwicklung des Privateigentums und des freien
Gütertausches. Den ökonomistischen Laissez-faire-Liberalismus des 19.
Jahrhunderts mit seiner Vorstellung, „alles positive Handeln der Re-
gierung sei repressiv“ (Dewey, 2003b, 272), deutet Dewey vor dem
Hintergrund einer individualistischen Verlagerung des Akzentes von der
freien Wahl auf die Wunscherfüllung. Und so gelingt es ihm, den
ökonomischen Liberalismus mit einer nichtökonomischen Form der-
selben Idee in Zusammenhang zu bringen, nämlich der „populären
Philosophie des ,Selbst-Ausdrucks‘“: „Die weit verbreitete Idee, per-
sönliche Freiheit bestehe im ,freien‘ Ausdruck von Impulsen und
Wünschen – frei im Sinne von unbeschränkt durch Gesetz, Brauch und
die Hemmungen sozialer Missbilligung“ (Dewey, 2003b, 273), leidet
nun Dewey zufolge exemplarisch an einem Mangel, der auch die
Theorie des ökonomischen Liberalismus präge, nämlich an einem in-
dividualistischen Missverständnis der Begriffe des Wunsches oder Im-
pulses.
Übersehen werde „die Rolle, die die Interaktion mit dem umge-
benden Medium, besonders dem sozialen, bei der Erzeugung von Im-
pulsen und Wünschen spielt. Impulse und Wünsche gelten als der
,Natur‘ des Einzelnen inhärent, wenn diese als ursprünglich, unbeein-
flusst durch Interaktion mit einer Umwelt aufgefasst wird.“ (Dewey,
2003b, ebd.). Weiter schreibt er: „Der wirkliche Fehlschluss liegt in der
Vorstellung, Individuen seien von Natur aus oder ursprünglich so mit
Rechten, Kräften und Wünschen ausgestattet, dass Institutionen und
Gesetze lediglich die Hindernisse beiseite räumen müssen, die sie dem
,freien‘ Spiel der natürlichen Ausstattung von Individuen in den Weg
legen.“ (Dewey, 2003b, 275). Der ökonomische Liberalismus und die
populäre Attitüde des „Express yourself“ – deren wirkliche soziale
Dynamik erst 40 Jahre nach Deweys Aufsatz, nämlich seit der zweiten
Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, sichtbar werden sollte –
können demnach als zwei verschiedene Varianten begriffen werden,
450 Matthias Jung
dem „Mythos des Gegebenen“12 (Sellars) zu erliegen. Und dieser Punkt
lässt sich nun mühelos mit dem Argumentationsgang des vorigen Ab-
schnittes verbinden, in dem es um Freiheit im Sinne der artikulierenden
Aneignung des eigenen Willens ging: Dort wurde gezeigt, dass das
komplexe Zusammenspiel von qualitativem Erleben und semantischer
Deutung jede abbildrealistische Auffassung mitsamt der Privilegierung
des Gegebenen unterläuft. Expressivität im Sinne einer wertfreien, gar
emanzipationsförderlichen Entäußerung ,ursprünglicher‘ Impulse ist
ebenso eine Chimäre wie die Vorstellung des ökonomischen Libera-
lismus, ein normativ entlastetes freies Spiel der Bedürfnisse entspreche
der ,Natur‘ des Menschen.
Zwischen diesen beiden Extremen, denen Dewey denselben Fehl-
schluss nachweist, steuert er seinen pädagogischen und sozialreforme-
rischen Kurs, der bei ihm keineswegs ein bloßes philosophisches Lip-
penbekenntnis ist, sondern sich von der Chicagoer Reformschule bis
zur internationalen Politikberatung dem Test der Praxis aussetzt. Dessen
Details können hier nicht behandelt werden. Die Grundidee aber be-
steht immer in dem Versuch, die kreative Kraft des Individuums mit
den sozialstrukturellen Bedingungen des Handelns in ein Verhältnis
wechselseitiger Stärkung zu setzen. Deshalb bezeichnet Dewey „das
Problem der Beziehung von Wahl und ungehinderter effektiver
Handlung zueinander“ als „das wesentliche Problem der Freiheit“.
Beide Aspekte bilden einen Zirkel, genauer „eine sich erweiternde
Spirale“ (Dewey, 2003b, 280): Damit ist die Idee des Wachstums ein-
geführt, die auf der Realisierung intelligenter Wahlen gegen Wider-
stände und der daraus resultierenden Erweiterung von Handlungs-
möglichkeiten basiert. Ein soziales Wachstum an Freiheit stellt sich nur
dann ein, wenn das Verhältnis der institutionellen und sonstigen sozialen
Vorgaben zu den Präferenzen der Individuen so beschaffen ist, dass
erstere weder als unübersteigbare Mauer noch als vorgebahnter be-
quemer Weg erfahren werden. Nur dann nämlich machen die intelli-
genten Wahlen des Individuums einen Unterschied, wie Dewey mit
zwei kontrastierenden Beispielen aus der Pädagogik illustriert: Erfährt
ein Kind die Einwirkung seiner Umwelt nur als eine äußerliche Dis-
ziplin, unter die es sein eigenes Erleben und Wollen zu subsumieren
12 In einem Text aus dem Jahr 1930 über Qualitatives Denken kritisiert Dewey,
Sellars vorwegnehmend, vehement das „Missverständnis der trügerischen Idee
des ,Gegebenen‘“, sofern diese mentale oder außermentale Objekte bezeichnen
solle (Dewey, 2003a, 107).
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 451
gezwungen wird, kann sich persönliche Freiheit so wenig entwickeln
wie im selteneren Fall eines begünstigten scheinbaren Glückskindes,
dessen Umgebung seinen first-order-Präferenzen so weit entgegen-
kommt, dass zwar ein Maximum an äußerer Freiheit entsteht, Wert-
haltungen, die sich reflexiv und mithin kritisch auf diese Präferenzen
beziehen, aber gar nicht erst ausgebildet werden können.
Freiheit und die Naturgeschichte der Selektivität
Durch die biographische Arbeit an der Artikulation des Willens ent-
wickelt sich die persönliche Freiheit, immer freilich im Rahmen sozialer
Vorgaben, die begrenzt durch Pädagogik und Politik gestaltet werden
können. Damit haben wir bereits zwei aufeinander bezogene Stufen der
Einbettung des abstrakten Freiheitsbegriffs: Freiheit im Sinne der – zu-
nächst attentionalen, später semantisch bestimmenden – Wahl zwischen
Handlungsalternativen ist eingebettet in einen autobiographischen
Prozess der Selbstklärung, der ,entdeckende‘ und wertende Aspekte
verbindet. Dieser Prozess ist seinerseits eingebettet in die Sphäre sozialer
Interaktionen, die teils den Handelnden als institutionelles Sediment
früherer Interaktionen im Rücken liegt, teils durch ihr Handeln selbst
immer neu erzeugt und verändert wird. Mit der dritten Stufe der
Einbettung erweist sich diese komplexe Verschachtelung individueller
und sozialer Freiheit als Teil eines evolutionären Prozesses, also der
Natur. Obwohl Freiheit, gemessen an einer evolutionären Zeitskala,
eine extrem junge Errungenschaft darstellt, ist sie, so argumentiert
Dewey, durch charakteristische Eigenschaften mit anderen Evoluti-
onsstufen verbunden, in diachroner Kontinuität und durch strukturelle
Parallelen zu gegenwärtigen nichtmenschlichen Lebensformen. Das
entscheidende Stichwort hierzu lautet Selektivit!t.
Wie Dewey nun verfährt, um die Naturgeschichte der Freiheit
genauer zu bestimmen, ist für die pragmatistische Position charakteris-
tisch: Er entwickelt nämlich die Idee der freien Wahl aus einer evo-
lutionären Betrachtung des Naturprozesses bis zu dem Punkt, an dem
das spezifisch Menschliche ins Spiel kommt, und führt dann den Begriff
der „individuellen Teilhabe“ (Dewey, 2003b, 271) ein, an dem die
externe Beschreibung in eine binnenperspektivische Sicht der Dinge
überführt werden muss. Diese Argumentation gilt es nun zu rekon-
struieren: Ihren Ausgangspunkt bildet die ontologische Überlegung,
dass „Vorzugshandeln im Sinne von selektivem Verhalten […] eine
452 Matthias Jung
universale Eigenschaft aller Dinge“ ist, „ von Atomen und Molekülen
ebenso wie von Pflanzen, Tieren und Menschen.“ (Dewey, 2003b,
269). Natürlich weiß Dewey, dass es eine anthropomorphe bzw. bio-
morphe Projektion bedeutet, der unbelebten Materie Handeln oder
Verhalten zuzuschreiben. Wie kann er unter diesen Umständen seine
Redeweise legitimieren? Einmal durch den oben erläuterten Primat von
Sinn über Wahrheit, der zur Folge hat, dass die sinnstrukturierte Teil-
nehmerperspektive der Lebenswelt nicht durch die Beobachterper-
spektive der Wissenschaft ersetzt werden kann, die auf propositionale
Wahrheit abzielt. Weil Menschen aber Teil der Natur sind, kommen,
zum anderen, Sinn und mit diesem innere Teilhabe in der natürlichen
Welt vor, eine kontinuitätserhaltende Perspektive zwischen ihnen und
den Naturprozessen muss also möglich sein. Um diese beiden Aspekte
zusammenzudenken, entscheidet sich Dewey für einen methodisch
kontrollierten Anthropomorphismus in der Terminologie. Denn „wenn
in der Wahl nicht zumindest etwas enthalten ist, das mit dem Handeln
anderer Dinge in der Natur in Kontinuität steht, könnten wir ihr wahre
Realität nur dadurch zuschreiben, dass wir den Menschen von der
Natur isolieren.“ (Dewey, 2003b, 269 f.). Dieses „etwas“, Selektivität,
ist natürlich nicht schon Freiheit, aber umgekehrt ist Freiheit wenigstens
Selektivität, und Deweys bewusste Anthropormorphismen legitimieren
sich dann als Ausdruck einer humanen Anstrengung, sich die natürliche
(Vor-) Geschichte der Freiheit begrifflich zu eigen zu machen.
Ein damit eng verknüpftes Beispiel dieser für den Pragmatismus
charakteristischen Tendenz, Kategorien eines in naturgeschichtlicher
Kontinuität verstandenen Humanums dann zur Deutung von Natur-
prozessen nutzbar zu machen, ist Deweys Verbindung von Selektivität
und Individualität. Es klinge vielleicht absurd, Atomen und Elektronen
Präferenzen zuzuschreiben, aber das liege nur an der Wortwahl. Der
systematisch entscheidende Punkt bestehe darin, dass „sie eine gewisse
opake und irreduzible Individualität haben […]. In der Beschreibung
kausaler Sequenzen haben wir immer noch mit realen Dingen zu be-
ginnen und von ihnen auszugehen, mit Dingen, die individuell und
einzigartig genau das sind, was sie sind.“ (Dewey, 2003b, 287).
Diese naturphilosophische Überlegung zur Rolle von Individualität
als Selektivität wird dann mit der Steigerung von Komplexität von
unbelebten Dingen über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen
zusammengebracht, mit dem Ergebnis, dass wir schließlich „eine
wachsende Vielfalt selektiver Reaktionen“ vorfinden, die „von der
Lebensgeschichte oder von schon gemachten Erfahrungen abhängen.
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 453
Die Manifestation von Präferenzen wird zu einer ,Funktion‘ einer
ganzen Lebensgeschichte.“ (Dewey, 2003b, 270). An diesem Punkt
schließt sich der Kreis zu den oben entwickelten Überlegungen be-
züglich der biographischen Aneignung des Willens. Entscheidend ist es
hier, den Zusammenhang mit der Ausbildung von Willenshaltungen
zweiter Stufe zu erkennen, die gesteigerte Vielfalt selektiver Reaktionen
also als Mehrzahl von Reaktionsmçglichkeiten zu deuten, zwischen denen
reflektiert gewählt werden muss. Dewey sieht deutlich, dass eine bloße
Komplexitätssteigerung nur eine notwendige, keine hinreichende Be-
dingung für die Möglichkeit von Freiheit ist, für den „Wandel von
Präferenz zu echter Wahl“ (Dewey, 2003b, ebd.). Die Entstehung einer
inneren Perspektive, eines individuellen Beitrags, wie sie im Begriff der
Freiheit enthalten sind, setzt voraus, dass die biologisch disponierten und
biographisch erworbenen Präferenzen kraft ihrer Diffusität, ihrer in-
neren Gegensätzlichkeit und ihrer aus beidem folgenden semantischen
Interpretationsbedürftigkeit von sich aus nicht mehr handlungsleitend
werden können. Es ist also die innere Differenziertheit und biogra-
phische Plastizität des qualitativen Bewusstseinslebens im Verbund mit der
„Fähigkeit, Zeichen und Symbole zu bilden“ (Dewey, 2003b, 271),
durch die Handlungsfolgen gegeneinander abgewogen werden können,
aus der die Innenperspektive des frei Handelnden hervorgeht.
„Wahl im charakteristisch menschlichen Sinn“ – so fasst Dewey den
zentralen Punkt zusammen – „präsentiert sich also als eine Präferenz
unter und aus Präferenzen; nicht im Sinne einer Präferenz, die schon
besteht und stärker ist als andere, sondern als die Bildung einer neuen
Präferenz aus einem Konflikt von Präferenzen.“13 (Dewey, 2003b, 270).
Die Individualität des Wirklichen, so fasse ich Deweys Gedanken-
gang zusammen, wird im Fall des Menschen selbstreflexiv: Aus einfa-
cher Selektivität wird so Meta-Selektivität, die Fähigkeit, Präferenzen
nicht einfach nach Stärke zu sortieren, sondern die Angemessenheit
konfligierender Präferenzen zu erwägen, und zwar im Blick auf die
Werte und Normen, durch die das Selbst artikuliert, welche praktische
Identität es haben möchte. Die Pointe des pragmatistischen Freiheits-
begriffs ist daher in der Tat die Idee der „inneren Teilhabe“: Die
evolutionäre Geschichte der Natur erreicht mit dem Menschen den
13 Deweys Unterscheidung zwischen der bloßen Entscheidung für die stärkere
Präferenz und der freien Bewertung des Konfliktes zwischen mehreren Präfe-
renzen nimmt präzise Charles Taylors spätere Differenzierungen zwischen
„schwachen“ und „starken“ Wertungen (vgl. Taylor, 1992, 11) vorweg.
454 Matthias Jung
Punkt, an dem Selektivität in die Perspektive eines sozial konstituierten
Selbst einrückt. An diesem Punkt entsteht Freiheit, indem Hand-
lungsmöglichkeiten nun durch den Filter einer unvertretbar eigenen
Wahl gehen m"ssen.
Die Denkfigur einer Naturgeschichte der Selektivität lässt sich daher
als eine ,regulative Idee‘ ansehen, durch die Philosophie und Neuro-
wissenschaften in Beziehung gesetzt werden können: Der Philosophie
erlaubt sie, humanspezifische Freiheit als Binnendifferenzierung evo-
lutionärer Entwicklungen zu beschreiben, die mit der inneren Teilhabe
ein Stadium erreichen, von dem an der „sinnhafte Aufbau“ (Schütz) der
sozialen Lebenswelt das Phänomen mitbestimmt. In den Evolutions-
wissenschaften lenkt er die Aufmerksamkeit auf die neuronalen Prozesse
interner Komplexitätssteigerung, die beim Menschen zu hochgradiger
Entspezialisierung, Flexibilisierung und Verhaltensoffenheit geführt
haben.14 Autoren wie Merlin Donald haben diese beiden Aspekte längst
auch innerhalb eines naturwissenschaftlich geprägten Ansatzes zusam-
mengeführt, indem sie, die isolierte Betrachtung des Gehirns bzw. des
Organismus hinter sich lassend, von einer „brain-culture-symbiosis“
(Donald, 2001, 202) unserer „hybrid minds“ (Donald, 2001, 155)
ausgehen. Die Explananda von Philosophie und Evolutions- bzw.
Neurowissenschaften fallen damit zwar keineswegs zusammen, was
angesichts der unterschiedlichen Fragestellungen und Zugangsweisen
auch weder zu erwarten noch zu wünschen wäre. Aber ein gemeinsa-
mer Bezugspunkt sollte sichtbar geworden sein, und darin liegt doch ein
erheblicher Gewinn.
Bibliographie
Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. #ber die Entdeckung des eigenen
Willens. München/Wien: Hanser.
Dennett, Daniel C. (2003): Freedom Evolves. New York: Viking.
Dewey, John (2001): Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verh!lt-
nisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Dewey, John (2003a): Philosophie und Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp.
Dewey, John (2003b): Philosophien der Freiheit. In: Dewey, John: Philosophie
und Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 266 – 291.
