Mimikry ist eines der bekanntesten Phänomene in de r Geschichte
der Evolutionsbiolog ie . Der Begriff bezeichnet ursprünglich die täuschende Ähnlichkeit eines Insekts mit einer anderen Art oder seiner
Umgebung . Um 1900 beschäftigen sich Literaten und Humanwissenschaftler mit der Frage, ob eine menschliche Mimikry existiert·
und w elche Bedeutung ihr für das gesellschaftliche Zusammenleben
zukommt.
In Gedan kenexperimenten, Theorien und literarischen Texten entsteht
so der wi ssenschaftliche Myt hos de r Humanmimikry, dem ein mitunter fantastisches Menschenbild zugrunde lieg t: Dem Menschen wi rd
die Fähigkeit zugeschrieben , sich perfekt an die soziale Umwelt
anpassen zu können, bis er sich weder physisch noch psychisch von
seinen Mitmenschen unterscheiden lässt.
Kyung-Ho Cha verortet die Humanmimikry im wissenschaftshistorischen Kontext der lamarckistischen Evolutionsbiologi e und analysiert
die ep istemischen und poetologischen Voraussetzungen, die ihre
Entstehung und Verbreitung in der Literaturund im Wiss en vom Menschen auf der Schwell e zum 20. Jahrhundert ermög lichen
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Kyung-Ho Cha
Human mimikry
Poetik der Evolutio.n
ISBN 978-3-7705-4994-8
9
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Wilhelm Fink
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Kyung-Ho Cha
HUMANMIMIKRY
Poetik der Evolution
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Andrea von Braun Stiftung
D 83
Inhalt
Umschlagabbildung :
Michael Lorber, Melanie Piva
A.
EINLEITUNG
1.
1.1.
1.2.
Humanmimikry . Ein szientistischer Mythos.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Poetik der Evolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein ephemeres und peripheres Objekt
in der Geschichte des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fragestellungen und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.
1.4.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http ://dnb.d -nb .de abrufbar.
1
2.
Darwinismus. Die Entdeckung der Mimikry im Labor der
Evolution (Henry Walter Bares, Charl es Darwin) . . . . . . . . . . . . . . . .
3.
3.1.
3.2.
© 2010 Wilhelm Fink Verlag, München
(Wilhelm Fink GmbH & Co . Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet : www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany .
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co . KG, Paderborn
ISBN 978 -3-7705 -4994-8
23
INSEKTENMIMIKRY.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER
(LAMARCKISTISCHEN) MIMIKRYFORSCHUNG (CA. 1862-1 935)
Zug!.: Berlin, Techn . Univ., Diss., 2008.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe
und der Übersetzung, vorbehalten . Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung
einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und
Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit
es nicht§§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.
18
19
B.
1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
11
17
3.3.
4.
Antidarwinismus. Anpassung oder Vererbung? . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lamarckismus.
Die ethologische Entstehung von Eigenschaften
(,Verhalten') . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
N eolamarckismus.
Die biologisch-physikalische Entstehung von Eigenschaften
(,Umwelt') . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Psycholamarckismus.
Die psychologische Entstehung von Eigenschaften
(,Wille'/ ,Emotion'). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
39
45
48
61
4.2 .
4.3.
Die Krisen der Mimikryforschung und des Darwinismus um 1900 .
Die Krise des wissenschaftlichen Begriffs.
Zur Ausdifferenzierung von ,Mimikry' und ,Mimese' . . . . . . . . . . . .
„Entitis imaginaires". Die Krise der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . .
Einige wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Adaptation . . . .
72
76
79
5.
Surrealistische Insektenkunde (Roger Caillois) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
4. 1.
71
!Nf--!..ALT
INHALT
6
8.4.
POETIK DER EVOLUTION.
W ISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
C.
8.5.
Vom Insekt zum Menschen . . . .. .... .....
.... -.......
... . .. .
Die
idiosynkratische
Struktur
des
szientistischen
Mythos
6.1.
der Humanmimikry ......
. ...........
. .....
.. ... . ..... . . .
,Buchstäblichkeit'
(Metapher)
..
.....
.
..........
. ........
.. .
6.1.1.
,Szientistischer
Gestus'
(Deixis)
...
..
.
....
...
.
......
.
....
.
.. .
6.1.2.
,Thearralität' (Dramatisierung) . . .. . .. .....
. ..............
...
6.1.3.
Poetik
des
Wissens.
Zur
Abgrenzung
von
Wissen
und
(Pseudo
-)
6.2.
Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .... .
6.
D.
HUMANMIMIKRY.
ZUR WISSENSGESCHICHTE
(CA. 1880 - 1960)
93
95
96
106
111
118
8.6.1.
8.6.2.
8.6.3 .
8.6.4 .
DES ,MENSCHEN'
Das Aufrauchen des Mimikrytiers ,Mensch' um 1900
(Ethnologie, Psychologie, Schauspielertheorie,
Zoologie, u.a.) ... .. . ..... . ..............
... ........
.... .
Wissen und Fiktion ..........
. .. . . .. . .... ........
. ......
.
7.1.
(Krypto -)Lamarckismus: Kultur als Natur, Natur als Kultur ... . .. .
7.1.l.
Mimikry als die andere Mimesis und das Andere der Mimesis .. . . .
7.1.2.
Psychologisierung ... ... ... .. . .. .....
. ................
. .. .
8.5.1.
8.5.2.
8.5.3.
8.6.
8.6.5.
8.6.6.
7.
125
131
133
135
138
8.7.
8.7.1.
8.7.2.
7.1.3.
8.
Der Mitmensch als Objekt der theoretischen Neugierde .....
. ... .
141
Philosophie.
142
Der Wille zur Verwandlung (Friedrich Nietzsche) . .............
..
144
Insektenmimikry. Philosophische Entomologie ............
. .. . .
8.1.1.
150
Philologie der Biologie ................
.. ... . .. .... .. ... . . .
8.1.2.
Humanmimikry. Psychologie und philosophische Ethologie. . ... . . 156
8.1.3.
164
Die Evolution sozialer Instinkte ..........
.........
. . .. . .... .
8.1.4.
8.2 . Literatur.
166
Die Evolution des schönen Menschen (Thomas Mann) .. . .. .... ... .
8.2.1. Kr im inelle Hochstapler. Ökonomie und Vertrauensverlust
.. . .........
.. .......
. ... . ... ........
. . . 168
um 1900 .......
171
8.2.2. Literarische Entomologie. Der Schmetterling als Leitmotiv .. ......
.
8.2.3. ,,,Eine Art von Erb -Überlieferung'". Mimikry als
(auto-)poetologischer Begriff ....................
. ... .. . ... . 175
182
8.3. Kultur - und Religionsgeschichte . ........
. .. . .......
... .... .
186
8.3.1. Assimilation als drohender Identitätsverlust .......
. .... . .. .... .
194
8.3.2. Die dia sporische Identit ät im Zeitalter des Nationalismus ... . . ... .
..... ... .... . .. .......
. . .. ... . 197
8.3.3. Zukunft ohne Messias ......
8.7.3.
8.7.4.
8.1.
8.8 .
8. 8 .1.
8.8 .2.
8.8.3.
8.8.4 .
8.8.5 .
8.9.
Literatur.
Evolution als Allegori e der Assimilation (Franz Kafka) . . . . . . . . . . .
Biologie.
Forschen im Ö sterreich- Un garischen Vielvölkerstaat
(Paul Kammerer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mimikry. Laborexperiment und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Intuition und Begriffsbildung in der Biologie ...........
. ... ....
Humanmimikry. Das Ähnlichwerden der Menschen. . . . . . . . . . . . .
Psychiatrie .
Der Insektenstaat als Gesellschaftsmodell in der Belle Epoque
(Auguste-Henri Fore!) .. .....
. .... . ........
. ...............
Ameisenmimikry als Sozialparasitismus . ..............
..... .. .
Die Sprache von Ameisen und Käfern .....
. . ......
. .. ......
..
Evolutionäre Psychiatrie ........
. ... . ........
. . ............
Polymorphismus.
Das konstruierte Geschlecht der Mimikry. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Krimino logie. Der Mimikrym ensch als homo delinquens . . . .. . .. . .
Fabula docet.
Die Literatur und die Analyse des Fremdpsychischen .........
.. .
Psychoanalyse .
.
Die „Lamarck-Arbeit" (Sigmund Freud) .....................
Vita minima. Humanmimikry als Totstellen und
traumatische Schockstarre (Sdndor Ferenczi) ............
. . .... .
Das fotografierte Subjekt.
Zum Verhältnis von körperlicher Plastizität und Bildlichkeit
Uacques Lacan) . ..........................
. ........
.....
.
Looking -glass seif Narzissmus und soziale Integration ...........
..
Was ist ein e „psychoanalytische Erfahrung"?
Zum Selbstverständnis der Psychoanalyse als einer
spekulativen Wissenschaft vom Menschen ....................
.
Literari sche Zoologie.
. .... . .... .. . . .
Masse und Verwandlung (Elias Canetti) . .......
Ameisenmimikry. Massenpsycholog ie und Nationalismus ......
...
Die Verwandlun gen des Menschen ...............
. .... .. ... .
Darwinismuskritik.
Verwandlung als Gegenkonzept zur Adaptation . ...............
.
Orientalistische Wissenschaftskr itik
und puritanische Evolutionsbiologie .........
.. . .. ..... ... ... .
Die Befreiung der Ti ere aus dem Buch der Natur .. ......
. . .. .. .
Anthropologie.
Der homo adaptivus als homo ludens zwischen biologischem
und mythologischem Denken (Roger Caillois) ... . ..... . .... .. . .
7
198
205
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262
264
271
272
274
276
279
1. Humanmim ikry.
Ein szientistischer Mythos
Mimikry ist eines der bekanntesten Phänomene in der Geschichte der Evolurions biologie.1 Der Begriff bezeichnet ursprünglich die täuschende Ähnlichkeit eines
Insekts mit einer anderen Art oder seiner Umgebung . Eingeführt wird er in die
Biologie durch den von Charles Darwin hoch geschätzten englischen Biologen
Henry Walter Bares. Sein Artikel, in dem das Phänomen der Mimikry zum ersten
Mal unter Schmetterlingen untersucht wird, erscheint im Jahre 1862.2 Im Laufe
seiner Geschichte erfährt das biologische Konzept zahlreiche Wandlungen. 3 Um
Auch die Geistes - und Kulturwissenschaftler interessieren sich für die Mimikry der Insekten. Die zuletzt erschienenen Arbeiten befassen sich vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten mit ihr. Die wohl eindruckvollste bildwissenschaftliche Studie unter ihnen
ist: Georges Didi -Huberman, phasmes. Essaysüber Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, All täglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern, Köln 2001 , 15-21. Vgl. für eine literacurwissen schaftliche Untersuchung : Thomas Schestag, Mantisrelikte, Basel 1998. Was jedoch in der
Regel nicht erörtert wird, ist, dass die Mimikry der Insekten kein ästhetischer Prozess ist.
Der Mimikryforscher Wolfgang Wickler hat auf dieses Missverständn is und auf den naturalistischen Fehlschluss aufmerksam gemacht, der in vielen Fällen der Grund für die
Verwechslung von Mimikry und Mimesis ist. Wo lfgang Wickler, ,,Die Natur der M imikry", in : Mim ikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur, hrsg. Andreas Becker,
u.a., Schliengen 2008, 45 -57, hier 56: ,,Die Kultur-, Geisteswissenschaftler und Literaten
wählen zur Illustration ihrer Theorien aus der Natur mit Vorliebe Beispiele Bares'scher
Mimikry und Tarnung, wo der Nachahmer die Rolle des durch Feinde Gefährdeten innehat. Indem sie aus der Fülle der natürlichen Mimikryfalle in allen Bereichen des Lebens,
bei Tieren wie bei Pflanzen, nur einen engen Ausschnitt auswählen, verzichten sie auf
viele Beispiele und konfrontieren ihre Theorien nicht mit dem, was über Mimikry in den
vergangen 100 Jahren aus biologischer Perspektive erarbeitet worden ist ." In der Tat sind
die wissenschafts- und wissenshistorischen Dimensionen des zoologischen Mimikr ykonzepts in der Regel nicht behandelt worden. Eine Ausnahme bilden die beiden Aufsätze von
Peter Berz, der die Insektenmimikry unter medienwissenschaftlichen Gesich tspunkten
untersucht. Peter Berz, ,,Die vier Verschiebungen des Blicks", in: Blickzähmung und A ugentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg . Claudia Blümle, Anne von der Heiden,
Berlin 20 05, 183-216; ders., ,,Die Kommunikation der Täuschung. Eine Medient heorie
der Mimikry" , in: Mimikry, hrsg. Becker, u.a., 27-44 . Vgl. zur Wissenschaftsgesc h ichte
der Insektenmimikr y die Kapitel 2 bis 4 der vorliegenden Arbeit.
2 H enry Wa lter Baces, ,,Contribucions eo an Insect Fauna of ehe Amazon Valley. Lepi dop tera: Heliconidae" , Transactions ofthe Linnean Society London 23 (1862), 495-566.
3 Vgl. für eine Definition: John R. G . Turner, Art. ,,Mimicry", in: Encyclopedia ofEvo lution,
hrsg. Mark Page!, Ox ford 2002, II, 732-736, hier 732: ,,M im icry is ehe parasitic or mutu -
8
INHALT
E.
SCHLUSS UND AUSBLICK
9.
Das Ende des Mythos und die Wiederk ehr der Humanmimikry ....
Archivalien (Siglen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verzeichnis der Abbildun gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Danksagung ..............
..................
..... .........
...
289
301
303
305
341
A.
EINLEITUNG
EINLEITUNG
12
1900 umfasst ,Mimikr y' (engl.: mimicry, franz .: mimetisme) eine größere Anzahl
von Phänomenen als heute. Unter den Begriff fällt damals die täuschende Ähn lichkeit zwischen unterschiedlichen Arten ebenso wie jene zwischen einem Insekt
und seiner Umwelt (ein Blatt, ein Stein, ein Zweig, etc.). Hinzugezählt wird außer dem das sogenannte Totstellen (thanatosis).4 Der Mimikry werden unters chiedliche Funktionen zugeschrieben: Ihr e täuschende Ähnlichkeit kann der Tarnung ,
der Abschreckung oder der Anlockung dienen. Heute beschränkt sich der Begriffsgebrauch vornehmlich auf solche akustischen, olfaktorischen, optischen oder tak- .
eilen Signale, die ausgesendet werden , um die Aufmerksamkeit eines Beobachters
zu erregen. Für die Tarnphänomene, bei denen die Aussendung von Signalen ,
durch die das Tier identifiziert werden könnte, unterbleibt, wird in der deutsch sprachigen Biologie seit den 1920er-Jahren der Begriff der ,Mimes e' im zuneh menden Maße verwendet. 5 In den Dezennien um 1900 setzen sich Humanwissenschaftler und Literaten mit der Frage auseinander, ob eine Mimikry unter
Mens chen existiert und welche gesellschaftlichen und kulturellen Auswi rkunge n
sie besitzt .
alistic exploitation of a communication channel. More plainly, the term describes the situation in which one organism gets the better of another organism (known as the dupe) by
looking, smelling, sounding, or feeling like something eise. Mimicry in this sense is very
widespread, operating as it can through any of these senses of the dupe and involving all
kinds of adaptation, from antipredator defense and predator stealth to courtship and reproduction ." Die zitierte Definition ist paradigmatisch für die anglo -amerikanische Forschun g, die eine größere Anzahl von Phänomenen unter dem Begriff ,mimicry' versam melt. Die bekanntesten Mimikryphänomene sind visuell, doch existiere n auch akustische,
olfaktorische und taktile Formen .
4 Die (innerartliche) Automimikry ist um 1900 noch unbekannt.
5 Mimikry zeichnet sich dadurch aus, dass ein wehrloses Insekt eine ähnliche Warnfärbung
wie eine andere ungenießbare oder giftige Art aufweist und auf diese Weise in den Genuss
desselben Schutzmechanismus gelangt. Aufgrund der aposematischen Merkmale ist es besonders sichtbar. Umgekehrt verhält es sich bei der Tarnung, die ,Mimese' genannt wird.
Hier ist das Ziel, ,unsichtbar' zu werden. Bekannte Beispiele für die Mimese sind unter
den Gespenstschrecken zu finden. Zu "ihnen gehören das ,wandelnde Blatt' (Phylliinae)
oder die dünnen Zweigen ähnelnden Phasmiden. Vor allem im deutschsprachi gen Raum
zieht man es vor, zwischen ,Mimikry' einerseits und ,Mimese' und ,Krypsis' andererseits zu differenzieren. Eingeführt wird das semiotische Kommunikationsmodell von
Wolfgang Wickler. Vgl. Wolfgang Wickler, ,,Mimicry and ehe evolution of animal communication", Nature 208 (1965), 519-521; ders ., Mimikry. Nachahmung und Täuschung in
der Natur, Frankfurt a.M . 1968. Wicklers Modell steht am Ende einer historischen Ent wicklung, in deren Verlauf es zu einer Ausdifferenzierung von Mimikry und Mimese
kommt. Im Rückblick ist auffällig, dass viele der Phänomene, die früher als Mimikry bezeichnet wurden, heute entweder unter dem Begriff der ,Mimese' subsumiert oder aber
anderen Konzepten zugeordnet werden wie zum Beispiel der Somatolyse, bei der die Umrisse eines Tieres verschwimmen .
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
13
Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Humanmimikr y.6 Es
handelt sich um ein fantastisches Menschenbild, das aus einer Faszination für die
Mimikry und die Insekten, die sie betreiben, entsteht. 7 „Entwicklung der mimi 6 Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen, die Idee einer Humanmimikr y entsteht, ist meines Erachtens noch nicht diskutiert worden . In seinen Ausführungen zur
Verhaltensmimikry des Mensche n (,Echomimikry') zieht der Verhaltensforscher Irenäus
Eibl-Eibesfeldt zwar eine Analog ie zu den unter Tieren verbreiteten Mimikryphänomenen, doch dienen ihm die Beispiele ausschließlich zum Vergleich und zur Veranschaulichung von Verhaltensformen . Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, 7. überarbeitete Auflage, München 1987, 275-284. Vgl. Wolfgang Wickler,
„Die Natur der Mimikry", 56 : ,,Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn das biologische
Konzept der Mimikry und Mimese auf kulturelle und soziale Bereiche des Menschen angewendet wird, oder auf seine ästhetische Wahrnehmung, sei es in Maskerade, Camoufla ge-Malerei oder spielerisch in Rätsel - und Suchbildern; hüten muss man sich nur vor einem zirkulären Rückschluss auf entsprechende ästhetische Prozesse in der Natur." Dass
die ,Übertragung' auf den Menschen in der Vergangenheit allerdin gs nicht so einfach verlief und sich die Bereiche der zwei Kulturen von Natur - und Geisteswi ssenschaft in der
. Geschichte der Mimikry nicht streng voneinander trennen ließen, wird im Laufe der Untersuchung zu zeigen sein. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass in anthropologischen, bild - und kulturwissenschaftl ichen Arbeiten zur Mimikry keine Differenzie rung zwischen einer Insekten - und einer Humanmimikry vorgenommen wird . Im Unter schied etwa zu den Herausgebern des wichtigen Sammelbandes Mimikry. Gefährlicher
Luxus zwischen Natur und Kultur werde ich die Frage, unter welchen kulturgeschichtlichen sowie wissens- und wissenschaftshistorischen Bedingungen man von dem zoologi schen Konzept zu der Vorstellung einer Humanmimikr y gelangt, in das Zentrum der Untersuchung stellen . Vgl. Mimikry, hrsg . Becker, u.a.
7 Die hier behandelten historischen Auffassungen zur Humanmimikry sind von dem aktuellen kognitions- und sozialpsycholo gischen Konzept der ,human mimicry' zu unterscheiden. Unter der human mmicry fallen solche unbewussten mimetischen Prozesse, die auto matisch zwischen Menschen ablaufen . Nach den Erkenntnissen der Kognitions- und Sozialpsychologie stellt sie die Grundlage für Emparhie, kooperative Handlungen und das
Zusammenleben überhaupt dar. Die experimentelle Untersuchung der (vermutlich) durch
Spiegelneuronen initiierten Mimikry steht zur Zeit im Mittelpunkt der Forschung. Wich tige Untersuchungen zur menschlichen Mimikry stammen von Tanya Chartrand . Vgl.
Tanya L. Chartrand, Amy Dalron, ,,Mimicry. Its ubiquity, importance, and funcrionality", in : Oxford Handbook of Human Action, hrsg. John A. Bargh, Ezequiel Morsella, Peter
M. Gollwitzer, Oxford 2008, 458 -483; Claire Ashron-James, Rick B. van Baaren, Tanya
L. Chartrand, Jean Decety, Johan Karremans, ,,Mimicry and Me . The Impact ofMimicry
on Self-Construal", Social Cognition 25 (2007), 518-535. In der aktuellen Forschung wird
human mimicry in keinen biologischen Bezug zur Insektenmimikry gesetzt. Eine Evolution von der Insekten- zur Huma nmimikr y, bei der also die menschliche Mimikry aus der
Mimikry der Insekten hervor geht, wovon um 1900 noch ausgegangen wird, wird nicht in
Erwägung gezogen . Die Rekonstrukt ion der Evolution der menschlichen Mimikry bleibt
auf den Menschen und ihn allein beschränkt. Vgl. für einen Versuch, die Evolution der
Humanmimikry zu rekonstruieren : Jessica Lakin, Jessica L. Lakin, Valerie Jefferis, Clara
Michelle Cheng, Tanya L. Chartrand, ,,The Chameleon Effect as Social Glue. Evidence
for ehe Evolurionary Significance ofNonconscious Mimicry",journal of Nonverbal Behavior Fall 27 (2003 ), 145-162; Tanya L. Chartrand, William Ma ddux , Jessica L. Lakin,
16
EINLEITUNG
Abb. 2: Carus Scerne(aliasEmse Krause), Werden und Vergehen.
Eine Entwicklungsgeschichte des Naturgan zen in gemeinverständlicher Fassung,
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
17
Die Genese des szientistischen Mythos der Humanmimikry verdankt sich einer
Reihe von Ursachen: Seinen wissenschaftshistorischen Hintergrund bildet, wie
bereits angedeutet, die (neo- und psycho -)lamarckistische Evolutionstheorie. Beim
Lamarckismus handelt es sich um eine Milieutheorie, auf deren Grundlage es
möglich wird, die Anpassung eines Lebewesens als einen spontanen Prozess zu
denken, der eine körperliche Verwandlung nach sich zieht. 13 Zu nennen ist des
Weiteren die Krise der Mimikryforschung um 1900, in deren Verlauf das zoologi sche Mimikrykonzept an Kohärenz und definitorischer Eingrenzungskraft verliert, sodass die taxonomische Bestimmung willkürlich zu werden droht. 14 Eine
Folge der Krise ist die Öffnung der klassifikarorischen Ordnung für neue Lebewesen. Zu ihnen gehört der Mensch, der fortan zu den Mimikrytieren gezählt werden kann. 15 Ein weiterer Grund liegt schließlich in den Texten selbst. Den hier
versammelten Texi:en ist eine wissenspoerologische Struktur immanent, die im
Folgenden als eine ,Poetik der Evolution' bezeichnet werden soll. Sie ermöglicht
die Fiktion des imaginären homo adaptivus. 16
4., verbesserceund vermehrceAuflage,Berlin 1901, o.S.
1.1. Poetik der Evolution
nachgegangen, wie aus einem zoologischen Konzept eine neue Auffassung vom
Menschen entsteht und welche wissenspoetologischen Voraussetzungen für die
,Erfindung' dieses homo novus notwendig sind. Ein weiteres wichtiges Anliegen
stellt die Analyse der Imaginationspotenziale dar, welche bei der Produktion des
neuen Wissens freigesetzt werden. 11
Die idiosynkratis che Struktur des szientistischen Mythos der Humanmimikry
lässt sich an zwei Merkmalen erkennen. Man nimmt an, dass die Humanmimikry
aus der Insektenmimikry evoluiert und ihr menschliches Pendant darstellt. Die
anthropogenetische Vorstellung basiert auf dem Schluss, dass es eine Mimikry des
Menschen zwangsläufig geben müsse, da eine Mimikry des Insekts existiert. Dieser
phylogenetische Denkstil arrangiert die Wissenselemente mithilfe eines Narrativs,
sodass die Evolution der Humanmimikry und die Deszendenz des homo adaptivus
von den Mimikryinsekten plausibel erscheint. Das zweite Strukturmerkmal besteht
in einem naturalistischen Fehlschluss, der zur Verwechslung von Mimikry mit
(intentionaler) Mimesis führt. 12 Die Insektenmimikry ist allerdings - und dies gilt
es, hervorzuheben - keine voluntative Mimesis, da ihre Farben und Muster genetisch determiniert und das Produkt der natürlichen Selektion sind, worin die meisten Biologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts übereinstimmen.
Dass der ,Mensch' vermuclichein problemacischesObjekt desWissensist, darauf hat Paul
Veyne im Anschlussan Foucaulcsehr treffend hingewiesen.Paul Veyne,Foucault. Die
Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992, 64 f.: ,,Und selbstverscändlichist
,der' Mensch ein Schein-Gegenstand,ein falschesObjekt. Deshalb werden die Humanwissenschaftennicht überflüssig,siesind nur gehalten,ihren Gegenstandzu wechseln,ein
Abenceuer,das die Naturwissenschaftengleichfallsgekannchaben".
12 Vgl.Wickler,,,Die Natur der Mimikry",bes. 56.
Eine Poetik des Wissens ermöglicht den Transfer des Konzepts von der Wissenschaft der Zoologie in das anthropologische Wissen . Sie schafft Strukturen der
Vernetzung, die den epistemischen Bruch zwischen Wissenschaft und Alltagswissen, wenn nicht zu überwinden, so doch zu umgehen helfen. Präzise Naturbeobachtung oder Experimente treten damit hinsichtlich ihrer epistemischen Bedeu tung und Funktionalität zurück. Denn der Mythos besitzt keine empirische
Gestalt und kann daher weder verifiziert noch falsifiziert werden. Der Körper des
Mimikrymenschen aus dem Labor der Fantasie hat kein Gewicht, wiegt er doch
nur so viel wie die Ideen, aus denen er gemacht ist, und die Fantasien, die auf ihm
lasten.
Mit dem Mediziner und Wissenschaftshistoriker Ludwik Fleck ließe sich diesbezüglich von einer „schöpferische[n] Dichtung" in den Human - und Naturwis senschaften sprechen; letztere umfasst „die sozusagen magische Versachlichung der
Ideen, das Erklären, dass eigene wissenschaftliche Träume erfüllt seien."17 Im Falle
der Humanmimikry sind vor allem Missverständnisse (misreading) für die Entste hung einer katalytischen Sphäre verantwortlich, in der zum Teil unkontrollierbare
Synthesen von heterogenen Wissenselementen ablaufen und beschleunigt werden.
Der W issenstransfer wird durch das Zusammenspiel einer Reihe unabhängige r wie
11
13 Vgl.Kapitel3.
14 Vgl.Kapitel4.
15 Vgl.Kapitel7.
16 Vgl.die Kapitel8.1.-8.9.
17 LudwikFleck,Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in
die Lehre vom D enkstil und Denkkollektiv , Frankfurt a.M. 1980, 46.
14
EINLEITU NG
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
15
8
cry unter Menschen." Friedrich Nietzsches Aussage aus dem Jahre 1884 (1885)
steht paradigmatisch für einen solchen Versuch . In der Retrospektive gleiche sie
dem Ausruf eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms, an dessen Umsetz ung sich ein Kollektiv, bestehend aus Biologen, Medizin ern, Psychologen, Psychoanalytikern , Soziologen, Kulturtheoretikern, Philosophen und Literaten, in den
folgenden Jahrzehnten abarbeiten wird. Unabhängig voneinander beabsichtigen
sie, die (fiktive) Hominisacion der Mimikry zu rekonstruieren und zu analysieren.
Die Erfindung eines mimetischen Verhaltens geht Hand in Hand mit der Erfin dung eines neuen ,Tiers': des Menschen, der eine Mimikry betreibt. Seine Konstruktion stellt kein singuläres, das heißt in sich abgeschlossenes Ereignis dar.
Erfunden wird das ,neue Tier' in unterschiedlichen Wissensformationen, die ihre
spezifische Version der Humanmimikry entwerfen.
Der Mimikrymensch ist ein homo adaptivus par excellence. Er ist ein Mensch,
der sich an sein soziales Milieu anpasst wie die Mimikryinsekten an ihre natürli che Umwelt. Mimikry steht für einen Anpassungsprozess, bei dem eine Ähnlich keit mit einem Vorbild beziehungsweise der Umwelt hergestellt wird. Die Auffassungen zur Ähnlichkeit hängen von dem Interesse des Beobachters ab, für den die
Anpassung entweder physischer oder psychischer Art sein kann. Ein Mensch
kann demzufolge auf einen anderen Menschen eine ähnliche Wirkung entfalten
wie die Umwelt auf ein Insekt. In Bezug auf den Menschen müssen es nicht ausschließlich morphologische Merkmale sein, es kommen auch kulturelle Wertvor stellungen in Frage. Es genügt, dass sich eine solche Person lange genug an einem
Ort aufhält, bis sie seinen Mitmenschen ähnlich wird. Nicht nur wird dieser
Mensch sich irgendwann so bewegen, reden, schreiben, denken und schließlich so
fühlen wie seine soziale Umwelt. In einigen Fällen soll er sogar imstande sein, sich
physisch in seine Mitmenschen zu verwandeln .9
Den Ausgangspunkt der Unt ersuchung bildet ein Paradox: Obwohl keine Mimi kry unter Menschen beobachtet wird, regt der bloße Gedanke an die Möglichkeit
ihrer Existenz die kulturelle wie wissenschaftliche Neugierde an. Es wird vermut lich der Anblick der bunten, in wohl kaum einem Konversationslexikon (Abb. 1)
oder einer populärwissenschaftlichen Abhandlung (Abb. 2) fehlenden Mimikry,,Beyond the Perceprion-Behaviour Link. The Ubiquitous Utility and Motivational Mo derators of Nonconscious Mimicry", in : The New Unconscious, hrsg. Ryan Hassin, Jim
Uleman, John A. Bargh, New York 2005, 334 -361.
8 Friedrich Nietzsche, ,,Die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885 (25 [379]), in:
ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden , hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Monrinari, 2., durchgesehene Auflage, München 1999, XI, 111.
9 Ähnliche Verwandlungsmythen sind schon seit der Antike bekannt. Man denke nur an
Ovids Metamorphosen. In den historischen Abhandlungen wird die Metamorphose jedoch
in keinen Bezug zur Mimikry gesetzt, weil sie keine vergleichbare Anpassungsfunktion
erfüllt. In einer der ersten wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zur Adaptation
wird der Unterschied von Anpassung und Metamorphose ausdrücklich hervorgehoben .
Vgl. Hugo Münsterberg , Die Lehre von der natürlichen Anpassung in ihrer Entwickelung,
Anwendung und Bedeutung, Leipzig 1885, 3.
____ .\\imikry 1'.:\':.1diahn111ng1
bei .::In_s..:.ek..:.·,e.::'"..:.
·--------
Abb . 1: Art. ,,Mimikry", in: Meyers Großes Konversations =Lexikon .
6., gänzlich neubearbeite und
Ein Nachschlagewerk des allgemeinen "W'i'ssens,
vermehrte Auflage, Leipzig/ Wien 1906, XIII, 854.
10
illuscrationen sein , die den menschlichen Verstand in der damaligen Zeit verfüh ren und ihn hoch auffahren lassen in das Reich szientistischer Fantasien. Das
Paradox verdichtet sich sodann zu einer Erscheinung, bis der Mensch gegen Ende
des 19. Jahrhunderts plötzlich inmitten der Mimikryciere erscheint . Hier kommt
der Einfall vor der Beobachtung, die Idee vor dem Leben.
In der vorliegenden Studie wird die Humanmimikry im wissenschaftshiscori schen Kontext der lamarckistischen Evolutionsbiologie verortet. Es wird der Frage
10 Vgl. zur Beliebtheit der Mimikry als Museumsschaustück: Carsten Kretschmann, Räume
öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts , Berlin 2006, 83.
Vgl. auch Ernst Study, ,,Die Mimikry als Prüfstein phylogenetischer Theorien", Die Na turwissenschaft. Wochenschrift far die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medizin und
der Technik, 7 Jg. (1919), 371-378, hier 374: ,,Was unter Mimikry zu verstehen sei, dar f in
der Hauptsache wohl als bekannt gelten. Bringen doch selbst unsere beiden großen Kon versationslexika [d.i. Meyers' und Brockhaus' Konversationslexika] kurze Artikel darüber
und ganz gute farbige Bildtafeln. "
18
EINLEITUNG
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
sich ergänzender Prozesse ermöglicht: Dazu zählen rhetorische Übersetzungsope rationen, Narrrationsstrategien, die performative Produktion von Evidenz sowie
die Theatrali sierung der Lebenswissenschaften.
In den Abhandlungen tauchen drei wissenspoetologische Strukturelemente auf,
die die drei Hauptelement e der Poetik der Evolut ion darstellen: Buchstäblichkeit,
szientistischer Gestus, lheatralität: Auf der Basis dessen, was man als ein phylogenetisches Phantasma auffassen könnte, welch es erlaubt, eine gedankliche Linie vom
Insekt zum Menschen zu ziehen, wird das Wort auf eine buchstäbliche Weise gelesen und infolge dessen als Mimesis interpr etiert; es wird sodann der Anschein von
Wissenschaftlichkeit durch ein en textimmanenten szientistischen Gestus suggeriert; schließlich wird ein theatralischer Rahmen geschaffen, in dem ein neues Verhalten erfunden und dem mens chlichen Leben eine teleologische Strukturzuge schrieben wird, die auf die perfekte Anpassung an die soziale Umwelt hinausläuft.
Das auf diese Art dramatisierte Leben gleicht einem Theaterstü ck mit unge wissem Ausgang: Am Ende steht die erfolgreiche oder die gescheiterte Anpas sung, ist das Schicksal des ,Mimikrantenq 8 entweder eine Komödie oder eine
Tragödie .
über eine Ordnung. Nicht nur besitzt das von den meisten Wiss ensch aftlern als
falsch oder fehlerhaft eingeschätzte Wiss en eine Struktur; von ihm können, und
dies gilt es zu betonen, innovative Impulse für die Produktion des Wissens ausgehen. Über das Potenzial des ,falschen ' Wiss ens schreibt Paul Feyerabend:
1.2. Ein ephemeres und peripheres Objekt
in der Geschichte des Wissens
Humanmimikry
ist ein Forschungsobjekt an den Rändern der Lebenswissen schaften um 1900. Der szientistische Mythos ist einer ,kleinen' Wissensges chichte
zuzurechnen, welche von jenen Ideen und Objekten handelt, die in Vergessenheit
geraten , weil sie ein ephemeres wie peripheres Dasein im historischen Schatten
erfolg reich er wissenschaftlicher Paradigmen fristen. 19 In der Tat zirkuli ert der
Mythos fernab solcher Forschun gsd isziplinen wie etwa des (Neo -)Darwinismus,
der Genetik, Soziobiologie und der Ethologie, also all jener Disziplinen, die die
aktuelle wissenschaftliche Gegenwart bestimmen. Das Interesse der vorliegenden
Arbeit an diesem ephemeren und peripheren Wissensphänomen ist aus diesem
Grund ein archäologisches.
Das Wissen, das den Mimikrymenschen hervorbringt, wird von der Mehrheit der
Wissenschaftler als ein ,falsches' Wissen beurteilt. Sie stehen der Vorstellung einer
Humanmimikry entweder skeptisch gegenüber oder lehnen sie schlichtweg ab.
Mitni chten intendiert die Untersuchung eine retrospektive Entlarvung von
Biologismen im Sinne einer Ideologiekritik. Vielmehr wird die Kategorie ,falsch'
in ihrem historischen Kontext verortet. Auch das (hi storische) Unwissen verfügt
18 Der Neologismus,Mimikrant' wird abgeleitetvon dem Verb ,mimikrieren'. Karl Hauser,
Atlerhand Schauspieler in der Tierwelt. Mimikry u. Schutzfärbung, Godesberg 1908, 6, 16,
schreibt von „mimikrierendenRaupen" und „mimikrierende[n]Arten".
19 Im Falleder Humanmimikry tritt dies spätestensin den 1960er-Jahren ein, als der Lamarckismusin Vergessenheitgerät.
19
Ein kennrnisloses Abschieben alter Ideen verfälscht also nicht nur die Geschichte
der Wissenschaften, es ist auch eine große Gefahr für die Forschung selbst, denn
jede Idee, sei sie auch noch so voll von Fehlern, hat einen zukunftsträchtigen Gehalt,
der unter neuen Umständen die Forschung vorantreiben kann (außerdem redet man
ja von Fehlern immer in Bezug auf einen gewissen kritischen Apparat - aber der kritische Apparat ist nicht unfehlbar und kann fruchtbare Ideen beseitigen).20
An dieses Zitat schließt sich unmittelbar die Frage an, unter welchen historischen
Bedingungen ein Wissen von Forscherkollektiven als ,falsch' etikettiert wird. Es
geht im Folgenden nicht bloß um eine Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer,
sondern auch um jene diskursiven Strategien, die Forschung verhindern und Ideen
den Weg in das Zentrum der Wissenschaft versperren. 2 1 Neben der Struktur des
,falschen' Wissens sollen daher jene komplementären diskursiven Voraussetzungen
analysiert werden, welch e die Unt erscheidung von ,falsch ' und ,richtig' bedingen. 22
1.3. Fragestellung en und Ziele
In den folgenden historischen wie systematischen Aufgaben - und Themenfeldern
bewegt sich die Untersu chung.
Lamarckismus: Eine historische Untersuchung der neo - und psycholamarckis tischen Theorien einschließlich ihres Beitrags für die Kulturtheorie und das historische Wissen vom Menschen steht noch aus. 23 Dies soll mithilfe einer Konzentration auf das Mimikryphänomen
versu cht werden. 24 D er Einfluss des
Lamarckismus ist dabei nicht imm er offensichtlich. Im Gegenteil. Einige der Texte, die für gewöhnlich der Geschichte der Darwinismusrezeption zugeordnet wer20 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1986, 64.
21 Ausführlicher wird auf diesen Punkt in Kapitel6 eingegangen.
22 Vgl.zu diesem Kriterium der Nichtwissenschaft:IsabelleStengers,Die Erfindung der modernen Wissenschaften, Frankfurt a.M. / New York/ Paris 1997,42 f.
23 Vgl.zu den ancidarwinistischenEvolutionstheorienum 1900: PeterJ. Bowler,The Ecfipse
of Darwinism . Anti -Darwinian Evolution Theories in the Decades Around 1900, Baltimote/
London 1983,bes. 58-106.
24 Im Folgenden wird auf die nahe liegenden Bezeichnungen,Sozialdarwinismus' und ,Soziobiologie'verzichtet,da sonst die Gefahr bestünde, die Besonderheitdes Lamarckismus
und der auf ihm aufbauenden Theorien aus dem Blickzu verlieren. Beidesind im Wesentlichen Vererbungstheorien,während der Lamarckismuseine Anpassungstheorieist, wenn
es um die Erklärung der Emergenz neuer Merkmale geht. Die Soziobiologieentwickelt
sich aus dem Neodarwinismus, der in einem Konkurrenzverhältniszum Lamarckismus
steht. Im Unterschied zu ihm lehnt der Neodarwinismus, welcher sich am Ende durchsetzt, die Idee einer VererbungerworbenerEigenschaftenab.
20
21
EINLEITUNG
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
den 25, sollen daher in eine neue Perspektive gestellt werden, um ihren kryptola marckistischen Charakter herauszuarbeiten.
Poetik des Wissens: Im dritten Abschnitt wird der Frage nachgegangen , welche
wissenspoetologischen Elemente notwendig sind, um die fiktive Evolution einer
menschlichen Mimikry zu konstruieren. Den Ausgangspunkt bildet die Begriffsgeschichte, die den Weg von ,Mimikry' durch englische, französische und deutschsprachige Texte nachverfolgt. Die begriffsgeschichtliche Semantik des heteroge nen Konzepts der Humanmimikry liegt nicht von vorneherein fest, sondern wird
aussch ließlich über den vorzufindenden pragmatischen Gebrauch des Begriffs
,Mimikry' definiert. Mit Wittgenstein gesprochen: ,,Die Bedeutung eines Wortes
ist sein Gebrauch in der Sprache." 26Wissen, so die These, wird durch und im Zuge
des Wissenstransfers produziert, das heißt, durch di e inter - und transdisziplinäre
Verschiebungen von Begriffen, Konzepten, Modellen und epistemische n Grenzen.
Historische Anthropologie: Inwieweit die Humanmimikry zur Entwicklung eines
neuen Menschenbildes in der Literatur , Kulturtheorie und den Wissenschaften
vom Menschen beiträgt, ist des Weiteren zu analysieren. So wird zu zeigen sein, wie
nach der Einführung des Wortes mimicry, das in der englischen Alltagssprache
ursprünglich die komische Pantomime meint, die Mimikry als eine unbewusste
Form der Mimesis aufgefasst wird. Bei dieser ellipsenhaften Bewegung des Mimi krybeg riffs von der Alltagssprache in die Biologie und anschließend in die Anthropologie und Humanwissenschaften entsteht ein neues Wissen über die Anpas sungsfähigkeit des Menschen.
Subjekttheorie: Nicht weniger wichtig ist die Frage, für welche anthropologi schen und philosophischen Vorstellungen vom Subjekt und für welche Strategien
der Subjektkonstitution der wissenschaftliche Mythos einsteht. Im Zentrum der
Auffassung vom Mimikry -Subjekt steht offensichtlich die Idee des Mangels. Der
homo adaptivus ist stets ein sozialer homo compensator, das ist ein Mensch, der sich
von seiner Umwelt das nehmen muss, was ihm aufgrund seiner Herkun ft verwehrt
bleibt. D er M angel ist aber nicht real, sondern eine diskursi ve Konstru ktion. Erst
die Idee eines Mangels kann jedo ch dazu führen, die Mimikry als eine Kompensa tionsle istu ng zu verstehen. Der Mangel verweist auf die angebliche Unfähigkeit
eines Menschen, einer Gesellschaft, deren Werte er imitiert , anzugehören. Wie
wird Subjektivität also mit hilfe einer biologischen Theorie konstruiert, die das Subjekt als ein Subjekt des Mangels begreift , den es in der Auseinandersetzung mit der
Umwelt zu überwinden versucht?
Historisierung eines Begriffe: Ein weiteres wichtiges Anliegen stellt die Historisierun g eines aktuellen theoretischen Begriffs dar, der vor allem im Kontext mim etischer Alteritätserfahrungen verhandelt wird: ,,Mimikry, im Unterschied zu Mim esis, ein Begriff mit Hochkonjunktur." 27 Heute gehört ,Mi mikry ' zum festen
Begriffsinventar postmoderner (Identitäts -) _Theorien. Man bed ient sich des Mimi krykonzep ts in der Regel, um mit ihm ein Gegengewi cht zum normativen Tradi tionsbegriff der Mimesis zu schaffen. 28 In der ästhetischen 1heorie 29, Anthropolo gie30, 1heaterwissenschaft 31, Literaturwissenschaft 32, Medientheorie 33 , den gender
studies 34 und postcolonial stud ies wird er häufig verwendet. Besondere Erwähnung
verdienen die Arbeiten von Homi K. Bhabha und Rey Chow, die den Mimikrybe -
25 Vgl. beispielsweise: Werner Michler, Darwinismus und Lite ratur. Naturwissenschaftliche
und literarische Intelligenz in Österreich 1859-1914, Wien/ u.a. 1999. Michler gehe in seinen
Interp retationen zwar auf den (Neo -)Lamarckismus ein und stelle dessen historische Spezifizicäc klar heraus, doch werden die literarischen Texte vornehmlich im Kontext der
Darwinismusrezepcion verorcec.
26 Ludwig W iccgenscein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hrsg.
Joachim Schulte, Frankfurt a.M . 2001 , 43 .
27 Inge Münz-Koenen, Art. ,,Mimikry", in : Auerbach-Alphabet. Trajekte Sonderheft 200 4,
Berlin 2004 , [o. S.].
28 Vgl. zu dieser Opposition zuletzt : Andreas Becker, u.a., ,,Einleitung", in: Mimikry, hrsg .
ders., u .a., 7-26 , bes. 12 .
29 Vgl. Asthetische Grundbegriffe, hrsg. Karlheinz Barck, Stuttgart/ Weimar 1990 ff., III,
746; V 580; Mare in Jay, ,,Mimesis und Mimetologie. Adorno und Lacoue-Labarthe" , in :
Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, hrsg. Gertrud Koch, Frankfurt a.M.
1995, 175-201.
30 Vgl. Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Mime sis. Kultur - Kunst - Gesellschaft, Reinb eck b.
Hamburg 1992, 433 -435; Michael Taussig, Mimesis and Alterity . A Particular History of
the Senses, New York/ London 1993.
31 Vgl. Gabriele Brandsceccer, ,,,Fälschung wie sie ist, unverfälscht.' Über Models, Mi mi kry
und Fake", in : Mimesis und Simulation, hrsg . Andreas Kablitz, Gerhard Neumann, Freiburg i. Br. 1998, 419-449; Birgit Käufer, ,,Die Kunststücke der Cindy Sherman: Doppelte
M imikr y versetzt Grenzen in Bewegung" , in : Körperproduktionen. Z ur Artifizialität der
Geschlechter, hrsg. dies., Alexandra Karentzos , Katharina Sykora , Ma rburg 2002, i80 194; Günther Heeg, Das Phantasma der natürl ichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im
Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./ Basel 2000, 314-318. Vgl. zur Mimikry in
den Filmwissenschaften : Thomas Morsch, ,,Mimesis und filmischer Raum", in: Mimikry,
hrsg. Becker, u.a., 221-227.
32 Vgl. Gerhard N eumann, ,,,Ein Bericht für eine Aka demie '. Erwägungen zum ,Mimesis' Charakcer Kafkascher Texte", Dvjs 49 (1975), 166-183; Derek Walcocc, ,,The Caribbean .
Culture ofMimicry?", in: Critical Perspectiveson Derek Wa!cott, hrsg . Robert D . Hamner ,
Washin gton, DC. 1993, 23-44; Claudia Breger, ,,Mimikry als Grenzverwirrung. Parodis tische Posen bei Yoko Tawada", in : Über Grenzen. Limitation und Transgressionin Literatur
und Asthetik, hrsg. Claudia Benthien, lrmela Marei Krü ger-Fürhoff, Scuccgarc/ Weimar
1999, 176-206; John Zilcosk y, ,,Wildes Reisen . Kolonialer Sadismus und Masochismus",
Weimarer Beiträge (11 2004) , 33-54; Virginia Richter, ,,Blurred copies ofhimself: Der Affe
als Grenzfigur zwischen Mensch und Tier in der europäischen Literatur seit der frühe n
Neuzeit", in: Topographien der Literatu r. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext,
hrsg. Hartmut Böhme, Stuttgart/ Weimar 2005, 603-624 .
33 Vgl. Peter Weibel, ,,Mimikry und Simulation . Strategien der Evolution? " in : Stra tegien des
Scheins. Kunst, Computer, Medien, hrsg. ders., Florian Röczer, M ünchen 1991, 290 -297.
34 Vgl. Luce Iriga ray, Speculum of the other woman, Ichaca, New York 1985, bes. 60, 78, 257
f., 280. Vgl. außerdem : Elin Diamond, ,,Mimesis, Mim icry of ehe ,crue real'", Modern
Drama 32 (1989), 58-72; Claudia Öhlschläger , ,,Mimesis-Mimikry-Maskerade . Szenen
einer Theacralisierung von ,Subjekt' und ,Geschlecht ' bei Jacques Lacan und Judich
22
EINLEITUNG
EIN SZIENTI STISCH ER MYTHO S
griff weit über die Grenz en der postcolonial studies bekannt gemacht haben. 35 Was
den unterschiedlichen Begriffsverwendungen gemein ist, ist die Betonung des
Unterschiedes zwischen Mimikry und Mim esis. Als eine Form der Nachahmung,
welche die traditionelle Mimesis parodiert oder sogar subveniert, dient sie als ein
Instrument der (Selbst-) Reflexion. Es werden auf diese Weise Normvorstellungen,
die mit bestimmten mim etischen Praxen verbunden werden, kritisch hinterfragt.
Die Histo risierung des Mimikrykonzepts zeigt allerdings, dass die Unters cheidung
von M imikry und Mimesis von dem spezifischen Diskurs und damit von wissenshistorischen Faktoren abhängt.
Postkoloniale Wissensgeschichte: Zuletzt stellt die Arbeit einen Versuch dar, die
Wissensgeschicht e einerseits und die postkoloniale Theorie andererseits in eine
gemeinsame Konstellation zu stellen. Ziel ist es, von der interkulturellen Fremd zur innerkulturellen Selbstbeobachtung und -zuschreibung zu wechseln . Während
die postcolonial studies sich ausschließlich mit der Mimikry eines nicht -westlichen
subalternen Subjekts beschäftigen 36, wird es im Folgenden um die Mimikry des
,westlichen' Subjekts gehen. 37 Inner - und interkulturelle Spannungen sollen auf
diese Weise hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wenigstens bis
zu einem bestimmten Grad, miteinander verglichen werden.
1.4. Aufbau der Untersuchu ng
Butler", in: Sze nographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft , hrsg. Ge rhard Neumann, Caroline Pross, Gerald Wildgruber, Freiburg i. Br. 2000, 343 -363 .
35 Homi K. Bhabha, ,,Of mimicry and man. The ambivalence of colonial discourse", in:
ders., The Location of Culture, London/ New York 1994, 85-92; Rey Chow, The protestant
ethnic and the spirit of capitalism, New York 2002, 103-108; Art. ,,Mim icry", in : Postcolonial Studies . The Key Concepts, hrsg. Gareth Gtiffiths, Bill Ashcrofc, Helen Tiffin, London / New York 22000, 136-138; Birgit Neumann, Art. ,,Mimikry", in : Metzler Lexikon
Literatur - und Kulturtheorie, hrsg. Ansgar Nünning, Stuttgart/ Weimar 2004, 460-461;
Mark Stein, ,,Rerrospective Resistance: Homi Bhabha's Mimi cry", Acolit 2 (2002), 41-49.
Vgl. zur Mimikry als einer Spionagetaktik in der Kolonialzeit: Eva Horn, ,,,Like actors on
a foreign thearre'. Kulturelle Mimikry im Great Game", in : Mimikry, hrsg. Becker, u.a.,
110-119.
36 Vgl. zur Figur des ,(new) subalcern' in den postcolonial studies: Gayatri Chakravort y
Spivak, ,,Can ehe Subalcern Speak?", in: Marxism and the Interpretation of Culture, hrsg.
Ca ry Nelson ,Lawrence Grossberg, Urbana 1988, 271-313; Gyan Prakash, ,,Subalcern
Studies as Posccolonial Cricicism", The Ame rican Historical Review, December, 1994, Vol.
99, No . 5, 1475-1490. Die Spur des ,subalcern' und ,native informanc' in der europäischen
Literatur, Kulcur und Philosophie - jedoch ohne Berücksich tigung der Wissenschaft wird verfolge in : Gayacri Chakravorty Spivak, A Critique of Post- Colonial Reason. Toward
a H istory of the Vanishing Present, Cambridge, Mass . 1999.
37 Auf die problematische Unterscheidung von ,westlich '/ nicht -westlich ' kann an dieser
Stelle nicht im Detail eingegangen werden. Wenn die binäre Opposition von Orient/ Okzident im Folgenden verwendet wird , so nur zu heuristischen Zwecken.
23
Abschnitt A (Insektenmimikry . Zur Wissenschaftsgeschichte der Lama rckistischen
Mimikryforschung) beschäftigt sich mit der Entdeckung der Mimikry durch
Henry Walter Bates und rekonstruiert die Wissenschaftsg eschichte der neo- und
psycholamarckistischen Mimikryforschung des späten 19. und frühen 20. Jahr hunderts. Anhand der von Bates während seines Forschungsauf ent haltes in den
Amazonasgebieten von 1848 bis 1859 verfassten Aufzeichnungen wird die Entste hung des wissenschaftlichen Konzept s nachvollzogen. Die M imikry wird von
Charles Darwin enthusiastisch aufgenommen und in der vierten Auflage der On
the Origin of Species (1866) als ein bedeutender Beweis für die Evolution angeprie sen. (Kapitel 2)
Der Schwerpunkt dieses ersten Abschnitts liegt auf den lamarckistischen
Mimikrytheorien, die in der Regel eine dezidiert antidarwinistische Tendenz aufweisen. Nach einer Einführung in die Evolurionstheorie Lamarcks wird ihre Weiterent wicklung als Neo - und Psycholamarckismus im 20. Jahrhundert verfolgt.
Zugespitzt formuli ert, ist der Lamarckismus eine biologische Verwandlungstheo rie, nach der die Anpassung ein spontaner Prozess ist: Anpassung als Verwand lung. Hierin unterscheid et er sich vom Darwinismus, der von graduellen Prozessen ausgehe, in denen die Variationen über einen längeren Zeitraum der Prüfung
der Selektion unterzogen werden . Die Neolamarckisten vertreten die Position,
dass die Farben und Muster der Mimikry auf die Struktur der organismischen
Ob erflächen der Insekten zurückzuführen sind, die wie fotografische Platten auf
chemisch-physikalische Umwelteinflüsse reagieren: Die Insekten fotografieren
ihre Umwelt mit ihren Körpern. Die Psycholamarckisten vermuten hingegen, dass
die Verwandlung der Insekten durch einen Will en oder eine Emotion ausgelöst
wird. Das Kernkonzept des Lamarckismus ist die Vererbung erworbener Eigenschaften. Mimikry gilt als ein Prozess der Erwerbung psychischer und physischer
Eigenschaften, die inkorporiert und an die nächste Generation vererbt werden
können . (Kapitel 3)
Um 1900 gerät die Mimikryforschung in eine wissenschaftl iche Krise. Die
Mimikryfors cher werden des Irrationalismus bezichtigt. Ihre Kritiker, von denen
nicht wenige die Existenz des Mimikryphänomens gänzlich leugnen, werfen diesen vor, dass ihre Beobachtungsgabe und Urteilskraft durch eine hyp ert rophe Einbildungskraft beeinträchtigt werden. Sie werden beschuldigt, dass sie sich Ähn lichkeiten in der Natur einbilden, wo in Wirklichk eit keine sind. (Kapitel 4)
Ein Exkurs zu den vom Surrealismus geprägten Überlegungen Roger Caillois'
aus den 1930er-Jahren, die eine Synthese von neo- und psycholamarckist ischen
Mimikrykonzepten darstellen, schließt diesen Teii ab. (Kapitel 5)
Abschnitt B (Poetik der Evolution. Wissenstransfer als Wissensproduktion) bildet
den Übergang von der Wissenschaftsgeschichte der (neo- und psycho -) lamarckis tischen Mimikryforschung zur Wissensgeschichte der Humanmimikry. Mit der
Krise der Mimikryforschung und den Auswüchsen einer unkontrollierbaren Ein bildungskraft lässt sich die Emerg enz dieses homo novus nicht erschöpfend erklä-
24
25
EINLEITUNG
EIN SZIENTISTISCHER MYTHOS
ren. Die Ordnung des sich anbahnenden neuen Wissens vom Menschen manifes tiert sich vor allem in Texten. In einer strukturalistischen Analyse des szientistischen
Mythos werden die drei Kernelemente seines Entstehungs- und Begründungszu sammenhangs identifiziert: die Buchstäblichkeit, damit ist das buchstäbliche Verständnis des Wortes mimicry als Mimesis gemeint, der szzentistische Gestus, welcher
das Kriterium der Wissenschaftlichkeit suggeriert, und die Theatralität, das ist ein
semiot ischer Sinnstiftungsprozess, der die Beziehung zwisch en Individuum und
Umwelt dramatisiert und auf diese Weise veranschaulicht. Zusammen bilden sie
die Struktur der Poetik der Evolution . (Kapitel 6)
Abschnitt C (Humanmimikry. Zur Wissensgeschichtedes ,Menschen') repräsen tiert den Hauptteil der Untersuchung. Die Poetik der Evolution ist in einer Wis sensgeschichte des Menschen zu verorten. Im Unterschied zu einer Wissenschafts geschichte, die die Geschichte der naturwissenschaftlichen Disziplinen und ihrer
Herausbildung umfasst, werden im Rahmen einer Wissensgeschichte alternative
Wissensordnungen berücksichtigt, die unter anderem aus der Literatur stammen
oder aus literarischen Strukturen in wissenschaftlichen Texten entsteh en. Die
meisten Schriften werden in den Dezennien um 1900 verfasst oder beziehen sich
auf wissenschaftliche Theorien, die um die Jahrhundertwende Konjunktur haben.
Der Einfluss des lamarckistischen Denkens ist in diesen Texten unterschiedlich
stark ausgeprägt. Der Lamarckismus bildet einen Resonanzraum von Ideen und
Vorstellungen, in dem das Verhältnis von Umwelt und Individuum sowie die Verwandlungspotenziale des menschlichen Körpers erörtert werden. Die lamarckisti schen Konzepte werden entweder, oft modifiziert, übernommen oder es werden
vergleichbare Auffassungen in den Texten entwickelt, die von ähnlichen Körper vorstellungen ausgehen. Der Imaginationsüberschuss, der sich im Laufe der Krise
der Mimikryforschung und des Darwinismus herausbildet, ermöglicht die Ausweitung des Mimikrykonzepts auf den Menschen. Gegen Ende des 19. Jahrhundens taucht die Humanmimikry in einer Vielzahl von Wissensformationen auf
Sie reichen von der Anthropologie bis zur Mediz in , von der Literatur bis zum The ater. In den heterogenen Texten dient der szientistische Mythos der Humanmimi kry zur Erklärung ethnischer und sozio-kultureller Prozesse der Anähnlichung.
(Kapitel 7)
In den Kapiteln 8.1. bis 8.9. wird deutlich, dass der szientistische Mythos ein
proteischer Bedeutungsträger ist, der seine Gestalt den unterschiedlichen Wis sensformationen anpasst. Was aus heterogenen Aussagen hervortritt, ist eine von
den Autoren geteilte Faszina tion für eine (fiktive) Phylogenese von Mensch und
Mimikryinsekt. (Kapitel 8)
Friedrich Nietzsche verfolgt die Genealo gie des Mimikrytriebs vom Sklaven in
der Antike bis zum Men schen der Mod eme . In seinen (tier-) psychologischen
Schriften der 1880er-Jahr e vermutet er hinter dem Wunsch zur Anpassung weni ger ein subalternes Bedürfnis nach Unterwürfigkeit als vielmehr einen W illen zur
Macht. (Kapitel 8.1.)
Thomas Mann rezipiert und verarbeitet Nietzsches philosophische Reflexionen
in seinem kurz nach der deutschen Reichsgründung handelnden Roman Bekennt -
nisse des Hochstaplers Felix Krull. Darin verfasst er eine literarisch -poetische Evolution der Humanmimikry. Der Schmetterling tau cht zum einen im Text als Leitmotiv auf und dient zum anderen als biologische Analogie für die autopoetologische
Bestimmung des eigenen Schreib ens, das Mann als eine Mi mikry der literar ischen
Tradition begreift. Während des langen Entstehungsprozesses - Mann nimmt die
Arbeit am Roman bereits im Jahre 1905 auf- ergänzt und erweitert er seine Mimi krykenntnisse durch die Lektüre biologischer Abhandlungen. (Kapitel 8.2.)
Mimikry ist im selbstref!exiven Diskurs zur jüdischen Identität ein Synonym
für die Assimilation, die von jüdischen Autoren strikt abgelehnt wird. In ihrer Kritik an der Mimikry vermischen sich darwinistische Begriffe und mystische Verwandlungsmythen, mit denen die Assimilation vor dem Zeitalter der Evolutionsbiologie umschrieben wurde. Die älteren Verwandlungsmythen stehen damit in
einem Spannungsverhältnis zur modernen Evolutionsbiologie. (Kapitel 8.3.)
Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie liest sich wie eine Fortsetzung und
Vertiefung der zuvor behandelten Kritik der Assimilation. Durch die Mimikry
hat der Affe Rotpeter die evolutionäre Stufe des Menschen erreicht. Dafür muss er
einen hohen Preis zahlen . Im Laufe der Hominisation verbla sst die Erinnerung an
di.e eigene Herkunft. Es bilden sich persönliche Mythen des Ursprungs heraus, die
die Imagination einer Abstammung erlauben , wenngleich sie einen letzten Zweifel
nicht ausräumen können. Während Rotpeter sich anpasst, schwindet die Erinnerung an die eigene Herkunft. (Kapitel 8.4.)
Der in Wien arbeitende Biologe Paul Kammerer stellt seine Überlegungen zur
Humanmimikry auf der Grundlage seiner Experimente mit Salamandern an. Im
Gegensatz zu den Rassenbiologen seiner Zeit behauptet er, dass die Ähnlichkeit
der Menschen nicht durch die Vererbung festgelegt, sondern durch das Milieu
bestimmt wird. Menschen, die in enger Nachbarschaft zusammenleben, werd en
sich, ohne dass es ihres eigenen Zutuns bedürfte, physisch wie psychisch ähnlicher
beziehungsweise ähnlich. Was von anderen Zeitgenossen mitunter abschät zig als
ein Assimilationsphänomen abgetan wird, ist Kammerer zufolge ein ganz natürlicher Prozess. (Kapitel 8.5 .)
Für den Psychiater und Ameisenforscher Auguste-Henri Fore! ist die Mimikry
ein psycho -pathologisches Phäno men, das er zu den hysterischen Erkrankungen
zählt. In seiner Beschreibung der Ameisenmimikry vermischen sich myrmekologisches und psychiatrisches Wissen. Den Schaden, den die pathologischen Lügner
und Hochstapler im Ameisenstaat und in der (Mens chen -) Gesellschaft verursa chen, wird von Fore! anhand einer Fallstudie beschrieben, für die er auf die litera rische Darstellungsform der moralisi erenden und psychologisierenden Tierfabel
zurückgreift. (Kapitel 8.6.)
In der Psychoanalyse findet die Auseinandersetzung mit der Mimikry in zwei
unterschiedlichen Phasen statt . Im Rahmen des von Sigmund Freud lancierten
Lamarck -Projekts führt Sandor Ferenczi als erster den Mim ikrybegriff in die Psychoanalyse ein . In den Kriegsneurosen der Soldaten, die auf den Schlachtfeldern des
Ersten Weltkriegs an hysterischen Lähmungserscheinungen leiden, erkennt er jenen
Mimikryinstinkt wieder, der es Tieren gestattet , sich im Augenblick der Lebensge-
26
EINLEITUNG
fahr totzustellen, um so einer Gefahr respektive einem Prädator zu entkommen.
Jacques Lacan wählt einen anderen Zugang zur Mimikry. Er vertritt die Auffassung, dass die Nachahmung des Spiegelbildes durch das Kleinkind - ein Vorgang,
den er ausdrü cklich als ,Mimikry' bezeichnet - nicht nur die motorischen Fähigkei ten, sondern auch die Organentwicklung fördert . Die soziale Integration des Indi viduums vollzieht sich durch eine Mimikry, die zum ersten Mal im Spiegelstadium
eingeübt wird . Im Spiegelstadium formt das Bild den Körper. In seinem Seminar
vom 4. März 1964 sagt er, dass das Ich „photo-graphiert"wird. 38 Lacan schließt mit
dieser Formulierung unmittelbar an die neolamarckistischen Theorien (vgl. Kapitel
3.2.) an, denen zufolge die Insekt enkörper ihre Umwelt fotografieren. (Kapitel 8.7.)