14 Vgl. dazu den 2. Abschnitt von Norbert Meuters Beitrag „Natur und Kultur
der Freiheit“, hier in diesem Band.
Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus 455
Dewey, John (2004): Der Einfluß des Darwinismus auf die Philosophie. In:
Dewey, John: Erfahrung, Erkenntnis und Wert. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, 31 – 43.
Donald, Merlin (2001): A Mind so Rare. The Evolution of Human Consciousness.
New York/London: W.W. Norton & Company.
Frankfurt, Harry G. (2001): Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgew!hlte Texte.
Berlin: Akademie Verlag.
Geyer, Christian (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neu-
esten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Herms, Eilert (1979): Nachwort des Herausgebers. In: James, William: Die
Vielfalt religiçser Erfahrung. Eine Studie "ber die menschliche Natur. Olten:
Walter, S. 481 – 521.
James, William (1920): The Letters of William James. London: Longmans, Green.
James, William (1950): The Principles of Psychology. New York: Dover Publi-
cations.
Jung, Matthias (2005): ,Making us Explicit‘: Artikulation als Organisations-
prinzip von Erfahrung. In: Schlette, Magnus/Jung, Matthias (Hg.): An-
thropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplin!re Per-
spektiven. Würzburg: Königshausen und Neumann, 103 – 141.
Jung, Matthias (2006): Freiheit in Hirnforschung und Alltagserfahrung – von
der Handlung zur Artikulation und zurück. In: Dierken, Jörg/Scheliha,
Arnulf von (Hg.): Freiheit und Menschenw"rde. Studien zum Beitrag des Pro-
testantismus. Tübingen: Mohr Siebeck, 185 – 217.
Korsgaard, Christine (1996): The Sources of Normativity. Cambridge: Cambridge
University Press.
Locke, John (1975): An Essay Concerning Human Understanding. Oxford/New
York: Oxford University Press.
Mead, Georg Herbert (1980): Die philosophische Grundlage der Ethik. In:
Mead, Georg Herbert: Gesammelte Aufs!tze. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, 357 – 370.
Nietzsche, Friedrich (1988): Die frçhliche Wissenschaft. München/Berlin/New
York: dtv/Walter de Gruyter.
Roth, Gerhard (2003): F"hlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Sartre, Jean-Paul (1968): Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere
philosophische Essays 1943–1948. Frankfurt am Main: Ullstein.
Sturma, Dieter (2006): Ausdruck von Freiheit. Über Neurowissenschaften und
die menschliche Lebensform. In: Sturma, Dieter (Hg.): Philosophie und
Neurowissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 187 – 214.
Taylor, Charles (1992): Was ist menschliches Handeln? In: Taylor, Charles:
Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 9 – 51.
Leben ist das größere Problem
Philosophische Annäherung an eine
Naturgeschichte der Freiheit
VOLKER GERHARDT
1. Freiheit im Widerstreit
Über die Freiheit wird derzeit wieder einmal viel gestritten. Schon von
den antiken Denkern sind solche Debatten überliefert, die Philosophen
des 17. und 18. Jahrhunderts haben sie fortgesetzt, und im 19. Jahr-
hundert herrschte der Glaube vor, den Streit endgültig erledigen zu
können. Dass es dazu nicht gekommen ist, liegt auch an den Wider-
sachern der Freiheit: Denn durch nichts wird die Freiheit besser unter
Beweis gestellt, als durch den Versuch, sie zu bestreiten. Warum sollte es
nçtig sein, sie in Abrede zu stellen, und wie sollte das mçglich sein, wenn
es Freiheit nicht gäbe?
Der Versuch, sie zu bestreiten, könnte nur dann als „unfrei“ be-
zeichnet werden, wenn der Theoretiker zu seinen abschlägigen Thesen
gezwungen worden wäre. Denkbar wäre auch, dass er unter Drogen
stünde. Doch ich bin weit entfernt, mit einer despektierlichen Mut-
maßung aufzuwarten. Vielmehr achte ich auch die Freiheit derer, die sie
bestreiten, und wesentlich mit Blick auf die freiwilligen Gegner der
Freiheit unternehme ich einen auf Anschaulichkeit angelegten Versuch,
die Freiheit philosophisch so zu beschreiben, dass auch die lebenswis-
senschaftlichen Apostaten der Freiheit erkennen können, wie sehr die
Freiheit sie nicht nur persönlich, sondern auch in ihrem eigenen Fach,
vornehmlich in Physiologie und Biologie, berührt.
2. Die alltägliche Gegenwart der Freiheit
Freiheit, von der wir Menschen mit Rekurs auf unser Selbstbewusstsein
sprechen, ist die Freiheit unseres eigenen Tuns. Wir wollen tun und
lassen, was wir wollen, und wenn uns daran etwas hindert, sehen wir
458 Volker Gerhardt
unsere Freiheit eingeschränkt. Die Hindernisse können verschieden
sein, wie uns die Rede von der „Beinfreiheit“, die wir uns im Fond
eines Wagens wünschen, die „Armfreiheit“, auf die wir bei der An-
probe eines Jacketts zu achten haben, oder die „Bewegungsfreiheit“
eines Kindes im Laufstall lehrt. Hindernisse anderer Art sind im Spiel,
wenn von der „Reisefreiheit“ des Touristen, von der „Niederlas-
sungsfreiheit“ des Arztes oder von der „Meinungsfreiheit“ die Rede ist.
Freiheit ist also ein Wort, das in vielen Lagen zur Anwendung
kommt. Sogar in der Physik ist von den „Freiheitsgraden“ eines be-
weglichen Körpers die Rede. Aber die vielfältige Verwendung schließt
nicht aus, dass es einen erkennbaren Ausgangspunkt für den weit ge-
fächerten Gebrauch des Ausdrucks gibt.
Die Etymologie des Wortes verweist auf den gesellschaftlichen
Handlungszusammenhang des Menschen. „Freiheit“ hängt in seiner
Herkunft mit „Freund“ und „Frieden“ zusammen; es bezeichnet bereits
in einer frühen gotischen Verwendung den „Zustand der Freihalsig-
keit“. (Kluge, 2002) Dazu braucht man nur zu wissen, dass der Ring um
den Hals das altgermanische Kennzeichen der Sklaven war. „Frei“ war
einer, der nicht direkt dem Willen eines anderen unterstand und somit
seinem eigenen Willen folgen konnte. Als „Freier“ ließ sich somit auch
ein Mann bezeichnen, der eine heiratsfähige Frau aus der Verfügung der
väterlichen Gewalt befreite.
3. Das individuelle Bewusstsein der Freiheit
Selbst wenn die Etymologie uns in die Irre führte, können wir ganz
sicher sein, dass die Bedingung für eine sinnvolle Verwendung des
Begriffs in der menschlichen Selbsterfahrung liegt. Wer nicht von sich
aus weiß, was es heißt, von etwas frei zu kommen, in etwas frei zu sein
oder aber eingesperrt zu werden, der wird wohl nie verstehen, was
„Freiheit“ heißt. Zwar kann er beobachten, wie ein von der Leine
losgelassener Hund seine Bewegungslust austobt; er wird auch eine
Ahnung davon haben, warum Tiere im Zoo so traurig wirken und
warum „Gefängnis“ als eine Strafe gilt; vermutlich wird er auch die
Bilder von der Maueröffnung im Herbst 1989 nicht ohne Anteilnahme
sehen. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass er sich in einem Test zu
einem weitgehend korrekten Gebrauch des Wortes „Freiheit“ als fähig
erweist. Aber verstehen, was Freiheit bedeutet und warum sie dem
Menschen so wichtig ist, wird er vermutlich nicht.
Leben ist das größere Problem 459
Zu diesem Verständnis gelangt man nur, indem man die Freiheit an
sich selbst erfährt. Der letzte Schultag vor den Sommerferien, die Lust,
ungestört im eigenen Zimmer zu sein, die Erlaubnis, aus dem Bü-
cherschrank lesen zu dürfen, was immer man will, oder der erste Ein-
kauf mit eigenem Geld: Das sind Situationen, in denen die Freiheit
offenkundig ist. Auch der alljährlich wiederkehrende Kampf gegen die
kratzigen Winterstrümpfe, gegen das elende „Leibchen“ und die viel zu
langen „kurzen Hosen“ sind in meiner Erinnerung mit echtem Frei-
heitsbewusstsein verbunden. Oder, viel später, das Gewicht der eigenen
Entscheidung f"r die Philosophie und damit gegen den versammelten
Rat der Familie.
Das sind mögliche Erfahrungen, die den ursprünglichen Sinn des
Begriffs der Freiheit bestimmen. Es ist das aus eigenem Erleben stam-
mende, individuelle Freiheitsbewusstsein, dass uns verstehen lässt, was
Freiheit heißt. Es ist nicht zu sehen, warum dieses Bewusstsein im
Widerspruch zu den Kausalrelationen der Natur stehen soll.
4. Kleine Phänomenologie der Freiheit
Die Selbsterfahrung der eigenen Freiheit dürfte eng mit dem Selbst-
vollzug unserer Lebendigkeit verbunden sein. Deshalb reichen ihre Wur-
zeln mit Sicherheit weit in die Naturgeschichte des Lebens zurück.
Folglich ist es auch nicht abwegig, Analogien mit dem ungehinderten
Lebensvollzug von Pflanzen und Tieren herzustellen. Sie werden von
Spinozas umfassender Definition der Freiheit abgedeckt,1 passen aber
auch zum weitläufigen Alltagsgebrauch des Begriffs. Es ist daher kei-
neswegs vergeblich, sich an einer Naturgeschichte der Freiheit zu versu-
chen, die das, was der Mensch an sich selbst erfährt, in einen evoluti-
onären Kontext stellt.
Zunächst aber ist festzuhalten, wie eng der skizzierte menschliche
Erfahrungszusammenhang an das humane Selbstbewusstsein gebunden
ist. Überall dort, wo sich das Individuum als Urheber seiner eigenen
Bewegungen erlebt, wo es ihm gelingt, sich selbst aus einer unbeque-
1 „Dasjenige Ding heißt frei, dass aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur da
ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber oder
vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige, was von einem
anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu
wirken.“ (Spinoza, 1999, I, 7. Definition)
460 Volker Gerhardt
men Lage zu befreien, wo es einem eigenen Wunsch nachgibt oder sich
dem Verlangen eines anderen widersetzt, auch dort, wo es sich selbst
bemühen, seine eigenen Kräfte einsetzen oder aus eigenem Impuls Ja
oder Nein sagen kann: In allen diesen Fällen liegen Erfahrungen vor,
die mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden sind.
Die Erfahrung der Selbstbewegung aus eigenem Impuls gewinnt an
Prägnanz, sobald sie im Kontrast zu den Impulsen anderer steht. Das
geschieht wesentlich durch die Artikulation seines Willens, in dem es den
Impuls des eigenen Strebens für andere kenntlich zu machen sucht. Das
Erleben der eigenen Freiheit ist mit der Aus"bung des eigenen Wollens
verknüpft. Dieses Wollen ist, wie Nietzsche sagt, auf „etwas“ gerichtet.
Aber das Selbstverständnis des Willens ist immer auch dadurch be-
stimmt, dass er sich im Verein mit und im Gegensatz zum Willen anderer
zu behaupten hat. Wollen ist ausdrücklich eigenes Wollen, das sich in
Relation zum Willen eines Gegenübers begreift.
Zwar wird man nachträglich auch dort, wo man ohne nachzu-
denken einfach seinen Eingebungen gefolgt ist, von Ungebundenheit
und Freiheit sprechen. Andererseits kann man sich als extrem unfrei
erfahren, wenn die Tür hinter einem ins Schloss gefallen ist, und der
Weg zurück versperrt ist. Der vom Hochwasser Eingeschlossene, der
vom Schnee Verschüttete, der vor Schreck Gelähmte wird sich in ex-
tremer Bedrängnis fühlen; niemand käme auf die Idee, ihn als frei zu
begreifen, selbst wenn er noch über Handlungsalternativen verfügte.
Hier ist es nicht der Willen eines anderen, der für die Einschränkung
verantwortlich ist, sondern die Situation ist durch einen ungewöhnli-
chen Umstand derart verändert, dass die gewohnten Handlungschancen
nicht gegeben sind.
Gleichwohl dürfte sich das Bewusstsein der menschlichen Freiheit
wesentlich in jenen Lagen schärfen, in denen man sich gegen den Willen
anderer zu behaupten hat. Das schließt nicht aus, dass man es als erhe-
bend und befreiend empfindet, wenn man sich ohne Zwang dem
Willen anderer anschließen kann. Aber dieses „ohne Zwang“, das für
das Erleben der Freiheit grundlegend ist, kann nur in Relation zum
Wollen anderer verstanden werden. Und da Unfreiheit mit Sicherheit
dort gegeben ist, wo man unter dem Diktat des Willens eines anderen
steht, darf man im Umkehrschluss behaupten, dass die eigene Freiheit
sich im Vollzug des eigenen Willens entfaltet.
Leben ist das größere Problem 461
5. Freiheit im Gegeneinander der Willen
In ihrer artikulierten Form, so kann man den Ertrag der kleinen Phä-
nomenologie resümieren, bringt die Freiheit einen gesellschaftlichen
Tatbestand zum Ausdruck: Sie geht zwar von der Fähigkeit zur indi-
viduellen Selbstbewegung aus, setzt aber nicht nur die Kompetenz zum
eigenen Handeln, sondern auch zur Verständigung über die eigenen
Absichten voraus. Ferner unterstellt sie die Realität gegensätzlicher (und
allemal auch individueller) Impulse. Denn nur im polaren Feld von
Gegensatz und möglichem Einverständnis kann das eigene Wollen
wirklich als frei oder unfrei erfahren werden.
Damit kann man die Essenz der Freiheit in der Befreiung von der
Verf"gung durch den Willen eines anderen sehen. Ursprünglich ist jedes
Individuum dem Willen anderer unterworfen. In der Regel sind es die
Eltern, die das Kind in ihrer Obhut haben und nach ihrer eigenen
Einsicht mit ihm verfahren. Doch die organische Eigenst!ndigkeit des
Einzelnen greift in einer normalen Entwicklung sukzessive auf den
Bewegungsapparat und den Ausdruck über. Das Individuum kann, muss
und will sich aus eigenem Antrieb bewegen und hat sich zunehmend
eigenst!ndig zu artikulieren. So entsteht und wächst die Geschicklichkeit
im Umgang mit sich selbst, die eine weitreichende Kontrolle auch sozial
gerichteter Äußerungen im Gefolge hat.
Zugleich wachsen die Eigeninteressen und rufen unvermeidlich
Konflikte hervor. Sie sind es, in denen sich der Wille des Einzelnen
schärft. Im trotzigen „Nein“ des Kindes wird er ihm selbst und anderen
vermutlich zuerst bewusst. Sobald er sich differenzierter äußern kann,
wird der Wille zu einem für einen selbst wie für die anderen erkenn-
baren Movens der Freiheit, die ihr sicherstes Bewusstsein in der Un-
abhängigkeit vom Willen eines anderen hat.
Die Eigenständigkeit des eigenen Wollens ist es somit, die wir
meinen, wenn wir von Freiheit sprechen. Solange sich ein Mensch nach
seinen eigenen Einsichten richten, solange er nach seinen eigenen
Gründen handeln kann, begreift er sich als frei. Und daran ändert sich
nichts, wenn er die Natur sowohl im Ganzen wie auch im Detail als
„determiniert“ bezeichnet. Die „Kausalität aus Freiheit“, von der man
im Anschluss an Kant bis heute spricht, bezieht sich auf die Urheber-
schaft für das eigene Tun. Deren Subjekt ist das sich artikulierende
„Selbst“ und damit das sich seiner selbst bewusste Ich, das keinen An-
haltspunkt dafür gibt, die Kausalität des Individuums könne zur Kau-
salität der Natur in Widerspruch stehen.
462 Volker Gerhardt
Die Zuschreibung der Urheberschaft erfolgt übrigens nicht mit
Blick auf die Hand, die den Backenstreich tut. Die Freiheit ist nicht auf
die Lippen beschränkt, über die das unbedachte Wort gegangen ist, und
meint, selbst wenn sich jemand aus Ärger über sein Tun an die Stirne
fasst, niemals bloß seinen Kopf oder das, was darinnen ist. Sie ist viel-
mehr stets auf den ganzen Menschen gerichtet, und zwar auf die Einheit,
die er in seinem Empfinden, Erleben und Handeln selbst erfährt, die
aber auch von seinesgleichen wahrgenommen und angesprochen wird.
Die organische Einheit eines Lebewesens trägt auch den prakti-
schen, semantischen und symbolischen Konnex seiner Bewegungen.