Für Elias Canetti bietet die Ameisenmimikry eine wichtige Vorlage für sein
Konzept der Verwandlung, das ein zentrales Element seiner Theorie der Masse
darstellt. Wo Fore! eine Form des Sozialparasitismus identifiziert, erfreut sich
Canetti an den karnevalesken Verwandlungen der Insekten . Canetti, der sich mit
der Evolutionsbiologie zur Zeit seines englischen Exils kritisch auseinandersetzt,
entwickelt in den 1940er-Jahren ein Gegenkonzept zur biologischen Adaptation.
Wie die Notizen aus dem Nachlass darlegen, erscheint ihm die darwinistische
Theorie der Anpassung als unangemessen, um die vitalistischen Lebensprozesse zu
erfassen, weil letztere sich dadurch auszeichnen, dass sie die taxonomischen Gr enzen, die der menschliche Verstand der Natur auferlegt, zu überschreiten pflegen.
(Kapitel 8.8.)
In den 1950er- und 60er -Jahren distanziert sich Roger Caillois von seinem frü heren Mimikryaufsatz, der noch ganz im Zeichen des Surrealismus steht. In seinen späteren anthropologischen Schriften versteht er die Mimikry als einen evolutionären Spieltrieb, welcher im Laufe des Zivilisationsprozesses eingedämmt wird.
(Kapitel 8.9.)
Im Abschnitt D (Schlussund Ausblick) wird die These aufgestellt, dass ,Mimik ry' ein historisches Synonym des zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Soziologie
eingefü hrt en Begriffs der ,Assimilation' darstellt. Während allerdings der eben falls aus der Biologie entlehnte Terminus ,Assimilation' einen Prozess der Verwissenschaftlichung durchläuft, kann sich der Mimikry -Begriff in der Soziologie
nicht durchsetzen . Die Geschich te der Humanmimikry ist di e vergessene Vorund Parallelgeschichte der soziologischen Assimilationstheorie. Im Schlusskapitel
wird nach den möglichen Gründ en für die ausgebliebene Rezeption gefragt. In
der Gegenwart existiert seitens der Soziologie ein erneutes Interesse an der Human mimikr y. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklung wird abschließend
der Vorschlag unterbreitet, die Theorien der Assimilation zu historisieren, um ihre
Besonderheiten herauszuarbeiten . (Kapitel 9)
38 Jacques Lacan, ,,Linie und Licht" (4. März 1964], in : Das Seminar von Jacques Lacan . Buch
XI (1964) . Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, hrsg. Norbert Haas, Olten/ Freiburg i.
Br. 1978, 97-111, hier 109.
B.
INS EKTENMIMIKRY
Zur Wissenschaftsgeschichte der (Larnarckistischen)
Mimikryforschung (ca. 1862 - 1935)
2. Darwinismus.
Die Entdeckung der Mimikry im Labor der Evolution
(Henry Walter Bates, Charles Darwin)
Charles Darwin ist so erfreut über die Entdeckung der Mimikry, dass er sie
sogleich in die vierte Auflage der On the Origin of Species (1866) aufnimmt. 1 An
ihren Entdecker Henry Walter Bares schreibt er im Novemb er 1862 einen Brief, in
dem er seine Begeisterung wie folgt kund tut.
In my opinion it is one of rhe most remarkable and admirable papers I ever read in
my life. The mimetic cases are eruly marvelous and you connece excellently a hosr of
analogous facts. The illusrrarions are beautiful, and seem very well chosen. [. .. ] I
rejoice ehat I passed over ehe whole subject in ehe ,Origin', for I should have made
precious mess of it . You have most clearly solved a wonderful problem. [... ] Your
paper is too good ro be largely appreciaeed by rhe mob of naruralisrs wirhoue souls,
buc rely on ie, rhat it will have lasring value, and I cordially congrarulaee you on your
firse great work. 2
In den Worten Ernst Mayrs ist die Mimikry ein „Geschenk Gorres" 3 an Darwin.
Das ,Geschenk' fällt Bares allerdings nicht in den Schoss, sondern ist das Ergebnis
1 Darwin, On the Origin of Species, 1866, 504-506. Vgl. zu Darwins Beschreibung der
Mimikry das Kapitel 6.1.3.
2 Charles Darwin, Brief an Henry Walter Bares (Down, 20.11.1862) in: Lift and Letters of
Charles Darwin, hrsg. Francis Darwin, New York 1959, II, 183-185.
3 Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 419. Darwins Euphorie wird erst
vor dem Hintergrund der damaligen Kritik vor allem seitens der Kirche vollends verständlich . Mimikry - wie überhaupt jede Form evolucionsbiologischer Anpassung - widerspricht der damals herrschenden kreationisrischen Lehre, der zufolge die Arten perfekt an
ihre Umwelt angepasst und somit konstant sind. Vgl. beispielsweise: Thomas von Aquin,
Summa Theologica, in: ders ., Die Deutsche Thomas-Ausgabe, Salzburg/ Leipzig 1934 ff., I
quaesr. 65a 2. Wenn Mayr vom „Geschenk Gottes" spricht, ist dies also durchaus ironisch
gemeine. Auf die Diskussion, ob sich am Anpassungskonzept der Einfluss der Naturtheologie auf Darwins Evolutionsbiologie nachweisen lässt, kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Im Gegensatz zu solchen prominenten Religionskritikern
und Darwinisten wie Richard Dawkins und Daniel Dennett, die Darwin eindeutig als
Atheisten sehen, haben David Kohn und John Cornell auf die Bedeutung der nacurtheo logischen Schriften hingewiesen, die er als Studenr liest. In diesem Zusammenhang ist vor
allem William Paleys Natural Theology (1802) zu nennen, in der die Lehre der perfekten
Anpassung vertreten wird. Dov Ospovat nimmt an, dass im Entwurf der Origin von 1844
noch Spuren des naturtheologischen Denkens ausfindig zu machen sind, Darwin aber in
der ersten Auflage der Origin von 1859 die Perfektion der Anpassung nur noch in einem
30
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
INSEKTENMIMIKRY
DER MIMIKRYFORSCHUNG
31
einer langjähri gen Forschungsarbeit, die er unter schwierigen Bedingungen bewältigt. (Abb. 3) Von 1848 bis 1859 bereist Bates die Amazonasgebiete, während der
ersten drei Jahre in Begleitung von Alfred Russe! Wallace, dem Mitentdecker der
Evolutionstheorie. 4 In den elf Jahren sammelt Bates über 14.000 zum Teil unbe kannte Tierarten.
Die Geschichte der Mimikry gehört zu den frühen Kapiteln der Erfolgsgeschichte des Darwinismus . Im Juni 1859, unmittelbar vor der Veröffentlichung von
Darwins Origin, kehrt Bates nach London zurück. Am 21. November 1861 hält er
einen Vortra g vor der Linnean Societyin London; im folgenden Jahr wird sein bahnbrechender Aufsatz unter dem nüchternen Titel „Contributions to an Insect Fauna
of the Amazon Valley. Lepidoptera: Heliconidae" 5 veröffentlicht.
Zu den über 550 eingefangenen Schmetterlingsspezies gehören 94 bis dahin
unbekannte Arten, die er der Familie der Heliconiidaezurechnet. 6 Von ihnen zählt
er 67 zu den von ihm sogenannten Danaoid Heliconidae und 27 zu den Acraeoid
Heliconidae. Den lthomia, eine Subfamilie der Danaoid Heliconidae, ähnelt die
Gattung der Leptalis, die zu der Familie der Leptalidaegehört.7 Bei dem Versuch,
die Schmetterlinge zu klassifizieren, kann Bates einige Individu en nur schwer
zuordnen. Ihm fällt auf, dass die ,nachahmenden' Leptalis eine größere Ähnlich keit zu den lthomia besitzen als zu den anderen Gattungen der Familie der Leptalidae, zu der sie ja eigentlich gehören.
4
Abb. 3: Henry Walter Bares, 7he natura/ist on the River Amazons, a record of adv entures,
habits of animals, sketches of Brazilian and Indian life and aspects of nature unde r the Equator
during eleven years of travel, London, 1863. (Front ispiz Bd. I)
relativen Bezug zur Umwelt und Konkurrenzsituation siehe. Scephen Jay Gould gehe dagegen davon aus, dass das Anpas sungskonzept weniger auf einen nacurtheologischen Hintergrund zurückgehe als vielmehr eine Eigenart der engl ischen Wissenschafcskulcur (,,anglophonic preference for adapcacionism") ist. In einem Rückblick weist Darwin selbst auf
den großen Einfluss der Naturtheologie hin. Charles Darwin, The Descent of Man and
Selection in Relation to Sex, London 1871, 153: ,,I was not able eo annul ehe influence of my
5
6
7
former belief, chen almosc uni versal, chac each species had been purposely creaced; and
rhis led to my cacir assumprion char every derail of struccure, excepting rudimenrs, was of
some special, rho ugh unrecognized, service." Richard Dawkins, The Blind Watchmaker,
New York 1986, 141, 316; Daniel Dennett, Darwins Dangerous ldea, New York 1996, 62
f., 511-520; John Cornell, ,,Newton of ehe Grassblade? Darwin and rhe Problem of Orga nic Teleology", Isis 77 (1986), 40 5-421; ders. ,,God's Magnificenr Law. The Bad Influence
ofTheistic Mecaphysics on Darwin's Escimarion ofNarural Selection",Journa/ of the history of biology 20 (1987), 381-412, hier 395-403; David Kohn, ,,Darwin's Ambiguiry. The
Secularizacion of Biological Meanin g", British Journal of the History of Science 22 (1989),
215-239; Dov Ospova r, ,,Perfecc Adaptation and Teleological Explanation", Studies in the
History of Bio/ogy 2 (1978), 33-56; Srephen Jay Gould, ,,On Transmuring Boyle's Law to
Darwin's Revolution", in : Evolution . Society, Science, and the Universe, hrsg. A. C. Fabian,
Cambridge 1998, 4-27, hier 25.
Vgl. Barbara G. Beddall, Wal!ace and Bates in the Tropics. An introduction to the theory of
natural se/ection, based on the writ ings of Alfred Russe/ Walface and Henry Walter Bates, New
York 1969.
Bares, ,,Contribucions to an Insecr Fauna of ehe Amazon Valley".
Heure wird diese Schmetterlingsfamilie als !thomiidae bezeichnet. Vgl. für eine Übersicht
zu der umfangreichen Literatur über die Schmeccerlingsmimikry von Heliconius : James
Mallet M . Joron, ,,Evolution of diversicy in warning color and mimicry . Polymorphism,
shifring balance, and speciarion", Annuaf Review of Ecofogy and Systematics 30 (1999), 201233.
Die Klassifikationen haben sich geändert . Heute werden die Leptaliden als Pieridae Dismorphiinae und die Danaoid He!iconidae als Nymphalidae lthomiinae bezeichnet. Die !thomiinae werden daher unter der eigenständ igen Unterfamilie der Nymphaliden geführt und zählen nicht
mehr zu den Helicon iden.
32
INSEKTENMIMIKRY
Während, wie nicht and ers zu erwarten ist, sich die Arten der Gattung !thomia
untereinander ähneln, verwund ert in Bezug auf den Polymorphismus der Leptali dae, dass einige Gattungen stark von ihr er Familie abweichen. Die äußere Überein stimmung mit der fremden Spezies ist so weit ausgebildet, dass die Leptalidae inmit ten des Schwarms der Heliconiidae aufgrund ihrer Ähnlichkeit nicht auffallen.
The resemblance is so close, chat it is only after long practise that ehe true can be
distinguished from ehe coumerfeit, when on ehe wi ng in their nati ve forests. I was
never able to distinguish t\ie Leptalides from ehe species chey imitated, a!though
they belong to a family totally different in strucrure and metamorphosis from ehe
Heliconidae, without examining ehern closely after capture. 8
Die besagten Klassifikationsschwierigkeiten, die den Forscher schließlich auf die
Spur der Mimikry führen werden, sind dem Umst and geschuldet, dass die morphologische Ähnlichkeit als ein Kriterium zur Bestimmung von Verwand tsch afts graden in diesem besonderen Fall zunächst versagt. Bates gelangt deshalb zu der
Schlussfolgerung , dass die Leptalis und die weiteren Gattungen der Familie der
Leptalidae die ,Nachahmer' der !thomia sind. Warum aber erweist sich die täu schende Ähnlichkeit als nützli ch ? Ihren Nutzen ziehen sie aus ihrer Ähnlichkeit
mit den ungenießbaren !thomia -Arten . Vögel, die diese einmal gefressen haben,
lernen aus ihr em Fehler und machen fortan keine Jagd mehr auf die ungenießbaren
Arten. Davon profitieren auch die Leptalis, die nämli ch im G egensatz zu den !thomia genießbar sind. (Abb. 4) 9
In seinen handschriftlich verfassten Notizbü chern, die heute im Natural History
Museum in London aufbewahrt werden 10 , äußert er sich an keiner Stelle dazu,
8 Bares, ,,Comribucions eo an Insect Fauna of ehe Amazon Valley", 504.
9 Auf den beiden Illustrationen sind die ungenießbaren lthomia zu sehen, denen die Leptalis
und Dioptis ähnlich sind . Auf der zweiten Tafel sind die lthomia mit einer arabischen Zahl
versehen. Als Vergleichsmerkmale dienen die roten und weißen Flügelmuster. Den
Schm etterlingen werden Angaben von Orten, wo sie eingefangen wurden, hinzugefügt.
Auf der hier ausgewählten zweiten Tafel werden vor allem lthomia und Leptalis abgebildet.
Bates, ,,Concributions eo an Insect Fauna", Plate LVI, o.S.: Fig. l. Leptalis Theonoe, var.
Erythroe. - St. Paulo, Upper Amazons, 69° W longitude; Fig. 2. Leptalis Theonoe, var.
Erythroe. - Sc. Paulo; Fig. 3. Leptalis Theonoe, var. Erythroe. - Sc. Paulo; Fig. 3a. lthomia
Orolina, var. Chrysodonia . - St. Paulo; Fig. 4. Leptalis Theonoe, var. Leuconoe. - St. Paulo;
Fig. 4a. lthomia Ilerdina (Hew itson). - St. Paulo „Th is Lepralis appears at first sight an
absolucely discinct species, but it is plainly a modification whose adaptation is complete."
(Ebd ., 565) Fig. 5. Leptalis Nehemia (of author's). - New Granada and S. Brazil; Fig. 6.
Leptalis Theonoe; var. Argochloe. - St. Paulo; Fig. 6a . lthomia Virginia (Hewitson) . - St.
Paulo; Fig. 7. Leptalis Amphione, var. Egaena. - Ega; Fig. 7a. Mechanitis Polymnia, var.
Egaensis. - Ega; Fig. 8. Leptalis Orise (Boisduval). - Cuparf 55° W. longicude; Cayenne;
Fig. 8a. Methona Psidii (Linn,eus). - Cuparf W . longitude; Cayenne .
10 Bares führt Protokoll und legt Quarchefte an, die später - nicht von ihm selbst - zu zwei
Bänden zusammengebunden wurden . Die Paginierung ist unregelmäßig und erlaubt keine zuverlässigen Aufschlüsse über eine Reihenfolge der Blätter. *Henry Walter Bates,
Manuscript Collection ofHenry Walter Bares (1825-1892), by permission of ehe Trustees
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
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DER MIMIKRYFORSCHUNG
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33
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Abb . 4 : Henry Walter Bares, ,,Comriburions to an Insect Fauna of
ehe Amazon Valley. Lepidoptera: Heliconidae", Transactions
of the Linnean Society London 23 (1862), 495-566, place LVI, o.S.
warum er ausgerechnet das Wort mimicry verwendet. Bates ist natürlich nicht der
Auffassung, dass die Schmette rlin ge der Leptalis eine Mimesis betreiben, welche
sie der !thomia ähnlich macht. D er Begriff der ,mimicry' wird von ihm rein metaphorisch gebraucht.
Um den Prozess der Begriffsbildung rekonstruieren zu können, ist es hilfreich,
Bates' populären Reisebericht The Naturalist on the R.iverAmazons heranzuziehen.
Darin bezeichnet das Wort ,mimicry' die totemistische Tiernachahmung unter
den sogenannten ,primitiven Naturvölkern' . Bei diesen Totemritualen handelt es
ofThe Natural Histo ry Museum (London). Zitiert wird unter der An gabe ,Manu script
Colleccion ofHenr y Walter Bates (The Natural History Museum)' mit Band und Seitenzahl.
34
INSEKTEN MIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
35
DER MIMIKRYFORSCHVNG
nices: & I have co note a feacurein ehe [fam.] making it dif!icult but mosc inceresting
study: chat is, the variabilicy of many of ehe sp., variabilicy not only in colours but
neuration, size, shape of wings
Aus dieser Passage tritt jenes Problem (,,making it difficulr") mit aller Deutlichkeit
hervor, das schließlich zur Entdeckung der Mimikry führen wird: Ist Ähnlichkeit
ein verlässliches Kriterium, um die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Art
zu bestimmen? Oder kann eine Ähnlichkeit eine solche Artzugehörigkeit vort äuschen?
In einer Notiz aus dem November 1852 findet sich der früheste Hinweis auf das
Problem. Bares berichtet von mehreren Schmetterlingsarten, die sich kaum von
den Ithomia unterscheiden lassen. Vermutlich handelt es sich bei den noch nicht
spezifizierbaren Schmetterlingen um die Leptalis. Da eine Entscheidung vor Ort
nicht möglich erscheint, schickt er einige Exemplare dieser Schmetterlingsspezies
nach London, wo sie zunächst gelagert werden sollen, bevor sie einer weiteren
Untersuchung unterzogen werden können.
Abb. 5: Henry Walter Bates, The naturalist on the River Amazons, a record of adventures,
habits of animals, sketches of Brazilian and Indian life and aspects of nature under the Equator
during eleven years of travel, London, 1863. (Frontispiz Bd. II)
sich um rauschhafte Maskenfeste, bei denen die Verwandlung des Menschen in
ein Tier beziehungsweise in seinen totemistischen Urahn zelebriert wird. (Abb. 5)
Tue Indian idea of a holiday is bonfires, processions, masquerading, especially ehe
mimicry of different kinds of animals, plency of confused drumming and monoconous
dancing, kept up hour afcer hour wichouc intermission, and ehe most important
poincafcerall, getting gradually and complecelydrunk. 11
In den totemistischen Tiernachahmungen liegt der außerbiologische Herkunfts ort des wissenschaftlichen Begriffs . Sowohl bei der Insektenmimikry als auch bei
der Mimikry der Indi aner handelt es sich um die Imitation von Tieren.
Anhand seiner Notizbücher lässt sich der weitere Weg von der Entdeckung des
Phänomens bis zur Theorie rekonstruieren. In den Notizen finden sich Klimastatistiken, diverse Klassifikationstabellen, Illustrationen (vornehmlich von Schmet terlingen, Käfern , Ameisen und Termiten) sowie vereinzelte theoretische Reflexio nen zum Problem der Klassifikation von Arten. Eine von ihnen, verfasst am 20.
Oktober 1855, lautet wie folge:
NB: Have now examined my [collection] of Heliconiida [with] 15sp. [d.i. species;
Anmerk. K.C.] Heliconia/ Lycorea/ Tithorea/ Thyridia [,] 19 lthomia & 6 Mecha11 Bares,The naturalist on the River Amazons, 201. [Hv. v. K.C.]
2 species very closely allied, which I had confounded cogether, not noticing any differences in their locale or habicswhilst colleccing them . They are mixed cog[ether]in
my boxes now (Nov /5 2) scored ready for remitting co London [...] The habits of both
are precisely that of Ithomia, [ . .} flying low a feebly, settling on leaves of plants.
12
Zunächst glaubt Bares, dass es sich bei den Schmetterlingsarten, die den Heliconi den ähnlich sehen, um intermediäre Formen handelt, die den Verlauf der Evoluti on dokumentieren.
Many sp. [d.i. ,species'; Anmerk. K. C.] seem co be linked cogether by incermediate
varieties, & yet if we were co follow the general rule in Zoology of considering only
one sp. a set of differing individuals connected by gradation of varieties, we should
fall inco the error of uniting really distinct sp.13
Aus der praktischen Beschäftigung mit dem Klassifikarionsproblem zieht Bares
seine wichtigste theoretische Schlussfolgerung: Für ihn ist die ,Art' nicht in der
N atur auffindbar, sondern sie ist ein kognitiver Notbehelf des menschlichen Verstandes.14 Der pragmatisch denkende Biologe nimmt bewusst die Gefahr einer
Verwechslung unterschiedlicher Spezies in Kauf, da keine Alternative zur Konst ruktion einer ,Art' existiert.
We have no alternative but eo draw ehe line arbirrarily perhaps, when we judge chac
ehe difference is suf!iciem co make a species. But ehe only way of scudy, here is co noce
every variety carefully with ehe location and local circumstances in which it is
12 Ders., Manuscript Collection of Henry Walter Bates (The Natural History Museum), I, 344 .
[Hv. v. K.C.]
13 Ebd., I, 413
14 Vgl.für eine Darstellung vordarwinistischerArtbegriffe:Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 204-213 . Vgl. zum Artbegriff: Martin Mahner, ,,BiologischeKlassifikation und Artbegriff", in: Philosophie der Biologie, hrsg. Toepfer,Krohs, 231-248 .
36
INSEKTEN MIMIKRY
found, this will require an immense collection of specimens but ehe scientific result
be most important and interesting. 15
Wo also zunächst Verwirrung waltet, als taxonomische Grenzen zwischen den
Arten zu vers chwimmen drohen, entsteht das neue wissenschaftliche Konzept der
Mimikry.
Bares geht in Bezug auf di e Mimikryschmetterlinge
von einer analogen Ähn lichkeit aus, die, und das ist ihr besonderes Merkmal, nicht auf (nah er) Verwandt schaft beruht. ,,Analogies between the two subfamilies have been mistaken for
affinities." 16 Als ein besonders eindrückliches Beispiel für analoge Ähnlichkeiten
wird die Mimikry in den Origin von Darwin vorgestellt. Im Kapitel über analoge
Ähnlichkeiten in der Natur heißt es:
ZUR W1SSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
37
des' Dokument der Evolution an: ,,Ir may be said, therefore, that on rhese expan ded membran es Nature writes, as on a tablet, the story of the modifications of
species, so truly do all changes of the organisation register chemselves thereon." 18
Das „wundervolle Problem" (,,wonderful problem") 19, das Bates, wie Darwin
glaubt, gelöst hat, ist kein Geringeres als das der Entstehung der Arten, das
„Geheimnis aller Geheimnisse" (,,mystery of all mysteries") 20 , wie es zu Beginn der
Origin heißt. In einem Brief an Darwin schreibt Bares, dass ihm in Südamerika
ein Blick in das Labor der Evolution gewährt wurde: ,,I think I have gor a glimpse
into the laborarory where Nature manufactures her new species." 21
Tue most remarkable case of analogical resemblance ever recorded, though not
dependent on adaptation to similar conditions oflife, is that given by Mr. Bates with
respect to certain butterflies in the Amazonian region closely mimicking other
kinds. This excellent observer shows that in a district where, for instance, an Ithomia
abounds in gaudy swarms, another butterfly, namely a Leptalis, will often be found
mingled in the same /lock, so like the Ithomia in every shade and stripe of colour
and even in the shape of its wings, that Mr. Bates, with his eyes sharpened by collecting during eleven years, was, though always on his guard, continually deceived.
When the mockers and the mocked are caught and compared they are found to be
totally different in essential structure, and to belang not only to distinct genera, buc
often to distinct families.17
Die Speziation der Mimikryschmetterlin ge, bei der eine Art einer anderen ähnlich
wird, dient als ein Beweis für den evolutionären Wandel und gegen die Behaup tung von der Konstanz der Arten. In seinem Reisebericht The natura/ist on the
als ein ,leben River Amazons preist Bates die Flügel der Mimikryschmetterlinge
15 Bates, Manuscript Coflection of Henry Walter Bates, I, 323. [Hv. v. K. C.]
16 Ders., ,,Contriburions to an Insect Fauna of the Amazon Valley",507. In der Forschung ist
diese Definition angesichts der Fälle von sogenannter Automimikry obsolet geworden.
Mimikry kann nach heutigen Erkenntnissen sowohl analog als auch homolog sein.
17 Darwin, On the Origin of Species, 4 1866, 504. In der sechsten Auflage der Origin gibt Darwin die Widerlegungsversucheseiner Gegner wieder. Wenn, so einer seiner Kritiker, die
Evolution der Mimikry nur gradual und keineswegssprunghaft (natura non facit saltum)
fortschreite, weil die Variationen, wie Darwin behauptet, langsam akkumuliert und vererbt würden, dann bleibe zu fragen, wie die täuschende Ähnlichkeit überhaupt eine Wirkung zeigen könne. Denn die ersten Spezies mit dieser Variante würden den Prädatoren
sofort zum Opfer fallen. Darwin widerlegt diesen Einwand mit dem Hinweis, dass die
natürliche Selektion keineswegszielgerichtet, sondern zufällig operiere. Der Umstand,
dass auch jene Arten überleben, die den umfassenden Schutz der Mimikry noch nicht in
Anspruch nehmen könnten, beweise deshalb, dass die Evolution niemals auf Perfektion
abziele. Das Argument, das die fehlende Perfektion der noch nicht ausgebildeten Mimikryähnlichkeit zum Stein des Anstoßes nimmt, sei damit noch kein Argument gegen die
Annahme einer langsamen, gradualen Zunahme. Anpassung sei schließlich nie perfekt.
Vgl. Darwin, On the Origin of Species, 6 1866, 182.
18
19
20
21
Bares, The natura/ist on the River Amazons, 346. [Hv. v. K. C.J
Darwin, Lift and Letters of Charles Darwin, II, 185.
Ders., Origin [1859], l.
Henry Walter Bates, Brief an Charles Darwin (King Sc Leicester, 28. März 1861), in:
Charles Darwin, The correspondence of Charles Darwin, hrsg. Frederick Burkhardt, Sydney
Smith, Cambridge/ New York 1994, IX, 71.
3. Antidarwinismus.
Anpassung od er Vererbung?
Die Bildung von Mustern auf Schmetterlingsflügeln beruht auf dem Zusammenspiel von Struktur - und Emwicklungsgenen. 22 Im Falle der Evolution der Mimikry merkmale steht eine Punktmutation am Anfang, die sich auf einen Satz von nah
zusammen liegenden Genen auf einem Chromosom auswirkc. 23 Dieser Genkom plex bildet ein sogenanntes Super-Gen, das wie ein einzelnes Gen operiert.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt der Schwerpunkt der Mimikryforschung
auf der Emwicklungsbiologie. 24 Ihr Anliegen ist es, den Einfluss der Umwelt auf
22 Während Strukturgene die Informationen für Proteine verschlüsseln, codieren Entwick lungsgene die an den Komrollregionen der chromosomalen DNA liegenden Transkripti onsfaktoren. Emwicklungsgene bestimmen die Frequenz, mit der die Exprimierung eines
Gens ,ein'- oder ,abgeschaltet' wird .
23 In der Forschung wurde zunächst lange Zeit angenommen, dass die Mutation nur ein
einzelnes Gen betrifft.
24 Vgl. für einen Forschungsüberblick: Patricia Beldade, Paul M. Brakefield, ,,The genetics
and evo-devo of butterfly wing patterns", Nature Reviews Genetics 3 (2002), 442-452;
Patricia Beldade, W. 0. McMillan, A. Papanicolaou, ,,Butterfly genomics enclosing", Heredity 100 (2008), 150-157. Vgl. außerdem: Paul M. Brakefield, u .a., ,,The Evolution of
Butterfly Eyespot Patterns", in: Ecology and Evolution Taking Flight, hrsg. Carol L. Boggs,
Ward B. Watt ,Paul R. Ehrlich, Chicago/ London 2003, 243-258; James Mallet, M .
Joron, ,,Evolution of diversity in warning color and mimicry . Polymorpism, shifring balance, and speciation", Annual Review of Evology and Systematics 30 (1999), 201-233;
Russell E. Naisbit, Chris D. Jiggins, James Mallet, ,,Mimicry. Develepmemal genes that
contribute ro speciation", Evolution & Development 5.3. (2003), 269 -280. Eine wichtige
Erkenntnis der Evolutionary Developmental Biology (Evo-Devo) ist, dass Mimikr ymerkmale - aus der genomischen Perspektive betrachtet - keine analogen Phänomene darstellen, wie Bates und Darwin noch annehmen, sondern sehr wahrscheinlich auf homologen
Genen basieren. Dies wurde zuletzt anhand der Augenflecken auf den Schmetterlings flügeln untersucht. Vgl. Sean B. Carroll, ,,Pattern formation and eyespot determ ination
in butterfly wings", Science 265 (1994), 109-114; Paul M. Brakefield, Julie Gates , Dave
Keys, Fanja Kesbeke, Pieter J. Wijngaarden, Am6nia Montelro, Vernon French, Sean B.
Carroll, ,,Development, plasticity and evolution of butterfly eyespot patterns", Nature
384 (1996), 236 -242; Craig R Brunetti, Jayne E . Selegue, Antonia Momeiro, Vernon
French, Paul M . Brakefield, Sean B Carroll, ,,The generation and divers ification of butterfly eyespot color patterns", Current Biology 11(2001), 1578-1585. Unter wissenschafts historischen Gesichtspunkten ist die Entdeckung homologer Gene sehr interessant, da
deren Existenz zuvor für unmöglich gehalten wurde. Mayr hat dies wie folgt ausgedrückt :
„Vieles, was man bisher über Genphysiologie weiß, zeigt deutlich, dass die Suche nach
homologen Genen ziemlich aussichtslos ist - es sei denn, es handelt sich um sehr enge
40
lNSEKTENMIMIKRY
die Genregulation zu untersuchen. 25 Zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende,
also vor der Epoche der Molekularbiologie, liegen die Ursachen der Mimikry noch
im Dunkeln .26 Die sich nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungs Verwandte. Falls es nur eine einzige effiziente Lösung für eine bestimmte funkt ionelle
Aufgabe gibt, werden sehr unterschiedliche Genkomplexe diese Lösung finden - egal, wie
unterschiedlich die Wege dahin auch sind. Das Sprichwort ,Viele Wege führen nach Rom'
gilt gleichermaßen für die Evolution wie für den Alltag." Ernst Mayr, Artbegriff und Evolution, Hamburg 1967, 476. Evo-devo hat diese ältere Annahme widerlege. Vgl. zur Bedeu tung von Evo-Dev o in der Geschichte der Evolutionsbiologie: Stephen Jay Gould, The
Structure of Evolutionary Theory, Cambridge, Mass. 2002 , bes. 1065.
25 Patricia Beldade, P.J. Wittkopp, ,,Development and evolution of insect pigmentation . Genetic mechanisms and the potential consequences of pleiotropy", Seminars in Ce!! & Developmental Biology. PubMed Epub (Oktober, 2008), DOI: 10.1016/j.semcdb.2008.10.002. Derzeit existieren noch viele offene Fragen in der Mimikryforschung . Bislang beschränken sich
die Erkenntnisse auf die Augenflecken und das Disral -less-Gen, doch wird angenommen,
dass dieselben Mechanismen auch anderen Mimikryphänomenen zugrunde liegen. Die verantwortlichen Gene und Prozesse sind noch nicht umfassend erforscht worden. Interessant
erscheint zudem die Möglichkeit, die Evolution der Mimikry durch die Epigenetik zu erklären. Vgl. Lawrence E. Gilbert, ,,Adaptive Novelty through Introgress ion in Helicon ius Wing
Patterns. Evidence for a Shared Genetic Toolbox' from Synthetic Hybrid Zones and a Theory
of Diversification", in: Ecologyand Evolution Taking Flight, hrsg. Carol L. Boggs, u.a., 281318. In Bezug auf die Evolution ist ein langfristiger Einfluss epigenetischer Fakto ren aber
unwahrscheinlich, da das genomische lmprinting nur für zwei bis drei Generationen erhalten bleibe. Diesen Hinweis zur gegenwärtigen Forschungsposition bezüglich des Verhältnisses von Epigenetik und Evolution verdanke ich Professor Axel Meyer aus Konstanz.
26 Eine Geschichte der Mimikry steht noch aus. Mit ihr ließe sich eine Geschichte der Evolutionsbiologie und der Genetik erzählen, die bis in die postgenomische Gegenwart reicht.