Die Einheit in der Wirkung und im Sinn seiner Äußerungen hat ihren
Grund in der organischen Selbstbezüglichkeit des lebendigen Wesens,
bei dem alles, was aus eigenen Systembedingungen heraus erfolgt, als
Funktion eben dieses Systems angesehen werden muss. Noch dessen
Offenheit und Veränderbarkeit stehen im Interesse des Systems. Folglich
kann, ja, muss man auch die affektiven und intelligiblen Leistungen
eines Organismus als Momente im Vollzug seiner Eigenart verstehen.
Alles, was ihn daran hindert, nach seiner Eigenart zu agieren und zu
reagieren, schränkt ihn derart ein, dass man von der Behinderung seines
Lebensvollzugs sprechen kann. Das wäre ein Zustand, in dem man es
nicht mehr als „frei“ bezeichnen könnte.
Doch lassen wir zunächst noch offen, ob sich der Begriff der Freiheit
auch auf die ungehinderte Entfaltung nicht-menschlicher Lebewesen
beziehen lässt. Beim Menschen ist es so, dass wir von Freiheit dort
sprechen, wo er sich als Ganzer uneingeschränkt zum Ausdruck bringen
kann. Dabei findet sie ihre Grenze an der Freiheit anderer, nicht aber an
der Natur, erst recht nicht am Gehirn des Menschen, selbst wenn es so
determiniert oder so determinierend wäre, wie es die Abtrünnigen der
Freiheit, die ihre Freiheit nutzen, um Freiheit zu bestreiten, glauben.
Das hier skizzierte Verständnis von Freiheit hat eine lange Tradition.
Jean Bodin hat ihm zu einem klassischen Ausdruck verholfen: „Na-
türliche Freiheit bedeutet für uns, […] keinem lebenden Menschen
unterworfen zu sein und von niemandem anderen Befehle entgegen-
nehmen zu haben als von sich selbst, d. h. von der eigenen Vernunft, die
stets im Einklang mit dem Willen Gottes steht“. (Bodin, 1981, Buch I,
Abschnitt 3) 2
2 Dass Bodin nicht nur an die Übereinstimmung der eigenen Tat mit dem eigenen
Willen, sondern auch an eine Koinzidenz mit dem Willen Gottes denkt, bringt
den Anspruch auf die Vernunft im eigenen Willen zum Ausdruck. Wenn der
Leben ist das größere Problem 463
6. Freiheit nur unter der Gesetzmäßigkeit der Natur
Auch wenn im Gebrauch des ursprünglich auf den handelnden Men-
schen bezogenen Freiheitsbegriffs die Kausalität der Naturereignisse gar
kein Thema ist, bleibt es eine unausweichliche Frage, wie denn der
Mensch mit seinem ihn als Einheit auszeichnenden Freiheitsbewusstsein
in den Zusammenhang jener Naturvorgänge passt, denen er selbst als
Naturwesen zugehört und die er durch den Begriff der Kausalität zu
erfassen sucht.
Die erste und wichtigste Auskunft ist die, dass der Mensch in seinem
Freiheitsbewusstsein auf nichts so sehr angewiesen ist, wie auf die
Verlässlichkeit der ihm bekannten Natur. Bei jedem Schritt, den er tut,
bei jedem Bissen, den er schluckt, bei jedem Werkzeug, das er einsetzt,
und bei jedem Haus, das er baut, vertraut er auf die unverbrüchliche
Gesetzmäßigkeit der umgebenden Welt. Mag er die strikte, alles Ge-
schehen tragende Geltung des Gesetzes der Kausalität auch noch so spät
entdeckt und beschrieben haben: In der Sache gründet er seinen
Umgang mit den Dingen schon immer auf die lückenlose Geltung der
Naturgesetzlichkeit.
Wie hätte der Mensch Waffen ohne die Annahme herstellen kön-
nen, dass sie immer auf dieselbe Weise wirken und durchschnittlich nur
den verletzen, gegen den sie gerichtet sind? Wie hätten die Menschen je
das Feuer domestizieren können, wenn sie hätten befürchten müssen,
dass es jederzeit auch auf die Steine, die Erde, den Ofen oder das
Löschwasser übergreift? Was hätten ihnen das Lernen und die Wis-
senschaft gebracht, wenn die Natur wirklich voller Lücken wäre, die
sich erst dadurch füllen, dass einer sie mit freien Handlungen auszu-
stopfen sucht?
Im Wissen und im handwerklichen Tun, im Planen und Erinnern,
im Umgang mit dem eigenen Körper und den Gegenständen der äu-
ßeren Welt, seien es die gebrannten Ziegel, das Saatgut oder das Vieh:
In alledem geht der Mensch von der Regelmäßigkeit des Naturge-
schehens aus. Er nimmt sie als Voraussetzung seines Handelns an, setzt
sie nach Art eines Mittels ein und kann gar nicht umhin, sie auch noch
jenen Zuständen zu unterstellen, die er mit seinen willentlichen Akti-
Einzelne mit seinem Wollen nicht nur im Augenblick übereinstimmen will,
muss er sich auf einsichtige Gründe stützen, deren Angemessenheit im Hori-
zont seiner Selbst- und Weltkenntnis tatsächlich am besten dadurch angezeigt
werden kann, dass man glauben darf, sie entsprächen dem Willen Gottes.
464 Volker Gerhardt
vitäten erreichen will. Warum denn sollte er selbst eine Ausnahme von
den Naturerscheinungen sein? Oder wird er es schon dadurch, dass er
sich zur Ausnahme erklärt?
Zur Ausnahme macht sich der Mensch jedenfalls noch nicht, wenn
er anderen absichtlich ein Zeichen für das gibt, was geschehen oder
verhindert werden soll. Auch andere Lebewesen geben sich Zeichen,
die Reaktionen, wie gemeinsame Aufmerksamkeit oder Flucht, ver-
anlassen. Auch hier sind gleich bleibende Ursachen und Wirkungen
nicht nur tatsächlich gegeben, sondern auch von den reagierenden
Wesen unterstellt. Nicht nur in der Verständigung über gemeinsame
Reaktionen, sondern auch in der Täuschung von Feinden sind Reg-
elmäßigkeiten habitualisiert, die kenntlich machen, dass auch der Or-
ganismus mit der Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse rechnet. Deshalb
geht man nicht zu weit, wenn man behauptet, dass Freiheit nur möglich
ist, wo sich der Mensch auf die lückenlose Kausalität der Natur verlassen
kann.
Diese Behauptung gilt im Übrigen nicht nur für die !ußeren
Handlungskonditionen, sondern auch für die Vorgänge im Inneren des
Organismus. Jeder Mensch, der isst und trinkt, weiß davon, und wer
eine Kopfschmerztablette nimmt, glaubt daran. Mehr noch: Er müsste
an sich selbst irre werden, wenn seine Kausalität aus Freiheit in Wi-
derspruch zur Kausalität der physischen und physiologischen – und am
Ende natürlich auch – der neuronalen Prozesse stünde.
7. Die Natur im Widerstreit mit sich selbst
Die Natur, die wir sind, die wir erleben und die wir in separierten
begrifflichen Leistungen erkennen, ist kein linearer Prozess im unge-
hinderten Übergang von Ursachen zu Wirkungen. Sie ist zunächst und
in allem ein unendlich vielfältiges, myriadenhaft individuiertes und
organisiertes, in labilen Gleichgewichten nur zeitweilig austariertes, aber
fortlaufend durch sich selbst gestörtes Konglomerat von Gegensätzen,
das überdies in seiner energetischen Grundstruktur auf Quanten beruht,
deren Verhalten sich unter keinen Bedingungen berechnen lässt.
Vermutlich ginge man schon zu weit, wenn man von einem
„System“ repulsiver und attraktiver, antagonistischer und symbiotischer
Kräfte spräche. Aber es kommt unserem Verlangen, selbst Einheit zu
sein, entgegen, wenn wir auch unser Gegenüber als Einheit begreifen.
Und die Freiheit, die mit unserem Einheitsverlangen auf das Engste
Leben ist das größere Problem 465
verbunden ist, schreiben wir auch diesem Gegenüber zu. Daher die
Neigung, die Natur als Ganze selbst als lebendig und eigenständig an-
zusehen und sie begrifflich entsprechend auszuzeichnen.
Gleichwohl verzichte ich darauf, einen Begriff für das Flimmern der
Energien zu finden, das sich uns als Natur zu erkennen gibt. Sicher ist
nur, dass wir viel zu wenig sagen, wenn wir die kausale Ordnung ex-
ponieren, ohne hinzuzufügen, dass sich die Kausalität offenbar bestens
mit der inkommensurablen Vielfalt und den chaotischen Gegensätzen in
ihrer realen Bewegung verträgt. Erst die Kausalität ermöglicht die Bil-
dung und Verstärkung einzelner Kräfte, und es schmälert ihre strenge
Gesetzlichkeit keineswegs, dass sie es ist, die alles wieder zerstört.
Das gilt vor allem für die belebte Natur. Hier konzentrieren und
multiplizieren sich die Gegensätze ins Unabsehbare. Hier bilden sich
immer neue Einheiten, die Lebensformen zerstören und schaffen,
welche ihrerseits neuartige Widerstände stimulieren. Am selben Indi-
viduum und in derselben Gattung gibt es einen rhythmischen Wechsel
von Steigerung und Verfall. Unablässig werden Einheiten gebildet und
wieder vernichtet, einzelne Wesen entstehen und vergehen, wobei es
auch immer wieder vorkommt, dass neue Arten entstehen.
In diesem synergetischen Feld fortgesetzter Kongruenzen und Op-
positionen treten also lebendige Wesen auf, von denen sich, ohne dass
es jemand bestreitet, sagen lässt, dass sie sich „aus eigenem Antrieb“
bewegen. Auch wenn ihre Bewegungen auf Naturgesetzen beruhen
und obgleich sie durch und durch aus lückenlos aneinander liegenden
Stoffen bestehen, die selbst ihrer spezifischen Gesetzmäßigkeit folgen,
haben die lebendigen Wesen dennoch ihre eigene Dynamik, die sich
nach ihren gattungsspezifischen Strukturen und nach Maßgabe ihrer
Lernprozesse vollzieht. Angesichts der von den Apostaten der Freiheit
unterstellten These einer durchgängig durch Kausalität festgelegten
Natur, ist das ein höchst unwahrscheinlicher, vielleicht sogar unmög-
licher Tatbestand.
Und dennoch gibt es ihn. Er manifestiert sich in jedem Akt des
Lebens, das dieselben Theoretiker, die Freiheit bestreiten, als „spontan“
verursacht und als „eigengesetzlich“ beschreiben (Roth, 1990, 167 ff.).
Wenn es aber spontane Bewegung, eigene Dynamik und sich selbst
erhaltende Strukturen gibt, dann ist nicht einzusehen, warum es aus-
gerechnet die Freiheit nicht geben soll, die diese Ursprünglichkeit und
Eigengesetzlichkeit eines lebendigen Wesens zum Ausdruck bringt.
466 Volker Gerhardt
8. Das Beispiel eines Schmetterlings
Es scheint niemanden zu wundern, dass die Kausalität der Natur eine so
große Vielfalt an Formen hervorzubringen vermag und mit ihnen
zahllose Wesen, die sich wechselseitig ihre Existenz streitig machen. Ehe
wir uns über die Freiheit wundern, sollten wir darüber staunen, dass die
Naturkausalität überhaupt so etwas wie Leben zulässt.
Möglich ist das Leben nur, weil die Natur nicht in geschlossener
Front marschiert. Sie wird nicht von einer einzigen Kausalkette gezo-
gen, sondern besteht auf einer Vielzahl sich wechselseitig verstärkender,
behindernder und vernichtender Kräfte, und es ist das Wechselspiel
dieser Kräfte, das zum Aufbau einer organischen Einheit so genutzt
wird, dass sie sich selbst als eine Kraft behaupten kann, die durch die
Integration widerstreitender Kräfte entsteht und alles andere als ein-
deutig berechenbar ist. Angesichts der Vielfalt tatsächlich wirkender
Kräfte ist es, trotz strikter Determination, noch nicht einmal möglich,
die nächstliegende Wirkung vorherzusehen.3
Vielleicht kann man das an einem Beispiel illustrieren: Bei einem
Schmetterling erfolgt der kontingente Richtungswechsel in Bruchteilen
von Sekunden. Jede seiner ausgeführten Bewegungen dürfte kausal
verursacht und dennoch vorab kaum berechenbar sein, weil viel zu viele
vorher gar nicht absehbare Kräfte von außen auf den Organismus und
(teils in Reaktion darauf, teils aus eigenen Strukturbedingungen) in ihm
selbst wirken. Jede Analyse der Bewegung des Schmetterlings hat mit
der Vielzahl von inneren und äußeren Ursachen zu rechnen, deren
Wirkungen in der Bewegung des Insekts zwar eindeutig sind, aber
dennoch schwer vorausberechnet werden können.
Das kann nur gelingen, wenn man die Ganzheit des Organismus ins
Kalkül zieht: Der Organismus ist das „System“, das viele Kräfte auf die
für das Ganze charakteristische Weise vermittelt. Dabei verfährt es in
3 In der nüchternen Sprache von Andreas Herz: „Die Wahrscheinlichkeiten für
bestimmte Ereignisse mögen damit deterministischen Gesetzen gehorchen,
nicht jedoch das Eintreten (oder Nicht-Eintreten) eines Ereignisses. Diese
Schlussfolgerung gilt schon für eine Beschreibung innerhalb der klassischen
Mechanik, da ein Organismus kein abgeschlossenes System darstellt, sondern
permanent mit seiner Umwelt interagiert. Diese ist beliebig hochdimensional
und nicht reproduzierbar. Deshalb kann die zukünftige Entwicklung eines
Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangsbedingungen nie
exakt vorausgesagt werden.“ Vgl. dazu den überarbeiteten Beitrag von Andreas
Herz in diesem Band, S. 41.
Leben ist das größere Problem 467
den einzelnen Akten kausal, aber die Kausalität des Systems, die sich in
den realen Bewegungen des Schmetterlings zeigt, kann nicht auf ein
lineares Ursache-Wirkungsschema reduziert werden, weil viele Ursa-
chen gegenläufig ineinander wirken.4 Dadurch, dass sich das System als
Ganzes verhält, kann es seine eigenen Bewegungsmuster reproduzieren.
Und solange dem System keine Gewalt angetan wird, bewegt es sich
nach seinem eigenen Gesetz. Wenn ein menschliches Wesen dieser
Eigengesetzlichkeit folgt, nennen wir es „frei“. Warum sollte man diese
Redeweise nicht auf andere Lebewesen übertragen können? Ein
Schmetterling im Netz ist nicht mehr frei zu nennen.
9. Eigenes im Wechselspiel der Kräfte
Ich stelle erneut die für das Verständnis von Freiheit entscheidende, aber
in der Regel vergessene Frage: Wie können unter den lückenlos
wirksamen kausalen Kräften der Natur überhaupt die Bewegungs-
spielräume entstehen, die sich im Sinn der Freiheit deuten lassen? Die
Antwort erfordert eine Reflexion auf die Natur, deren Mechanik es
offenbar nicht verhindert, dass Leben entsteht.
Schon diese Art zu reden könnte anstößig klingen, weil es doch die
Mechanik der Natur sein muss, die Leben möglich macht. Wie anders
sollte denn Leben entstanden sein, als unter den Konditionen unaus-
gesetzter Kausalität? Die Frage aber ist, wie die strikte Folge von Ur-
sachen und Wirkungen dazu führen kann, dass sich inmitten der Me-
chanik der Natur separierte Kräfte und Kraftzentren bilden, die ihre
eigene Ordnung haben, um ihr entsprechend zu selegieren und zu rea-
gieren.5 Dass eine Amöbe ihre eigenen Rezeptions- und Reaktions-
formen ausprägt, ist angesichts der Uniformität des Kausalitätsprinzips
ein erstaunlicher Tatbestand.
Nicht weniger verwunderlich ist die Fähigkeit höher organisierter
Lebewesen, nicht nur spezifische, sondern auch individuelle Verhal-
tensformen auszubilden. Sie leben im selben Umfeld und haben den
4 Von einer näheren Betrachtung der nicht eindeutig determinierten offenen
Systeme organischer Wesen sehe ich hier ab und verweise auf den Beitrag von
Andreas Herz in diesem Band.
5 Julian Nida-Rümelin bietet dafür eine verblüffend einfache Erklärung, indem
er in seinem Kugelexperiment demonstriert, dass selbst eine strikt kausale
Naturordnung nicht alle Ereignisse festlegt. Vgl. Nida-Rümelin, 2005, §5,
insbes. 74 f.; Nida-Rümelin 2001, Kapitel 2.
468 Volker Gerhardt
gleichen Aufbau, können sich aber dennoch unterschiedlich verhalten.
Sie können Spielräume nutzen und auf veränderte Lagen mit verän-
derten Programmen reagieren. Eben darin zeigt sich die Eigenart des
Lebens, das Organismen schafft, welche die Fähigkeit auszeichnet, sich
aus eigenem Impuls und in eigener Dynamik zu erhalten. Das Leben hat
seine Eigenart darin, dass es Systeme schafft, die nach ihrer eigenen
Gesetzmäßigkeit verfahren. Die Aussage gilt sowohl für einzelne Wesen
als auch für die Populationen, in denen sie möglich sind.
Allein die Tatsache, dass die Individualität eines Lebewesens nicht
nur in seiner Erscheinungsweise, sondern auch in seinen Verhaltens-
formen zum Ausdruck kommt, beweist einen Spielraum der lebendigen
Natur, der nicht entstehen könnte, wenn es nur die lineare Kausalität
der mechanischen Kräfte gäbe. Tatsächlich aber herrscht der Widerstreit
unablässig aufeinander einwirkender Kräfte, die sich stören und ver-
stärken, aufheben und neu entstehen, in Gleichgewichtslagen binden
und wieder daraus lösen lassen. Es gibt die systemisch geordneten
Wirkungsformen lebendiger Wesen, die jeder Art zu ihrer spezifischen
und jedem Organismus zu seiner individuellen Form des Verhaltens
verhilft. Dadurch sind eigene Äußerungsweisen möglich. Wo es aber
Eigenes gibt, kann es von anderem gefördert, eingeschränkt oder be-
seitigt werden. Das entspricht den Wirkungsformen, die wir aus dem
Gebrauch der menschlichen Freiheit kennen – auch und gerade dort,
wo sie behindert wird.
Wer nun die Besonderheiten einer Gattung oder eines Lebewesens
mit der Kausalität der Natur für vereinbar hält, der hat nicht länger
Grund, einen Widerspruch zwischen Kausalität und Freiheit anzuneh-
men. Denn Freiheit ist der prozessuale Ausdruck der Eigentümlichkeit
eines menschlichen Wesens – in Relation zur Eigentümlichkeit von
seinesgleichen. Sollte es gelingen, dieses Verständnis von Freiheit
plausibel zu machen, böte es die Chance, Vorformen der Freiheit auch
bei anderen lebendigen Wesen kenntlich zu machen. Das entspricht der
Wahrnehmung durch den unbefangen urteilenden Menschen, der
Freiheit (als die nicht behinderte Spontaneität seines eigenen Selbst) im
strengen Sinn zwar nur von sich selbst kennt, in der lebendigen Natur
aber dennoch das ihm Verwandte empfindet. So war es Leibniz und
Kant, Goethe und Alexander von Humboldt möglich, die „freie Natur“
des Lebens zu bewundern, die sie von der „gefesselten Natur“ rein
mechanischer Prozesse zu unterscheiden wussten.6
6 Dazu: Kaulbach, 1965, 23 ff.; Kaulbach, 1968, 62 ff.; ferner Hamel et al., 2003.
Leben ist das größere Problem 469
10. Der natürliche Sockel der Freiheit
„Freiheit“ bezeichnet die ungehinderte Entfaltung einer lebendigen
Bewegung nach den Konditionen, die für das Lebewesen spezifisch
sind. Beim Mensch liegt diese Kondition im eigenen Willen und in der
eigenen Einsicht. Beide treten, vom Suizid abgesehen, in der Regel als
Anwälte der organischen Eigenständigkeit des menschlichen Wesens
auf. Doch selbst der Suizid kann noch als freier Akt der Sicherung der
personalen Integrität begriffen werden. In diesem Fall liegt die Eigen-
ständigkeit im Bewusstsein sozialer und moralischer Verbindlichkeiten,
mit denen sich eine Person identifiziert. Also kann sie selbst noch in
einer aussichtslosen Lage, in der ihr kein Handlungsspielraum mehr zu
bleiben scheint, den Akt der Selbsttötung als frei begreifen.
Sehen wir von der Grenzsituation der Selbsttötung ab, dann liegt die
Freiheit des Menschen in der ungehinderten Eigenständigkeit einer
Selbstbewegung, die auf die Erhaltung des Lebens bezogen ist. Die
Instanz, welche diese Einheit wahrt, kann als Bewusstsein bezeichnet
werden, das seinerseits Instanzen und Instrumentarien zur Regulierung
und Steuerung des Verhaltens in einem durch Wissen und soziale
Verbindlichkeiten strukturierten Umfeld ausbildet. Vernunft, Einsicht
oder Wille sind solche Instanzen und Instrumentarien. Der übliche
Begriffsgebrauch von Freiheit ist auf ihren Einsatz, kurz: auf die intel-
ligiblen Fähigkeiten des Menschen bezogen. Es gibt keinen Anlass,
daran etwas zu ändern. Gleichwohl kann es das Verständnis dieses Be-
griffs von Freiheit erhellen, wenn wir seinen Geltungsbereich ver-
suchsweise auf das Verhalten von Lebewesen übertragen, die vermutlich
nicht über Vernunft, Einsicht und Wille verfügen.
Jedermann weiß, dass in den Freiheitsimpuls des Menschen auch
andere Momente eingehen können. Ohne Antriebe, Empfindungen,
Gefühle und Gewohnheiten hätte es keinen Sinn von Freiheit zu
sprechen. Oft vollstreckt der Wille nur, was die Affekte fordern. Doch
auch dann ist er nicht unfrei. Zwar entspricht es dem Ideal, möglichst
nur nach eigener Einsicht zu entscheiden, aber im Einzelfall muss jede
menschliche Handlung, die von anderen nicht erzwungen ist, als „frei“
bezeichnet werden.7 In ihr folgt der Mensch seinem eigenen Impuls –
bricht auf, wohin er will, liebt die Frau, die ihm gefällt, oder kauft
Dinge, die er gar nicht braucht.
7 Hinzu kommen Handlungen, die durch einen schweren organischen Defekt,
wie zum Beispiel bei einer Sucht, hervorgerufen werden.
470 Volker Gerhardt
Wenn es dem üblichen Sprachgebrauch nicht entgegensteht, auch
in diesen Fällen menschlichen Verhaltens von Freiheit zu sprechen, und
wenn überdies auch noch darauf verwiesen werden kann, dass diese
Rede als durchaus konsequent bezeichnet werden kann,8 spricht
ebenfalls nichts dagegen, den Begriff der Freiheit auf tierisches Ver-
halten anzuwenden, von dem wir annehmen, dass es ohne die Regu-
lation durch Vernunft, Einsicht und Wille auskommt. Gesetzt, man
versteht Freiheit als den (spontanen und nicht gewaltsam behinderten)
Vollzug der Eigenständigkeit, kann man sie auch auf andere Lebewesen
übertragen, obgleich eindeutige Hinweise auf die Wirksamkeit eigener
Einsicht und eigenen Willens fehlen: Auch ein nur seinen spontanen
Regungen, seinem eigenen Verhaltensprogramm oder den gattungs-
spezifischen Regeln seiner sozialen Einheit folgendes Lebewesen kann
als „frei“ gelten, solange es nicht in der Falle sitzt, in einen Käfig ge-
sperrt ist oder an der Leine laufen muss.
Wenn im Kontext unablässig mit- und gegeneinander auftretender
Kräfte, die strenge kausale Gesetze vollstrecken, so etwas wie Leben
auftreten kann, ja, wenn es unter ihren Bedingungen sogar möglich ist,
von Überraschung, Zufall oder fehlender Berechenbarkeit zu sprechen,
dann kann es auch kein Problem sein, eben hier Freiheit für möglich zu
halten, ohne von einem Widerspruch zur kausalen Determiniertheit
auszugehen. Man muss nur in Erinnerung haben, dass die Erfahrung von
Freiheit im vollen Sinn des Wortes nur im Kontext des menschlichen
Handelns möglich ist. Von hier aus kann der Mensch dann Vorformen
seiner Freiheit im Verhalten der Tiere erkennen.
Sogar die – ihrer spezifischen Natur entsprechende – Hinwendung
der Pflanzen zum Licht kann der Mensch als eine Vorstufe seiner ei-
genen Freiheit wahrnehmen, zumal es auch hier die Möglichkeit gibt,
die Pflanzen zu reglementieren. Wie die Erfahrung der Freiheit der
Möglichkeit einer gewaltsamen Behinderung korrespondiert, so ist auch
die Rede von der „freien“ Natur daran gebunden, dass der Mensch ihr
„Fesseln“ anlegen kann.
8 Etwa dann, wenn jemand seinen Intuitionen folgt und sich von den Gründen
anderer nicht beirren lässt. Auch dann handelt er im üblichen Verständnis
„frei“.
Leben ist das größere Problem 471
11. Natürliche Freiheit
Das Leben ist der Bereich der Natur, an dem wir auch „innerlich“
Anteil nehmen. Denn ihm gehören wir nicht nur äußerlich, sondern
gänzlich zu – sowohl in unserem Stoffwechsel als auch in unseren
Empfindungen und Gefühlen. Die Anteilnahme erlaubt uns zu sagen,
ob sich unter den als gegeben beobachteten Bedingungen etwas nach
eigenen Kräften ungehindert entwickeln und bewegen kann. In dieser –
Erkenntnis immer schon voraussetzenden – Anteilnahme können wir
dann sagen, dass sich der Fluss nicht mehr „ungehindert“ durch die
Niederungen schlängelt, sondern durch Dämme in ein festes Bett
„gezwängt“ ist. Wir sehen nicht ohne Beklemmung auf das in Reih und
Glied gesetzte Obst im Spalier, bedauern die mit Maulkorb oder Trense
disziplinierten Tiere oder beschleunigen unversehens, wenn wir einen
Viehtransporter zu überholen haben.
In allen diesen Fällen haben wir eine Vorstellung vom natürlichen
Bewegungsverlauf. Er erscheint uns zwangsläufig als „frei“, sobald wir
ihn mit dem Verhalten vergleichen, das durch äußere Einwirkung er-
zwungen wird. Was der naturbelassenen Bewegung ausdrücklich ent-
gegensteht, erscheint uns als gewaltsamer Eingriff, als Behinderung oder
Zwang, als künstlich und eben damit nicht als „frei“. Dem entspricht
die bereits erwähnte Definition der Freiheit in Spinozas Ethik: „Das-
jenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur
da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber
oder vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige,
was von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte
Weise zu sein und zu wirken.“ (Spinoza, 1999, Teil I, 7. Definition) 9
Die Pointe von Spinozas Axiom liegt in der Verschränkung von
Notwendigkeit und Freiheit. Frei ist das, was sich nach seinem eigenen
Gesetz bewegt. Wir könnten, in Anlehnung an die Terminologie Im-
manuel Kants (dessen Freiheitsbegriff dem Spinozas nicht wider-
spricht),10 auch von der „Selbstorganisation“ des lebendigen Wesens
sprechen.11 Frei ist demnach das, was sich nach eigenen Gesetzen selbst
9 Die Parallele zur Definition Jean Bodins ist offenkundig.
10 Vgl. dazu: Gerhardt, 2006.
11 In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft von 1790, hat Kant eine
ingeniöse Theorie des Lebens entworfen. Mit ihr hoffte er, den lange gesuchten
Übergang von der mechanischen zur dynamischen Naturtheorie zu finden.
Demnach beurteilen wir alles Lebendige als einen Fall von individueller
Selbstorganisation im Prozess einer sich in und durch die Individuen ver-
472 Volker Gerhardt
organisiert. Wie nahe sich in diesem Verständnis Natur und Freiheit
kommen, hat übrigens bereits ein antiker Denker vor Augen geführt.
Wenn Lukrez die Natur als dasjenige definiert, was „selber, spontan alle
Dinge ganz aus sich heraus vollführt“ (ipsa sua per se sponte omnia dis agere
expers), begreift er sie als eine kosmische Selbstorganisation, die sich
jedem einzelnen Lebewesen mitteilt und die ihren höchsten Ausdruck
im Verhalten des vernunftgeleiteten Menschen, vornehmlich natürlich
des philosophierenden Weisen findet (Lukrez, 1973, II, 1092).12
Das unter Anleitung der modernen Biologie entstandene Ver-
ständnis der lebendigen Natur als einer sich in zahllosen Populationen
individuell entfaltenden Selbstorganisation bringt die überlieferten For-
men von Natur und Freiheit einander beträchtlich näher, als dies unter
dem Paradigma der Physik möglich war. Nunmehr erscheint es im-
merhin als denkbar, eine Naturgeschichte der Freiheit zu entwerfen, die
der Kulturgeschichte der eigentlichen, der selbstbewussten Freiheit des
Menschen zugrunde liegt.
mehrenden Gattung. Jeden Organismus betrachten wir so, „als ob“ er im
strukturellen Aufbau wie auch im Gang seiner prozessualen Entwicklung ei-
genen (und damit „freien“) Zwecken folgte. Die lebendigen Zwecke kommen
unserer eigenen Vernunft in der Selbstbewegung organischer Wesen entgegen.
In ihnen zeigt sich die innere Einheit der Natur, für deren Erkenntnis wir nicht
mehr benötigen als das Selbstbewusstsein unserer eigenen Freiheit. Diese
Freiheit erfahren wir in der Selbstbewegung aus eigener Kraft, in der wir
selbstbestimmten Zwecken folgen, so dass wir darin selbst Mittel unserer ei-
genen Zwecke sind. Im Bewusstsein unserer eigenen Freiheit organisieren wir
uns selbst (vgl. Kant, 1902 ff., §49; AA5, 313).
12 Die Feststellung wird in genetischer Perspektive gemacht und bezeichnet die
„befreite Natur“ (natura libera), die sich von ihren „herrischen Zwingherren“
(dominis superbis), den Göttern also, losgelöst hat und sich nun ganz aus eigenen
Impulsen bewegt. Bemerkenswert ist, dass Lukrez auch den weisen Menschen
mit ähnlichen Worten beschreibt, wie die von der Vormundschaft der Götter
befreite Natur: „Doch der übrige Teil der Seele, verstreut durch den ganzen
Körper, gehorcht und bewegt sich nach Willen und Wink des Geistes. Der ist
weise für sich allein aus sich (sibi solum per se sapit), und er freut sich auch für
sich, während nichts weder Körper bewegt noch das Leben.“ (Lukrez, 1973,
III, 142 ff. ). Dazu systematisch: Gerhardt, 1999, 180 ff.
Leben ist das größere Problem 473
12. Die Spontaneität der Selbstorganisation
und die Vielfalt der Arten
Verstehen wir also das Lebewesen als eine in sich kohärente Einheit, die
sich aus eigenem Impuls nach seinen eigenen Regeln zu bewegen vermag:
Niemand braucht anzunehmen, dass diese Regeln im Widerspruch zu
den Gesetzen stehen, nach denen nicht nur die umgebende, sondern
auch die den Organismus durch und durch tragende Natur verfährt. Die
Kausalität gilt außen und innen. Sie ist überall anzutreffen, wo einzelne
Ereignisse in nahtloser zeitlicher Sukzession aufeinander folgen. In sei-
ner physischen Konstitution macht der Organismus keine Sprünge. Das
gilt selbst für jene Fälle, in denen er selbst springt.
Nehmen wir das täglich milliardenfach vorkommende Ereignis des
Sprungs, ganz gleich ob er bei Flöhen, Fröschen, Spatzen, Delphinen
oder Menschenkindern vorkommt. Es ist möglich, weil die Schwerkraft,
die mitwirkenden Elemente und die eingesetzten Kr!fte ihn ausführbar
machen. Er ist aber auch möglich, weil ihn die körperliche Konstitution
des Lebewesens erlaubt. Er muss innerhalb des Sets von Regeln liegen,
die ein artspezifisches Verhalten möglich machen. Wie konnte es, strikte
Kausalität vorausgesetzt, überhaupt dazu kommen, dass einige Arten
springen oder hüpfen, andere Arten aber nicht?
Der Evolutionstheoretiker wird um eine Antwort nicht verlegen
sein: Der von Anfang an auf einzelne Organismen aufgeteilte Prozess
des Lebens war nicht überall den gleichen Bedingungen ausgesetzt. Also
haben sich die Individuen nach den lokalen und epochalen Konditionen
differenziert, so dass sich im Laufe von Jahrmillionen die Regeln der
Selbstorganisation der Lebewesen geändert und zu hoch differenten
Spezies geführt haben. Schon darin zeigt sich eine „Freiheit“ der Natur,
die in der Korrespondenz zu spezifischen Umweltbedingungen ganz
unterschiedlich reagieren konnte und im Laufe der Entwicklung eine
unübersehbare Vielfalt einzelner Arten hervorgebracht hat. Viele kön-
nen springen, viele aber auch nicht. Die Natur hat sich die Freiheit
genommen, die Baupläne der Organismen mal so und mal so anzulegen,
obgleich der strenge Mechanismus der Kausalität (so wie ihn sich die
Deterministen denken) eigentlich eine universelle Uniformität nahe
legt.