Viele wichtige Mimikryforscher - Reginald Punnett, Ronald Fisher, Edmund Briscoe
Ford, Phil ip Sheppard, Cyril Clarke, John Turner und Fredrik Nijhout, um an dieser Stelle nur wen ige zu nennen - haben sich auf dem Gebiet der Genetik hervorgetan . Die wissenschaftsgeschichclichen Arbeiten zur Mimikry konzentrieren sich fast ausschließlich
auf die anglo -amerikanische Forschung. Vgl. Mary Alice Evans, ,,Mimiccy and ehe Dar winian Heritage ", Journal of the History of Ideas 26 (1965), 211-221; Georges Pasteur, ,,A
classificatory review of mimicry systems", Annual Review of Ecology and Systematics 13
(1982), 169-199; William C. Kimler, ,,Mimicry . Views ofNaturaliscs and Ecologiscs before ehe Modem Synthesis", in: Dimensions of Darwinism, hrsg. Marjorie Grene, New
York 1983, 97-127; Julian S. Huxley, Evolution. The Modern Synthesis [1942], London
1974, 412 -417, 457-466. Huxleys Überlegungen sind mitunter als eine Polemik gegen den
Neolamarckismus zu verstehen, die ihrerseits im historischen Kontext zu betrachten ist.
Die Darstellung neolamarckistischer Mimikrytheorien in Bowler, The Eclipse of Darwinism, bes. 29 f., basiert zum größten Teil auf Huxleys Zusammenfassung. Evans Arbeit
aus dem Jahre 1965 schließt mit der Darstellung der genetischen Forschung der 1930er
Jahre. Stanislaw Komareks Abhandlung Mimicry, Aposemantism and Related Phenomena .
Mimetism in Nature and the History of its Study, Prague 2003, unterscheidet sich von den
zuvor genannten Arbeiten insofern, als sie die kontinentale Forschung stärker einbezieht.
Nicht nur berücksichtige sie die deutsche und französische biologische Forschung um
1900, sondern stellt in Ansätzen eine Beziehung zu kulturellen und philosophischen
Überlegungen zur morphologischen Ähnlichkeit an. Problematisch ist jedoch der Ansatz
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
41
Komareks, der methodologisch einem philosophischen Vitalismus nahe steht, ohne diesen jedoch zu erläutern respektive zu begründen. Ungeachtet dessen stellt seine Arbeit den
bislang ersten Versuch dar, eine Geschichte der zoologischen Mimikryforschung zu schreiben . Komarek hat außerdem die umfangreichste Bibliografie zur historischen Mimi kryforschung zusammengestellt. Stanislaw Komarek, Aposemantism and Related Phenom ena inAnimals and Plants . Bibliography 1800 -1900, Prag 1998. Eine Geschichte der Genetik der Mimikry, die es sich zur Aufgabe machte, den Weg zum Konzept des Super-Gens
zu rekonstruieren, wäre ein lohnenswertes Projekt. Eine denkbare Möglichkeit, die Geschichte der Mimikry zu schreiben, besteht darin, sie in zwei Phasen vor und nach 1900
einzuteilen . 1900, das annus mirabile in der Geschichte der Genetik, werden Mendels Vererbungsgesetze wiederentdeckt, die den Grundstein für die moderne Vererbung stheorie
legen und das ,Jahrhu ndert des Gens ', wie das 20. Jahrhundert auch genannt wird, einläu ten. In der ersten Phase steht die natürliche Selektion im Zentrum der wissenschaftlichen
Diskussion; in der zweiten Phase dominiert die Suche nach dem Mimikry-Gen. Die erste
Phase ist geprägt von der Auseinandersetzung zwisch en Darwinisten beziehungsweise
Neodarwinisten und Antidarwinisten. Während Bates, Darwin und August Weismann
die Entstehung der Mimikry mit der natürlichen Selektion begründen, lehnen die an tidarwinistischen Biologen dies ab. Sie entwickeln stattdessen finalistische Theor ien, die
von einem direkten Umwelteinfluss ausgehen . Für sie ist die Mimikry der Beweis dafür,
dass die Evolution keinem Zufall gehorcht. Die Obduktion von Vögeln soll beweisen, dass
ungenießbare Vorbilder und Nachahmer sich zahlenmäßig ungefähr die Waage halten.
Vgl. Richard Hertwig, Lehrbuch der Zoologie [1891], 15., verbesserte Auflage, Jena 1931,
29. Vgl. zu den Experimenten zur Überprüfung der Ungenießba rkeits -These: Charles B.
Davenport, ,,Elimination of Self-coloured Birds", Nature 78, 2014 (1908), 101; Franz John
Theodor Doflein, ,,Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit (Schutzfärbung und Mimikry)", Biologisches Centralb!att 28 (1908), 243 -254; Annie H . Pritchett, ,,Some Experi ments in Feeding Lizards with Protecti vely Colored Insects", Biological Bulletin 5. 5
(1903), 271-287; Richard Hert wig, Richard von Werrstein,Abstammungslehre, Systematik,
Paläontologie, Biogeographie, Berlin 1914, 40. Andere begründen die Funktions losigkeit
ästhetisch und begreifen die Mimikry als eine Laune der Natur. Vgl. Carl Brunner von
Wattenwyl, ,,Über die Hypertelie in der Natur. Festrede der Jahres -Sitzung der k.k .
zoolog .-boran . Gesellschaft", in: Verhandlungen der kaiserlich-königlichen zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien 23 (1873), 133-138, hier 135. Einige Schmetterlingsforscher
greifen zu extremen Methoden, um die Lehre von der natürlichen Selektion zu widerle gen. Abbor Handerson Thayer, Maler, Ornithologe und ein guter Freund Edward Poultons, einem der führend Mimikryforscher des 19. und frühen 20 . Jahrhunderts, verspeist
im Jahre 1903 einige Schmetterlinge, um festzustellen, ob sie tatsächlich nicht schme cken. Vgl. Nelson C. Whice, Abbott H Thayer, Pererborough 1951, 78, 109. Der bedeu tende Neodarwinist Weismann lehnt lamarckisrische Erklärungsversuche dezidiert ab. Er
beruft sich auf die natürliche Selektion und argumentiert dabei wie folgt : Wenn ein
Schmetterling, der über den Mimikryschutz verfügt, in der vorteilhaften Stellung und
Flügelhaltung verbleibe, tritt die natürliche Selektion in Kraft. Die vorteilhaften Eigenschaften werden selektiert und vererbt. August Weismann, Studien zur Descendenz-Theorie. Über den Saison-Dimorphismus der Schmetterlinge, Leipzig 1875, II, 80 f. Vgl. zu seiner
Kritik des Lamarckismus: August Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie gehalten an
der Universität zu Freiburg, Jena 1904, 53-95 . Die zweite Phase der Mimikryforschung
beginnt in den Jahren 1900 bis 1915, als die Diskussion um die Kontingenz oder Finalität
der Evolution durch die Suche nach dem Mimikry -Gen abgelöst wird. Die genetische Erforschung der Mimikry fängt mit der Übernahme der Mendels chen Vererbungsgesetze
durch Reginald Crundall Punnett an. An dieser Diskussion nehmen die Neolamarckisren
42
INSEKTEN MIMIKRY
gesetze im Jahre 1900 herausbildende genomische Perspektive, in der sich die
Struktur der Erbanlage abzeichnet, bedeutet den Anfang vom Ende für viele antidarwinistische Theorien, die den Schritt zur ,Molekularisierung' des Lebens nicht
mitvollziehen können.
Vorbereitet wird die genomische Perspektive durch das Zurückdrängen milieu theoretischer Ansätze, welche die Emergenz neuer Merkmale auf Prozesse der
Adaptation zurückführen. Durch die Konzentration auf die Erbanlage erfolgt die
zunehmende Abschottung des Organismus von der Umwelt . Für den Neodarwinismus sind die Gründe für die Entstehung neuer Merkmale allein in der natürli chen Selektion und in der Vererbung zu suchen, nicht aber in einem wie auch
immer gedachten Umwelteinfluss . Die Mimikryforschung ist ein Spiegel dieser
Diskussion. Theorien, nach denen die Umwelt auf das Insekt dergestalt einwirkt,
dass ein bestimmtes Farbmuster von einer Pflanze oder einem anderen Tier kopiert
wird, wodurch sich die Ähnlichkeit zur Umwelt plausibel erklären ließe, verlieren
mit dem Aufkommen der Genetik immer stärker an Rückhalt.
Zwischen Mimikryinsekt, Vorbild und Umwelt besteht also in den Augen der
Darwinisten kein „direkter Einfluß", sondern nur einer, der den „Umweg [der
natürlichen Selektion] über Raubfeinde nimmt". 27 Bereits Darwin schließt die
nicht mehr Teil, da sie kein vergleichbares Konzept der Erbsubstanz entwickeln. Man
kann diese beiden Phasen deutlich voneinander unterscheiden. In der ersten Phase vor der
,Molekularisierung ' des Lebens versucht man, dem Mimikryrätsel mithilfe ultimativer
Konzepte beizukommen, die um den adaptiven Wert der Mimikry und vor allem um die
Bedeutung der natürlichen Selektion kreisen. Die Beobachtung des Mimikrytiers, seines
Körpers und seines Verhaltens sind die einzigen Anhaltspunkte, die dem Mimikryfor scher in dieser Zeit zur Verfügung stehen. Dieser Zugang entspricht einer organismischen
Perspektive, die das Tier in seiner Umwelt verortet. Eine Vererbungstheorie der Mimikry
kann es in dieser Phase deshalb noch nicht geben. Bei den genetischen Erklärungen in der
zweiten Phase der Mimikryforschung handelt es sich um proximative Erklärungen, mit
denen man zu erklären versucht, was ein Mimikry-Gen ist, wie es exprimiert wird und
welche Rolle die Vererbungsprozesse und die Umwelt dabei einnehmen . Hier liegt eine
genomische Perspektive auf den Organismus vor, die die Vererbung betrifft. Die genomische Perspektive faltet den Raum des Lebens auf, bis ein neuer Raum in einer Tiefe entstehe, in die die Reize der Umwelt nur schwer vordringen und wo sie keinen prägenden
Einfluss entfalten können. Dies ist der episcemische Raum der Molekularbiologie, die die
für das bloße Auge nicht sichtbaren Vererbungsproze sse erforscht.
27 Wickler, Mimikry . Nachahmung und Täuschung in der Natur, 31 f. Vgl. ebd.: ,,Wo Vorbilder fehlen, bricht die Mimikry zusammen; also haben die Vorbilder einen Einfluß auf die
ebenso aussehenden Nachahmer." Die phänotypische Plastizität spielt sich innerhalb eines
Spielraums von Variationsmöglichkeiten ab, den die Erbsubstanz vorgibt. Ein Beispiel dafür liefert Weismanns Erklärung des Saisondimorphismus bei Schmetterlingen. Im Wan del der Jahreszeiten verändern sich Farbe und Verhalten. Heute wird dieses Phänomenen
damit erklärt, dass Hormone auf die Witterungsänderungen reagieren und die Exprimierung von Merkmalen regulieren. Weismann ist dieser Mechanismus noch unbekannt. Anhand des Saisondimorphismus von VanessaLevana und V Prorsa erklärt er nicht das Licht,
sondern thermische Reize für die Entstehung der Farbmuster als ausschlaggebend. Weismann bezieht sich hierbei auf Haeckels biogenetisches Grundgesetz. Die sich unter zu-
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
43
· Möglichkeit ausdrücklich aus, dass die Entstehung der Mimikry durch eine
unmittelbare Kausalbeziehung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt
zustande kommt. 28
Angesichts neuerer Forschungsergebnisse bedarf diese Ablehnung eines direk ten Umwelteinflusses aktualisierender Ergänzungen . In der Tat übt die Umwelt
einen Einfluss auf die Evolution der Mimikry und die Individualentwi cklung aus.
Hormone, die auf saisonale Stimuli wie Feuchtigkeit, Temperatur und Licht reagieren, regulieren die Genaktivität, wie bereits angedeutet wurde. Ausgeschlossen
werden kann jedoch nach wie vor, und dies gilt es hervorzuheben, ein unmittelbarer Umwelteinfluss, bei dem ähnliche Merkmale kopiert werd en. Ein Insekt ist also
beispielsweise nicht grün oder weist ein bestimmtes Muster auf, weil seine Umwelt
grün ist oder dieses Muster trägt. Muster und Farben kommen nicht dadurch zu-
nehmender Kälte bildenden Phänotypen sind für ihn keine spontan reproduzierten neuen
Anpassungsmerkmale, sondern atavistische Formen aus der Eiszeit. Weismann, Studien
zur Descendenz-Theorie, I, 14. Den umfangreichsten Forschungsüberblick über die Experimente zum Umwelteinfluss bietet die mit einem Vorwort von Weismann versehene Arbeit von Porfirij Bachmetjew. P[orfirij] Bachmetjew, Experimentelle entomologische Studien
vom physikalisch-chemischen Standpunkt aus, Leipzig/ Sophia 1901-07. Die Ablehnung des
direkten Umwelteinflusses hängt mit dem vererbungscheorecischen Kernkonzept des
Neodarwinismus zusammen: Das Dogma der harren Vererbung (,Weißmann-Barriere')
postuliere die Unabhängigkeit der Keimbahn vom äußeren und inneren Milieu. Vgl. August Weismann, Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung, Jena 1892. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass das Erbgut durch Umwelteinflüsse nicht manipuliert werden kann.
Vgl. ebd., 567 f.: ,,Wer die unbegrenzte Menge der Anpassungen der Organismen an ihre
Lebensbedingungen überblickt, der ist immer wieder von neuem überrasche von der wunderbaren Plascicitäc der Arten. Man hat den Eindruck, als könne jede, auch noch so uner wartete Abänderung von einer Art hervorgebracht werden, sobald sie nur der Art von Nutzen sein kann. Denke man ·allein an die Nachahmungen von Pflanzen und Pflanzenteilen
durch Tiere in Farbe, Gestalt und Zeichnung, oder an die anderer Tiere, so möchte man
glauben, daß jeder Teil eines Tieres je nach Bedürfnis in diese oder jene Form gebracht, in
beliebiger Weise gefärbt und gezeichnet werden könnte. Gewiss ist dies nicht wörtlich zu
nehmen; nicht alles ist möglich, aber doch so vieles, daß man diese unzähligen Anpassun gen unmöglich auf seltene, zufällig einmal vorkommende Variationen beziehen kann. Die
nöthigen Variationen, die aus der Selektion ihre Umwandlungen zusammensetzt, müssen
immer, und an vielen Individuen wieder und wieder sich darbieten." Weismanns Einschränkung beziehe sich ausschließlich auf die Vererbbarkeit der Veränderungen . Der N eodarwinismus schließt damit einen Signaltransfer zwischen Soma - und Keimzellen, welcher dazu
führen könnte, dass Veränderungen im Erbgut fixiert werden, aus. Ein anderer Kritikpunkt stamme von Edward Poulcon : Wenn der Organismus ständig den Stimuli der Umwelt ausgesetzt ist und er diese gemäß der lamarckistischen Lehre erwirbt, dann stellt sich
die Frage, wie die neuen Merkmale fixiert werden können . Vgl. Edward Bagnall Poulcon,
,,The bearing of ehe Study of Insects upon the Quescion ,Are acquires Characters heredi cary?"', in: ders., Essayson evolution, Oxford 1908, 139-172. Der Organismus würde nämlich einer tabula rasa gleichen, die unleserlich geworden ist, weil sie ohne Unterlass ,beschriftet' wird.
28 Darwin, On the Origin of Species, 1866, 504.
44
INSEKTENMIMIKRY
ZU R WISSENSCHAFTS GESCHI CHT E DER MIMI KRYFORSCHUNG
stande, das ein Mimikrytier seine Umwelt ,nachahmt'. Mimikry ist weder eine
Kopierung von Merkmal en noch eine voluntative Nachahmung.
Die lamarckistischen Theorien um 1900 behaupten nun genau dies. Für sie existiert ein direkter Umwelt einfluss, der sogar zu der Entstehung einer neuen Art füh ren kann. Mimikry ist als eine Verwandlung und Anpass~mg zu begreifen - so lautet
der Gegenvorschlag der lamarckistischen Milieutheorien des 19. und 20. Jahrhun derts. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist kühn: Ein schwarzer Fleck am Flügelrand bildet sich beispielsweise, weil ein schwarzer Fleck auf einem Blatt oder Schmet terlingsfl.ügel kopiert wird; eine Schmetterlingsart transformiert allmäh lich in eine
andere Art, weil sie denselben Umweltreizen ausgesetzt ist oder von dem Vorbild
direkt beeinflusst wird. Für die lamarckistischen Theorien repräsentiert die ,Umwelt'
ein morphogenetisches Feld, in dem ein äußerer „Medium-Einfluss" 29 in chemischphysikalischer Form auf den Organismus einwirkt und das Farbmuster überträgt.
Innerhalb dieser biologischen Medientheorie wird die Anpassung als ein teleologischer Prozess denkbar. Die Vorstellung, dass die neuen Merkmale vererbt werden
können, wird vom Lamarckismus vertreten, vom Neodarwinismus wird sie hingegen
abgelehnt.
Die von der Biologie Lamarcks über den Neo - bis zum Psycholamarckismus
reichende Geschichte des Lamarckismus ist die Geschichte einer sich verändern den Wahrnehmung des Organismus. Wie dieser auf die Umwelt reagiert und wie
sie ihn formt, wird auf unterschiedliche Weisen analysiert: So interessiert sich
Lamarck für das Verhalten der Tiere, der Neolamarck ismus für den chemisc hphysikalischen Charakter des Umwelteinflusses und der Psycholamarckismus für
den Willen und die Emotionen. Gemeinsam ist diesen verwandten theoretischen
Ansätzen, dass ihre organismische Perspektive dem entspricht, was man ein Den ken ohne Tiefe, eine Epistemologie der Oberfläche nennen könnte. Die Emergenz
von Merkmalen wird als eine Transmission von einer Oberfläche A (zum Beispiel
ein Blatt, ein Schmetterlingsflügel) zu einer Oberfläche B (ein anderer Schmetter lingsflügel) begriffen, ohne dass innere Faktoren wie etwa die Erban lage eine Rolle spielen würden. Das Wissen der Forschung geht niemals weiter als das, was mit
bloßem Auge beobachtet werden kann. Mit anderen Worten: Evidenz entsteht
dort, wo sich das Feld des Sehens und der Raum des Denkens aufeinander abbilden . D er Körper ist für den Lamarckismus vor allem eines: ein Bild seiner Umwelt.
3. 1. Lama rckism us.
Di e etholo gische Ent stehun g von Eigenschaft en (,Verhalt en ')
29 Weismann, Keimplasma, 533. Dieser Ausdruck stammt zwar von Weismann , doch ist anzunehmen, dass die Neolamarckisten seiner Begriffswahl zustimmen wü rden.
45
Wie für den Darwinismus ist die Mimikry ein wicht iges Phänomen auch für d ie
neo- und psycholamarckistischen Theorien. An der M imikry soll bewiese n werden, dass Evolution nicht primär auf Abstammung und Vererbung, sondern auf
Transformation und Anpassung an die Umwelt beruht. Bei der Mimikry, einem
der beka.nntesten Anpassungsphänomene, wird man Zeuge des bemerkenswertes ten aller biologischen N aturereignisse: Die Entstehung einer neuen Art durc h
Transformation.
Für Lamarck wäre die Mimikry vermutlich auch ein Geschenk Gottes gewesen, wie sie es nach Mayr für Darwin gewesen sein muss. Doch Bates entdeckt die
Mimikry erst drei Jahrzehnte nach Lamarcks Tod im Jahre 1829. Man kann also
nur darüber spekulieren, wie Lamarck die Ähn lichkeit der M imikry insekten
erklärt hätte.
Einen Anhaltspunkt gibt sein Artikel im Nouveau dictionnaire d 'histoire natu relle, in dem er sein Konzept der Art wie folgt erläutert:
Si nous suivons le papillon du chou (papilio brassicae, L. ), si conmun dans nos conm:es , nous lui observerons differentes varietes, et de proche en proche nous verro ns
ces varietes amener, dans d'aucres concrees, des races que nous caracteriserons comme des especes . [... ] Chacune d 'elles, sans doute, est constante et se reproduit roujours la meme, dans les circonstances ou eile vit habituellement; eile ne changera
jamais , tant que ces circonstances seront les memes [.. .].30
Papilio brassicae, auch als Pieris brassicae bekannt, ist den später entdeckte n Mi m ikryschmetterlingen sehr ähnlich. 31 Zu derselben Familie der Pier iden gehört die
Leptalis, an dene n Bates die Mimikry zum ersten Mal beobachtet.
Lamarck vertritt den Standpunkt, dass unterschiedliche Umgebungen unter schiedliche Verhaltensformen und Gewohnheiten hervorrufen. Die Veränderung
von Gewohnheiten ist wiederum der Grund für die Transformation und Evolut ion der Arten. 32 Seine zwei Gesetze zur Artbildung lauten:
Erstes Gesetz: Bei jedem Tier, das das Ziel seiner Entwicklung noch nicht über schritten hat, stärkt der häufigere und bleibende Gebrauch eines Organs dasselbe
allmählich, entwickelt und vergrößert es und verleiht ihm eine Kraft, die zu d er
Dauer dieses Gebrauchs im Verhältnis steht; während der konstante Nichtgebrauch
30 Jean Baptiste Lamarck, Art. ,,Espi:ce", in: Nouveau dictionnaire d'histoire naturelle, Paris
1817,X, 44 1-45 1, hier 448 f.
31 Der in Europa weitverbreitete Kohlweißling ist ein beliebtes Versuchsobjekt der M imikryforsche r. Vgl. Kapitel 3.2.
32 Diese Form der geografischen Speziation verläuft anders als die allopatrische Artbildung
bei Darwin, welche auf der Einrichtung von geografischen Barrieren und der Separation
von Teilpopulationen basiert. Die Transformation ist gemäß der Lamarckschen Theorie
zudem reversibel, sobald sich die Lebensverhältnisse wieder ändern .
46
INSEKTENMIMIKRY
eines Organs dasselbe allmählich schwächer macht, verschlechtert, seine Fähigkei ten fortschreitend vermindert und es endlich verschwinden läßt.
Zweites Gesetz: Alles, was die Natur die Individuen erwerben oder verlieren läßt
durch den Einfluß der Verhältn isse, denen sie während langer Zeit ausgesetzt sind,
und folglich durch den Einfluß des vorherrschenden Gebrauchs od er konstanten
Nichtgebrauchs eines Organs, das erhält sie durch die Fortpflanzung für die Nach kommen, vorausgesetzt, daß die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern
oder denen, die diese Nachkommen hervorgebracht haben, gemein seien .33
Lamar ck unternimmt als Erster den umfassenden Versuch, die Entstehung einer
Art zu erklären. Im Gegensatz zum Darwinismus ist seine Evolutionstheorie keine
Deszendenzth eorie , denn die Arten gehen nach Lamarck nicht genea logisch auseinander hervor. Wenn Lamarck und seine Nachfolger von einer ,Art' sprechen,
dann im Sinne eines „identis chen Substrats im Wandel von Gestalt und Struktur,
eines identischen Substrats in diesem Prozess der allmählichen Ausbildung und
Höherentwicklung der Organisationsstruktur bis zum Reifestadium." 34
In Bezug auf die Reproduktion von Ähnli chkeit räumt Darwins D eszendenztheorie der Vererbung einen größeren Stellenwert ein als der Anpassung. ,Like
produces like' - das ist eine bekannte Losung unter Tierzüchtern, die Darwin
bekannt gewesen sein dürfte. Bei Lamarck verhält es sich umgekehrt. Weil seine
Evolutionstheorie keine Abstammungstheorie ist, würde er die Entstehung der
Mimikry -Ähnlichkeit vermutlich ni cht anhand eines Vergleichs mit den Elternge nerationen, sondern anhand der Ähnlichkeiten zwischen den Verhaltensformen,
die an den Leb ewesen in derselben ökologischen Nische zu beobachten sind, erklä ren. Auch in seiner Theorie werden Merkmale zwar vererbt, doch für den Vorgang
der Tran sformation fällt dieser Umstand weniger ins Gewicht, denn neue Merk male, werden durch Adaptation erworben, während alte vererbt werden. Das Indi viduum kann somit in die Evolution einer Gattung eingreifen.
Was hätte also Lamarck in der Mimikry gesehen? Vermutlich wäre sie ihm ein
Beispiel für einen Transformationsprozess, bei dem die Erwerbung neu er Merk male so weit gehen kann, dass sich eine Art in eine and ere, bereits bestehende Art
verwandelt. Ähnliche Umweltreize rufen ein ähnliches Anpassungsverhalten bei
den Lebewesen hervor und ein ähnliches Verhalten führt schl ießlich zu einer mor phologischen Ähnlichkeit. Das Ziel der Ontogenese des Mimikryschmetterlings
liegt dann in dem Erreichen einer größtmöglichen Ähnlichkeit, wenn nicht sogar
Identität mit dem Vorbild. Anstelle von einer Phylogenese müsste von einer kon -
33 Jean -Baptiste de Lamarck, Zoologische Philosophie, Frankfurt a.M . 2002, I, 185. Vgl.
Burkhar dt, The Spirit of System, 144-151.
34 Wolfgang Lefevre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a.M./ Berlin 1984, 48 . Lamarck hat nicht streng zwischen Onto - und Phylogenese getrennt, sie aber
auch nicht miteinander identifiziert. Vielmehr nimmt er an, dass sie auf denselben Mechanismen beruhen . Vgl. ebd . 50.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
47
vergenten Evolution unterschiedlicher, nicht miteinander verwandter Arten ausgegangen wer den .r)
Die Plastizi tät des Or ganismus nimmt im Lamarckismus einen vergleichsweise
höheren Stellenwert ein als in Darwins Evolutionstheorie. So wie sich der Hals der
Giraffe, um Lamarcks bekanntestes Beispiel an dieser Stelle aufzunehmen, im Laufe der Zeit verlängert, weil sie sich nach der Nahrung in den Baumkronen streckt,
so würde ein Mimikryschmetterling die Formen "und Muster eines anderen Schmet terlings durch Nachahmung erwerben und sie anschließend vererben. Es ist also das
Verhalten anderer Schmetterlinge, das der Mimikry -Schmetterling unter gleichen
Umweltbedingungen annimmt. Die Vererbungder Eigenschaften und der Prozess
der Anpassung und Erwerbung von Eigenschaften gehen deshalb Hand in Hand.
D er Inkorpo rierung von Merkmal en wird dabei in der Regel weniger Aufmerksam keit geschenkt wird, obwohl gerade sie den hohen organismischen Plastizitätsgrad
des Organismus ausmacht. Auf diese Weise bildet der Organismus im Laufe der
Zeit die Organe aus. Lamarcks Mimikrytheorie wäre vermutlich eine ethologische
Mimikrytheorie, in deren Zentrum die Imitation eines Verhaltens steht. 36 Kurz:
Mimikry wäre ihm zufolge die Mimikry des Verhaltens.
Indem die Mimikry als eine Anpassung, di e Anpassung als eine Nachahmung
und schließlich die Nachahmung - und in diesem letzten Schritt läge die Besonderheit einer Lamarcks chen Mimikrytheori e - als eine Transformation und Verwandlun g gedacht wird, fallen die natürlich e Selektion und die Vererbung, mit ·
den en im Darwinismus die Emergenz neuer Eigenschaften erklärt wird, als Evolutionsfaktoren weg.
Die in der historischen Literatur oft anzutreffende starke Betonung des Ant agonismus von Lamarckismus einerseits und Darwinismus ande rerseits stellt im
Übri gen eine Verzerrung der historischen Verhältnisse dar. Sie tr ifft eigentlic h nur
auf den Neodarwinismus zu, der die Absetzung vom Lamarckismus aus wissen schaftspolitischen Gründen forciert. 37 Darwin selbst übernimmt, obwohl er
Lamarck kritisiert, einige von dessen Annahmen, so etwa die Vererbung erworbe ner Eigenschaften.
Die beiden Nachfolgetheorien der Lamarckschen Biologie, der Neolamarckismus
und der Psycholamarckismus, sehen die Gewohnheit nicht m ehr als den primären
Evolutionsfaktor an. Anstatt auf eine ethologische Erklärung zurückzugreifen,
bedienen sie sich mechanistischer oder vitalistischer Modelle. Der Neolamarckismus
35 Zu klären bliebe außerdem, ob der Mimikryschmetterling sein Verhalten ändert, weil er das
Vorbild imitiert, oder ob hier eine reine Konvergenz vorliegt, bei der kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ,mimikrierendem' Organismus und (vermeintlichem) Vorbild besteht .
36 Obwohl Darwin an der Vererbung erworbener Eigenschaften festhält, lehnt er die Idee
eines Erwerbs von Merkmalen qua Nachahmung ab. Vgl. Charles Darwin, The Expression
o/Emotions in Man andAnimals, London 1872, 25 (Anmerk. 8).
37 Zu beachten sind die Unterschiede, die zwischen Darwinismus und Neodarwinismus bestehen. Der Neodarwinismus ist die reduzierte Fassung der ursprünglichen Theorie Darwins, die vor allem die bei Darwin noch zu findenden Anteile der lamarckistischen Vererbungstheorie zurückdrängt.
:~
48
49
!NSEKTENMIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
wird die Entstehung der Mimikry durch die Wirkung des Lichts erklären . Die chemisch-physikalischen Prozesse, die sich zwischen der organismischen Oberfläche
und der Umwelt abspielen sollen, werden für identisch mit fotografischen Prozessen
erklärt. Der Psycholamarckismus liefert dagegen eine psychologische Erklärung, die
dem Willen eine transformierende Wirkung auf den Korper zubilligt. Der Physikalismus des Neolamarckismus und der Psychologismus des Psycholamarckismus
zeichnen sich also im Vergleich zum klassischen Lamarckismus dadurch aus, dass die
ethologische Dimension, die den Gebrauch der Organe betrifft, in den Hintergrund
tritt. Die Weiterentwicklung von Lamarcks Biologie vollzieht sich in Etappen, in der
Neo- und Psycholamarckismus sich allmählich von ihrem gemeinsamen Vorläufer
entfernen 38 , ohne dass diese Distanz jedoch erkannt wird. Im Gegenteil. Neo- wie
Psycholamarckist en berufen sich weiterhin ausdrücklich auf Lamarck.
Die Geschichte des Lamarckismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
ist die Geschichte einer von Missverständnissen geprägten Rezeption. Die zuvor
genannten Fakroren, der direkte Umw elteinflu ss und der Wille, schließt Lamarck
entweder ausdrücklich aus oder er erwähnt sie nicht. In der Philosophiezoologique
(1809) schreibt er, dass ausschließlich Gebrauch oder Nicht -Gebrauch der Organe
ihre Transformation beeinflusst. Von einem direkten Umwelteinfluss ist bei
Lamarck nicht die Rede.
eine konvergente Evolutio n als wahrschein lich betrachtet, im Laufe derer , so die
lamarckistische Grundannahme, ähnliche Organismen entstehen. 41 Unter vielen
denkbaren Fakroren ist es vor allem das Licht, welches die Farben und Muster der
Insekten verändert. Der Grund für diese Annahme liegt in der Vorstellung begrün det, der zufolge die organismisch e Oberfläche der Mimikryinsekten forosensibel
ist beziehungsweise einer fotografischen Platte gleicht. Mimikry ist danach ein chemisch-physikalischer Vorgang. Kurz, die Insekten sind die lebenden Fotografien
ihrer Umwelt.
Insekten, die mit ihren Körpern fotografieren: Diese Auffassung wird heute nicht
mehr vertreten. Die biologische Forschung beschäftigt sich seit den 1920er-Jahren
nicht mehr mit dem ,Forografie-Konzept', das bereits seinerzeit stark umstritten
ist.42 Die historischen Bedingungen, welche die Einführung des mechanomorphen
Fotografie-Konzepts in die biologische Forschung einst ermöglichen, sind heute nur
noch schwer nachvollziehbar. Aus diesem Grund ist die wissenschaftshisrorische
Rekonstruktion dieser einmaligen epistemischen Konstellation von Medien- und
Biologiegeschichte darauf angewiesen, auf jene Wissenselemente Rekurs zu nehmen, die zwar aus heutiger Sicht als falsch beurteilt werden, aber in der damaligen
Zeit durch ein epistemisches Netz miteinander verbunden sind, dessen Wissenslü cken und Vereinfachungen keineswegs als störend wahrgenommen werden.