474 Volker Gerhardt
13. Die Individualität der Reaktionen
Die gleichen konstitutionellen Regeln, nach denen sich die Individuen
einer Art verhalten, haben ebenfalls nicht die Folge, durchweg zu den
gleichen Verhaltensweisen zu führen. Es ist nicht so, dass alle Flöhe
gleichzeitig in der gleichen Weise springen. Sie springen, jeder für sich
und zwar an Ort und Stelle, also dort, wo sie durch ihren eigenen
Impuls zu einer bestimmten Reaktion auf die äußeren Reize veranlasst
werden.
Die Differenzierung der Individuen potenziert die Differenzierung
der Ausgangslagen um ein Vielfaches, und niemand wundert sich, dass
in der Nacht zwar alle Katzen grau, in ihrem Sprung nach dem Opfer
(an Ort und Stelle) aber vollkommen einzigartig sind. Ich kenne nie-
manden, der unter Hinweis auf die durchgängige kausale Determina-
tion, die Vielfalt in den organischen Vollzügen bestreiten würde. Mir ist
auch niemand bekannt, der die These vertritt, es könne das von so
vielen Zufällen geprägte und so viele Überraschungen bietende Leben
gar nicht geben, weil alles kausal determiniert ist.
Nun könnte jemand behaupten, dass die Vielfalt in den konkreten
Verhaltensweisen die gewachsene Vielfalt der Individuen exakt und
unverrückbar wiedergibt. Dass es zwar die Differenz der Arten und der
Individuen gibt, dass aber jedes Individuum genötigt ist, auf jeden
eindeutig bestimmten Reiz aus seiner Umwelt immer in exakt derselben
Weise zu reagieren. Doch auch das ist offensichtlich nicht der Fall.
Denn die in allen Nächten graue Katze, muss sich vor dem Mauseloch
nicht immer in exakt derselben Weise verhalten: In einem Fall schaut
der Mausekopf genügend weit hervor, so dass sie springt, im andern Fall
aber unterlässt sie es, weil die Erfolgsaussichten weniger günstig sind.
Wie kommt es zu diesem Unterschied: Mal springt sie und mal springt
sie nicht?
Auch hier wäre vermutlich niemand um eine Auskunft verlegen:
Katzen, nicht anders als Flöhe, Frösche, Spatzen oder Delphine, ver-
halten sich individuell zu den teils vorgefundenen, teils selbst geschaffe-
nen Situationen. Es hängt von den jeweils an Ort und Stelle gegebenen
Konditionen im Inneren und im Äußeren des Organismus ab, wie er
reagiert. Ist der Bedürfnisdruck hoch, springt die Katze womöglich
schon bei der kleinsten Regung vor dem Mauseloch; ist es in der Nacht
schon die dritte günstige Gelegenheit, die ihr schon zweimal zu einem
Erfolg verholfen hat, kann es sein, dass sie aus Trägheit gar nicht springt,
Leben ist das größere Problem 475
obgleich sich die Beute schon in ganzer Länge vorgewagt hat. Wie
erklärt uns der Biologe den Unterschied?
Ich vermute, er verweist auf den Gesamtzustand des Organismus:
Hunger setzt die Schwellenwerte herab, Sättigung setzt sie herauf. Doch
das müssen nicht die einzigen Faktoren sein: Hat das Tier Junge zu
versorgen, kommen zusätzliche Reaktionsfaktoren hinzu; die Jahreszeit,
die Witterung, die Lichtverhältnisse und die Windrichtung können eine
Rolle spielen; außerdem muss man die Häufigkeit der Jagdgelegenheit
und des Jagderfolgs nicht nur in einer Nacht in Rechnung stellen.
Die Frage ist nur, wie, wo und wodurch die verschiedenen Ein-
flussfaktoren verrechnet werden. Wie, wo und wodurch wird ent-
schieden, zu welchem Verhalten es kommt? Es versteht sich heute von
selbst, dass man hier nur zu Antworten gelangt, wenn man die Funk-
tionsweise des Gehirns einer Untersuchung unterzieht. Die Funkti-
onsweise des zentralnervösen Organs kann uns vermutlich die wich-
tigsten Auskünfte über die Reaktionsformen der höher organisierten
Lebewesen geben. Deshalb ist die Neurophysiologie gleichsam die
Königs- oder die Zentralratsdisziplin der Verhaltensbiologie. Aber sie
kommt zu überzeugenden Einsichten nur, wenn sie bei allen Erklä-
rungen den Tatbestand einbezieht, dass sich der Organismus als Ganzer
zu verhalten hat.
Auch wenn das Gehirn sich wesentlich mit sich selbst beschäftigt, so
geschieht das doch nur, um die Leistungsfähigkeit für den ganzen Or-
ganismus zu erhöhen. Und stets hängt es vom Gesamtzustand des Or-
ganismus ab, welches Verhalten er bei welchen Umweltreizen zeigt. Die
Individualität des Organismus und die Situativität seiner spezifischen
Reaktionen sind durch die Einheit des Organismus bestimmt. Das ist
schon deshalb kein gewagter Schluss, weil jedes Verhalten eines Or-
ganismus immer schon ein Ausdruck des ganzen Organismus ist. Jeder
Reiz wird dem ganzen Organismus vermittelt; und in jedem Zucken
eines Gliedes, erst recht in jedem (den ganzen Organismus mitneh-
menden) Sprung, reagiert der Organismus ganz. Auch wenn sich zu-
nächst nur die Schnurrbarthaare der Katze sträuben: Es ist die ganze
Katze, die zum Sprung ansetzt.
476 Volker Gerhardt
14. Reflexive Mechanismen
Sobald wir vom Ganzen eines Organismus sprechen, haben wir die lineare
Erklärung nach dem Kausalschema hinter uns gelassen. Alle Einzel-
vorgänge mögen dem direkten Kausalnexus entsprechen, das Ganze
aber reagiert als System, das durch seinen spezifischen Konnex spezifi-
scher Regeln seine eigene Gesetzm!ßigkeit im Umgang mit äußeren
Reizen hat. In Relation zu den separaten externen und internen Vor-
gängen nimmt sich das System, wenn ich so sagen darf, die Freiheit, sich
so zu verhalten, wie es ihm entspricht.
Natürlich gehen wir nicht so weit, jedem System „Freiheit“ nach
Art der menschlichen Selbsterfahrung zuzusprechen. Andererseits aber
käme wohl niemand auf die Idee, dem Organismus die Möglichkeiten
zu hoch spezialisierten und das heißt zugleich: zu hoch individuali-
sierten Verhaltensformen abzusprechen. Da jedes Individuum einzig-
artig ist und im Gang seines Lebens durch die Summierung von Ein-
drücken, Erfahrungen und Leistungen nichts von dieser Individualität
verliert, ist auch nicht anzunehmen, dass sich die Besonderheit des
Systems verliert, in dem das Individuum seine Einheit hat.
Die Lebensgeschichte findet in der körperlichen Beschaffenheit des
Organismus ihren Niederschlag. Aber entscheidend sowohl für den
Organismus wie auch für den Betrachter ist, dass sich gegebene und
gewachsene Individualität im Verhalten des Organismus niederschlagen.
Das Verhalten ist Ausdruck des ganzen Systems, als das wir den Orga-
nismus begreifen. Folglich sind die Exposition und die Expression des
Ganzen durch es selbst vermittelt. – Wem diese Ausdrucksweise zu
geheimnisvoll erscheint, der kann den (immerhin technisch simulier-
baren) Begriff des reflexiven Mechanismus verwenden, der hinreichend
deutlich anzeigt, dass sich das Verhalten eines Organismus nicht auf
lineare Kausalrelationen reduzieren lässt.
Also haben wir in den reflexiven Mechanismen, von denen in
Biologie, Soziologie und Informatik die Rede ist, eine reale Form
physischer Wirksamkeit in nicht linear-kausaler Form.13 Wir brauchen
13 Das ist der Prozess, um den es bei der Freiheit geht. Wenn reflexive Mecha-
nismen mit der Naturkausalität vereinbar sind (woran offenbar niemand
zweifelt), dann braucht es auch zwischen Leben und Kausalität keinen Wi-
derspruch zu geben – ganz gleich wie man die Kausalität zu fassen sucht. Wenn
aber zwischen Leben und physikalischer Ordnung kein Widerspruch besteht,
braucht es ihn auch zwischen Freiheit und Kausalität nicht zu geben. Das ist die
schlichte These, die aus meiner Überlegung folgt.
Leben ist das größere Problem 477
den Bezug auf die individuell verstandene Einheit eines lebendigen
Wesens. Dieser Bezug liegt uns nicht zuletzt deshalb so nahe, weil wir
uns selbst als lebendige Einheit begreifen. Entsprechendes gilt für soziale
Körperschaften, in denen wir uns selbst als ein lebendiger Teil einer
lebendigen Einheit verstehen. Dieses Verständnis kann durch die kau-
salmechanische Reduktion schon deshalb nicht bestritten werden, weil
es auch noch den Prozess der Erkenntnis trägt, der zu kausalmechani-
schen Reduktionismen führt.
15. Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen
Um wenigstens bis an die Schwelle eines systematischen Modells zur
Rekonstruktion der Evolution der Freiheit zu gelangen, brauchen wir
nur (ich sage „nur“) an die Stelle der sprungbereiten Katze einen seiner
selbst bewussten Menschen zu setzen. Es genügt dann schon, das
menschliche Bewusstsein als eine Instanz der kommunikativ verfügba-
ren Realität zu fassen (Gerhardt, 2005), die es ermöglicht, Verhalten
wenigstens partiell zu kontrollieren und zu koordinieren, um zu sehen,
dass sich durch das Bewusstsein die Zahl der systembedingten Ein-
flussfaktoren exponential erhöht.
Ohne das Bewusstsein in seinen Leistungen zu überschätzen, kann
man sagen, dass es die Selbstreferenz des Systems erheblich steigert. Im
bewussten Zustand werden sachhaltige Momente des Wissens, die
Ausdruck einer mit anderen bewusst geteilten Wirklichkeit sind, in den
Komplex der Selbstorganisation einbezogen. Der auf den Sprung bereite
Mensch wartet auf den vereinbarten Anruf, um sich endlich auf den
Weg in den Kreißsaal zu machen. Er hat noch vor Augen, wie es bei der
Geburt des ersten Kindes war. Deshalb wartet er schließlich auch nicht
länger, sondern gehorcht seiner inneren Unruhe und fährt schon vorher
los. Niemand zwingt ihn dazu. Seine Frau hat erst gestern noch einmal
betont, er müsse nicht dabei sein, wenn er nicht wolle. Doch die Er-
innerung an das erste Mal, die Vermutung, dass es der Frau, trotz der
gespielten Gelassenheit, wichtig ist, wenn er dabei ist, nötigen ihn, den
Anruf gar nicht erst abzuwarten.
Hier reagiert ein Organismus aufgrund der Regeln, die zur natu-
ralen und kulturellen Konstitution seiner Spezies gehören, auf eine
Unzahl von äußeren und inneren Gegebenheiten an Ort und Stelle, und
er tut dies ganz, also als eine Einheit, die durch die reflexiven Mecha-
nismen der Erinnerung und der bewussten Absicht individuell derart
478 Volker Gerhardt
komplex werden, dass es (um nicht von einem Gott zu sprechen) nur
einem Supercomputer möglich wäre, den ganzheitlichen Effekt der
ganzheitlichen Verrechnung aller Faktoren, die zum Verhalten des
Menschen führen, aktuell zu erfassen.
Diese Verrechnung im Ganzen eines Organismus zu einem Ganzen
des Verhaltens, das überdies in einer kommunikativ erschlossenen so-
ziokulturellen Einheit verständlich sein muss, kürzen wir ab und spre-
chen von „Freiheit“, wenn das menschliche Individuum die für sein
eigenes Verständnis wichtigen Momente zu überschauen glaubt und
sich ihnen im eigenen Verhalten überlässt. Das kann es nicht, wenn es
durch ein anderes Individuum ausdrücklich an der Ausführung des
Verhaltens gehindert wird. Ist das aber nicht der Fall und kann es
Auskunft über die vermutlich ausschlaggebenden Momente des eigenen
Verhaltens geben, kann es die von ihm selbst in seiner bewusst erfah-
renen Ganzheit beglaubigten Faktoren „Gründe“ nennen. Wenn er dies
tut, sind wir überzeugt, dass er im Bewusstsein der Freiheit gehandelt
hat. Dabei hat er nur die Unendlichkeit der individuellen Bedingungen,
die durch seine eigene Konstitution, durch die Besonderheit in Raum
und Zeit, die Spezifika seiner Kultur und die der gerade gegebenen
sozialen Konstellation so abgekürzt, wie das für die sachhaltige Ver-
ständigung selbstbewusster Wesen üblich ist.
Wenn es möglich sein soll, unter diesen Bedingungen im Rekurs
auf die von bewussten menschlichen Wesen beanspruchte intentionale
Steuerung ihres Verhaltens sinnvoll zu handeln, ist es unverändert
zweckmäßig, sich unter Berufung auf den Begriff der Freiheit zu ver-
ständigen. Dabei brauchen wir nicht zu unterstellen, dass im Menschen
die Natur in zwei Teile zerfällt. Also brauchen wir auch nicht erst zu
Kompatibilisten zu werden, um sinnvoll von Freiheit zu sprechen.
Wenn wir den Unterschied zwischen einem Teil und einem Ganzen
beachten, verfügen wir auch schon über die ganze Kunst des Perspek-
tivismus, mit dem uns ein Teil der Philosophen die Freiheit verständlich
macht.
In meinen Augen genügt es, wenn wir nur ernsthaft versuchen, die
Eigenart des Lebens zu verstehen. Denn der Physikalismus scheitert
nicht erst am Geist, sondern bereits an den Prozessen des Lebens. Und
im Vergleich von Freiheit und Leben ist Leben allemal das größere
Problem.
Leben ist das größere Problem 479
Bibliographie
Bodin, Jean (1981): Sechs B"cher "ber den Staat. München: C.H. Beck.
Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualit!t. Stutt-
gart: Reclam.
Gerhardt, Volker (2005): Die Instanz der Realität. In: Merkur. Deutsche Zeit-
schrift f"r europ!isches Denken (677/687), 273 – 283.
Gerhardt, Volker (2006): Menschheit in meiner Person. Exposé zu einer
Theorie des exemplarischen Handelns. In: Byrd, B. Sharon/Joerden, Jan
C. (Hg.): Jahrbuch f"r Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics.
Bd. 14. Berlin: Duncker & Humblot, 1 – 10.
Hamel, Jürgen/Knobloch, Eberhard/Pieper, Herbert (Hg.) (2003): Alexander
von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften.
Augsburg: Rauner.
Kant, Immanuel (1902 ff.): Kritik der Urteilskraft. Berlin/New York: de Gruy-
ter.
Kaulbach, Friedrich (1965): Der philosophische Begriff der Bewegung. Studien zu
Aristoteles, Leibniz und Kant. Köln/Graz: Böhlau.
Kaulbach, Friedrich (1968): Philosophie der Beschreibung. Köln/Graz: Böhlau.
Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wçrterbuch der deutschen Sprache. Berlin/
New York: de Gruyter.
Lukrez (1973): De rerum natura. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalit!t. Stuttgart: Reclam.
Nida-Rümelin, Julian (2005): #ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam.
Roth, Gerhard (1990): Gehirn und Selbstorganisation. In: Krohn, Wolfgang/
Küppers, Günter (Hg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen
Revolution. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 167 – 180.
Spinoza, Baruch de (1999): Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg:
Meiner.
Namenregister
Anderson, Michael L. 11 Chisholm, Roderick 289–292, 307,
Ansermet, François 409f. 326
Aristoteles 320 Chrysipp 229
Armstrong, David M. 185 Church, Alonzo 277
Audubon, John J. 31 Clarke, Randolph 289
Clayton, Nicola S. 89
Baddeley, Alan D. 83 Crick, Francis C. 88
Baird, Jodie 109
Basar-Eroglu, Canan 125 Danto, Arthur C. 221
Beckermann, Ansgar 267 Darwin, Charles 10, 19, 31, 96, 113,
Bekoff, Marc 389 212–216, 392, 403, 406f., 429,
Bergson, Henri 23, 182, 416–423, 439
431 Daston, Lorraine 181, 194
Bermpohl, Felix 312f., 316 Deecke, Lüder 118, 125f.