Was macht die Forografie für die Biologen so attrakti v, dass sie die Grundlage
für ein wissenschaftliches Konzept abgeben kann? Es soll gezeigt werden, dass sich
die Annahme forochemischer Prozesse, die auf der organismischen Oberfläche
ablaufen, einer Übereinstimmung mit ähnlichen experimentellen Praktiken verdankt, welche gestattet, die Insekt en gleich forografischen Platten zu untersuchen.
Zunächst erschließt sich die Gemeinsamkeit zwischen Forografie und Mimikry
über eine sehr einfache Wahrnehmun gsassoziat ion: Denkbar wäre es zumindest,
dass die Forografie eines Blattes und ein Schmetterling, der einem Blatt ähnelt,
miteinander verwechselt werden oder sie nicht auseinandergehalten werden können, wenn man sie nebeneinander hält. 43 Schließlich handelt es sich bei beiden um
das getreue Abbild eines Blattes.
Die Herkunft des biologischen Fotografie -Konzepts liegt in der fotografischen
Praxis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie steht im Hintergrund der folgenden
Beschreibung der Schmetterlingsflügel durch Bares.
Es wird hier nötig , den Sinn zu erklären, den ich den Ausdrücken beilege: Die Verhältnisse wirken auf die Gestalt und auf die Organisation der Tiere ein, d .h ., indem
sie sehr verschieden werden, verändern sie sie mit der Zeit, sowohl diese Ge stalc als
sogar auch die Organisation durch entsprechende Modifikationen. Wenn man diese
Ausdrücke buchstäblich nehmen wollte, so würde man mich sicherlich eines Irrtums zeihen. Denn welcher Are auch die Verhältnisse sein mögen, bewirken sie
direkt durchaus keine Abänderung in der Form und in der Organisation der Tiere .39
3.2 . Neolamarckismus .
Die biologisch -physikalische Entstehung von Eigenschaften (,Umwelt')
Neolamarckisten suchen nach chemisch-physikalischen Agentien, die die morphogenetische „Umformung der Tierwelt durch äußere Fakroren" 40 initiieren. In einer
Umwelt, in der unterschi edliche Lebewesen ähnlichen Reizen ausgesetzt sind, wird
38 Auf die selektive Wahrnehmung der Theorie Lamarcks durch seine Nachfolger weise bereits hin: Sinai Tschulok, Lamarck . Eine kritisch-historische Studie, Zürich 1937.
39 Lamarck, Zoologische Philosophie, I, 177 f. [Hv. v. K.C.J
40 Hans Przibram , Phylogenese. Eine Zusammenfassung der durch Versuche ermittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Art-Bildung (Arteigenheit, Artübertragung, Artwandlung), in: ders.,
Experimentalzoologie. Eine Zusammenfassung der durch Versuche ermittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Formen und Verrichtungen, Leipzig/ Wien 1910, III, 233. Diese Umformun g kann durch chemische oder mechanische Agentien wie Feuchtigkeit, Schwerkraft,
Elektrizität, Licht, Wärme oder Atmosphärendruck ausgelöst werden.
41 Denkbar ist ferner, dass ,Nachah mer' und ,Vorbild' sich gegenseitig beeinflussen.
42 Die historische Überschneidung von ,Fotografie' und ,Mimikry' wird erwähne in: Berz,
,,Die Kommunikation der Täuschung", in: Mimikry, hrsg. Becker, u.a., 39. Die hier vorgeschlagene Mediengeschichte der Mim ikr y unterscheidet sich von Berz' semiotischem
Kommunikationsmodell dadurch, dass der Akzent auf experimentellen Praktiken und der
Übernahme von chemisch-physikalischen Modellen liege, die aus dem fotografischen
Diskurs in die Biologie gelangen. Es wird also ein stärker technologisch ausgerichtetes
Verständnis von Medien zugrunde gelegt.
43 Diese Wahrnehmungsassoziation hat Georges Didi -Huberman zum Anlass seiner bildtheoretischen Reflexionen genommen. Didi-Huberman, Phasmes, 15-21.
50
INSEKTEN MIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
51
It may be said, cherefore, chac on chese expanded membranes
Nature writes, as on a cablec, ehe story of ehe modificacions of
species, so truly do all changes of ehe organisacion regiscer
chemselves chereon. 44
Es lohnt, diese Passage einer mecaphorologischen Analyse zu unterziehen. Die
Formulierung nature writes bezieht sich auf den Ti tel des ersten und bekannten
Fotografi ealbums in der Geschichte: William Talbots 1he Pencil of Nature. 45 Talbot will die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Foto grafie ein objektives
Medium ist - objektiv, weil kein menschliches Tun, sondern das Licht allein das
Bild hervorbringt. 46
The places of ehe present work are impressed by ehe agency of Light alone, without
any aid whatever from ehe artist's pencil. They are ehe sun -piccures chemselves, and
not, as some persons have imagined, engravings in imitation. 47
Talbots Arbeiten und Bates Forschung liegen nur wenige Jahre auseinander : 1he
Pencil of Nature wird im Jahre 1844 veröffentlicht; nur vier Jahre später bricht Bates
zu seiner elfJahre währenden Amazonas -Expedition auf In Anbetracht der Popula rität von The Pencil of Nature ist es mehr als wahrscheinlich, dass Bates Talbots
Arbeit zur Notiz genommen hat. Wie seine metaphorische Wendung indiziert ,
scheint die Evolutionsbiologie von dem Zeitalter der technischen Reproduzierbar keit nicht unberührt geblieben zu sein. Aus dem bloßen metaphorischen Gebrauch
allein kann allerdings weder eine wissenschaftliche Theori e noch eine Praxis hervorgehen . Erst theoretische Entwicklungen innerhalb der Zoologie sorgen für die Öffnung der Biologie für die physikalisch -chemischen Modelle der Fotografie.
Einer der ersten Biologen, welcher den Vergleich zwischen Fotografie und Mimi kry ernst nimmt, ist der Schweizer Karl Friedrich Brunner von Wattenwyl. Von
Wattenwyl, der sowohl Biologe als auch Physiker ist, gilt als einer der führenden
Experten auf dem Gebiete der Phasmiden. Sich rein auf die Naturbeobachtung stüt zend, erklärt er die Entstehung der grünen Farbe von Tropidoderus childrenii Gray
(Abb. 6), einem australischen Stabinsekt, mit dem Hinw eis auf ein Abdruckverfah ren, das aus der frühen Erforschung der Fotografie bekannt ist: Man lege Papierblätter unterschiedlicher Größen übereinander und setze sie dem Licht aus, dann würden „nach kurzer Zeit die Silhouette der kleinen Blätter auf den größeren entweder
durch hellere oder durch dunklere Färbung hervortreten ."48 Nach Wattenwyl gehört
die durch das „Abblassen" entstandene Pflanzenähnlichkeit der Gespenstschrecken
44 Bates, The natura/ist on the River Amazons, 365 f. [Hv. v. K.C.]
45 William Henry Fox Talbot, The penci! of nature, London 1844.
46 Vgl. zur Herausbildung des Konzepts der Objektivität : Lorraine Daston, Peter Galison,
Objektivität, Frankfurt a. M. 2007.
47 Zic. nach: Beaumonc Newhall, ,,New Incroduction", in: William Talbot, The Penci! of Na ture, New York 1969, o. S.
48 'Zit. nach: August Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie gehalten an der Universität
zu Freiburg im Breisgau, 3., umgearbeitete Auflage, Jena 1913, I, 65.
Abb. 6: August Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie gehalten an der Universität
zu Freiburg im Breisgau, 3., umgearbeitete Auflage, Jena 1913, 66.
„in die Kategorie der Lichtbilder". 49 Es hat fast den Anschein, als ob Brunner von
Wattenwyl der Anleitung Talbots zur Herstellung eines Negativs folgt. In der Erläuterung einer Pflanzenblattfotografie (Abb. 7) schreibt Talbot in The Pencil ofNature:
A leaf of a plant, or any similar object which is thin and delicate, is laid flat upon a
sheet of prepared paper which is moderately sensitive. lt is then covered wich a glass,
which is pressed down tight upon it by means of screws . This clone, it is placed in ehe
sunshine for a few minutes, unril the exposed parts of ehe paper have turned dark,
brown or nearly black. It is then removed inro a shady place, and when ehe leaf is
taken up, it is found eo have left its impression or picture on ehe paper. This image
is of a pale brown tim if ehe leaf is semi -transparent, or it is quite white if ehe leaf is
opaque. 50
Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die ,fotografische Platte' bei ihm ein
Schmetterlingsflügel ist. Wattenwyls Schlussfolgerungen geben ein gutes Beispiel
für die wissenschaftliche Vorgehensw eise des Feldforschers ab, der ausschl ießlich
seinen Sinnen vertraut.
49 Ebd .
50 Talboc, The Pencil of Nature, (Place VII, ,,Leaf of a Plane") o. S. In einer zeitgenössischen
Rezension wird der praktische Nutzen der Fotografie für die Biologie sofort erkannt: ,,The
leaf of a plant ... is nature itself - how valuable for bocanical science." William Jerdan,
,,The Pencil ofNature . No. II", Literary Gazette, 1463 (1. Feb. 1845), 73. Zit . nach:
Mike Weaver (Hr sg.), Henry Fox Talbot. Selected texts and bibliography, Boston, Mass.
1993, 108. Die chromatische Mimikry wird dieses Versprechen einlösen.
52
INSEKTEN MIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Abb. 7: William Henry
Fox Talbot, The Pencil of
Nature, London 1844,
plate VII , o.S.
Von der Phänomenologie der Feldforschung, wie sie von Wattenwyl betreibt, zu
unt erscheiden, sind wiederum jene experimentellen Praktiken, die ihr Beobach tungsobjekt erst produzieren beziehungsweise konstruieren. Entwickelt werden
diese experimentellen Praktiken aber nicht, und dies ist hervorzuhe ben, in der
Biologie. Sie stammen aus der chemisch-physikalischen Erforschung fotosensibler
O berflächen, die im Dienst e der Weiterentwi cklung der Fotografie steht. Die
Ha nd lungsan weisungen der Experimentalanordnung bleiben erhalten, doch was
ausgetauscht wird, ist das experimentell e Objekt: die fotografische Platte, welche
durch das Mimikryinsekt ersetzt wird. 51 Mit Gaston Bachelard gesprochen, wird
die Mimikry mithilfe einer Phänomenotechnologie erforscht. Dies ist eine Tech nologie, die ein Phänomen „auf der Ebene der Instrumente" und Experimente
konstruiert. 52 Mit anderen Worten: Erst die Experimente, die eigentlic h der Erforschung der Fotografie dienen, erlauben es, die Mim ikryphänomene als fotografi 51 Vgl. zur fotografischen Platte: Peter Geimer, ,,Was ist kein Bild? Zur ,Störu ng der Verweisung "', in : ders . (Hrsg.), Ordnungen der Sichtbarkeit . Fotografie in Wissenschaft, Kunst und
Technologie, Frankfu rt a. M. 2002, 313- 341.
52 Gaston Bachela rd, Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt a.M . 1984, 18.
DER MIMIKRYFORS C HUN G
53
sehe Bilder wahrzunehmen und als solche zu untersuchen. De r experimentelle
Rahmen schafft sich sein Objekt selbst. Anders als die Foto grafie stellen die Mimi krytiere aber keine bloßen künstlichen Artefakte dar, sondern ,lebende Foto grafien' beziehungsweise ,Biofakte'. 53
Die Geschichte der M imikr yforschung ist nicht nur die Geschichte von Theori en, sondern auch von bevorzugt ausgewählten Modellorganismen. Zu den wichtigsten Modellorganismen gehören Exemplare der Schmetterlingsfamilien Pieridae
und Papilioninae. Bei den Pieriden handelt es sich um jene Schm etterlin gsfamilie,
die Baces noch Leptalidae nennt und aus der die ersten bekannten Mimikryph äno mene stammen. Und es ist jene Schmetterlingsfamilie, anhand derer Lamarck sein
Konzep t der Art veranschaulicht. 54 Im Jahre 1867 veröffentlicht der englisch e Zoo loge Thomas Wood seine Ergebnisse der Experiment e m it Chrysaliden 55 von Pieris
(Papi lio) machaon, P. brassicae und P. rapae, die er im Laufe ihrer Metamorphose
vor farblich unterschiedliche Hintergründe legt. Im Geg ensatz zu Wattenwyl setzt
seine Untersuchung der Entstehung der Farbmuster nicht beim adulten Individuum an, sondern bei einem früheren Entwicklungsstadium, in dem die Farben und
Mus ter ausbildet werden. Wood kommt zu dem Ergebnis, dass die Haut der Pupp e
nach dem Abstreifen für einige Stunden ,fotografisch' beziehungsweise fotosensibel ist.56
In D eut schlan d führt der Entomologe und Vererb ungsforsc her Th eodo r Eimer
vergleichbare Exper imente durch , bei denen er unterschiedliche Schmette rlingspuppen und -raupen wechselnden Licht - und Tem peratu rverhältn issen aussetzt .
Bezüglich der Fotosensibili tät der Puppenhaut gelangt Eim er zu derselben Schluss folgerung wie Wood. Er fährt mit dem Hinweis fort, das s seine Experimente nicht
das Int eresse von Biologen, sondern auch Physikern wecken dürften. Denn mit
der Erforschung der Puppenhülle rückt das „vom Menschen zur Zeit so sehnli ch
erstrebte Ziel der Farbenphotographie "57 in greifbare Nähe. Mit dieser Einschät zung steht er nicht allein. So gelangt der Franzose Felix Le Dantec zu dem gleichen Befund. Auch er geht davon aus, dass die Mimikry eine Far bfotografi e
(,,photographie des cou leurs") ist. 58 Die Farbfotografie in der Natur ,zu ent decken'
53 Vgl. zum Begriff des „Biofakts": Nicole C. Karafyllis, Biofokte . Versuch über den Menschen
z wischen Ar tefakt und Lebewesen, Paderborn 2003 .
54 Lamarck, Art. ,,Espece", 448 f. Vgl. das Kapitel 3.1.
55 ,Ch rysalis' ist die Bezeichnung für das holomerabole Insekt während der Metamorphose .
56 T. W. Woo d, ,,Remarks on the coloration of chrysalides" , Proceedings of the Royal Entomological Society of London (1867), 98-101. Woods Beobachtungen und Schlussfolgerungen
wu rden von Poulton in Zweifel gezogen. Edward Bagnall Poulton, ,,An Inqu iry imo the
Colour and Exrem of a special colour-relarion between certain exposed Lepidoprerous
Pupae and ehe surfaces which immediately surrounds rhem", Phi!osophica! Transaction of
the Royal Society 178 (1887), 311-442, hier 406-408 .
57 Theodor Eimer, Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaf
ten nach den Gesetzen organischen Wachstums, Jena 1888, 155.
58 Vgl. Felix le Danrec, Lamarckiens et Darwiniens, Paris 1899, 129-149, bes.: 42 f.
54
INSEKTENMIMIKRY
- diese Hoffnung existiert nicht nur unter Biologen, sie wird auch von Physikern
gehegt.
1895 publiziert Otto Wiener, der Entdecker der für die Fotografieforschung so
wichtigen ,stehenden Lichtwellen', seine Theorie der Farbfotografie .59 Sich unter
anderem an den Experimenten Eimers, Edward Poulto~s und Maximilian Stand fussens orientierend, stellt der Physiker die These auf, dass die Produktion der Pigmente auf der Oberfläche der Mimikryinsekten auf fotochemischen Prozessen
beruhr. 60 Als Beweis führt Wiener die Beobachtung an, dass farblich unterschied lich belichtete Raupen voneinander abweichende Körperfarben aufweisen.
Damit man aber einfach sagen könnte, die Raupenhaut verhäit sich wie eine Jarben photographische Platte, müsste festgestellt sein, dass zwei verschiedene Stellen der
Haut, die verschiedener Beleuchtung ausgesetzt waren, auch eine verschiedene Farbe annehmen. Eine solche Beobachtung liegt in der Tat vor. 61
Ähnlich wie Eimer, der das Mimikryphänomen den Physikern als ein Beispiel für
eine ,natürliche' Farbfotografie präsentiert, bietet der Physiker Wiener den Biologen eine Erklärung für die bis dahin rätselhafte Emergenz der Mimikrymuster. Es
sei nur eine Frage der Zeit, bis die Experimente den Beweis der fotochemischen
Reaktionen erbringen würden .62
In der Tat wird sein Lösungsangebot von dem Wiener Biologen Paul Kamme rer aufgegriffen, der zwischen 1904 und 1912 seine Mimikryexperimente an dem
mitteleuropäischen
Feuersalamander (Salamandra salamandra) durchführr. 63
Kammerer beobachtet eine deutliche Farbanpassung an den Untergrund, die von
den variierenden Licht- und Feuchtigkeitsverhältnissen abhängt, denen die Ver-
59 O[tto] Wiener, ,,Farbenphotographie durch Körperfarben und mechanische Farbanpas sung in der Natur", Annalen der Physik und Chemie N.F. Bd. 55 (1895), 225 -281; ders.,
Über Farbenphotographie und verwandte naturwissenschaftliche Fragen, Leipzig 1909, bes.
45 . Vgl. zur Farbfotografie auch: R . Neuhaus, ,,Direkte Farbenphotographie durch Körperfarben", Photographische Rundschau 16 (1902), 1-11.
60 Außer diesen Farben sind noch zu erwähnen die sogenannten ,Schillerfa rben', die das
Licht gemäß eines bestimmten Brechungsquotienten reflektieren, der von der Oberflä chenstruktur abhänge. Vgl. Fritz Süffert, ,,Morphologie und Optik der Schmetterlings schuppen, insbesondere die Schillerfarben der Schmetterlinge", in: Zeitschrift für wissenschaftliche Biologie, A 2 (1924), 172-308, hier 268.
61 Wiener, ,,Farbenphocographie durch Körperfarben und mechanische Farbanpassung in
der Natur", 273. [Hv. v. K. C.JErstaunlich ist, dass Wiener zu diesem Ergebnis komme, da
in den von ihm herangezogenen Experimenten Poultons ausdrücklich das Gegenteil bewiesen wird. Poulcons, ,,An Inquiry inco ehe Colour and Excenc of a special colour -relation", Philosophical Transaction ofthe Royal Society 178 (1887), 311-442.
62 Wiener, ,,Farbenphotographie durch Körperfarben und mechanische Farbanpassung in
der Natur".
63 Paul Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen", Archiv für Entwicklungsme chanik 36 (1913), 4-210 . Dass es sich hierbei um eine Mimikry handeln soll, wird nur von
Kam merer vertreten .
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
55
suchstiere ausgesetzt werden. 64 Um den morphologischen Mechanismus zu erklären, der hinter der Zunahme oder Reduktion der schwarzen beziehungsweise gelben Pigmente steht, greift er am Ende seiner Versuchsbeschreibung auf Wi eners
Theorie der Farbfotografie zurück. 65
Nachdem zu Beginn des Kapitels von einem Fotografie -Konzept die Rede war,
soll nun auf seine unterschiedlichen Varianten eingegangen werden. Z u differenzieren ist zwischen der somatischen und der neurophysiologischen Variante des
Fotografie-Modells. In ihnen spiegeln sich unterschiedliche Auffassungen vom
Organismus wider. Zum einen besteht die Möglichkeit, die Haut mit der farbfotografischen Platte gleichzusetzen. Dabei wird angenommen, dass die Pigmentbil dung ein fotochemischer Prozess ist, wovon Wood, Brunner von Wattenwyl und
Wiener ausgehen. Die somatischen beziehungsweise phänotypischen Mutationen
spielen sich auf der organismischen Oberfläche ab. Im Vergleich dazu repräsentiert
Kammerers Variante eine neurophysiologische Weiterentwicklung, da sie den Sehsinn und das Nervensystem als vermittelnde In stanz zwischenschalter. 66
Nicht durch den unmittelbaren Umwelteinfluss auf die Haut wird nach Kam merer der Farbwechsel hervorgerufen, sondern erst nach der Fotorezeption im
Auge und die sich anschließende Reizleitung durch das Nervensystem wird das
morphologische Wachstum der Pigmentzellen ausgelöst. 67 Mit der Einschaltung
des Nervensystems zwischen Lichtreiz und reproduziertem Bild gibt die fotografische Platte ihre epistemische Funktion somit an ein Modell ab, dem zufolge der
gesamte Organismus einem fotografischen Apparat gleicht: Das Auge entspricht
64 Auf gelben Böden nehmen die gelben Anteile zu, während sie auf schwarzen Böden abnehmen beziehungsweise in ihrer Vermehrung gehemmt werden . Der umgekehrte Fall
trifft für die schwarze Grundfarbe zu : Auf schwarzen Böden nimmt die schwarze Grund farbe vergleichsweise zu und verringert sich auf gelbem Untergrund. Die Inhibition wird
durch Transplantationen schwarzer und gelber Haucpartien nachgewiesen, deren Wachstum gezielt unterdrücke zu werden scheine . Auf Kammerers Experimente wird im Kapitel
8.5.1. ausführlicher eingegangen werden .
65 Kammerer „Vererbung erzwungener Farbänderungen", 139.
66 Vgl. zur Physiologie des Farbwechsel die bereits 1876 durchgeführten Experimente von
Georges Pouchec zur chromatische Anpassung bei Felsengarnelen und Plattfischen. Die
Beeinflussung des Sehsinns, experimentell herbeigeführt durch Verletzung, Zerstörung
oder Behinderung des Auges, ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Experimente, mit denen er den neuronalen Reizleitungszusammenhang von Auge, Nervensystem und Chromatophoren nachweist. Eine Schädigung der Augen ziehe unmittelbare Folgen für die
Chromarophorenbewegung nach sich, die die Pigmencstrukcur bilden. Vgl. Georg es Pouchec, Des changements de colorations sous l'influence des nerfi, Paris 1876.
67 Kammerer mache hier vermutlich Anleihen bei seinem Mentor Hans Leo Przibram. Wäh rend ihrer gemeinsamen Jahre in der Wiener Versuchsanstalt für experimentelle Zoologie
führen sie Versuche zur Fotosensibilität durch . Vgl. Hans Przibram, Experimentelle Zoologie. Eine Zusammenfassung der durch Versuche ermittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Formen und Verrichtungen. Leipzig/ Wien 1914, V.
56
!NSEKTENMIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
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Abb . 8: Hans Przibram, Experimentelle Zoologie. Eine Zusammenfassung der
durch Versuche ermittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Formen und Verrichtungen,
Leipzig/ Wien 1914, V, o.S .
der Linse, die Retina dem Negativ, die Haut dem reproduzierten Positiv.68 (Abb. 8)
Die Kamera -Metapher findet man im Übrigen bereits bei Talbot. ,,lt may be said
to make a picture of what ever it [d.i. die Kamera] sees.Tue object glass is the eye of
the instrument - the sensitive paper may be compared to the retina."69
Das erste Organismusmodell ist zweidim ensional strukturiert, während das
zweite Modell eine dreidimensionale Raumstruktur vorstellt, in der die einzelnen
Organe einen Funktionszusammenhang bilden.
Erwähnenswert ist außerdem die in diesem Zusammenhang verwendete Bezeichnung „Fernsehvorrichtung", womit eine „Vorrichtung electrisch in die Feme
zu photographiren" gemeint ist. 70 Offensichtlich macht Wiener hier Anleihen
beim zeitgenössischen technologischen Diskurs, der zur Vorgeschichte des Fernse -
68 Aus wissenschafrshistorischer Perspektive stellt die Verwendung des Modells einen Ana chronismus dar, weil das Kameramodell bereits im 19. Jahrhundert von einem physiologi schen Konzept des Sehens ersetzt wird, das nicht mehr von einer rezeptiven Passivität
ausgeht, sondern die physiologische Eigenaktivität des Sehens unterstreicht.
69 Talbot, Pencil of Nature, (Plate III, ,,Articles of China") o.S.: ,,When the eye of the instrumenc is made to look at ehe objecrs chrough this concracced aperture, the resulting image is
much more sharp and correct . Bur it cakes a langer time to impress itself upon rhe paper,
because, in proportion as ehe aperture is contracced, fewer rays encer the instrumenc from
ehe surrounding objecrs, and consequencly fewer fall upon each parr of ehe paper."
70 Wiener, ,,Farbenphotographie durch Körperfarben und mechanische Farbanpassung in
der Natur", 275.
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Abb. 9 : Edward Bagnall Poulron, ,,An Inquiry into ehe Colour and Extent
of a special colour-relation between certain exposed Lepidopterous Pupae and ehe
surfaces which immediacely surrounds ehern", in: Philosophical Transaction
oftheRoyalSociety 178 (1887), 311-442, 373.
hers gehört. 71 Eine ähnliche Konzeptualisierung findet sich bei dem Physiologen
Jacques Loeb, der den Farbwechsel von Fischen als eine „Telephotograph ie" bezeichnet.72
Der Verlauf der technologischen Evolution der Medien wird nach dem Vorbi ld
der natürlichen Evolution der Organe skizziert. Die Geschichte des techn ischen
Mediums ,Fotografie' - von der fotografischen Platte zum Apparat - entspricht der
Anagenese des Auges, das von fotosensiblen Hautpartien zum komplexen O rgan
evaluiert.
Lassen wir nun die Kritiker des umstrittenen wissenschaftlichen Konzepts zu
Wort kommen. Einer ihrer prominentesten Vertreter aus dem Lager der Neodar winisten ist Edward Poulton, der führende Vertreter der englischen Mimikryfor schung. In seinen sogenannten transferenceand conflicting coloursexperiments (1892)
geht Poulton wie folgt vor: Die Puppen des großen und kleinen Kohlweißlings
(Pieris brassicae,P. rapae) werden in mit farbigem Papier ausgelegten Holzkästen
71 Vgl. zur Vorgeschichte des Fernsehers: Stefan Andriopoulos, ,,Psychic Television", Critical
Inquiry 31 (3), 618-637
72 Jacques Loeb, ,,Die Bedeutung der Anpassung der Fische an den Untergrund für die Auffassung des Mechanismus des Sehens", in: Zentralblatt für Physiologie 25 (1911), 10151017, hier 1017.
58
INSEKTEN MIMIKRY
und Gla szylinde rn aufgehä ngc.73 (Abb. 9) Die dabei von ihm gemachte Entde ckung, dass die Raupenhaut nur in der kurzen Phase vor ihrem Abstreifen foto sensibel ist, stellt allerdings für Poulton keinen Beweis für die Existenz einer organismischen Fotografie dar. Zwar streite t er keinesfalls die durch Umwelteinflüsse
ausgelösten Farbwechsel und Saisondimorphismen ab; doch verzichtet er auf das
fotochemische Konzept und tendiert dazu, diese Vorgänge neurophysiologisch zu
erklären. 74
Ein weiterer Gegner der fotografischen ,Mimikry' ist August Weismann, der
wichtigst e Vertreter des N eodarwinismus auf dem Kontinent . 1874 schreibt er über
die von Wattenwyl untersuchte ,schützende Ähnlichkeit' der Gespensts chrecken,
es sei gänzlich verfehlt, ,,den hübschen Vergleich mit dem Lichtbild für eine ausreichende Erklärung anzu sehen." 75 Anhand des Saisondimorphismus von Vanessa
Levana und V Prorsa erklärt er, dass nicht das Licht, sondern thermische Reize für
die Entstehung der Farbmuster ausschlaggebend sind. Weismann vertritt eine
andere Auffassung als Poulton. Seine Theorie lehnt sich an Haeckels biogeneti schem Grundgesetz an. Die sich unter zunehmender Kälte bildenden Phänotypen
sind für ihn in Wirklichk eit keine spontan reproduzierten neuen Anpassungsmerk male, sondern atavistische Formen aus der Eiszeic.76
Warum erfährt das Fotografie-Konzept vor allem unter prä- und antidarwinis tischen Biologen wie Wood, Eimer, Kammerer und Dantec eine solche positive
Aufnahme, während es von Neodarwinist en wie Poulton und Weismann kompro misslos abgelehnt wird? Ist es ein Zufall, dass die meisten Anhänger des Fotografie-Konzepts Neolamarckisten sind? Vermutlich nicht. Die hier vorgeschlagene
These lautet, dass nur solche biologischen Theorien eine Affinität für die theoreti schen wie praktischen Probleme der Fotografie ausbilden, die den Umwelteinflüs sen eine maßgebliche Rolle für die Entwicklung und Vererbung des Phänotyps
beimessen. Und dafür steht der Neolamarckismus mit seinem Konzept der sogenannten Vererbung erworb ener Eigenschaften. Diese Merkmale sind das Produkt
der spontanen Umweltanpassung. Die als ,Weismann -Barriere' bekannte neodar winistis che Doktrin sieht vor, dass von der Umwelt und dem inneren somatischen
Milieu kein Einfluss auf die Keime ausgeübt wird . Zwar ist eine Manipulation der
73 Der Kasten bestehe aus zwei Abteilungen, die durch eine Wand voneinander getrennt
sind. In der Wand befindet sich ein Loch, durch das die Raupe gesteckt wird, um eine
farblich unterschiedliche Belichtung der beiden Körperhälften zu ermöglichen . Poulton
stellt fest, dass die Farbanpassungen nicht während der gesamten Zeitspanne , sondern nur
in bestimmten Entwicklungsphasen vor sich gehen, und zwar kurz vor der Verpuppung,
weil dann die Oberfläche eine erhöhte Sensibilität für Umweltreize aufweist.
74 Auffällig ist, dass seine Experimentalanordnung mit jener große Übereinstimmungen
aufwe ist, die in der physikalisch-chemischen Fotografie -Forschung Anwendung findet.
Dies ist insofern verw underlich , als er ja die biologische Theorie der Farbenfotografie ablehnt .
75 Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, 66 .
76 Ders., Studien zur Descendenz-Theorie, I, bes. 14.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
59
Erbanlage möglich, aber, und das ist das Entscheidende, eine erworbene phänoty pische Mutation wird auf der Ebene der Keimbahn nicht weitergegeben.
Aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive besehen, hebt das ,Mimikry Fotografie -Konzept' die grundlegende Differenz zwischen Neolamarckismus und
Neodarwinismus auf eine paradigmat ische Weise hervor. An dem Argument für
oder gegen den Umwelteinfluss scheiden sich die Theorien. Mit anderen Worten:
Die Neodarwinisten sehen in der natürlichen Selektion und den Gesetzen der
Vererbung , die Neolamarckisten dagegen in den Umwelteinflüssen die alleinigen
Ursache~ für die Entstehung der Mimikry. Das Licht ist der fotografische Umwelt faktor, welcher den Erwerb von Eigenschaften, wie etwa die Farbe und Form eines
Blattes, ermöglicht.
Wie kommt es nun dazu, dass ausgerechnet dem Licht eine Sonderstellung
unter den Umwelteinflüssen zugeschrieben wird? Die Vorstellung, dass es eine
entscheidende Rolle bei Vererbungsprozessen spielt, geht vermutlich auf die Idee
der Epigenese zurück, der zufolge ein Zusammenhang zwischen dem Akt des
Sehens und der Entwicklung des Embryos existiert. Diese weit in die Vergangen heit zurückreichende Vorstellung der Epigenese findet sich bereits bei Galen und
in .der Bibel. Man denke etwa an die Geschichte Jakobs, der seine Schafe, damit
sie nicht mit denen seines Schwiegervaters verwechselt werden, dem Anblick weiß
gestreifter Zweige aussetzt. Das Gesehene prägt sich den Tieren ein, wodurch ihre
Nachkommenschaft Flecken und Sprenkelungen als neue Merkmale ausbilden.