Bieri, Peter 151, 267, 284f., 422f., Delius, Juan D. 188
427, 435f., 445–447 Dennett, Daniel 3, 439–441, 444
Birnbacher, Dieter 10 Depew, David 180
Bischof, Norbert 120, 181f. Descartes, René 70f., 285f., 293,
Blackburn, Simon 299 298, 367, 388
Blackmore, Susan 197
Dewey, John 23, 408, 439–442,
Blaisdell, Aaron P. 89f.
445–453
Bodin, Jean 462, 471
Dicke, Ursula 152, 154f., 159,
Boehm, Christopher 410
162f., 166
Böhme, Hartmut 181
Dickinson, Anthony 89
Bohr, Nils 49
Bok, Hilary 233 Dilthey, Friedrich Wilhelm 222,
Bovens, Luc 234 224f.
Breidbach, Olaf 194 Donald, Merlin 3, 8, 249, 439, 454
Broad, Charlie 291 Dretske, Fred 185
Bugnyar, Thomas 90 Du Bois-Reymond, Emil 194
Byrd, B. Sharon 479 Dupré, John 4, 8, 11f.
Byrne, Roger 168f.
Eccles, John C. 121f., 293
Call, Josep 97, 108f., 111 Edelman, Gerald M. 91
Campenhausen, Christoph von Eidam, Heinz 197f.
194f. Eimer, Martin 9, 339
Carnap, Rudolf 234 Ekstrom, Laura W. 289
Carpenter, Malinda 108f., 111 Elepfandt, Andreas 64
Cartwright, Nancy 7f., 11, 32 Engelen, Eva-Maria 22, 112, 367,
Cassirer, Ernst 218, 401–403, 413, 411
422–424, 427 Epikur 257, 293f.
Chalmers, David J. 256 Ewer, Rosalie Francis 379
482 Namenregister
Fechner, Gustav Theodor 190, Hampton, Robert 101–104, 107f.
194f., 197 Hartmann, Susanne 234
Ferber, Rafael 252, 257–259, 263 Hassel, Sabine 363
Fernandez-Duque, Diego 109 Hawking, Stephen W. 120
Fischer, John Martin 270 Haynes, John-Dylan 42, 123, 128
Fischer, Julia 16, 133, 182, 303, 411 Heckhausen, Heinz 150
Flavell, John 95, 98, 111f. Hegel, Georg W.F. 422f.
Förstl, Hans 167 Heidegger, Martin 423
Fox Keller, Evelyn 183 Heidelberger, Michael 199
Fraisse, Paul 119 Heilinger, Jan-Christoph 60
Franck, Dierck 378f. Heinrich, Bernd 90
Frankfurt, Harry G. 151, 247, 298, Heisenberg, Martin 15, 43, 50, 52f.,
445 133
Frege, Friedrich L.G. 277, 354 Helmholtz, Hermann von 76, 83f.
Freud, Sigmund 76, 80, 374, 377, Herms, Eilert 444
382, 396, 398, 423f. Herz, Andreas 15, 68, 371, 373f.,
Friederici, Angela D. 170 466f.
Hill, Robert Sean 145
Gadamer, Hans-Georg 224 Hitch, Graham 83
Galilei, Galileo 181, 372 Hobbes, Thomas 150
Galizia, Giovanni 15, 59, 133, 376, Hucho, Ferdinand 17, 64, 133, 274
378 Hull, Clark L. 78
Gehring, Petra 2 Humboldt, Alexander von 194, 468
Gerhardt, Volker 5, 8, 23f., 42, 60, Hume, David 150, 285, 288, 367
134, 181, 310, 363, 374, 457, Husserl, Edmund 277, 311
471f., 477
Geyer, Christian 2, 435 Inwagen, Peter Van 232, 261, 288
Gibson, James J. 312
Gide, André 285
Gierer, Alfred 79 Jack, Anthony 199–201
Ginet, Carl 289 Jackson, Peter 22, 391, 394, 400,
Gödel, Kurt 277 402
Goschke, Thomas 150, 408, 427f. James, William 31, 76, 281, 440,
Grene, Marjorie 180 442–445
Grünkorn, Gertrud 24 Janich, Peter 212, 217
Guo, Aike 54 Jeannerod, Marc 161
Gutmann, Mathias 19, 209, 212, Jordan, Pascual 293
215, 220 Jung, Matthias 421
Habermas, Jürgen 264–266, 268, Kambartel, Friedrich 10, 210
406f., 429, 442 Kamiya, Joe 128
Haggard, Patrick 9, 339 Kandel, Eric 90, 159, 162, 184, 196
Hahne, Anja 170 Kane, Robert 275, 289, 292–294
Haken, Hermann 128, 338 Kant, Immanuel 30, 202, 232, 286,
Hamel, Jürgen 469 289–292, 326, 363, 367–369,
Hammerstein, Peter 42, 64, 374, 380, 396f., 400, 405–407, 429,
383 440, 461, 468, 471f.
Hampe, Michael 8, 372f., 384 Kaulbach, Friedrich 469
Namenregister 483
Keil, Geert 8, 14, 20, 242, 275, 281, Maturana, Humberto 180, 188,
286, 289–291, 293f., 296f., 299 190, 196, 202f.
Kleene, Stephen Cole 277 Mayr, Ernst 212f., 373
Kluge, Friedrich 458 McCann, Hugh J. 289
Knorr-Cetina, Karin 183 Mead, George Herbert 442, 448
Koch, Christof 88 Meixner, Uwe 289
Köchy, Kristian 18, 179, 183f., 196, Mele, Alfred R. 289
338, 342 Menzel, Randolf 16, 75, 196
Köhler, Wolfgang 90, 123 Merleau-Ponty, Maurice 311
Kolb, Burkhard 167, 170 Metcalfe, Janet 95, 97, 101f.
König, Josef 222–224, 392 Metzger, Wolfgang 123
Kornell, Nate 98, 102–104, Meuter, Norbert 22f., 405, 413,
107–110 416, 428, 430, 454
Kornhuber, Hans H. 118, 125f. Milbrath, Constance 411f.
Korsgaard, Christine 444 Misch, Georg 222, 224, 399, 472
Koshland, Daniel 137 Müller, Johannes 76, 191f., 194
Krohn, Wolfgang 180 Müller, Jürgen 363
Küppers, Günter 180 Müller, Olaf L. 21, 133, 335, 346f.,
349ff., 352, 355, 409
Laplace, Pierre-Simon 294
Laplanche, Jean 425 Nádas, Peter 375
Nagel, Thomas 189, 256
Laurentiis, Dino de 393, 400
Narens, Louis 95, 104–106
LeDoux, Joseph 154
Nelson, Thomas 95, 104–106
Leibniz, Gottfried 186, 468
Neumann, Renate 24
Lesch, Harald 363 Newton, Isaac 232, 372
Lessing, Gotthold Ephraim 397 Nida-Rümelin, Julian 12, 14, 19,
Levine, Joseph 99, 256 229, 230, 235, 238, 251f.,
Leyhausen, Paul 379 254–257, 259f., 262, 264, 273,
Libet, Benjamin 6–9, 16f., 21, 72, 275, 297f., 363, 467
88, 117–121, 124–127, 129–131, Nida-Rümelin, Martine 279
319–321, 327, 335, 337–343, Nietzsche, Friedrich 440, 460
345, 350–352, 356–358, 363, Nieuwenhuys, Rob 152, 155, 160,
416, 421, 427 162f.
Locke, John 150, 293, 297, 342, Northoff, Georg 20f., 307, 310,
395, 449 312f., 315f., 328, 330, 333
Lockl, Kathrin 111
Lorenz, Konrad 183, 188 O’Connor, Timothy 289
Lorenzer, Alfred 424f. Oeser, Erhard 200f., 408f.
Lowe, Ernest J. 109, 289
Lukrez 472 Pauen, Michael 19f., 42, 150f.,
200, 247, 256, 265, 267, 270,
Mach, Ernst 32 278, 407f., 415f.
Mackie, John L. 241, 278 Pavlov, Ivan P. 78
Magistretti, Pierre 409f. Pepperberg, Irene 98
Malthus, Thomas R. 213 Plinius 11, 211
Mannaa, Renate 24 Pollock, Jackson 65
Margalit, Avishai 242 Pontalis, Jean-Bertrand 425
484 Namenregister
Pöppel, Ernst 120 Schlick, Moritz 1, 183, 229
Popper, Karl Raimund 121, 277 Schmidt, Carl Christian Erhard 269
Posner, Michael I. 109 Schnalke, Thomas 180
Povinelli, Daniel J. 109, 112 Schneider, Wolfgang 111
Premack, David 97 Schopenhauer, Arthur 151
Preuss, Todd M. 170 Schrödinger, Erwin 293
Prinz, Wolfgang 117, 294 Schubotz, Ricarda 113
Provine, William B. 216 Schumacher, Ralph 87
Purkyne, Jan Evangelista 186, Schwemmer, Oswald 420f., 427,
191–194, 202 430
Putnam, Hilary 21, 344, 347, 350 Searle, John R. 35, 233, 429
Seebaß, Gottfried 282
Quine, Willard Van Orman 250, Seitelberger, Franz 200f., 408f.
348, 376 Sellars, Roy Wood 299, 450
Shallice, Tim 199–201
Rechenauer, Martin 279 Shettleworth, Sara J. 97f.
Recki, Birgit 22, 386, 391, 396f., Shoemaker, Sydney 181
401 Singer, Wolf 2, 39, 42, 44, 90, 122,
Reich, Jens 14, 29 129f., 180, 197, 202, 276, 287,
Reimann, Regina 24 338, 360f., 406, 426
Renouviers, Charles 443 Skinner, Burrhus F. 78
Riedel, Rupert 186 Smith, David 97–101, 111
Ritzenhoff, Brunhild 113 Smith-Churchland, Patricia 85, 90
Rizzolatti, Giacomo 85f. Son, Lisa 102f., 107
Rohs, Peter 275 Spinka, Marec 381
Romanes, Georges 96 Spinoza, Baruch de 459, 471
Roth, Gerhard 2, 17f., 44, 90, 122, Spohn, Wolfgang 279
129, 134, 145, 149f., 152, 154f., Squire, Larry R. 76
159, 161–163, 165f., 179f., 186, Stadler, Michael 16f., 71, 117, 121,
190, 195–200, 202f., 266, 287, 128
370, 374, 409f., 416, 426, 428, Stegmüller, Wolfgang 237
435f., 465
Strawson, Peter 230, 239, 251, 256
Roughley, Neil 299
Sturma, Dieter 436
Rousseau, Jean Jaques 423
Suppes, Patrick 295
Roxin, Claus 149
Runggaldier, Edmund 289
Russell, Bertrand 32, 273 Tang, Shiming 54
Ryle, Gilbert 76, 436 Taylor, Charles 289, 438, 446, 453
Taylor-Parker, Sue 411f.
Sachsse, Hans 181 Terrace, Herbert S. 95, 97, 103, 107
Savage-Rumbaugh, Sue 170 Teufel, Christoph 113
Schacter, Daniel L. 76 Thorndike, Edward L. 78, 96
Scheiner, Elisabeth 113 Thorp, John 294
Scheler, Max 182 Tolman, Edward 97
Schickores, Jutta 193 Tomasello, Michael 97, 111, 300f.,
Schiller, Friedrich 22, 64, 367, 411, 414
386–388, 394 Trautsch, Asmus 24
Schirmer, Christoph 24 Tulving, Endel 89, 95
Namenregister 485
Uexküll, Jakob von 186–190, 192f., Whitehead, Alfred North 203
202 Wild, Verina 24
Wingert, Lutz 9, 264, 268, 340,
Varela, Francisco 196, 202f. 342, 346
Vossenkuhl, Wilhelm 363 Wishaw, Ian Q. 167, 170
Witt, Elke 24
Waal, Frans de 412f. Wittgenstein, Ludwig 64, 236,
Wachsmuth, Oliver 361 301f.
Walde, Bettina 363, 394 Wloka, Nicole 24
Walsh, Christopher A. 145 Wolf, Reinhard 50, 52f.
Walter, Henrik 149, 338, 408, 427f. Woodruff, John 97
Watson, John B. 97 Wright, Georg H. von 216, 274
Wegner, Daniel M. 45, 90, 197, Wuketits, Franz M. 186
319, 327 Wullimann, Mario F. 161
Weingarten, Michael 215, 217
Wheeler, Marc A. 89 Ziche, Paul 184
White, Hayden 221 Zilles, Karl J. 152, 155, 157, 160
Sachregister
acte gratuit 285 274, 290, 293, 337, 369ff.,
affordance 312, 328 379ff., 458, 461, 467, 471
Agenskausalität 289–292, 307, 326f. Bewusstsein 2, 7, 15, 17, 29f., 40,
Agent 12, 31, 290, 440 46, 59–61, 65f., 68, 70–75, 95,
akausal 289f., 292 97, 110, 117f., 121f., 127, 129,
Akteur 18, 47, 230f., 234f., 239, 134, 147, 152, 163, 170, 197,
274, 282f., 289, 292, 397 201, 203, 321f., 357, 370, 374,
Aktionspotential 36f., 76, 252 384–386, 401f., 425, 444,
Aktivität 49f., 52, 54, 67f., 70, 119, 459–461, 469, 472, 477
127f., 138, 142f., 147, 191, 251, – Bewusstsein bei Tieren 15
253, 260, 353, 403, 413, 430f., – Bewusstsein der Freiheit 23,
464 458ff., 463, 478
– Gehirnaktivität 6, 16, 52, 72, 91, – Evolution des Bewusstseins 3
287 Bildgebende Studien 67, 316, 437
Alternative 20, 40, 134, 149f., 173, Biofeedback 17, 127–129, 131
199, 282f., 290, 307f., 318, Biologie 10, 14, 16, 29–33, 44, 64,
321–325, 327, 330f., 336, 350, 110, 113, 146, 179f., 186, 189,
415f., 418f., 421, 439 211, 213, 215, 217, 276, 367,
– Prinzip der alternativen Möglich- 373, 375, 388, 457, 472, 476
keiten 282, 295, 298, 415–419 – Humanbiologie 44, 182
– Verfügbarkeit von Alternativen
– Molekularbiologie 183
20, 307f., 318, 321
animal symbolicum 300, 423 – Neurobiologie 4, 15, 61f., 65f.,
Antezedensbedingung 273, 292 77, 90, 184f., 197, 199–202, 251,
Anthropologie 5, 144, 146, 240, 255f., 435
304, 367 – Soziobiologie 301
– naturalistische 240 – Verhaltensbiologie 15, 44, 47, 51,
– Paläoanthropologie 301f. 54, 90, 185, 187, 189, 378, 475
– philosophische 304 Biowissenschaften s. Lebenswissen-
Autonomie 6, 12, 49f., 193, 198 schaften
Autopoiese 194 Bit 344f., 347–358, 361f.
Autor s. Urheber Blindsight 105–107
Bedeutung 159, 170, 184, 190, 317, causa efficiens 309, 320, 326
374ff. causa finalis 320, 326
Bereitschaftspotential 6, 9, 337–343, ceteris-paribus-Bedingung 7f.
346f., 349, 351f., 354–359, 361 Clinamen-Auffassung 293
Beweger conditio humana 276
– erster 288f., 292
– unbewegter 20, 288, 292
Bewegung 76-79, 117, 124, 129, Datiertheit 291
137, 158, 160ff., 165ff., 203, delayed auditory feedback 72
Sachregister 487
Deliberation 63, 110, 160, 236, 238, embodied embedded cognition 11
241, 244, 249, 259f., 275–278, Emotion 20, 75, 111f., 167, 173,
431 194, 266, 268, 270f., 317, 374,
desire-belief-Modell 234f. 383, 398
Determinanten 261 Empirismus 63, 183, 192
Determination 8f., 229, 257, Entscheidung 4, 6–8, 15f., 21f., 29,
259–263, 267, 277f., 285, 287, 35, 40f., 47, 51f., 54–56, 59–61,
290, 294, 312f., 325, 331, 466 64–67, 69f., 72–75, 82f., 85,
– kausale Determination 30, 362, 87f., 90f., 109, 117, 122, 124f.,
474 127, 134f., 137, 168, 173, 200,
Determinationslücke 293, 295 230, 235, 238, 241, 258–264,
Determinismus 20, 30–32, 39, 44f., 267, 277, 282f., 286, 289–291,
50, 56, 133, 138, 141, 147, 293f., 296f., 299, 301, 308,
149–151, 171f., 241, 257–260, 335–343, 349–362, 369, 417,
263, 273, 281–283, 287–290, 419, 421, 429, 444, 448, 453, 459
294f., 298, 308, 319f., 328, – Entscheidungsfindung 66, 69, 72
336f., 345, 362f., 371–374, 388, – Entscheidungsfreiheit 21, 55f.,
405, 407, 415f., 419f., 427, 431, 64f., 67, 338f., 341, 343, 352,
473 354f., 369, 396
– harter Determinismus 281f. – Entscheidungsprozess 38f., 40f.,
– kausaler Determinismus 21, 30, 49, 70, 73, 262f., 416f.