Die Grundidee, nach der der Prozess der Vererbung einer Transmission von
Bildern entspricht, fließt Jahrhunderte später in das organo -technologische Konzept des Kamera -Auges und der fotografischen Platte ein. Eingeschlossen im Kern
des modernen Konzeptes der Mytho s steckt, so die These, die Epigenese, die sich
auf diese Weise an die Wissensformationen der Modeme anpasst. 77 Die Fotografie
übern immt in der Biologie eine ähnliche Rolle wie in der Kultur. In der Kultur
fungiert sie als ein technisches G edäc hmismedium 78 , in der Biologie gibt sie das
Modell für ein körperliches Gedächtnismedium ab.
77 Zwischen der Vorstellung der organismischen Foto gra fie und der älteren Idee des ,Verschauens ' besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied : Nach dem Mythos nimmt die
Mutter einen visuellen Eindruck auf, der im Keim als ein Bild aufbewahrt wird; bei der
fotografischen Mimikry verläuft der Bildtransfer unvermittelt zwischen Organismus und
Umwelt. Frarn;:ois Jacob vertritt den Standpunkt, dass die Legende vom ,Versehen' der
Mutter auf der assoziativen Gleichsetzung des Erbgutes mit der memoire nerveuse beruht.
Vgl. Frarn;:ois Jacob, Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt
a.M. 2002, 11.
78 Vgl. etwa Jules Janssen, Oevres Scientifiques, Paris 1929/ 30, 169. Zit. nach: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, hrsg. Bernhard Stiegler, Frankfurt a.M .
2006 , 181: ,,Die sensibilisierte photographische Platte ist die wirkliche wissenschaftliche
Retina, da sie all jene Eigenschaften aufweist , die die Wissenschaft erhoffen kann: Siebe wahrt treu die Bilder auf die sich auf ihr abzeichnen, und reproduziert diese, wenn erforderlich in unendlicher Zahl. Sie nimmt ein doppelt so großes Spektrum an Strahlungen wahr
wie das Auge, und bald wird sie vielleicht alle erkennen können." [Hv. v. K.C.] Vgl. auch
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INSEKTENMIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
Die Logik hinter der Gleichsetzung von fotografischer und biologischer Repro duktion ist von bestechender Einfachheit: Die Vererbung wird als eine Repro duktion der fotografischen Platte beziehungsweise des ,Negativs' verstanden, aus
dem sich der Phänotyp beziehungsweise das ,Positiv' entwickelc. 79 Fotografische
und biologis che Reproduktion werden auf diese Wei se konzeptuell kommensura bel. Der Erwerb der Eigenschaften ist als ein foto grafischer Prozess denkbar,
wenn dieser Prozess mit der Belichtung und der Vorgang der Vererbun g mit der
Fixierun g der fotografis chen Platte gleichgesetzt werd en kann. Im Zuge dieser
Verschiebung in den Bereich der Lebenswis senschaften wird aus einem ,bio-grafischen' ein ,bio-logisches' Speichermedium beziehun gsweise aus einem kulturel len G edächtnis di e genetische Erbanlage, die ihrerseits das G edäch tnis der Na tur
ist.
Die Entwicklung eines Indiv iduums mit der ,Entwicklung' einer Fotografie in
eine Relation zu setzen, gelingt nur unter Ausblend ung von Widersprüchen.
Obwohl in den historischen Quellen durchweg auf fotografische Verfahren Bezug
genommen wird, gleicht die Ausbildun g von Merkmal en wenig er dem fotografischen Verfahren als vielmehr den Abdruckprozessen der Daguerrotypie. Denn
eine Entwicklung von einem ,Negativ' zu einem ,Positiv' findet im eigentlichen
Sinne nicht statt.
Die Gleichsetzung von Mimikry und Fotografie ist ein historischer Index für
die Orientierung der Evolutionsbiologie an die Physik und vice versa. Nichtsdes totrotz verfolgen die Biologie und die physikalisch-fotografische Forschung unterschiedliche Interessen . Während Biologen danach trachten, das Rätsel der Mim ikry endlich zu lösen, erhofft sich die Physik von der Beschäftigung mit der
zoologischen Mimikryforschung Impulse für die Weiterentwicklung der Farbfo tografie . Eine Farbfotografie, die an Farbsättigung und D etai lgenauigk eit an die
schillernden Mimikryinsekten heranreicht, ist das Ziel, dem die Forschung hin terherjagt.
Die Theorien und Versuche zur Farbfotografie sind im Hinblick auf die epistemi sche Konstellation der Medien - und Biologiegeschichte zu betrachten. Die Farbfo tografie steckt um 1900 noch in ihren Anfängen. Es sei hier an die bereits zitierte
Äußerung Eimers erinnert, der behauptet , dass die Erforschung der Mimikry den
Menschen seinem „zur Zeit so sehnli ch erstrebte[n] Ziel der Farbenphotographie" 80
näher bringt.
Mit Ludwik Fleck könnte das Forscherkollektiv, das das Fotografie-Konzept
vertritt, als ein Meinungssystem aufgefasst werden, das einen bestimmten Denk. stil pflegt. Let zterer realisiert sich in der Einführung von Theorien und Praktik en
aus dem Wissensfeld der Fotografi e in die Biologie. Nach Fleck besteht das beson dere Merkmal der Meinungssysteme darin, dass sie eine „schöpferische Dichtung"
auszeichnet. Letztere sei die „sozusagen magische Versachlichung der Ideen, das
Erklären, daß eigene wissenschaftli che Träume erfüllt seien".81 In der Tat wären
die glänzenden Mimikryins ekten dann die real-magische Versachlichung eines
wissenschaftlichen Traums, in dem die Wirklichkeit in bunt schillernden Foto grafien festgehalten wird .
die folgende Äußerung Bergsons. Henri Bergson, L'evolution creatrice, Paris 1909, 77 : ,,La
photographie s'est inflechie sans daure, peu a peu, dans Je sens d'un appareil photographique; mais est-ce la lumiere seule, force physique, qui aurait pu provoquer cet inflechis sement et convertir une impression laissee par eile en une machine capable de l'uriliser?"
79 Als Modell des biologischen Gedächtnisses weist die fotografische Platte einige Schwierig keiten auf, auf die bereits Poulton aufmerksam macht . Wie kann ein Bild fixiert werden,
wenn es ständig belichtet wird und das Bild undeutlich zu werden droht) Interessant ist
sein Einwand, weil er die Kritik an der neolamarckistischen Lehre der Vererbung erworbener Eigenschaften mit einem Argument verbindet, das auf das technische Problem der
Fixierung des Bildes Bezug nimmt, das seit den Anfangen der Fotografie bekannt ist. Einerseits wird vom Ne rvensystem die ständi ge Reizaufnahme verlangt und andererseits die
Fixierung jener Merkmale, die weitgehend unmodifiziert vererbt werden sollen . Poulton,
,,The bearing of ehe Srudy ofinsects upon the Question ,Are acquires Characcers heredi tary?", 145 f. Um diesem Dilemma zu entrinnen, schlägt Paul Kammerer eine Modifikation
der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften vor: Ausschließlich neue Eigenschaften sollen demzufolge vererbbar sein. Paul Kammerer, ,,Mendelsche Regeln und Vererbung erworbener Eigenscha ften", in: Verhandlungen des Naturforschenden Vereines in
Brünn . Mendel -FestbandXLIX (1911), 72 -110.
3.3. Psycholamarckismus.
Die psychologische Entstehung von Eigenschaft en
(,Wille'/ ,Emotion')
Der Psycholamarckismus psychologisiert die Mimikry. Von keinem externen Stimulus wie dem Licht, sondern von einem internen Impuls wird die Transformati on ausgelöst . Der neu ins Spiel kommende Faktor ist der Wille. Der Psycholamar ckismus wähnt sich, in die Fußstapfen Lamarcks zu treten, doch unterliegt er
einem Irrtum. Ausdrücklich schreibt Lamarck in Bezug auf einige Handlungen
und Lebensprozesse, dass an ihnen der „Wille nicht den geringsten Anteil" hat. 82
Eine „Evolution durch Wollen" 83 ist für Lamarck undenkbar. Nicht auf der
Annahme eines elan vital oder einer Willenskraft, sondern auf mechanistischen
Prinzipien gründet seine Biologie.84 Die organismischen Grundvoraussetzungen
des Lebens erfüllen das Zellgewerbe und das darin enthaltene Fluidum. 85 Auch
wenn Lamarck den Begriff der „Lebenskraft" 86 verwendet, so ist doch das Nerven system für ihn weniger eine aktive Instanz als vielm ehr ein blinder Apparat, der
80
81
82
83
84
85
86
Eimer, Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften, 155.
Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 46 .
Lamarck, Zoologische Philosophie, III, 76.
Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 385 .
Vgl. Lefevre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, 52 .
Lamarck, Zoologische Philosophie, II, 38.
Ebd., 101.
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INSEKTEN MIMIKRY
reflexhaft auf Reize reagiert. 87Wie viele Mechanisten vor ihm bedient er sich der
Metapher der Uhr, um den organismischen Automatismus zu erfassen. 88 Entscheidend sind die von außen kommenden und das Bedürfnis weckenden Stimuli.
Allen Lebewesen, die die strukturelle Minimaldefinition des Lebens erfüllen (wie
etwa die Existenz einer Zellstruktur und eines Fluidums), ist ein vorb ewusstes
Existenzg efüh l zu eigen, das er auch als ein „inneres Gefühl" (sentiment interieur)
oder „sehr dunkles Gefühl" beschreibt. 89„Dieses Gefühl nun wirkt als eine sehr
aktive bewegende Kraft in dieser Weise nur dadurch, daß es zu den Muskeln, die
diese Bewegungen und Tätigkeiten ausführen müssen, das sie erregende Nerven fluidium schickt." 90
Lamarck ist also kein Vitalist, obwohl das Gegenteil häufig angenommen wird .
Am Beispiel des Psycholamarckismus wird im besonderen Maße deutlich, dass die
Geschichte des Lamarckismus die Geschichte seiner mitunter verfälschenden
Rezeption ist. Nach Mayr ist das Missverständnis einem sprachlichen Irrtum
geschuldet, hervorgerufen durch die ungenauen Übersetzungen des französischen
Wortes ,besoin', das im Englischen und Deutschen als ,will' beziehungsweise als
,Wille' wiedergegeben wird. 91„Lamarck war nicht so naiv, dass er dachte, Wunsch denken könne neue Strukturen hervorbringen." 92 Diese missverständliche Wort wahl lässt sich paradigmatisch bei Ernst Haeckel nachlesen, dem wichtigsten
Anhän ger Darwins im deutschen Sprachraum, der Konzepte Lamarcks in seine
Theorie imegriert. 93
87 Vgl. zu Larnarcks Konzeption des Nervensystems: Pietro Corsi, The Age of Lamarck. Evolutionary Theories in France 1790-1830, Berkeley 1988, 145-156.
88 Vgl. Larnarck, Zoologische Philosophie, II, 33: ,,Das Leben in den Teilen eines damit ausgestatteten Körpers ist eine Ordnung und ein Zustand der Dinge, die die organischen Bewegungen in ihm möglich machen; und diese Bewegungen, die das aktive Leben bilden, gehen aus der Einwirkung einer stimulierenden Ursache hervor, die sie erregt."
89 Ebd ., 73.
90 Ebd. Erst bei den höheren Lebensformen, die mit Verstandeskräften ausgestattet sind,
lässt sich zwischen einer physischen und einer moralischen Sensibilität unterscheiden. Erstere wird durch innere ,,Ideen und Gedanken" erregt, während letztere nur „mit Hilfe von
Reizen, die auf unsere Sinne geschehen" stimuliert werden. Ebd., 77.
91 Mayr, Die Entwicklung der biologischenGedankenwelt, 284.
92 Ebd ., 284. Vgl. auch Robert J. Richards, Darwin and the Emergence of Evolutionary Theories of Mind and Behavior, Chicago 1987, 51 f.
93 Wie Larnarck stellen Anpassung und Vererbung für Haeckel komplementäre Gegensätze
dar. Anpassung ist die Tatsache, ,,daß der Or ganismus infolge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt gewisse neue Eigentümlichkeiten in seiner Lebensthätigkeit, Mi schung und Form annimmt, welcher er nicht von seinen Eltern ererbt hat". Ernst Haeckel,
Natürliche Schöpfungsgeschichte,Berlin 4 1873, 197. Vgl. zur Übereinstimmung von Haeckels
Idee einer direkten und indirekten Anpassung mit Larnarcks Konzept vorn Gebrau ch oder
Nichtgeb rauch der Organe : Wolfgang Lefevre, ,,Der Darwinismus -Streit der Evolutions biologen", in : ders., Bernhard Kleeberg, Julia Voss, Darwinismusstreit (Max -Planck -Institut für Wissenschaftsgeschichte,Preprint 272), 5-30, bes. 12 f.
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DER MIMIKRYFORSCHUNG
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Indern sich der rhierische Wille den veränderten Existenzbedingungen
durch
andauernde Gewöhnung, Uebung u .s.w. anpaßt, verma g er die bedeutendste Umbil dung der organischen Formen zu bewirken. 94
Das Wort ,Wille' impliziert eine intentionale Handlung. Di ese Implikation wider spricht allerdings Haeckels eigener biologis cher Auffassung, der zufolge „es keinen
freien Willen' gibt". 95 Di eses Verständnisproblem findet sich bei einer Reihe von
Biologen wieder, unter denen sich sowohl Anhänger als auch Gegner Lamar cks
befinden . Zu nennen sind hier unter anderem der französische Biologe Felix Je
Dant ec, von dem der Begriff der chromatisc hen Mimikry stammt 96 , der amerikanische Paläontologe Edward Cope 97 und nicht zuletzt Darwin selbst. 98
August Pauly ist der Begründer und zugleich bekannteste Vertreter des Psycho lamarckismus.99 Er geht in der Tat von einem ,Wunschdenken' aus, das die Lebens prozesse steuert. Das sentirnent interieur, der ,Seelenzusta nd', wie es im folgenden
Zitat heißt, bewirkt die Transformation des Körpers. Ein Insekt nimmt ein ande res Tier oder eine Pflanze wahr und kann sich in sie verwandeln. In dieser Situa tion erfüllt die Mimikry weniger eine Funktion, sondern ist vielmehr der Ausdru ck eines Gefühls wi e beispielsweise der Angst.
Wenn wir Seelenzustände jeder Art teleologische Wirkungen ausüben sehen, so ist
es eine notwendige Konsequenz, daß einer der häufigsten Zustände, die Angst um
das eigene Leben, die sich in dem Benehmen so vieler Tiere ausdrückt, nicht ohne
Wirkung bleiben kann auf Farbe und Form des Körpers, wobei die Wirkungen keineswegs eine lebensrettende zu sein braucht, sondern nur eine natürliche Folge des
94 Ernst Heinrich Philipp August Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1868, 190.
95 Ders., Gott -Natur (Theophysis). Studien über monistische Religion, hrsg. Olaf Breidbach,
Uwe Hoßfeld, Stuttgart 2008, 28.
96 Felix le Dantec, Lamarckiens et Darwiniens, Paris 3 1908, 143; Georges Pouchet, Des changements de colorations sous l'injluence des nerfi, Paris 1876.
97 Edward Drinker Cope, The origin of the fittest, New York 1887; ders., The primary foctors
of organic evolution, Chicago 1896.
98 In einem Brief an Hooker verwirft er die Idee von den „adaptations frorn slow willing of
animals". Charles Darwin, Brief an J. D. Hooker (Down, 11.1.1844), in: Charles Darwin,
More Letters of Charles Darwin, hrsg . Francis Darwin, New York 1903, I, 39-41, hier 41.
Vgl. auch die folgende Aussage des Paläontologen Edgar Dacque. Edgar Dacque, Natur
und Seele. Ein Beitrag zur magischen Weltlehre, München/ Berlin 1927, 126: ,,Es ist klar,
daß dieses Unbewußte des Organischen ebenfalls ,Bedürfnisse fühlt' . Die daraufhin erfolgenden Wandlungen sind eben jene, welche den springenden Punkt der Lamar ckschen
Lehre ausmachen. Daß Unbewuistes Bedürfnisse hat und fühlt, daß Unbewußtes Formänderungen ebenso hervorbringt, wie es die Funktion en des Körpers bedingt und leitet:
das muß festgehalten werden , wenn man das, was Larnarck noch verworren und ungeklärt ahnte und aussprach, nun wirklich durchschauen will."
99 Eine anderer wichtiger Vertreter des Lamarckismus, welcher den Fakror des Gebrauchs
beziehungsweise Nichtsgebrauchs um die Dimension der Willenskraft ergänzt und das
treibende Moment für beide in einem inneren Bedürfnis sieht, ist Edward Cope. Edward
Drinker Cope, The origin oftheflttest, New York 1887; ders., The primaryfoctors oforganic
evolution, Chicago 1896.
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INSEKTEN MIMIKRY
seelischen Zustandes und der Mittel ist, welche dem Bedürfnis, ungesehen zu bleiben, entsprechen. Dieses Bedürfnis kommt auch dem Raubtier zu, und demgemäß
sehen wir es auch oft in seiner farbigen Erscheinung oder in seiner Zeichnung mit
der Farbe oder dem Eindruck seiner Umgebung übereinstimmen, ohne dass diese
Übereinstimmung als eine Bedingung seiner Existenz angesehen werden könnte. 100
D er Biologe Roul Heinrich France stimmt Paulys „Beseelungslehre" 101 zu, in der
er die lang ersehnte Lösung in der „wirrig anmutenden Mimikryfrage" erkennt :
Das ist das wahrhaft erlösende Wort in der so wirrig anmutenden Mimikryfrage, in
der die mechanisch denkende Naturforschung einmal so recht die Unbedenklich keit bloßstellte, mit der sie versteckt teleologische Schlüsse zieht, indem sie hier weit
über das Ziel schoß und Dinge mit dem Zweckgedanken deutete, die gar nicht
zwecksrrebend sind. 102
Paulys Theorie übt eine große Faszination auf einige Zoologen aus. Nicht zuletzt
aufgrund ihres Antimareriaiismus und ihrer redukrionisrischen Einfachheit. Er entwirft eine teleologische Zweck-Mittel -Korrelation, die die Nähe des Psycholamar ckismus zu dem älteren psycho -physischen Parallelismus Fechners unterstreicht.
Das Ziel ist, ,,das Psychische physisch zu verstehen und umgekehrt das Physische
psychis ch ".103 Es besteht eine „Korrespondenz zwischen den als Ursache wirkenden
Bedürfnissen von Organen und den die Befriedigung schaffenden Gebilden". 104 Mir
anderen Worten: Der Wille formt den Körper und das mentale Bild drängt danach,
körperliche Wirklichkeit zu werden.
Dies e Position ist höchst umstritten. Der Neodarwinismus lehnt die psycholo gische Begründung der (Auto -)Plastizi tät kategorisch ab. Wer glaubt, ,,dass jeder
Teil eines Tieres je nach Bedürfnis in diese oder jene Form gebracht , in beliebiger
Weise gefärbt und gezeichnet werden könnte" 105 , liegt nach Weismann einem gravierenden Irrtum auf
100 August Pauly, Darwinismus und Lamarckismus . Entwurf einer psychophysischen Teleologie,
München 1905, 242. Paulys Idee ist in seiner Zeit weder neu noch außergewöhnlich.
101
102
103
104
105
Schon Erasmus Darwin vertritt die Ansicht, dass das Chamäleon seine Farbe wechselt,
sobald die Retinafibern sich auf die Umweltfarblich einstellen. Über den Sehnerv und das
Nervensystem wird der Reiz bis zur Haut weitergeleitet,wo die gesehenen Farben und
Muster reproduziert werden. Erasmus Darwin, Zoonomia. Or, the Laws of Organic Lift,
Boston 3 1809, I, 401-403. In The Dawn of Reason. Mental Traits in the Lower Animals
(1899) schreibt James Weir, dass die Farbgebung (tinctumutation) durch das Gehirn gesteuert wird, was auf Verstandeskräfteselbst unter niederen Organismen schließen lässt.
James Weir, The Dawn of Reason. Mental Traits in the Lower Animals, New York 1899.
Roul Heinrich France,Der heutige Stand der Darwin'schen Fragen. Eine Wertung der neuen
Tatsachen und Anschauungen, Leipzig 1907, 115.
Ebd.
Pauly,Darw inismus und Lamarckismus, 210.
Ebd., 211.
Weismann,Das Keimplasma, 576 f.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
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Das psychologische Schlüsselkonzept, das nun im Psycholamarckismus neu ins
Spiel kommt, ist die Suggestion. In einer damals viel gelesenen Schrift wird die
Suggestion paradigmatisch als „eine Id ee [definiert], die sich im Unt erbe wußten
in die entsprechende Wirklichkeit verwandelt ." 106 Der Biologe Karl Hauser
schreibt über den Einfluss der Psyche auf den Körper:
Wir hätten hier also die Psyche als umbildenden, die Erblichkeit als fixierenden Fakror. Auch könnten wir, indem wir den auf die Psyche einwirkenden Einflüssen der
Umgebung eine noch höhere Bedeutung einräumen, die überraschenden, schwer zu
erklärenden Uebereinstimmungen, wie sie in dem wiederholt erwähntem wandelnden Blatt (phyllium siccifolium) ihre höchste Vollendung erreichen, auf psychologische Ursachen, etwa auf die in letzter Zeit so viel erörterte Suggestion zurückfüh ren .107
Die Suggesrionstheorie spitzt die pseudo -lamarckisrische Vorstellung einer ,Evolution durch Wollen' zu. Nach Hauser bewirkt die Suggestion eine Veränderung des
Erbgures. 108 Die „langsam fortwährende Auto -Suggestion [... ] in Folge des bestän digen Anblickes derselben Farben oder Formen" sowie das „andau ernde Fortschreiten dieser Einwirkung davon[, hat] endlich Erblichkeit erzeugr". 109 Sehr weit geht
Hauser mir der Annahme, dass diese „Erlangung von neuen Eigenschaften" durch
Suggestion mit der Mutation vergleichbar isr. 110
In den zuletzt zitierten Sätzen spiegelt sich eine Auffassung, nach der die orga nismische Oberfläche der Mimikryinsekten nicht nur für chemisch -physika lische
Agentien, sondern auch für hypnotische Reize empfänglich ist. Dies setzt zweierlei
voraus: Erstens, Tiere und Pflanzen besitzen ein psychisches Innenleben. Diese
Annahme ähnelt Fechners und Haeckels Panpsychismus. Und zweitens, die soma tische Plastizität untersteht einem psychisch -physischen Mechanismus, das heißt,
die Imagination steuert die Individualentwicklung.
Der Hauptvertreter dieser, auf einer psycho -physischen Suggesrion srheorie fußenden Mimikryrheorie ist Marinus Cornelis Piepers. 111 Dass die unter Tieren verbreitete hysterische Disposition die Erklärung für die unbewusste Na chah mung von
Farben und Formen liefert, ist seine Hauprhese, die er in der Abhandlung Mimicry,
Selektion, Darwinismus (1903) entfal tet . Die „hypnotische[n] Untersuchungen" hätten gezeigt , dass
Nerventhätigkeiten, durch äussere Einflüsse auf dem Wege der Suggestion angeregt,
bei dem Menschen organische Veränderungen zustande bringen können [, die]
106 Charles Baudouin, Suggestion und Autosuggestion. Psychologisch-Pädagogische Untersuchung auf Grund der Erfolge der neuen Schule von Nancy, Dresden 1924, 60
107 Hauser,Allerhand Schauspieler, 17. [Hv. v. K.C.J
108 Vgl. zur Vererbbarkeitauch: Marinus Cornelis Piepers,Mimicry, Selektion, Darwinismus,
Leiden 1903, 148.
109 Ebd., 160.
110 Ebd.
111 Ders.,Mimicry, Selektion, Darwinismus; ders., Noch einmal. Mimicry, Selektion, Darwinismus, Leiden 1907.
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INSEKTEN MIMIKRY
noch viel zusammengesetzterer Art [sind] als die der nur pigmentalen Verschiebung
einer Farbenveränderung. ll2
In der Autosuggestion liegt, so Piepers weiter, ,,der wahre Grund von diesem sehr
allgem ein vorkommenden Faktor von so genannter Mimicry" .113
We r hypnotisiert wen? Off ensichtli ch glaubt man, dass das Mimikryinsekt
unter dem Einfluss einer beseelten Umwel t steht. Di ese Umwelt hypnotisiert das
Tier und üb ermittelt ihm die zu reprod uzierenden Me rkmale , etwa eine bestimm te Farbe oder ein bestimmtes Muster, auf dem Wege der Suggestion. In seinem
Artikel „Mim ikry und Hypnose" schr eibt Georg Lohmer :
Die Umgebung wirkt, möchte ich sagen, suggestiv auf das Individuum ein . [. .. ]Auc h die
Grünfärbung des Laubfrosches, die Weissfärbung des Eisbären ist ja eine Tat. Eine
aktive Bestätigung der organischen formbildenden Kräfte des Individuums . Das
,Grün' der Umgebung muss zuvor auf die nervösen Zentren des Frosches eingewirkt,
sich so in sein Wesen sozusagen eingebrannt haben, so lange und so intensiv, bis die
Reaktion in Gestalt der Nachahmung erfolgte. [...] Wo liegt der Vergleichspunkt zur
tierisch-pflanzlichen Mimikry, von welcher wir ausgegangen sind? - Ich denke, er
liegt klar genug zu Tage. Tiere und Pflanzen, welche sich der Umgebung in Farbe
und Form anpassen (es ist bei weiten nicht bei allen der Fall!) können dies nur, wenn
sie in ganz bestimmter Weise reizempfindlich für dieselbe sind. Es muss also in ihnen
ein Zentralapparat existieren, sei es von nervöser oder von andersartiger Beschaffenheit, durch dessen Vermittlung die genannte Reizumwandlung stattfindet. ll 4
Lohmer glaubt an ein phylogenetisches Phantasma. Der Hysterik er, der im Verdacht steht, besonders anfällig für die Suggestion zu sein, soll während der Hyp nose in frü here evolutionäre Stadien zur ückversetzt werden. Mit ander en Worten:
Der Hysteriker stammt vom Mimikry -Insekt ab.
Dabei legt der Vergleich mit gewissen Erscheinungen der Hypnose den Gedanken
nahe, dass es sich bei Hypnose und Mimikry um qualitat iv ähnliche Gemütsverfassungen - wenn der Ausdruck gestattet ist - handelt; dass etwa die Hypnose als ein
künstliches Zurücksinken in primitive pflanzlich-tierische Bewusstseinsformen aufgefasst werden kann. 115
Eine ähnlich e Position vertritt Otto Hartmann. In der Mimikry wird die Grenze
von Ti er und Pflanze übers chritten, sobald das Insekt sich tatsächlich in ein Blatt
verwandelt: Transformation als Bildw erdung . In der popul ärwis senschaftlichen
Schrift Erde und Kosmos,zu deren aufmerksamen Lesern, das sei beiläufig erwähnt,
auch Thomas Mann gehört, heißt es:
112 Ders., Mimicry, Selektion, Darwinismus, 148.
113 Ebd., 161.
114 Georg Lahmer, ,,Mimikry und Hypnose", Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte
und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst (1.
Dezember 1906), Nr. 49, Jg. 10 (1906), 961-963, hier 962. [Hv. v. K.C.J
115 Ebd. [Hv. v. K.C.]
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFO RSCHUNG
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Innerhalb des Tierreiches muß man nun aber höhere und niedere Tiere unterscheiden und kann besonders die Insekten den Wirbeltieren gegenüberstellen, denn erstere sind den Pflanzen noch eigentümlich benachbart. Sind diese in der Blütenbildung
vom Tierischen wie überleuchtet, so ist umgekehrt das Tierische in den Insekten
nahezu vom Pflanzlichen verschlungen. Insekten ,ahmen' daher in Gestalt, Färbung
und Verhalten pflanzliche Gebilde in geradezu unwahrsche inlichem Grade nach
(Stabheuschrecke, wandelndes Blatt , Färbung vieler Raupen und Schmetterlinge). 116
Die Lichtmetaphorik des ,Überl euchtens' impliziert einen meditativen Zustand,
in welchem der Organismus alles ist und zugleich nichts: eine Stabheuschrecke,
ein wandelndes Blatt, eine Raup e, ein Schmetterling. Der tierische Organismus
wird in ein e tranceartige ,Stimmung' versetzt, ,,welche auf dem Wege unterbe wusster Seelenkräfte bis in die körp erlichen Funktionen eingreift."
Man wird sich also vorzustellen haben, dass zum Beispiel ein Schmetterling so ganz
und gar von der ihn umflutenden Licht- und Farbenwelt durchwaltet ist, dass ihm
die Möglichkeit der Distanzierun g hier von und mithin jede bewusste Farbwahrnehmung fehlt. Die Eindrücke, die er mittels seiner Sinnesorgane empfängt, werden
nicht in einem gegenstandsfähigen Ich-Bewußtsein zurückgespiegelt, sondern sie
wirken tiefer herab und erscheinen im äußeren Instinktverh alten, ja in Leibgestalt
und Färbung . Es drängt sich hier der Vergleich mit der Bewußtseinslage der Menschen
in Hysterie und Trance auf Gibt zum Beispiel der Magnetiseur einem in Trance
befindlichen Menschen ein Glas Wasser zu trinken, indem er versichert, es sei ,Alkohol', so zeigen sich alsbald die physiologischen Erscheinungen der Trunkenheit.
Noch auffallender ist es, wenn eine auf die Handfläche gelegte kalte Münze bei entsprechender Suggestion Brandblasen hervorruft. In diesen Fällen kommt es eben
deshalb zu leibhafr-physiologischen Erscheinungen, weil die Worte des Magnetiseurs nicht vom Bewusstsein der Versuchsperson gegenständlich begriffen werden,
sondern eine ,Stimmung' entsteht, welche auf dem Wege unterbewußter Seelenkräfte bis in die körperlichen Funktionen eingreift. In diesem Sinne könnte man den
Insekten ein trancehafr-mediales Bewusstsein zuschreiben, welches die umgeben den Farben und Gestalten unmittelbar leibhafr ausprägt. Hiermit stimmt dann
auch die nachtwandlerische Sicherheit ihrer Instinkte aufs beste überein. 117
Es nimmt nicht wunder, dass den psycholamarckistischen Mimikrytheorien aufgrund ihrer offensichtlichen Affinität zum Spiri tismus eine oft harsche Kritik ent gegenschlägt. Für Julius Schultz sind diese Überlegungen beispielsweise reinste
Mystik.
Verteidiger der psychistischen [sie]Ansichten berufen sich gerne auf das Chamäleon
und andere Tiere, die sich unter dem Einfluß nervöser Reize färben. [...] Und wozu
die Qual? Denn eine verzweifelte Qual muß es doch für jeden rechten Naturforscher sein, in solchen Tiefen der Mystik sich zu baden!118
J. Hartmann, Erde und Kosmos im Leben des Menschen, der Naturreiche,Jahreszeiten
und Elemente . Eine philosophische Kosmologie, Frankfurt a.M. 1938, 332. [Hv. v. K.C.J
116 Otto
T homas Mann streicht diese Passagein seinem Handexemplar an. Vgl. Kapitel 8.2.
117 Ebd., 335.
118 Julius Schultz, Die Maschinen -Theorie des Lebens, Görtingen 1909, 223.
68
INSEKTENMIMIKRY
RudolfVirchow tut diese spekulativen Theorien mit dem Hinweis ab, dass es sich
um Üb erbleibsel eines mythischen Denkens handelt:
ZUR W1SSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
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Abb. 10: Athanasius Kircher,
Ars magna lucis et umbrae,
Amsterdam 1671, 112.
Früher behalf man sich mit dem ,Versehen' der Mutter, einer Erklärung, die wissenschaftlich nichts für sich hatte, und die doch in der neueren Zeit durch die Lehre
von der Mimicry noch übertrumpft worden ist. 119
In Virchows Aussage schwingt die Kritik an der älteren biologischen Theorie der
Epigenesis mit, auf die er mit dem Hinweis auf das ,Versehen' · der Mutter ausdrücklich hinweist. 120
Nicht nur Lebendes, sondern auch Totes können Mimikrytiere simulieren. In
bestimmten Situationen suchen sie die Ähnlichkeit zum Unbelebten, um dem Prädator zu entkommen, welcher nur an lebender Beute interessiert ist . Das Totst ellen
(thanatosis), das heute nicht mehr zu den Mimikryphänomenen
gezählt wird, wird
damals auch unter dem Begriff „Scheintot -Mimicry" 121 geführt . Diese Mimikry deutung erhält ihre unmittelbare Evidenz aus dem Bild, das vor allem jene Insekten
darbieten, welche für das menschliche Auge anorganische Züge (wie beispielsweise
bei einem Stein) anzunehmen scheinen. In diesem Zustand scheint alles Leben aus
dem Körper entflohen zu sein.
Das Phänomen der thanatosis ist bereits vor der Einführung des M imikrybe griffs bekannt. Im 17. Jahrhundert führt Athanasius Kircher Tierexperimente mit
Hühnern durch, die er gefesselt auf einen Tisch legt. Ein Huhn, dazu gezwungen,
einen vor ihm gezogenen Kreidestri ch anzusehen, hört alsbald auf, sich zu regen.
Offensichtlich befindet es sich in einem Schreck - und Lähmungszustand. 122 (Abb.
10) Bereits zehn Jahre vor Kirchers Experimentum mirabile untersucht sein Schüler
Daniel Schwenter das Schreckverhalten des Huhns. Er nimmt an, dass eine direkte Verbindung zwischen der Wahrnehmung, dem Willen und der Einbildungs kraft des Ti ers existierr. 123
119 RudolfVirchow, ,,Rassenbildung und Erblichkeit", in: Festschrift fü.r Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstag 26.]uni 1896, Berlin 1896, 3-43, hier 34.
120 EpigenetischeTheorien seit der Antike messen Bildern einen großen Einfluss auf die Em-
bryonalentwicklung bei. Vgl. zur Epigenesis: Ilse Jahn, ,,BiologischeFragestellungen in
der Epoche der Aufklärun g (18. Jh.)", in: dies. (Hrsg.), Geschichte der Biologie. Theorien,
Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Jena/ Stuttgart/ Lübeck/ Ulm 1998, 231-273. Vgl. für eine kulrurhistorische Perspektive:
Helmut Müller-Sievers, Self-generation. Biology, philosophy, and literature around 1800,
Stanford 1997. Vgl. das Kapitel 3.2 .
121 Vgl. Piepers, Noch einmal. Mimicry, Selektion, Darwinismus, 107. Vgl. außerdem Emmanuel Radl, Geschichte der biologischen Theorien, Leipzig 1909, 259; Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. Eine Einfü.hrung in die heutige Naturphiloso phie [1914], Leipzig 8 1944, 545.
122 Athanasius Kircher,Ars magna lucis et umbrae, Amsterdam 2 1671, 112 f.
123 Kirchers und Schwenters Versuchesetzen sich mit einem Phänomen auseinander, das im
18. Jahrhundert unter der Bezeichnung ,animalischer oder tierischer Magnetismus' und
im 19. Jahrhundert als ,Hypnose' einen großen Bekanntheitsgrad erlangen wird.
Die XIII. Aufgabe. Eine ganz wilde Hännen/ so zaam zu machen/ daß sie von sich
selbst/ unbeweglich still und in grossen forchten sitze./ Wilt Du eine wunderliche
Kurzweil anfangen/ so nimb ein Hänne/ sie sey beschaffen wie sie wolle/ setze sie
auff einen Tisch/ halt ihr den Schnabel auf den Tisch/ fahr ihr mit einer Kreyden
über den Schnabel her nach der läng hinauß/ daß die Kreide von dem Schnabel an
einen starcken langen Strich auff den Tisch mache/ laß die Hänne also ledig/ so
wird sie ganz erschrocken still sitzen/ den Strich mit unverenderten Augen ansehen/
und wan nur die Umbstehenden sich still halten/ nicht leichrlich von dannen fliegen. Eben diß geschieht auch/ wann man sie auff einem Tisch hält/ und ihr über die
Augen ein Span leget. 124
Die Tierpsychologie greift im späten 19. und frühen 20 . Jahrhundert auf die älteren Experimente und Theorien zum Totstellen zurück. Drei Jahrhunderte später
wiederholt der Physiologe Czermak die Experimente Kirchers und Schwenters.
Dabei kommt er zu einem ähnlichen Befund. 125 Ob das Auftreten von Angstzu ständen die Vorauss etzung für die Hypnose darstellt oder ob das Angstgefühl vielmehr durch die Suggestion erst hervorgerufen wird, wird kontrovers diskutiert.
Auf dem Congres international de psychologie physiologique de Paris im Jahre 1889
124 Daniel Schwenter, Deliciae physico-mathematicae oder ivlathematische und Philosophische
Erquickungsstunden, Nürnberg 1636, I, 562.
125 Vgl. allgemein zur Hypnotisierbarkeir der Tiere: William Thierry Preyer, Der Hypnotismus, Wien/ Leipzig 1890, 44. Vgl. zur Hypnose und somnambulischen Tieren: George
Romanes, Anima! Magnetism, London 1882; Edmund Gurney, ,,The Problem of Hypnotism", Mind . A Quarterly Review of Psychology and Philosophy, Occober (1884), 477-508;
Ferenc Voelgyesi,Menschen- und Tierhypnose, Zürich/ Leipzig 1938.
70
INSEKTENMIMIKRY
vertritt Wassili Jakowlewits ch Danilewsky den Standpunkt, dass Angst eine mögliche, aber keinesfalls notwendige Voraussetzung der Suggestion ist.t26
Nach dem Physiologen Preyer stellt sich bei der Kataplexie (Schreckstarre) ein
Schockzustand ein. i 27 Die Willenskraft erlahmt und die peripher-spinal en Mus kelgruppen werden inhibiert. Bei genauerer Beobachtung zeigt sich allerdings,
dass es sich um eine hysterische und keine genuin organische Lähmung handelt.
In der Hysterie werden organische Beschwerden nur imitiert, ihre Gründe sind
deshalb rein psychischer Natur.
Jahrzehnte später, als diese tierpsychologische Diskussion längst dem Vergessen
anheim gefallen ist, interessiert sich Theodor W. Adorno für die Mimikry. In einer
mythopoetischen Wendung vergleicht er die Mimikryinsekten mit der vor Apoll
fliehenden Daphne. Daphn es Verwandlung in einen Lorbeerbaum entsp richt der
Transformation des Mimikryinsekts in ein Blatt. Beide erstarren in einer Pose, in
der das Leben sich dem Tod angleicht.
Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspri cht, erinnern an die Herkunft. Sie stellen
Augenblicke der biolog ischen Urgeschichte her : Zeichen der Gefahr, bei deren Laut
das Haar sich sträubte und das Herz stillsrand . In der Idiosynkrasie entziehen sich
einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen . Das Ich , das in solchen Reaktionen , wie der Erstarrung von Haut , Muskel, Gl ied sich erfahrt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für
Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur.
Indem aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfa!tetere Leben bloßer Natur sich
nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne,
Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten,
der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung . Wo
Me nschliches werden will wie Natur , verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als
Schrecken ist eine Form der Mimikry . Jene Erstarrungsreaktionen am Menschen
sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen
Fortbestand durch Angle ichung ans Tote. i 2s
126 Seance du 9 aout 1889, Compte rendu du congres international de psychologiephysiologique
par la Societe des Psychologie Physiologique de Paris, Paris 1890, 79. Vgl.Auguste Fore!, Der
Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie, Stuttgart 8 1919,349.
127 William Preyer, Die Kataplexie und der thierische Hypnotismus, Jena 1878.
128 Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 204 . Adorno beruft sich auf keinen Biologen, sondern auf Roger Caillois, der Elemente aus neo- und psycholamarckistischen Mimikry-Theorien miteinander kombiniert . Der Satz „Der Raum ist die absolute Entfremdung" bezieht sich auf Caillois' Definition der Mimikry (im Sinne einer „depersonnalisation par assimilation a l'espace"). Roger Caillois, ,,Mimetisme et psychasthenie legendaire",
Le Minotaure 7 (1935), 4-10, hier 9. Vgl. zu Caillois das Kapitel 5.
4. Die Krisen der Mimikryforschung und des Darwinismus
um 1900
In dem Streit um die Lehre Darwins hat das ,Paradepferd des Darwinismus' [d. i.
die Mimikry] besonders im Kampfgetümmel gestanden. Was dem einen als festeste
Stütze einer wertvollen Theorie erschien, galt dem anderen als Ausgeburt wüster
Phantasie . t 29
Die Mimikryforschung gerät um 1900 in eine Krise. Im Mi ttelpunkt des Problems
steht die Unsicherheit angesichts der Entscheidung, was als Mimikry bezeichnet
werden kann . Die Krise der Mimikryforschung muss im Kontext jener größeren
Krise betrachtet werden, in der sich der Darwinismus um 1900 befindet . Na ch den
frühen Auseinandersetzungen mit den Kreationisten sieht sich der Darwinismus
mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Er tritt in einen Wettkampf mit ande ren biologischen Evolutio ns- und Vererbungstheorien_ i 3 o Vor allem die Theorie der
natürlichen Selektion, die unter anderem die Haupterklärung für die Evolution der
Mimikry liefert, wird in Zweifel gezogen.
Die Krise der Mimikryforschung spiegelt damit die Krise des Darwinismus. Das
an Darwin gemachte „Geschenk Gottes"t 3t verändert seinen Charakter. Fortan
wird es als ein undurchdringliches „Rätsel" 132 wahr genom men. D er zuvor angeprie sene Beweis der Evolutionstheorie droht, zu einer bloßen Kuriosität abzusinken. 133
129 Study, ,,Die M imikr y als Prüfstein phylogenetischer Theori en", 371.
130 Zu nennen sind vor allem der Lamarckismus und die um 1900 wiederentdeckten Mendelsehen Vererbungsgesetze. Vgl. zur Krise des Darwinismus: Thomas Junker, ,,The Eclipse
and Renaissance of Darwinism in German Biology (1900-1950)", in: The Reception of
Charles Darwin in Europe, hrsg. Thomas Glick, Eve-Marie Engels, London 2008, II, 482503, 592-597; Hans-Jörg Rheinberger, ,,Die Politik der Evolution. Darwins Gedanken
in der Geschichte", in: Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, hrsg. Ernst Peter
Fischer, Klaus Wiegandt, Frankfurt a.M. 2003, 178-197, bes. 188-190.
131 Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 419.
132 Heikertinger, Das Rätsel der Mimikry und seine Lösung. Vgl. ferner: Sigfried Tietze, Die
Lösung des Evolutionsproblems , München 1913, 17.
133 Huxle y, Evoluti on, 413 f.: ,,Ir is perhaps unfortunate rhat the srudy of adaptations has been
so closely associated with highly specialized and striking cases of the ,wonders of nature'
type, such as rhe resemblance of a butterf1y to a dead leaf campiere with mould-spors and
imitation holes, or the almost famastic comrivances of certain orchids which secure insect-pollination ."
72
INSEKTENMIMIKRY
Aber die Krise des Darwinismus ist weder der einzige noch der ausschlaggeben de Grund für die Krise der Forschung. Mit dem zahlenmäßigen Anstieg der neu
entd eckt en Phänomen e steigt auch der Erfahrungsdruck, der auf das zoologische
Konzept ausgeübt wird. Je mehr Phänomene ent deckt und unter dem Terminus
versammelt werden, desto stärker wird die Bindung zwischen Begriff und Phäno men strapaziert. Im weiteren Fortgang dieser Entwicklung droht der Gebrauch
des Mimikryb egriffs beliebig zu werden . Dies bildet zugleich die Voraussetzung
für die Freisetzung der Einbildungskraft, die die klassifikatorische Ordnung
unterminiert und die Schwäche der wissenschaftlichen Rationalität ausnutzt, um
die Aufmerksamkeit auf andere Lebewesen zu richten, die die Gruppe der Mim krytiere vermehren.
4.1. Die Krise des wissenschaftlichen Begriffs.
Zur Ausdifferenzi erung von ,Mimikry' und ,Mimese'
Di e semantische Extension des Begriffs bringt das zoologische Konzept an die
Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Der im zunehmenden Maße arbiträr gewordene
Terminus büßt seine Funktionalität ein, sodass das Zuordnungsverhältnis von
Begriff und Phänomen zu erodieren beginnt. Dem Erfahrungsdruck der Phäno mene wird mit einer begrifflichen wie semantischen Ausdifferenzi erung begegnet. 134Alfred Wallace, Edward Poulcon und Franz Heikertinger - um hier nur die
bekanntesten Biologen und Mimikryfo rscher zu nennen - haben sie am weitesten
getrieben. Jedoch wird für die Verfei nerung und Erweiterung der Begriffsappara tur ein hoh er Preis gezahlt. Lange Zeit wird es an einer einheitlichen Terminologie
mangeln; dieser Mangel forciert wiederum eine exuberante Begriffsbildun g. Eine
der Folgen der Krise ist die Bildung eines neuen Terminus: der der ,Mimese', welcher fort an einige Aufgaben des Mimikryb egriffs übernimmt. Di e begriffliche
Ausdiffe renzieru ng von ,Mimikry' und ,Mimese' ist ein wesentlicher Bestandteil
der Wissenschaftsg eschichte der Mimikryforschung, auf den nun näher eingegan gen werden soll.
Bares und Darwin unterscheiden noch nicht zwischen Mimikry und Mimese.
Erst nach 1900 spitzt sich die Kontroverse zu. Lange Zeit fehle ein Konsens in
Bezug auf die begriffliche Deklarierung des Phänomens und den adäquaten
Gebrauch der Begriffe. Ob nur die aposematische Ähnlichkeit zwischen nicht verwandten Arten (Batessche Mimikry) als Mimikry bezeichnet werden darf oder
auch solche Phänomene dazu gezählt werden dürfen wie beispielsweise die thana tosis, das sogenannte Totstell en (,,Scheintot -Mimicry") 135, die täuschende Ähnlichkeit der Phasmiden mit dünnen Ästen oder der hormonell und saisonal beding te Farbwechsel von Chamäleon und Schneehase - die Definition der Mimikry
134 Vgl. für die histor ische Diskussion zur Taxonomie: Lorraine Daston, ,,Type Specimens
and Scienrific Memory", Critical lnquiry 31 (2004), 153-182 .
135 Piepers, Noch einmal. Mimicry, Selektion, Darwinismus, 107.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
73
hängt von der Mimikrych eorie ab, für die sich der einzelne Wissenschaftler entscheidet. Eine Konvention, die den Begriffsgebrauch regelt, fehlt zu diesem Zeitpunkt.136 Na ch Georges Pasteur behindert der inflationäre Begriffsgebrauch die
damalige M imikryforschung nachhaltig, weil er ein Kommunikationsproblem
unter den Zoologen verur sacht. 137Das Problem ist jedoch kein bloß nominalisti sches. Vielmehr geht es um die fundamentale Frage, was die Mimikry ist.
1925führt der Zoologe Franz Heikertinger den Begriff der ,Mimese' ein. 138Bis zu
diesem Zeitpunkt spricht man von der Tarnung als einer „schützenden Ähnlichkeit",
welche von der „schützenden Nachäffung " und der „Mimikry im engeren Sinne", das
ist die Batessche Mimikry, terminologisch abgesetzt wird. 139Zunächst ist Heikercin ger kein Erfolg mit seiner Neuerung beschienen, denn seine Forderung nach Differenzierung stößt auf wenig Verständnis, ja, sie ruft sogar Antipathie hervor.
Das konkrete Untersuchungsobjekt, an dem der Streit um den ,richtigen' Begriff
entbrennt , ist die Ameisenmimikry, dem wohl „lehrreichsten Studienobjekte für die
Mimikryforschung". 140Wenn Insekten und Spinnen eine Ähnlichkeit mit Ameisen aufweisen, kann ein Fall von Ameisenmimikry vorliegen. Am eisenähnlichkeit
(Myrmecoidie) tritt inn erhalb und außerhalb eines Ameisenstaates auf. Sie dient
dazu, den Prädacor oder die Wirtsameisen, denen die Parasiten ähnlich sind, zu cäuschen. 141
Wird der Terminus ,Mimikry' in dem zur Diskussion stehenden Fall richtig
verwendet? Mit dem Jesuitenpa ter Erich Wasmann, einem der führenden Myrmekologen seiner Zeit, liefere sich Heikertinger einen polemischen Schlagabtausch,
um diese Frage zu klären . Wasmann hält die „Erfindung neuer griechischer Kunst ausdrücke" wie Mimese zwar für „genial", doch sei die „Biologie kein Exerzierplatz für Altphi lologen":
136 So moniert etwa der Orn itholo ge Alfred Newton den inflationären Gebrauch des Terminus', weil dieser auf den Vogelgesang übertragen werde . Mimikry sei aber eine Sache von
Insekten und nicht von Vögeln. Dieser Irrtum sei ein Beweis für den in der Biologie grassierenden Dilettantismus . Alfred Newton, Dictionary of Birds, London 1893, 65.
137 Pasteur, ,,A classificatory review of mimicry systems", 171.
138 Franz Heikertinger, ,,Über die Begriffe ,Mimikry' und ,Mimese' mit besonderer Berücksichtigung der My rm ekoidie . Zugleich eine Antwort an E. Wasmann ", BiologischesZentralblatt 45, H. 5 (1925), 272-289. Das erste Mal wird das Wort verwend et in: R. Puschnig,
Carinthia. II. Mitteilung des Vereins Naturhist. Landes-Mus. Kärnten (1917), 106 f.
139 Arnold Jacobi, ,,Mimikry und verwan dte Erscheinungen", Die Naturwis senschaft. Wochenschrift far die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik (6.9.1913),
938 f.
140 Piepers, Noch einmal. Mimicry, Selektion, Darwinismus, 101. Der Mimikryforscher Piepers gibt hier den Wortlaut einer Äußerung Wasmanns wieder.
141 Vgl. zur Ameisenmimikry : Erich Wasmann, Die Ameisenmimikry. Ein exakter Beitrag
z[um) lv!imikryproblem. 250 . Beitrag zur Kenntnis der Myrmecophilen, Berlin 1925; ders.,
Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Mit einem Ausblick auf die vergleichende Tierpsychologie, 2 ., vermehrte Auflage, Stuttgart 1909. Vgl. für die Diskussion von Wasmanns
Theorie: Bert Hölldobler, Edward 0. Wilson, The Ants, Berlin/ Heidelberg/ London/ Paris/ Tokio/ Hong Kong 1990, hier 511-515. Vgl. zu Wasmann auch das Kapitel 8.6.l.
74
INSEKTEN MIMIKRY
Ein gewisses Maß humanistischer Fertigkeit ist allerdings auch für den modernen
Narurforscher sehr nützlich, für den Systematiker sogar unentbehrlich, sowohl in
der alten wie in der neu en Wel t . Wenn man so manche Schnitzer in systematischen
Insektennamen der neuesten Zeit liest, bekommt man Heimweh nach den ,mensa
mensae' der humanistischen Jugendbildung .142
Bei diesem Disput geht es um weitaus mehr als um die Vorzüge einer humanisti schen Bildung. Was auf dem Spiel steht, ist die klassifikatorische Funktion der
Batesschen Mimikry. Für Wasmann erfüllt sie offensichtlich die epistemische Rolle eines Prototyps, mithilfe dessen sich die Mimikryphänomene klassifizieren lassen. t43 Denn da es ein charakteristisches und isolierbares Merkmal der Mimikry
nicht gibt, bietet es sich an, von einem Prototyp auszugehen, das heißt von einem
,besten Beispiel', das als Beurteilungsreferenz für andere Phänomene dient .
Heikertinger widerspricht dem vehement. Die Bezeichnung ,Ameisen-Mimikry'
erweckt für ihn den falschen Eindruck einer Entsprechung mit der Batesschen
Mimikry. t 44 Dabei steht für ihn fest, dass die Ameisengäste unbeachtet bleiben,
während bei der Batesschen Mimikry die Schmetterlinge durch ihre Warnfarben und Muster auffallen. Dies gilt auch für die Müllersche und Peckhamsche Mimi kry, die ebenfalls mit aposematischen Signalen operieren, während bei der Ähnlich keit eines Insektes mit einem Blatt oder Zweig (Mimese) keine Signale ausgesendet
werden.
Ungeni eßbarkeit oder Giftigkeit spielt bei der Täuschung der Wirtsameisen
allerdings keine Rolle, wie Heikertinger hervorhebt. Von ,Mimikry' zu sprechen,
verfehlt für ihn die Bedeutung des Begriffs, weil dieser ausschließlich auf die Imi tation eines ungenießbaren Vorbildes angew endet werden kann . Ameisenmimi kry ist eine Tarnung und damit das Gegenteil von Warnung oder Abschreckung.
Zugespitz t formuliert: In der Mimikry exponiert sich das Tier und wird sichtbar;
in der Mimes e hingegen wird es für seinen Beobachter unsichtbar.
Heikercinger hält auch in seiner späteren Replik auf Wasmanns Kritik daran
fest: ,,Die Begriffe Mimikry und Myrmekophili e [d.i. die ,Ameisenmimikry'] sind
einander fremd."l 45 In den meisten Fällen übernimmt außerdem keine dritte Par-
142 Wasmann,Ameisenmimikry, 10 (Anmerk. 2).
143 Das Konzept des Prototyps stammt aus der Psycholinguistik. Um den Prototyp werden
die Erscheinungen gruppiert. In einem kreisförmigen Diagramm sind die verwandten, das
heißt familienähnlichen Mimikryerscheinungen, radial um das paradigmatische Phäno men angeordnet. Vgl. zum Prototyp : Eleanor Rasch, ,,Principles of Categorization", in:
Cognition and Categorization, hrsg. E. Rasch, B.B. Lloyd, Hillside 1978, 27-48. Vgl. zur
Idee der radialen Klasse: George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind, Chicago/ London 1987.
144 Franz Heikerringer , ,,Exakte Begriffsfassung und Terminologie im Problem der Mimikry
und verwandter Erscheinungen", Zeitschrift für wissenschaftliche Insektenbiologie, XV, H.
4-9 . (1919); ders., ,,Die metöke Myrmekoidie . Tatsachenmaterial zur Lösung des Mimik ryproblems", BiologischesZentralblatt 39 (1919), 65-102.
145 Heikerringer, ,,Über die Begriffe ,Mimikry' und ,Mimese"', hier 280.
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER MIMIKRYFORSCHUNG
75
tei die Rolle der natürlichen Selektion. 146Wird bei der Batesschen Mimikry ein
Modell kopiert, um den Fressfeind zu täuschen und abzuschrecken, so wird bei
der Ameisenmimikry ein Vorbild kopiert, um mit ihm verwechselt zu werden.
Wasmann kontert mit dem folgenden Argument : Der Einwand, dass bei der
Ameisenmimikry keine aposematischen Signale ausgesendet werden , lässt außer
Acht, dass erstens die Mimikry eine „täuschende Ähnlichkeit zwischen verschiede nen Tieren" ist und zweitens jede Form der Mimikry als ,kryptisch' angesehen werden muss .147Sei es, dass das Äußere der Abschreckung dient, sei es, dass sich das
Tier aufdiese Weise tarnt, in beiden Fällen verbirgt es seine eigentliche Identität.
Denn das Wesen der Mimikry besteht in der täuschenden Ähnlichkeit zwischen
verschiedenen Tieren, ganz abgesehen davon, ob die Täuschung durch Nachäffung
eines Warnkleides oder eines andern Kleides bewirkt wird. Auch ist das nämliche
kryptische Prinzip, das H. [d.i. Heikertinger] aus dem Begriff der Mimikry ausschließen will, sogar in der ureigensten Batesschen Mimikry unleugbar vorhanden, wo
die Nachbilder unter die überwiegenden Zahl ihrer Vorbilder ,verborgen bleiben
wollen' . Mit der ,Mimese' ist somit nur ein ganz überflüssiges Synonym zu dem älteren Worte ,Mimikry' gewonnen, sonst nichts. 148
Die Differenzierung zwischen Mimikry und Mimese ist für ihn nur eine Schein unterscheidung. Man beachte in diesem Zitat das Wort „ureigensten", womit die
prototypische Funktion der Batesschen Mimikry unterstrichen und der Kern des
Sachverhalts gleichzeitig benannt wird: das „Prinzip des sich verbergen wollens
[sic]"I49.
Der Konflikt steht für ein grundsätzliches Problem, das aus dem Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Klassifikationsmethoden resultiert . Heikertinger
unterscheidet anhand von Einzelfällen. Vergleichbar mit dem Prinzip des common
law im englischen Rechtssystem orientiert sich das naturwissenschaftliche Urteils vermögen an einem Prototyp. Wasmann dagegen sucht nach Prin zipien, nach
universalen Gesetzmäßigkeiten, die eine Definition rechtfertigen . Nach dem Dis put werden weitere drei Jahrzehnte vergehen, bis sich Heikertinger mit seinem
Vorschlag durchsetzt. Nur in Bezug auf die Ameisenmimikry, die den Anlass zum
dem Streit gab, hat sich nichts geändert. Der Begriff der ,Ameisenmimikry' wird
noch heute verwendet. t50
146 Dies gilt natürlich nicht für die Ameisenmimikry außerhalb des Ameisenbaus, wenn ein
Prädator getäuscht werden soll.
147 Wasmann,Ameisenmimikry, 9.
148 Ebd., 23. [Hv. v. K. C]
149 Ebd .
150 In wissenschaftlichen und literarischen Texten der Gegenwart wird für gewöhnlich der
Begriff der ,Mimikry ' verwendet. Der Begriff der ,Mimese' scheint gänzlich unbekannt zu
sein. Im Folgenden wird, aufgrund der Treue zum historischen Material, auf eine Unter scheidung von Mimikry und Mimese verzichtet - es sei denn, in den wissenschaftlichen
Texten wird explizit zwischen ihnen differenziert-, um damit der Historizität des damali gen Sprachgebrauchs Rechnung zu tragen.
76
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
INSEKTEN MIMIKRY
4.2. ,,Entites imaginaires".Die Krise der Einbildungskraft
„Der menschliche Geist hat den Begriff der
Mimikry erfunden, weil ihm, und ihm
allein, diese Art der Nachahmung geläufig
ist. Er allein verfügt über eine Sprache, die
nichts verbirgt, sondern-verbergen soll, ist
zugleich Spieler und Schauspieler."
(Ernst Jünger, Essays)
Die Sprachkrise geht Hand in Hand mit einer weiteren Kris e: der Krise der Ein bildungskraft. Einerseits verwirren sich die Zeichen, da die Begriffe ihre feste Verankerung in der Wirklichkeit verlieren, andererseits drohen sich die Phänomene in
der Wahrnehmung aufzulösen, sobald sie nicht mehr eindeu t ig identifizi ert werden können. Die vehementest en Gegner der Mimikryforscher stellen die Existenz
des Naturphänomens sogar gänzlich in Abrede. Mimikry steht bald unter dem
Verdacht, reine Konstruktion, Fiktion und Fabrikation zu sein, erzeugt von ein er
auf Abwege geratenen wissenschaftlichen Ratio, die von der Einbildungskraft
dazu verführt worden ist, zu sehen, was in Wirklichkeit nicht existiert - so lautet
zumindest der erhobene Vorwurf
Den Mimikryforschern eine schlechte Beobachtungsgabe zu attestieren, ist
insofern verhängnisvoll und muss sie ins Mark treffen, als gerade sie über eine
besonders gut geschulte Wahrnehmung verfügen müssen, um die Arten auseinan derhalten zu können. Schild erungen darüber, wie die Tiere nicht nur ihre Fressfeinde, sondern auch die Feldforscher täuschen, gehören zum Anekdot enschatz
der frühen Mimikryforschung. 151Neu ist nun der Vorwurf der wissenschaftlichen
Unredlichkeit, schlimmer noch: der Scharlatanerie, dem sich jene Forscher ausge setzt seh en, die im Verdacht stehen, bloß e Schwärmer zu sein.
Von dieser Kritik wird niemand ausgenommen. Sie kann sowohl die Darwinis ten als auch die Antidarwinisten unter den Mimikryfors chern treffen. Der Mimi kryforscher Marinus Cornelis Piepers schreibt: Di e „darwinistis[c]he Suggestion
benebelte Menschen". 152Er denkt an „Fanatiker auf dem Gebiete der Mimicry",
151 Alfred Russe!Wallace, The MalayArchipelago. The Land ofthe Orang- Utan and the Bird of
Paradise. A Narative o/Travel, with Studies of Man and Nature, London 7 1880, 130: ,,This
species[d.i. Kallima paralekta] was not uncommon in dry woods and thickers, and I often
endeavouredeocapture it wirhour success,for after flying a short disrance it would enter a
bush among dry or dead leaves,and howevercarefully I crept up to ehespot I could never
discoverit rill it would suddenly starr out again and disappear in a similar place. At lengrh
I was fortunate enough eosee ehe exact spot where ehe butterfly serded, and rhough I lost
sighr of it for some time, I at lengrh discoveredthat it was close before my eyes, but that in
irs position of repose it so closely resembled a dead leaf attached to a ewig as almosr certainly eo deceive ehe eye even when gazing full upon it." Ein ähnlicher Erlebnisbericht
findet sich in: Henry Drummond, TropicalAfrica, London 1888, 167.
152 Piepers, Mimicry, Selektion, Darwinismus, 309 (Anmerk. 1).
DER MIMIKRYFORSCHUNG
77
wie etwa ein von ihm verspotteter Forscher namens Hillebrand, der fähig ist, d ie
1.:·-icana
o-rosseAehnlichkeit zwischen den Früchten von Kicrelia
a':J'
und einer Leber "D
C)
wurst" zu einer „Mimicryerscheinung" zu erklären . 153
1908 attestiert der Zoologe Karl Hauser einigen Mimikryforschern eine an Paranoia grenzende Wahrnehmungsstörung . Er warnt vor der grassierenden „Mimikry wut"154 und prangen die „Phantasi e und ob erflächliche Anschauung" der „Mimik ryfanatiker" an. 155Die Naturwissenschaften sind offensichtlich nicht gefeit gegen
die „menschliche Phantasie [, die] vielfach starke Aehnlichkeiten zu sehen glaubt ,
wo sie iri Wirklichkeit gering sind ." 156 Einige der „phantasievollen Schilderungen
der Mimikry", auch von berufener Seite, erweisen sich inzwischen „als eine bunt
glitzernde Seifenblase" .157
Piepers schreibt, dass die Mimikryforschung einem „Götzendienst" vergleichbar
und der Begriff ,Mimikry' nutzlos ist , weil die unter ihn fallenden Phänomene, die
von ihm polemisch als „entitesimaginaires" und als „wahre biologische Gespenster"
bezeichnet werden, nicht existieren. 158Er wirft den Biologen vor, einer „Autosug gestion"159 verfallen zu sein, die bewirkt, dass alles im Lichte einer universalen
Ähnlichkeit erstrahlt. Die „darwinistische Religion" habe in den „Mimicry- und
dergleichen Wundergeschichten" ,,Heiligenlegenden" erfunden. 160Es ist ferner die
Rede von „Mimicry -Fanatismus" 161und „Mimicryhumbug" 162.
Man achte doch gut darauf, dass für diese schöne Entdeckung [d.i. die Mimikry]
nicht nur absolut keine Beweise angeführt werden[,] aber derselben sogar keine
noch so geringe oder oberflächliche Wahrnehmung zu Grunde liegt, sodass sie
selbst den Rang einer Hypothese nicht verdient, sondern nichts andres als eine blosse phantastische Erfindung im Dienst einer wirklichen Zwangsvorstellung[,] um
jede Erscheinung auf zoologischem Gebiet auf Darwinistische Weise zu erklären. 163
153 Ebd., 309. Kigelia ist eine ursprünglich wesrafrikanischePflanzenart aus der Familie der
Trompetenbaumgewächse (Bignoniaceae). Aufgrund der länglichen Form ihrer Früchte
wird sie in der Tat im Deutschen auch ,Leberwurstbaum' genannt. Es ist allerdings anzumerken, dass Piepers selbst einen freizügigenUmgang mit Begriffenpflege.Seine Gegner
hätten ihm höchst wahrscheinlich widersprochen, wenn er beispielsweisevon einer „Mimicry des Hasen" (ebd., 223) - er meint den Schneehasen,der sein Fell an die winterliche
Umwelt anpasst - spricht.
154 Karl Hauser, Allerhand Schauspieler in der Tierwelt . Mimikry u. Schutzfärbung, Godesberg
1908, 19.