32, 361 – Entscheidungsspielraum 262
– naturalistischer Determinismus Epiphänomenalismus 266, 429
241, 277 Ereignis 35, 43, 46, 67, 88, 125,
– neuronaler Determinismus 15, 233, 248f., 273, 275, 290, 292,
35, 38–40, 42 294, 338, 362, 418, 473
– physikalischer Determinismus – nicht-determiniertes Ereignis 294
298, 318ff., 328 Erklärung
– Universal-Determinismus 241 – funktionale 373
– weicher Determinismus 282 – qualitative 373
Diskriminierungsaufgabe 103 Evolution 3, 10, 12, 15–20, 33, 35,
Drei-Körper-Problem 8 38, 41, 49f., 73, 78, 91, 96, 112,
Drosophila melanogaster 15, 47, 51f., 135f., 138f., 142–146, 151f.,
216 160, 167, 169–172, 209f.,
Dualismus 20, 91, 117, 121f., 131, 212–214, 226, 298–304, 312f.,
133, 139, 233, 286–288, 406, 428 332, 373f., 406–409, 428f., 431,
– Perspektivendualismus 22, 405, 439–443, 451, 453f., 459
428 – Evolution der Säugetiere 171,
409
Efferenzkopie 79f., 83–86 – Evolution des Gehirns 149, 409
Einheit 8, 30, 215, 225, 315, – Evolution des Geistes 301
462–466, 469f., 472f., 475–478 – Evolution des Lebens 3
Einstellung Evolution der Freiheit 3, 19, 59,
– epistemische Einstellung 19, 110, 149, 179, 225f., 297, 477
233–236, 441
– konative Einstellung 234, 274 facial displays 412
– propositionale Einstellung fission-fusion-Struktur 410
233–236, 238, 242, 248, 256, 300 forager Gen 69f.
488 Sachregister
Freiheit – individuelles Gedächtnis 80
– Bedingungen von Freiheit 4, 12, – Kurzzeitgedächtnis 81
248, 324f., 327, 333, 443 – Langzeitgedächtnis 81, 168
– eingebettete Freiheit 319f. – phylogenetisches Gedächtnis 78,
– Freiheitsbewusstsein 6, 44, 232, 80f.
236, 239, 307, 436f., 470 – prozedurales Gedächtnis 76
– Freiheitsdebatte 20, 23, 284–287, – Referenzgedächtnis 81, 84–87
410, 417, 438 Gefühle 7, 16, 20, 40, 46, 71–73,
– Freiheitsgrade 1, 3, 5, 16, 66, 112, 141, 151, 153, 183, 203,
110, 458 231, 238, 275, 307f., 318, 323,
– Freiheitsstrafe 1 325f., 349f., 400, 402, 419, 422,
– Gedankenfreiheit 1, 5, 47, 55f. 435, 460, 469, 471
– Handlungsfreiheit 1, 5, 45–47, Gehirn
151, 171, 209f., 307f. – Gehirnentwicklung 48
– libertarische Freiheit 281f., 284, – Gehirnprozess 29, 119–121,
289, 292f. 127f., 185, 293, 343, 362, 430
– menschliche Freiheit 2f., 5, 7, 9, – menschliches Gehirn 4, 12, 18,
12, 19–22, 24, 229, 238, 241, 68, 86, 145, 151f., 170f., 253,
257, 260, 298f., 304, 396, 424, 368, 428
460, 468 Gehirnforschung 47, 63, 293, 406
– Naturgeschichte der Freiheit s. dort Gehirnregionen
– Phänomenologie der Freiheit 23, – Allocortex 154, 157f.
448, 459 – Amygdala 76, 152f., 155, 158,
– unbedingte Freiheit 284f. 166f.
– Unfreiheit 9, 46, 75, 247, 269f.,
– Basalganglien 86, 134, 151, 154,
275, 282, 327, 330f., 337f., 341,
161–163, 165f., 172
358, 442, 457, 460f., 469
– Broca-Areal 152, 170f.
– Wahlfreiheit 199, 285, 448
– Willensfreiheit 1, 3–7, 9, 14–17, – Endhirn 152, 161
20, 23, 35, 39–41, 43, 47, 56, – Frontallappen 160, 170
61f., 73, 121f., 140, 149, 151, – Großhirnrinde 37, 123, 134,
179, 182, 197, 199, 201–203, 151f., 159–161, 163, 408f.
247, 267, 274, 281, 284, 294, – Hippocampus 154f., 159, 166
307f., 335f., 338, 343, 421f., – Isocortex 152, 154, 156–159
428, 436 – Kleinhirn 71, 76, 163
Fremdthematisierung 179, 181f., – Kortex 71, 84–87, 106, 134, 140,
184–187, 189, 191f., 196f., 201 143, 145, 152, 154–156,
Funktionskreis 186f., 190, 379 158–161, 163, 165–167,
170–172, 315, 317, 323, 409
Gavagai-Beispiel 376 – Mittelhirndach 158f.
Gedächtnis 76–78, 80f., 89, 125, – Mittelhirntegmentum 163
137, 409 – Pallidum 153f., 161, 163, 166
– Arbeitsgedächtnis 16, 79, 81–83, – Pallium 152, 154–156, 159f.,
85f., 88, 104, 167f., 172 163, 166
– deklaratives Gedächtnis 76, 81 – Rückenmark 161, 163, 172
– episodisches Gedächtnis 89 – Septum 152f.
– Erfahrungsgedächtnis 166, 172 – Sprachzentrum 170
– explizites Gedächtnis 76, 81, 88 – Stirnhirn 151, 167f.
Sachregister 489
– Striato-Pallidum-Komplex 153f., – phänomenologischer Grundsatz
157, 161-163, 166 123
– Striatum 76, 161, 163, 165f. – psychophysischer Grundsatz
– Subpallium 152, 161 123f., 131
– Telencephalon 152, 161
– Temporallappen 158, 170 Halluzination 45
– Thalamus 71, 158–160, 163, Handlung
165f. – freie Handlung 20, 46, 199, 247,
– Vorderhirn 152f. 267f., 270f., 286, 289, 419–421,
Geist 39, 97, 111, 122f., 134, 195, 426f., 463
237, 293f., 298f., 302f., 314, – intentionale Handlung 251
347, 373, 386, 402, 411, 423, – rationale Handlung 18, 173, 258,
428, 430, 437–439, 444, 472, 478 275f.
Genetik 2, 145, 217 – unfreie Handlung 20, 247, 267,
Genom 135, 141–143, 145f. 270
Gentechnik 183 – Handlungsabsicht 5, 151
Gesetze 7f., 35, 68, 133, 140, 152, – Handlungsalternative 45, 168,
169, 232, 237, 243f., 252, 288f., 199, 318, 321, 415, 451, 460
294, 308, 368–370, 384, 386, – Handlungserklärung 150
449, 463, 466f., 470–473 – Handlungsgedächtnis 162
– Naturgesetz 2, 6–8, 23, 43, 45f., – Handlungsplanung 134, 151,
120, 232, 243, 253, 260, 266, 167f., 170, 172
283, 288–290, 293, 295, 345, – Handlungstheorie 275, 290
360f., 370, 372, 465 – Handlungsursache 7, 291
– Sukzessionsgesetz 290, 294f., 297 – Handlungsvorbereitung 151, 163
– Verlaufsgesetz 231f., 242f., 273, Heautognosie 192f.
275, 277 homunculi oeconomici 231
Gesetzmäßigkeit 3, 7, 45, 91, 133, Homunkulus 59, 71, 73
194, 236–238, 240, 259, 276f., Humanismus 14, 438
292, 355, 362, 367, 384, Humanprojekt 4f., 24, 42, 64, 79,
463–465, 468, 476 87, 134, 143f., 146, 363, 374,
Gründe 2, 9, 19f., 22–24, 45–47, 376, 383
49, 133–135, 139, 146, 149f.,
190, 211, 229–233, 235–243, Identität 37, 71, 127–129, 149, 222,
247–249, 251–271, 273–278, 224, 283, 290, 296, 397, 415f.,
342, 370–372, 375–378, 386, 419, 423, 426, 431, 453
388, 405f., 408, 416, 421f., – Identitätstheorie 239
428f., 461–463, 477f. Illusion 2, 6f., 22, 29, 35, 39, 41,
– Handlungsgrund 19, 229, 233, 45f., 72, 118, 122f., 129, 139f.,
238, 249 197–199, 202f., 238, 260f., 276,
– handlungsleitender Grund 247 283f., 329f., 338, 402, 426, 429,
– Handlungswirksamkeit von Grün- 435, 443
den 20, 270 Impuls 9, 110, 234, 243, 343, 362,
– hinreichender Grund 43, 46 370, 374, 384, 398, 446f., 449f.,
– rationaler Grund 20, 270, 416 460f., 468, 470, 472–474
– Urteilsgründe 277 Indeterminismus 149, 261, 276,
Grundsatz 63, 254, 267 293–298, 318f., 321, 361
490 Sachregister
Individualität 13, 23, 30, 64, 69, 72, – Kausalitätsprinzip 29, 32, 467
78, 81, 86, 117, 121, 143, 169, – Kausalkette 29, 32, 140f.,
172, 180, 218–220, 242, 269, 288–290, 292, 307f., 325f., 351,
374, 382, 398, 407, 409f., 416f., 361f., 466
419f., 423, 425, 428, 431, 442, – Kausallücke 294
448, 451–453, 458f., 461, 467f., – Kausalnexus 476
472, 474–478 – Kausalprinzip 30, 33, 273, 275,
Individuum 5f., 12, 19, 41, 47, 56, 290, 292
187, 219, 410f., 416, 423, 426, – Kausalrelation 277, 290, 459, 476
431, 442, 450, 459, 461, 465, – Kausalzusammenhang 239
474, 476, 478 Kognition 13, 30, 75, 88f., 97,
Information 37, 48, 65, 71, 77f., 109f., 112, 125, 127f., 143, 160,
80f., 102, 104–106, 108f., 135f., 167, 172, 179, 182, 196f.,
140, 145–147, 156, 158f., 169, 199–202, 252f., 255–257, 264f.,
185, 187, 343f., 358, 408 300f., 303, 310, 312, 314–317,
Inkompatibilismus s. Kompatibilis- 321–323, 325–327, 329, 331,
mus/Inkompatibilismus 378, 382, 414, 428, 444
Intentionalität 59, 133, 139f., 255f., – Kognitionswissenschaft 4, 11
265, 300, 303, 382f., 440, 446, – kognitive Fähigkeit 16, 96f., 199
478 – kognitive Neurowissenschaft 18,
– intentionales Vokabular 301, 376 76, 179f., 183f., 190, 196, 199,
Interaktion 98, 109, 134, 138–140, 201
147, 168f., 183, 251, 256, 276, – kognitive Strategie 15, 41
377, 425, 430, 440, 448f., 451 Kommunikation 48, 81, 168–172,
Interkonnektivität 409 200, 340, 377, 409, 430
Intersubjektivität 183f., 189, 200, Kompatibilismus/Inkompatibilis-
312, 317, 421, 444f., 447 mus 15, 17f., 38, 149–151,
Introspektion 18, 89, 96f., 112, 232f., 243, 258, 267, 271, 275,
184f., 195, 200, 445 281–283, 310f., 315, 318f., 330,
INUS-Bedingung 241, 278 402, 405, 407, 427f., 435, 478
Irrtum 72, 107, 181, 230, 241, 350 – epistemischer Kompatibilismus
– Irrtumstheorie 239 19, 243
Komplexität 8, 16, 23, 40, 91,
Kausalität 138–142, 147, 231, 263, 408,
– Kausalbeziehung 129, 287, 292, 410, 419, 452–454
320, 406 Konditionierung 51, 67, 76, 99,
– kausale Erklärung 11, 14, 231, 377, 396
278 Konsequentialismus 230
– kausale Geschlossenheit 251, 254, Konsequenzargument 288
288, 318 Kontrolle 22, 41, 48f., 65, 104, 107,
– kausaler Determinismus s. Deter- 110, 121, 140, 160f., 167, 192,
minismus, kausaler 199, 238, 258, 293, 296, 369f.,
– Kausalität aus Freiheit 290, 461, 374, 382–386, 412, 461, 477
464 Körper 2, 38, 73, 77f., 80, 84, 90f.,
– Kausalität der Natur 461, 464, 133, 158, 189, 194f., 218–220,
466, 468 231, 251, 308, 327–330, 343,
– Kausalitätsbedingung 255 349f., 368, 370–372, 375,
– Kausalitätsbegriff 232, 273, 309 391–393, 409, 458, 463, 472
Sachregister 491
Korrelat 29, 88, 191, 196, 278, 287 Materialismus 5f., 375, 420
– neuronales Korrelat 85, 129, 183, – eliminativer Materialismus 265
287, 327, 329–331 Mechanismus 15f., 41, 65f., 69,
Korrelation 124, 129, 195, 371 79–81, 83, 107f., 112, 118, 133,
Kortex s. Gehirnregionen 136–138, 140, 142f., 145–147,
Kreationismus 300, 304, 392 165, 172, 189, 295, 300, 380,
Kultur 95, 133, 144, 300, 367, 383, 473, 476
391, 402f., 407, 414, 423, 426, – biologischer Mechanismus 383
428, 439, 478 – reflexive Mechanismen 476f.
– Kultur der Freiheit 23, 405, 407, Mensch
415, 426, 431, 454 – Menschenbild 2, 142
– Kulturgeschichte 22, 298, 300, – Menschwerdung 22, 392,
365, 441, 472 395–397, 402
Kulturwissenschaft 22, 429f., 437 – Phylogenese des Menschen 12
mental 13f., 18, 29, 33, 55, 171f.,
Laplacescher Dämon 261, 276 179, 182, 184f., 194, 196, 201,
Lebenswelt 5, 239, 311f., 442, 452, 203, 277, 287, 291, 300, 302f.,
454 321f., 348–350, 352, 401, 406,
Lebenswissenschaften 14, 183 428, 437, 450
Leib 11, 195, 218–220, 288 – mentale Eigenschaft 14, 299
Leib und Seele 64, 128, 251, 254, – mentale Fähigkeit 97, 299, 301,
256, 287f., 363, 472 303
Leistung 51, 81, 83, 88f., 104, 107, – mentale Repräsentation 97
109f., 128, 170, 193, 217, 264, – mentaler Prozess 288
301, 303, 349, 413, 420f., 426, – mentaler Vorgang 112
428, 430, 462, 464, 476f. – mentaler Zustand 6, 97, 111,
– Gedächtnisleistung 409 249f., 264–266, 277, 321f., 333,
– Sinnesleistung 190–192, 203 437
– Verhaltensleistung 187, 189, 196, – mentales Ereignis 287
199 – mentales Phänomen 185
Lernen 12, 48, 51, 53f., 66f., 76, – mentale Verursachung 297
78, 82f., 86, 88f., 96, 104f., 107, – mental state 97
110, 144, 147, 155, 170, – protomental 302
376–378, 396, 409, 463 Mentalismus 255, 264-266, 440
Libertarismus 20, 233, 242, 256, Metakognition 16, 95–98, 107–112,
275f., 281f., 284–290, 292–297, 182, 200
304 Metaphysik 21, 335f., 360, 438,
– ereigniskausaler 292 442
– ontologischer 19 Mimesis 393, 411–413, 431
Libet-Experiment 6-9, 16f., 21, 72, Molekularbiologie 17, 46, 133–141,
88, 117-121, 124-127, 129-131, 143f., 146f., 250, 344, 452
320, 327, 335, 337, 340, 343, Monismus 13, 264, 406
350-352, 356, 363, 416, 421, 427 Moral 51, 73, 167, 275, 367f., 439
Limitation 333 Motiv 13, 17f., 96, 149–151, 167,
– autoepistemische Limitation 21, 171–173, 203, 268, 270f., 275,
333 293, 397, 427, 449
Lücke 20, 233, 239, 279, 293–295, Motorik 50, 71, 76f., 79, 81, 84f.,
463 106, 150f., 160f., 163, 166f.,
492 Sachregister
170–172, 194, 314–317, 322f., Netzwerk 32, 69, 85, 138–141, 144,
325, 382, 386, 403, 408f., 414 147, 159–161, 166
Neurobiologie
Natur – experimentelle Neurobiologie
– belebte Natur 135, 181, 465 184f.
– biologische Natur 304 – neurobiologische Experimente 21
– freie Natur 468 Neuroepistemologie 201
– Naturbedingung 396 Neuron 67f., 85–87, 143, 145, 147,
– Naturbegriff 220, 396 198, 252f., 349, 361, 408, 410,
– Naturbeherrschung 220 430
– Naturbeschreibung 215 – neuronal
– Natur der Freiheit 407, 413, 415 – neuronale Grundlage 409, 428,
– Natur des Menschen 141, 394 430
– Naturerklärung 428f. – neuronaler Ablauf 12, 38
– Naturforschung 15 – neuronale Repräsentation 40,
– nichtorganische Natur 250 409
– Regelhaftigkeit der Natur 369 – neuronaler Prozess 2, 12, 15, 20,
– unbelebte Natur 44 29, 35, 37f., 40f., 123f., 247,
Naturalisierung 212, 215, 265, 441 253, 260, 264f., 293, 308f., 315,
Naturalismus 14, 19, 31, 247f., 319, 327, 329, 333, 351f., 371,
250–254, 256f., 259, 264–267, 428, 454, 464
275, 278, 299, 304, 336, 350, – neuronaler Zustand 333
360f., 373, 441 – neuronales Netzwerk 29, 38, 68,
– dogmatischer Naturalismus 266 73, 91
– eliminativer Naturalismus 309 – neuronales Substrat 87, 287, 360
– Grenzen des Naturalismus 14 Neurophilosophie 20, 74, 121, 307,
– kritischer Naturalismus 430 310f., 315, 317, 329f.
– methodischer Naturalismus 250 Neurophysiologie 59, 182, 244,
– Naturalismus der Freiheit 15, 22, 276, 335, 337, 350, 475
43, 402 Neurotransmitter 36, 252
– reduktiver Naturalismus 309 Neurowissenschaft 2, 4, 15, 21, 23,
Naturalismus s. auch Materialismus
59–63, 65, 73f., 76–78, 83, 85,
Naturgeschichte 10f., 13, 19, 31, 179, 197, 200f., 308, 310f., 315,
50, 209–211, 215f., 225, 299f.,
319, 328, 363, 424, 426f., 454
373, 378, 386, 438, 441, 443,
Nonkompatibilismus s. Kompatibilis-
451, 454, 459
mus/Inkompatibilismus
– Naturgeschichte der Freiheit 1,
3f., 10–13, 16, 18, 23f., 51, 75, Notwendigkeit 2, 22, 195, 200,
135, 302f., 376, 388, 438–442, 223, 256f., 273, 367–373, 383f.,
451, 457, 459, 472 386f., 405, 459, 471
Naturphilosophie 195, 211, 367
Naturprozess 442, 451f., 464 Organismus 8, 11–13, 21, 23, 32,
Nerven 95, 122 35f., 41, 49, 134f., 137f.,
– Nervennetze 48 141–143, 146f., 181, 184, 188,
– Nervensystem 36, 38, 48, 78–81, 193, 202, 308f., 311–326, 328,
85, 135, 147, 195f. 331, 370, 375, 381–383,
– Nervenzelle 37, 45, 48, 139–141, 408–410, 414f., 428f., 454,
191, 408 461f., 464, 466–470, 472–478
Sachregister 493
Organismus-Umwelt-Relation 21, Probabilismus 237f., 242
312f., 315f., 320–322, 324–326 Prognostizierbarkeit 54, 237, 273,
342
Person 3, 20, 29, 70, 73, 150f., 168, Projektion 165, 303, 399, 401, 452
173, 183, 231, 240, 242, 244, Protein 17, 48, 52, 135, 141–144
247f., 251, 254, 256, 258f., Psychoanalyse 424f.
261–263, 267–271, 284–288, Psychologie 30, 47, 60, 62–64, 73,
290–293, 307, 318, 406f., 415f., 76, 78f., 96, 118, 149, 182, 185,
420–422, 429–431, 437, 276, 416, 443
445–448, 469 Psychologismus 277
Personalität 18, 183, 247, 420–422, Psychophysik 99, 123, 190, 194f.
426, 431
Perspektivendualismus 22, 405-407, Qualia 124, 191, 256, 278
428 Quantenphysik 36, 133, 237f., 242,
– epistemologischer Perspektiven- 273, 361, 464
dualismus 14
Perspektivismus 3, 10, 13f., 18, Rationalität 12, 18, 150, 173, 230f.,
22f., 29, 96, 113, 135, 181, 187, 234, 236, 238–242, 244, 248,
200, 217, 220, 225, 230f., 239, 252–254, 256, 258–264, 267,
303, 324, 326, 394, 406–408, 269, 271, 275f., 321–323, 344,
414–416, 421, 423, 425, 430f., 421, 429, 444
437, 439–441, 443f., 452–454, Reaktion 8, 49, 59, 80, 139, 186f.,
472, 478 239, 247, 251f., 381f., 384, 393,
Philosophie 395f., 401, 408, 452f., 464, 466,
– analytische Philosophie 234, 314 474f.
– Kulturphilosophie 422 Realisierung 32, 249f., 255, 309,
– Lebensphilosophie 23, 422f. 346, 447, 450
– Philosophie der symbolischen For- – neuronale Realisierung 255
men 402 Reduktion 8, 30, 139, 210, 249f.,
– Philosophie des Geistes 250, 326, 264–266, 310, 477
328 Reduktionismus 436
– Sprachphilosophie 239f. Reflexbogen 408
Physikalismus 30, 79, 139, 265, 478 Regel 22, 45, 50, 64f., 74, 82, 84,
Physiologie 29, 182, 191f., 387, 457 97, 99, 101, 108, 125, 134, 150,
– Sinnesphysiologie 45, 182, 190f., 165, 167, 170, 194, 235, 242,
193f. 249, 251, 258, 266f., 270, 277,
– Verhaltensphysiologie 186, 189 293, 302, 353, 368f., 371f.,
Plastizität 410, 428, 453 380f., 393, 420, 447, 461, 463f.,
Positivismus 234 467, 469f., 473f., 476f.
Potential 350, 412 Regularität 250f., 273, 371
Prädikatenlogik 277 – probabilistische Regularität 273
Prädiktion 16, 78, 80, 83, 87, 315 Reiz 50, 54, 68, 97, 99, 101, 105,
Pragmatismus 23, 435, 439, 125, 127, 137, 153, 247, 346,
441–443, 452 357, 376, 382, 385, 402f., 408,
Primat 4, 13, 16f., 23, 90, 96, 108, 474–476
113, 123, 136, 142–145, 152, – Reiz-Reaktions-Mechanismus
159, 161, 166, 168f., 172, 298, 370, 374, 383, 408, 428–430
393, 410–412, 452 – Reizübertragung 192, 370f.
494 Sachregister
– Reizverarbeitung 408 Sequenz 48, 107, 142f., 145, 394,
Rekonstruktion 10, 13, 20, 398f., 452
212–214, 216, 218, 221f., 225, Signal 37f., 79f., 84, 87, 90, 127,
302f., 436, 477 135f., 138, 140f., 146f., 166,
Relation 119, 141, 191, 209, 277, 344f., 357, 362, 378, 413f.
309, 313, 317, 319f., 322–326, – Signaltransduktion 17, 133,
331, 460, 468, 476 135f., 138, 142, 144, 146f.
– Relationales Modell von Freiheit – Signalübertragung 39, 48, 358
21 – Signalverarbeitung 135, 143
Repräsentation 38, 51, 109f., 128, Sinn
134, 157–159, 185, 196, 314f., – Sinnesleistung 190-192, 203
329, 344, 349, 414, 423 – Sinnesreize 49, 52, 187, 343, 376
Reproduzierbarkeit 31, 62–64, 66, Sozial 3–5, 11f., 14, 23, 42, 55, 73,
140, 217, 415, 466 86, 96, 134, 141, 167–169, 172,
Rezeptor 136–138, 146, 187, 190 200, 310, 312, 377–379, 383f.,
406, 410f., 413, 420, 425, 428f.,
431, 437, 440, 442, 448–451,
Schimpansenprojekt 143f., 146 454, 461, 469f., 477f.
Selbstartikulation 19, 220 – soziale Verhältnisse 410
Selbstbeobachtung 185, 192–195, – Sozialverhalten 378, 381, 429
197 Spezies 78, 143–145, 277, 302, 313,
Selbstbestimmung 1, 3, 6, 9, 12, 22, 328, 332f., 473, 477
24, 224, 370, 420, 445f., 477 Spiel
Selbstbewegung 374, 384, 460f., – Funktion des Spiels 379
469, 472 – Spielraum 22, 230, 244, 261f.,
Selbstbewusstsein 30, 63, 196f., 264, 286, 297, 355, 362, 379,
201f., 301, 457, 459, 472, 478 396, 402, 409, 468
Selbstbezug 209, 222–225, – Spielverhalten 376, 379f., 412
314–317, 405, 423 Spontaneität 8, 24, 31, 68, 78f., 91,
Selbstbild 187, 230, 244, 259f., 276 110, 120, 128, 188, 230, 337,
Selbsterfahrung 196, 374f., 437, 403, 412, 465, 468, 470, 472f.
445, 458f., 476 Sprache 50, 61, 63, 75, 95, 121,
Selbsterkenntnis 196 143, 146, 151f., 168–172, 224,
Selbstorganisation 3, 8, 24, 69f., 243, 255, 265, 276, 298,
310, 416, 471–473, 477 300–303, 347, 349–352, 354f.,
Selbstreferentialität 18, 179, 186, 359f., 375f., 384, 403, 423f.,
191, 193–195, 202 439f., 446, 466
Selbstreflexion 97 – Metasprache 23, 406f.
Selbstthematisierung 180f., 184, – Sprachspiel 209f., 264–266, 406,
187, 192, 196f. 427–429, 440
Selbstverhältnis 225, 423 Sprechakt 240, 340, 354, 442, 444,
Selbstverständnis 5, 13, 112, 197, 446
299, 301, 438, 445, 460 Stimulus 37, 79, 82, 101, 276, 309,
Selektion 16, 52, 80, 83f., 109, 136, 313f., 317, 323f., 396
151, 172, 187f., 193, 212f., 309, Stochastizität 15, 41, 68
311f., 314, 323f., 446, 448, Struktur 5, 17f., 23, 31f., 36, 50,
451–453 76, 82f., 86f., 89f., 105, 119f.,
Sensorik 50, 160, 315 130, 136, 138, 142, 161, 163,
Sachregister 495
171, 179–182, 186, 189, 191, – natürliche Umwelt 11, 169, 440
193, 197–199, 201f., 212, 215, – soziale Umwelt 5, 96, 429
231, 315, 323, 355, 373, 410, – tierische Umwelt 189
416, 430, 437, 440, 444, 465 – Umweltveränderungen 381
Subjekt 21, 47, 180, 189, 195, Unsicherheit 37, 221
197f., 220, 223, 249, 307, 318, Unterbestimmtheit 15, 229, 233,
323–327, 330, 402, 419, 428, 237, 243, 256
437, 444f., 461 – naturalistische Unterbestimmtheit
Subjektivität 2f., 6f., 15, 17, 29, 19, 229, 233, 236–238, 243f.,
39–41, 86, 119, 124–126, 275f.
129–131, 149, 181, 191–194, Unvereinbarkeit s. Vereinbarkeit/
196, 200, 230, 234, 236, 274, Unvereinbarkeit
312, 314, 326f., 331, 357, 384, Urheber 12, 49, 99, 103, 111, 126,
427, 436, 444 128f., 198, 200, 230, 268, 307f.,
Substrat 87, 90, 287, 360 319, 325–327, 381f., 410, 420,
Symbol 99f., 103, 135, 169, 413f., 439f., 454, 459
421, 424, 430, 453 Ursache 8, 13, 17, 19, 31–33, 43,
Symbolisierung 23, 402f., 413, 50, 56, 73, 75, 79, 91, 118, 123f.,
422–426, 428–431 129, 133–135, 139–141, 143,
Synapse 71, 139f., 293, 361, 408 146f., 149f., 198, 247–249,
System 251–257, 266f., 273–275, 278,
– chaotisches System 39, 139 286f., 289–293, 297, 372f.,
– deterministisches System 39, 231, 375f., 405f., 464, 466f.
243, 273 – hinreichende Ursache 43, 47
– hyperkomplexes System 17, 139 – naturalistische Ursache 275
– lebendes System 3, 33, 179f., 183 – proximate Ursache 16, 91
– Nervensystem 36, 38, 48, 78-81, – ultimate Ursache 16, 91
85, 135, 147, 196
– neuronales System 23, 37, 276,
408f., 430 Verantwortung 2, 6, 12, 17, 19, 55,
– selbstreferentielles System 18, 122, 129, 131, 230, 232, 238f.,
128, 179 241f., 244, 251, 275f., 406
– visuelles System 83, 158f., 191 Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit 43,
Systembiologie 139 172, 240–242, 252, 259f., 276,
282f., 290, 299, 304, 308–310,
Tank 38, 343–351, 353f., 358–361, 315, 319, 358, 360–362, 374,
363, 409, 428 468, 476
theory of mind 97 Verhalten
Transversalkraft 274 – funktionales Verhalten 413, 431
trial and error 373f. – menschliches Verhalten 8, 15, 44,
Trieb 386f. 47, 133–135, 470
– soziales Verhalten 168, 377f., 381
Umkehrbrillen-Experiment 53 – tierisches Verhalten 56, 188f.,
Umwelt 12f., 21, 23, 35, 37f., 80, 196, 408, 470
89, 96, 110, 137f., 144, 146, Verhaltensforschung 15, 43f., 48,
160f., 171, 187–190, 192, 50, 56, 144, 182–184, 186, 188,
307–332, 381, 409, 411, 429, 303, 380
449f., 466, 474 Verhaltensfreiheit 49f., 55f.
496 Sachregister
Vermögen 13, 192, 199, 283–286, – freier Wille 8, 30, 63, 65, 67, 73,
289, 291f., 296–298, 335 117, 121, 284, 363, 367, 406,
Vernunft 167f., 172f., 202, 266, 426, 443, 446
278, 298, 302, 369, 386, 388, – Willensakt 40, 47, 119, 121, 129,
405, 462, 469f., 472 247, 338f., 351
Verschaltung 2, 39, 77, 85f., 165, – Willensentscheidung 7–9, 16, 29,
287, 408f. 90, 118, 121, 123, 338, 353, 357
Verstand 3, 12, 20, 22f., 38, 117, Wirkungsquantum 36, 43
142, 151, 167f., 172f., 181, 189, Wissen 11, 16, 21, 30, 38, 40, 45,
191, 194, 196, 199, 202, 216f., 50, 55, 61, 63–68, 75–77, 80,
224, 230, 233, 248, 274f., 285, 87–89, 91, 95, 98, 100f., 107f.,
309, 320–322, 368, 375, 384, 110–112, 144, 151, 172, 181f.,
417, 424, 438, 441, 447, 460 189, 213f., 216, 218, 221f., 231,
234, 251, 254, 260, 263, 283,
Wahl 23, 59, 84f., 103, 108, 235, 287, 295, 302, 333, 335, 338,
259, 283, 285–287, 296, 298, 350, 360, 377, 385, 388, 407,
335, 342, 416, 419, 421, 438f., 411, 429f., 445, 458, 463, 469,
448–454 477
Wahrnehmung 22, 46, 53, 76f., 80, – deklaratives Wissen 106
84f., 91, 97, 99, 123, 128, 136f., – explizites Wissen 16, 75, 89
140, 159, 167, 171f., 181, 185, – implizites Wissen 75f., 80, 87f.,
192, 194–196, 234, 239, 254, 90f.
349f., 369, 385, 387, 406, 414,
447, 449, 468, 470 Zeit
Welt – physikalische 7f., 17, 35, 39, 72,
– Bit-Welt 344, 361f. 91, 119–121, 124, 129f., 133,
– determinierte 6, 258-261, 282, 135f., 138f., 141, 146f., 191,
345 194f., 231, 241, 243f., 283, 288,
– Lebenswelt 5, 239, 251, 441f., 292, 298, 319–322, 328, 344,
452, 454 359, 371f., 384, 476
– Weltbild 5, 22, 232, 244, 290, – subjektive 17, 124
299, 368f., 373f. – Zeitpunkt 6, 15, 71f., 85, 102,
– Weltverhältnis, symbolisches 413 119f., 124f., 127, 165, 231, 242,
– Zwei-Welten-Lehre 405f. 261f., 274, 277, 291, 337, 354f.,
Wille 1f., 5, 9, 16, 20, 22, 55, 73, 357f., 377, 401, 419, 427, 443
91, 117f., 129, 149–151, 162, Züchtung 19, 212–214
197, 281f., 284–286, 293, 307, Zufall 43–45, 50, 56, 64, 69, 172,
375, 395, 422, 444, 458, 262, 296, 368, 371, 396, 415, 470
460–463, 469f.