155
156
157
158
159
160
161
162
163
Ebd., 19, 14.
Ebd., 19.
Ebd., 12.
Piepers,Mimicry, Selektion, Da rwinismus, 355.
Ebd., 27.
Ebd., 322.
Ebd., 225 .
Ebd., 261.
Ebd., 225.
78
INSEKTENMIMIKR Y
ZUR WISSENSCHAFTSGESCH JCH TE DER MIMJKRYFO RSCH UNG
Diese Kritik richtet sich nicht nur an die darwinistische , sondern an die Mimik ryforschung im Allgemeinen, da die Existenz des Naturphänomens in Zweifel gezogen wird. Der vorgebrachte Einwand ist stets derselbe. Das Übel des Homosemantismus wurzelt, so glaubt man, in einer hypertrophen Einbildungskraft, für die sich
die Ähnlichkeit in der Natur ins Unendliche fortzupflanzen scheint. 164 Es überrascht keineswegs, dass sich ausgerechnet an der Mimikry ein Streit um Wahnsinn
und Vernunft in der biologischen Forschung entzündet.
Mimikry scheint Zweifel an der Wahrnehmung geradezu zu provozieren, was
insofern nicht verwundert, als sie doch eine Blicktäuschung par excellence ist. Die
Erfahrung einer Blicktäuschung geht in die entomologischen Bezeichnungen
,Gespenstschrecke' und ,Phasmida'unmittelbar ein. Das Wort Phasmidaleitet sich
etymologisch vom griechischen Wort ,Phantom' her. Das neuhochdeutsche ,Gespenst' ist wiederum auf das mittelhochdeutsche ,gespanst' und althochdeutsche
,(gi)spanst' zurückzuführen, was soviel wie ,Lockung', ,Verlockung ' oder ,teuflisches Trugbild' bedeutet. Dieser etymologische Hinweis auf den Täuschungscha rakter - es sei daran erinnert, was Wallace über die Mimikry schreibt: ,,a resemblance that deceives" 165 - eröffnet einen wichtigen Zugang zur Täuschungsthe matik.
Man stößt auf dieses Problem zu einem Zeitpunkt, als plötzlich alles und nichts
als ,Mimikry' bezeichnet wird. Das Wissensobjekt ,Mimikr y' scheint ein Versteckspiel mit den Wissenschaftlern zu spielen. Auf einmal gleicht die Natur
einem Spiegelkabinett, in dem sich die Ähnlichkeit unendlich fortzupflanzen
scheint. Die Einbildungskraft erfindet, was nicht entdeckt werden kann - außer
in ihr selbst.
Ähnlichkeit ist, dies zeigt sich sehr deutlich, ein unsicheres Evidenzkriterium.
Der schlechte Beigeschmack, der dem Mimikryphänomen anhängt, wird ihm
noch bis in die 1940er-Jahre anhaften. So lange wird man die Erforschung der
Anpassung gering schätzen. Symptomatisch dafür ist das Diktum Julian Huxleys.
Für ihn handelt es sich bei der Erforschung der Anpassung um „pure fantasies or
armchair speculations " 166 , welche dem Ansehen der Evolutionsbiologie letztend lich nur schaden .167
164 Nicht alle Biologen sind gegenüber der Einbildungskraft dermaßen skeptisch eingestellt .
In der Festrede anlässlich der Jahressitzung der Kaiserlich -Königlich Zoologisch -Botanischen Gesellschaft in Wien erlaubt sich ihr Vorsitzender Karl Ritter Brunner von Watten wyl, einer der führen Experten auf dem Gebiet der Phasmiden , vom „Spielraum der Phantasie" ausgiebig Gebrauch zu machen. Von Warrenwyl spricht von den „poetischen Gemüthern" der Narurforscher, die sich in der Bewunderung der Natur üben sollen. Der
enthusiasmierte Wissenschaftler muss im Geiste dem künstlerischen Genie gleichen, um
in die Geheimnisse der Natur eingeweiht werden zu können . C[arl] Brunner von Warrenwyl, Ueber die heutige Aufgabe der Naturgeschichte. Eröffnungsrede der 61. Versammlung
Schweiz . Naturforschenden Gesellschaft gehalten im Grossraths-Saale zu Bern am 12 . August
1878, Bern 1878, 7; ders., ,,Über die Hypertelie in der Natur. Festrede der Jahres -Sitzung
der k.k. zoolog.-boran . Gesellschaft", in: Verhandlungen der kaiserlich -königlichen zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wzen 23 (1873), 133-138 , hier 135. Vgl. zur Kritik der
Einbildungskraft: Lorraine Dasron, ,,Angst und Abscheu vor der Einbildungskraft in der
Wissenschaft", in: dies. , Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität,
Frankfurt a.M. 2003, 99-126 .
165 Wallace, Contribu ti ons, 24 f.
79
4.3. Einige wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Adaptat ion
Anpassungskonzepte wie die Mimikry stellen lange Zeit ein Problem für die theoretische Biologie dar. Nicht zuletzt weil sie zugleich erkenntnistheoretische Fragen aufwerfen. Zwar ist unzweifelhaft, dass Adaptationen existieren, aber eine
Unklarheit besteht hinsichtlich der Bestimmung des jeweiligen Merkmals, das für
die Anpassung in Anspruch genommen wird. Welches Merkma l steht für die
Anpassung? Ein ähnliches Problem betrifft das Ausmaß der Adaptation, das festgestellt werden soll. Die Auswahl des einzelnen Merkmals beruht auf einer Entscheidung, die eine Grenze zwischen Adaptation und Nicht -Adaptation zieht. 168
Welche Rolle spielt außerdem das Interesse des Beobachters, der am Ende entscheidet, ob und wie sich ein Organismus an seine Umwelt anpasst?
Unterschieden werden kann zwischen einem strukturalistischen und einem
funktionalistischen Zugang zur Untersuchung der Anpassung. Heikertingers und
166 Huxley, Evolution, 413.
167 Aaron Frankl in Shull, Evolution, New York/ London 1936, 175, ist gar der Meinung, dass
sie als „producrs of fancy" einer unkritischen Epoche (,,uncritical rimes") der biologischen
Forschung entsprungen sind.
168 George Chrisropher Williams schlägt vor, Adaptation als ein Merkmal zu definieren , das
durch die natürliche oder sexuelle Selektion ausgewählt wird. Zuverlässigkeit und Gültigkeit für die gesamte Popularion, Sparsamkeit und Effizienz sind die drei Merkmale der
Adaptation. George Chrisropher Williams, Adaptation and natural selection, Princeron
1966 . Vgl. zur Geschichte des Adaptationsbegriffs : Ran Amundsson, ,,Hisrorical Develop ment of ehe Concepr of Adaptation", in: Adaptation, hrsg. M. R. Lauder, G .V. Rose, San
Oiego 1996, 11-53; Ulrich Stegmann, ,,Die Adaprionismus-Debarre", in: Philosophie der
Biologie, hrsg . Krohs , Toepfer, 287-303 . Williams Erklärung repräsentiert einen ultimativen Lösungsvorschlag . Ultimative Erklärungsversuche argumentieren funktionalistisch
und binden die Naturphänomene in einen theoretischen Kontext ein, den im vorliegenden
Fall die (natürliche oder sexuelle) Selektion abgibc. Der ultimativen Erklärung stehe die
proximative Erklärung zur Seite. Eine proximati ve Erklärung könnte beispielswe ise die
Farbe eines Tieres mithilfe der hormonregulierten Reaktion auf die Tageslänge und die
Temperatur begründen. Ein anderer Erklärungstypus ist der teleologische, der auf einen
externen Zweck hinweise. Ihm zufolge müsste die Mimikryfarbe einem äußeren Zweck
dienen, und zwar dem der Tarnung. Davon grenzt sich das sogenannte celeonomische Erklärungsmuster ab, indem es von einem Programm der Mimikry ausgeht, also, mir Kant
gesprochen, von einer inneren Zweckmäßigkeic. Vgl. zum Begriff der Teleonomie : Colin S.
Pirrendrigh, ,,Adaptation, Natural Selecrion, and Behavior", in: Behavior and Evo luti on,
hrsg . Anne Roe, George Gaylord Simpson , New Haven, London 1958, 390-416. Bei allen
vier Erklärungsmöglichkeiten - ultimativ, proximariv, teleologisch, releonomisch - besteht
nichtsdestotrotz eine Restunklarheit darüber , ob hier eine Adaptation an einen aktuellen
oder früheren Zustand, die sich erhalren hat, vorliegt.
80
INSEKTENMIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE DER MIMIKRYFORSCHUNG
Wasmanns Mimikrykonzepte sind funktionalistische Bestimmungen eines Phä nomens . Sie schreiben der Mimikry Funktion und Ziel zu. Das Ziel ist das „Prin zip des sich verbergen wollens [sic]"169 , wenngleich sie in der Art und Weise, wie
das Tier es umsetzt, auseinander gehen . Heikertinger unterscheidet zwischen
Mimikry und Mimese, um zwischen aposematischer" Abschreckung und krypti scher Tarnung differenzieren zu können. Wie gezeigt wurde, hält Wasmann diese
Unterscheidung für überflüssig. 170 Die theoretische Auseinandersetzung der beiden Mimikryforscher macht auf die Probleme aufmerksam, die eine funktionalis tische Perspektive auf Anpassungsphänomene mit sich bringt . Sie betreffen zuvörderst den Zweck, dem die Funktion untergeordnet werden soll. Ihn festzulegen,
bedarf einer vorab getroffenen Einigung unter Forschern. Die damit zum Aus druck gebrachten Auffassungen zum Organismus können jedoch unterschiedlich
ausfallen.
Stephan J. Gould und Richard C. Lewomin haben dieses wissenschaftstheore tische Problem eingehend untersucht. Sie sprechen kritisch von ein em Panglossia nismus, womit sie jene Position bezeichnen, die funktionalistische über struktura listisch e Faktoren stellen. Doktor Panglos ist der Optimist aus Voltaires Candide,
der an die prästabilierte Weltvernunft der Schöpfung glaubt. Als Vertreter der
Leibnizschen Philosophie erkennt er hinter jedem Zufall einen höheren Sinn, der
dem beschränkten menschlichen Subjekt allerdings verschlossen ist. In ihrem Beitrag kritisieren Gould und Lewomin den Funktionalismus, wie er beispielsweise
in der Soziobiologie vorherrscht. Eine funktionalistische Perspekt ive lässt die
strukturalistischen, das heißt die architektonischen und omo - wie phylogeneti schen Randbedingungen (,,constraints") außer Acht. 171 Inzwi schen hat sich ein
Kompromiss zwischen den Parteien der Funk tionalisten und Strukturalisten herausgebildet, bei dem sowohl die Randphänom ene der Anpassung als auch die phy logenetischen Muster berücksichtigt werden. 172
Täuschung und Wahrheit, Schein und Sein, Wahnsinn und Vernunft - dies sind
auch Kernprobleme der philosophischen Erkenntnistheorie. An dieser Stelle ist auf
die erkenntnistheoretische Dimension der Mimikry -Krise einzugehen. Es ließe sich
eine hilfreiche Analogie zwischen der Krise der Mimikryforschung und jener
Erkenntnis - und Wahrnehmungskrise ziehen, die im Zentrum von Immanuel
Kants Transzendemalphilosophie steht. Die die Mimikryforschung als Wunder und Gespensterglauben denunzierende Kritik weckt Reminiszenzen an dessen Ver-
urreilung der „wild este[n] Hirngespinste des ärgsten Schwärmers" .173 Unter den
Mimikryforsch ern finden sich zweifellos einige Schwärm er, die über eine allzu
lebend ige Einbildungskraft im Sinne Kants verfügen. Die Ausgangsfragestellung
der Kamischen Philosophie kann wissenschaftsphilosophisch fruchtbar gemache
werden, um den epistemologischen Aspekt der Mimikrykrise genauer bestimmen
zu können. Gibt es eine Mimikry? Mit Kam gesprochen: Existiert eine Mimikry an
sich? Diese Frage gilt in gewisser Hinsicht für jedes biologische Phänomen, aber was
die Mimikry aus diesen heraushebt, ist, dass es sich um eine besonders intrikate
Wahrnehmun gstäuschung handele, da nicht nur Tiere getäuscht werden, sondern
auch die Forscher, die sie beobachtenAber Krisen sind nicht ausschließlich destruk. tiv. Sie können auch produktiv wirken . Während sich viele Wissenschaftler dagegen
wehren, die Fantasie als Medium der Erkenntnis einzusetzen, machen andere von
ihr regen Gebrauch. Einer ist von ihn en ist Roger Caillois.
169 Wasmann, Ameisenmimikry, 23.
170 Vgl. Kapitel 4 .1.
171 Stephan Jay Gould, Richard C. Lewontin, ,,The Spandrels of San M arco and ehe Panglossian Paradigm. A Cricique of the Adaptionist Programme", Proceedings of the Royal Society
of London B 205 (1979), 58 1-598 . Eine polemische Entgegnung auf den Beitrag von Gould
und Lewontin ist zu finden in: Dennett, Darwins Dangerous ldea, 262 -312.
172 Die Auseinandersetzung zwischen Funktionalisten und Strukturalisten geht bereits auf
die Zeit vor Darwin zurück . Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen den prädarwinistischen Adaptionisten George Cuvier und Geoffroy Sc. Hilaire: Toby A. Appel, The Geojf
roy-Cuvier Debate. French Biology in the Decades befare Darwin, New York, 1987.
Si
173 Immanuel Kant, Träume eines Geisterseher, erläutert durch Träume der JV!etaphysik, in:
ders., Kants gesammelte Schriften, Berlin 1907, II, 315-374, hier 365. Kant setzt sich mit der
von ihm als Irrlehre verurteilten Philosophie Emmanuel Swedenborgs auseinander.
5. Surrealistische Insektenkunde (Roger Caillois)
Ein Mimikryforscher im strengen Sinne ist der Anthropologe und Kulturphilo soph Roger Caillois nicht. Wie die lamarckisti schen Biologen, die er zitiert und
deren Annahmen er teilt, hält er es'für erw iesen , dass die Mimikry nutzlos ist, weil
die Mimikryinsekten ung enießbar sind, sodass ein begründeter Zweifel h in sichtlich ihrer Schutzfunktion besteht.
Die Tendenz der Psychologisierung der Mimikry tritt in seinem 1935 erschienen Artikel „Mimetisme et psychastenie legendaire" in aller Klarheit zutage. i 74
Bereits die im Titel angeführten Begriffe ,mimetisme' und ,psychastenie' weisen auf
die Intention einer Vermischung von Biologie und Psychologie hin, die weit über
das Anliegen der Evolutionspsychologie hinausgeht. t 75 Ihre Synthese zielt darauf
ab, die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens von innen aufzusprengen. In diesem Text, welcher im Journal Minotaure, das der surrealistischen Bewegung nahe
steht, erscheint, befasst sich Caillois zum ersten Mal mit dem Mimikryphäno -
174 Caillois, ,,Mimetisme et psychasthenie legendaire", 4 -10.
175 Die Verlängerung und Überhöhung ins Mythische hat seiner Zeit kritische Stimmen auf
den Plan gerufen. Theodor W. Adorno mahnt als Erster die Gefahr der Überschreitung
disziplinärer Grenzen auf der Basis von spekulativen Assoziationen an. In der Studie zur
Gottesanbeterin zeigt sich die „Tendenz, die gemeinhin durch wissenschaftliche Ar beitsteilung abgetrennten Gebiete der Biologie, der Mythenforschung und der Psychologie in
Beziehung zu setzen und an einem Modell ihre bruchlose Kontinuität zu entwickeln."
Theodor W . Adorno, ,,Roger Caillo is, La Mante religieuse", in: ders ., Gesammelte Schrif
ten, XX.1, 229 f. Noch ablehnender zeigt sich Walter Benjamin. Caillois' Mythenanalyse,
ein „schlammige[r] breite[r] Strom aus hochgelegenen Quellen", ist mythologisch durch setzt und verkommr nach Benjamin in einer bürgerlichen N aturidolatrie, die faschistoiden Tendenzen Vorschub leistet. Walter Benjamin, GesammelteSchriften, hrsg. RolfTiedemann, Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung v. Theodor W . Adorno und
Gershom Scholem , Frankfurt a.M. 1991, III, 549 f., hier 550. Benjamins Mythoskritik
criffr nicht nur Caillois allein, sie betrifft auch dessen intellektuelles Umfeld : das von
Georges Bataille und Caillois gegründeten Collegedes Sociologie,an dessen Treffen er während seines Pariser Exils teilnimmt . Vgl. Tyrus Miller, ,,Mimesis, Mimicry, and Critical
Theory in Exile : Walter Benjamin's Approach to rhe College de Sociologie", in : Borders,
Exiles, Diasporas, hrsg . Marie-Denise Shelron, Elazar Barkan , Stanford 1998, 123-133 .
84
INSEKTENMIMIKRY
men. 176 Derart kühn und experimentell sind die hier dargelegten Reflexionen,
dass er sich später von ihnen distanzieren wird. 177
Caillois' Kernthese lautet: Mimikry ist eine Form der Psychose, bei der eine Störung der Selbst- und Fremdwahrnehmung vorliegt . Von entscheidender Bedeutung
ist Caillois' Umkehrung des ,Täuschungsparad igmas': Während bislang nur von der
Täuschun g eines (dritten) Beobachters ausgegangen wird, ist es nun das Insekt selbst,
das einer Selbsttäuschung anheim fällt, sobald es sich als ein anderes Insekt oder als
ein Blatt wahrnimmt. In seiner Wahrnehmung wird es eins mi't seiner Umwelt .
Menschen, die unter einer Psychose leiden, zeichnen sich durch dasselbe Unvermö gen aus, ihr Selbst von ihrer Umwelt zu unterscheiden.
Caillois gebraucht den Begriff der ,Psychasthe nie', um die Störung der Selbstwahrnehmung spezifizieren zu könn en. Der von dem Psychologen Pierre Janet
übernommene Begriff der ,Psychasthenie' beschreibt ein schizophrenes Depersonalisationsphänomen, das sich durch einen Ausfall der differenzierten Raumwahr nehmung auszeichnet. In den Worten Cailloi s' handelt es sich um einen Prozeß der
Depersonalisi eru ng im Zuge einer Assimilation an den Raum (,,la depersonnalisation par assimilation a l'espace"). 178 Wenn Caillois feststellt, dass Mimikry die
Assimilation an das Mili eu (,,l'assimilation au milieu") und die Versuchun g durch
den Raum (,,tentation de l'espace") ist 179 , dann ist damit gemeint, dass bei der
Mimikry keine Grenze mehr zwischen Körper und Umwelt gezogen werden
kann. 180 Infolgedessen kann das Subjekt seinen eigenen Standort im Raum nicht
176 In zwei unterschiedlichen Phasen setzt sich Caillois mir der Mimikry auseinander . Er integriert den erweiterten Text von „Mimetisme er psychastenie legendaire" (1935) in seine
drei Jahre später erscheinende mythologische Abhandlung Le Mythe et l'homme (1938). Es
tritt eine fast zwanzig Jahre währende Pause ein, bis er das Thema in Lesjeux et les hommes
(1958) und Meduse et C' (1960) wieder aufgreift. Roger Caillois, Le Mythe et l'homme, Paris 6 1958, 100-143; ders ., Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, Paris 1958; ders.,
Meduse et C', Paris 1960. Folgende deuts che Übersetzungen werden herangezogen : Roger
Caillois, ,,Mimese und legendäre Psychasthenie", in: ders., Meduse & C', übersetzt von
Peter Geble, Berlin 2007, 25-44; ders., Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch,
Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien 1982. ,Mime risme' wird im vorliegenden Text als ,Mimi kr y' und nicht als ,M imese' übersetzt. Peter Geble behält aus der Perspektive der gegenwärtigen nacurwissenschafclichen Forschung besehen Recht, wenn er mimetisme mit dem
fachlich korrekten Terminus ,Mimese' übersetzt, da Caillois sich viel mehr für sie als für
die eigencliche (Batessche) Mimikry interessiert. Sehr unwahrscheinlich aber ist, dass
Caillois Mimikry und Mimese dem Begriff und der Sache nach unterscheidet. Aus Caillo is' Text wird nicht ersichtlich, dass er sich ihres begrifflichen und konzeptionellen Unrerschieds bewusst ist. Dagegen spricht außerdem, dass er in Les jeux et les hommes das französische ,mimetisme ' nicht übersetzt, dafür aber den englischen Terminus ,mimicry'beibehält. Adorno, einer der Leser Caillois', verwendet und übersetzt ,mimetisme' als ,Mimikry' .
Adorno, Dialektik der Aufklärung, 204.
177 Caillois, Die Spiele und die Menschen, 30. Vgl. Kapitel 8.9.
178 Ders ., ,,Mimetisme et psychasrhenie legendaire", hier 9.
179 Ebd., 8.
180 Vgl. Jessica Nirsche, ,,Spiele mir der Sichtbarkeit. Mimetisme und mimetisches Vermögen
nach Roger Caillois und Walter Benjamin ", in: Mimikry, hrsg. Becker, u.a., 74-91, hier 77 f.
ZUR W1SSENSCHAFTSGESCHICHTE
DER M!MIKRYFORSCHUNG
85
mehr verorten, weil es aus dem wahrnehmungspsychologischen Koordinatensystem herausgefallen ist. Es ist selbst zum Raum geworden, in dem es sich auflöst.
Das Wahrnehmungssubjekt dezentralisiert sich, indem es sich halluzinierend auf
der Ebene der Objekte projiziert, wodurch die Unterscheidung von Innen und
Außen, Selbst und Umwelt sowie von Realem und Ima ginärem verhindert wird. 181
Neben Janet stützt sich Caillois auf Eugene Minkowskis Überlegungen zur hallu zinatorischen Raumerfahrung. 182 Das Panikgefühl und die Spaltungserfahrung
des Schizophrenen drückt Caillois mit Minkowski wie folgt aus: ,,Ich weiß, wo ich
bin, aber ich fühle mich nicht an dem Ort, an dem ich mich befinde." 183 Diese psychotische Wahrnehmungsstörung ist nur unter Menschen bekannt. Caillois überträgt das Krankheitsbild auf die Insekten, die sich in der Mimikry angeblich nicht
mehr von ihrer Umwelt unterscheiden können. 184
Ähnlich wie die bereits erwähnten Suggestionstheoretiker unter den Psycholamarckisten, die Mimikryinsek te n zu hysterischen Tieren und zu den evolutionären Urahnen des Hysterikers erklären, entwirft Caillois eine Evolutions psychologie der Psychose, an deren Anfang die Mimikryinsekten stehen: Die
Mimikryinsekten nehmen sich selbst als ein Blatt wahr, weil sie ihren eigenen
Körper nicht von ihrer Umwelt unterscheiden können.
In diesem Text geht es ganz offensichtlich mehr als nur um eine Mimikrytheo rie. Es wird Versuch unternommen, eine Theorie der Entsubjektivierung auf der
Grundlage von biologischen Konzepten, die idiosynkratisch aus- und umgedeutet
werden, zu entwerfen. Die Auflösung des Subjekts, die Depersonalisierung im
Raum und durch ihn, wird als ein Eintauchen in den Raum verstanden. Es tritt
ein assimilatorischer ,Immersionseffekt' ein, bei dem sich das Subjekt im Bild auflöst.
181 Pierre Janet, L'automatisme psychologique, Paris 1894; ders ., Les obsessionset la psychasthenie,
Paris 1903.
182 Eugene Minkowski, Le temps vecu. Etudes phenomenoiogiques et psychopathologiques, Paris
1933, hier 382-398 (,,Le probleme des hallucinarions er le probleme de l'espace").
183 Ders ., ,,Le probleme du temps en psychopathologie ", in : Recherchesphilosophiques (19321933), 239. Zitiert nach: Caillois, ,,Mimese und legendäre Psychasthenie", 36 .
184 Die Differenz von Organismus und Umwelt interessiert etwa zur selben Zeit auch Martin
Heidegger. Er besteht auf der strikten Trennung von Mensch - und Tiersein. Das Tier
zeichnet sich nach Heidegger durch eine Weltarmut aus, weil es im Gegensatz zum Men schen völlig in seiner Umwelt aufgeht. Er stützt sich bei seinen Überlegungen auf die Un tersuchungen Jakob von Uexkülls. Uexküll unterscheidet zwischen einer objektiven Um gebung, die alle Lebewesen teilen, und der Umwelt, die eine individuelle Wahrnehmungsund Lebenswelt beinhaltet. Vgl. zu Heideggers Lektüre von Jakob von Uexkülls Umwelt
und Innenwelt der Tiere (1909) und Theoretische Biologie (1920): Martin Heidegger, Die
Grundbegriffe der Metaphysik, Welt - Endlichkeit - Einsamkeit (Vorlesungen 1923-1944),
in: ders. , Gesamtausgabe, hrsg. Friedrich -Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1983,
29/ 30, 2. Abt., 311-333, 379-385. Vgl. Agamben, Das Offene, 54; Anne Harringron, Die
Suche Ganzheit . Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheits/ehren . Vom Kaiserreich
bis zur New -Age-Bewegung, Reinbeck b. Hamburg 2002, bes. 113.
86
INSEKTENMIMIKR Y
ZUR WISSEN SCHAFTSGESC HICH TE D ER MIM!KRYFO RSCHUNG
Charakteristisch für diese Raumerfahrung ist das Gefühl der Angst, genauer:
der Panik. ,,In Panik vorm Tod haben sie Mimikry an den Tod geübt ." 185In dieser
kurzen wie prägnanten Aussage erfasst der Caillois ansonsten nicht wohlg esinnte
Adorno den inhaltlichen Kern des Textes mit großer intuitiver Gewissheit.
Obwohl Caillois die Panik nicht eigens in den Vordergrund stellt, kann die Welt
des Insekts als eine ,panische Welt' beschrieben werden: Roland Barthes definiert
panische Situationen als „Situationen ohne Rest", in welcher das Subjekt „zur Beute des Imaginären" wird: ,,Ich habe mich mit solcher Gewalt in den And eren pro jiziert, daß ich mir, wenn er mir verloren geht, nicht mehr herauszuhelfen weiß,
mich nicht mehr erholen kann: ich bin für immer verloren." 186Barthes leitet die
Etymologie von ,Panik'/,panisch' aus der antiken Mythologie ab: ,,[P]anisch hängt
mit dem Gott Pan zusammen." 187
in das Vorstellungsbild und schließlich die Verwand lung des Körpers in das Bild.
Der Außenraum wird in das Körperschema integr iert.
Caillois ' surreale Mimikrytheorie ist die Steigerung der Transformationsbio logie Lamarcks. Gleichzeitig kombiniert er die neo - und psycholamarckist ischen
Mimikrytheorien miteinander: Das Insekt verwandelt sich aufgrund einer Wirklichkeit gewordenen Wahnvorstellung in ein Blatt . Seine Deutung der Mimikry als
Psychasthenie findet ihre exakte Entsprechung in dem bereits erwähnten „Vergleich [der Mimikr y] mit der Bewusstseinslage der Menschen in Hysterie und
Trance "t9o bei Hartmann. Hartmann ist der Meinung, dass das Tier in ein „trancehaft-mediale[s ] Bewusstsein" eintauc ht, was einen unmittelbaren Effekt nach
sich zieht. Die es „umgebenden Farben und Gestalten [werden] unmittelba r leibhaft aus[ge]prägt ".19l Innerhalb der es „umflutenden Licht- und Farbenwelt "
kommt dem Organismus die „Möglichkeit der Distanzierung" abhanden, sodass
sein „Ich-Bewußtsein" zum Spiegel seiner Umwelt wird, dessen Bild es reflektiert.192
Bei dem Immersionseffekt tritt der Körper in das Bild ein und wird zum Bild;
im Gegenzug erhält das Bild einen (dreidimensionalen) Körper. Der Körper ist das
Bild, das Bild ist der Körper. Es geht bei der Mimikry um das Bildwerden des Körpers und die Reinkarnation des Bildes im Körper. Wofür sich Caillois intere ssiert ,
ist die Frage, wie ein Bild auf den Körper wirkt, das heißt, wie es dessen Ent w icklung und Wachstum beeinflusst.
In der erweiterten Fassung von „Mimetisme er psychasthenie legendai re", die er
in Le Mythe et l'homme (1938) aufnimmt, ergänzt Caillois seine Ausführungen
um eine medientechnologische Komponente . Um den autoplastischen Prozess
erklären zu können, entwirft Caillois eine biologische Theorie der fotografischen
Reproduktion, die starke Übereinstimmungen mit den bereits besprochenen neo lamarckistischen Theorien zur ,Farbfotografie ' aufweist .t93 So spricht er in Bezug
auf die Mimikr y von einer ,dreidi mensionalen ' skulpturalen Foto grafie (,,photo graphie-sculpture ")l94. Dabei beruft er sich sowohl aufJacques Loebs Konzept der
Der Hinweis auf Pan ist an dieser Stelle sehr hilfreich, da er eine Brücke zu
Mythen schlägt, die im Hintergrund von Caillois' Gedankengang steht. In der
antiken Mythologie drückt sich die ekstatische Verschmelzungs - und Einheitsfan tasie unter anderem im Wesen dieser Gotth eit aus. Derlei Verschmelzun gsszenari en haben sich überlebt und finden sich in der Literatur und Malerei zuhauf wieder.
Caillois selbst bezieht sich auf Gustave Flauberts La Tentation de Saint Antoine, in
der eine ekstatische Vision geschildert wird, in der der Heilige Antonius in der
Schöpfung aufgeht. Weitere anschauliche Beispiele liefern die Gemälde Salvador
Dalis, wo menschliche, tierische und pflanzliche Körper miteinander verschmel zen. iss
An dieser Stelle ist auf eine wichtige Differenz zwischen der Insek ten- und
Humanmimikry hinzuweisen, die in Caillois' Text undeutlich bleibt. Die Psychasthenie (beim Menschen) ist eine Wahnvorstellung. Sie entspricht keiner Wirk lichkeit. Niemals wird der Mensch zum Raum, sein Körper kann sich nicht in
seine Umwelt verwandeln . Nicht die Morphologie, sondern nur die Wahrneh mung verändert sich.
Die Selbstwahrnehmung des Ins ekts soll dagegen die plastische Nachbildung
des Körpers nach sich ziehen. Caillois versucht auf diese Weise darzulegen, wie
psychasth enische Wahnvorstellung und organismische Plastizität zusamm enhä ngen können. In der Halluzination nimmt das Insekt die Umwelt als Erwei teru ng
des Körpers wahr, da die Körpergrenze zwischen Innen - und Außenraum aufhört
zu existieren. Die Form eines Zweiges wird Teil des Körperschemas. 189 (Abb. 11)
Deshalb glaubt der Organismus sich imstande, dieses pflanzenähnliche Körperteil
reproduzi eren zu können. Am Anfang stehe also die halluzinatorische Identifikation, bei der eigener Körper und Umwelt ungeschieden sind; es folgt das Eingehen
185 Adorno, Gesammelte Schriften, X.l, 327. So Adorno über die Mimikry der Murmeltiere,
die allerdings, anders als er verm utet, keine solche betreiben .
186 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M. 3 1984.
187 Ebd.
188 Caillois , Mythe, 141.
189 Auf der Fotografie (Abb. 11) ist das Phyllium bioculatum zu sehen.
190
191
192
193
87
Hartmann, Erde und Kosmos im Leben des Menschen, 335.
Ebd.
Ebd.
Vgl. das Kapitel 3.2 . ,,Natura pictrix" schreibt Caillois in Bezug auf die Mimikr y. Ca illois,
Meduse et C ', 2007 , 72. Nach Caillois ist die Natur mit einer Künstlerin zu vergleichen,
die mit ihrem Seife die Mimikrymuscer zeichnet. Diese Vorstellung begleitet die M imikryforschung, wie bereits geschildert wurde, seit ihren Anfängen. Schon Baces bediene sich
der Metapher des Fotografischen. Bares, The Naturalist on the River Amazons, 365 : ,,Ic may
be said, cherefore, chat on chese expanded membranes Nature wrires, as on a cablec, ehe
story of rhe modificarions of species, so cruly do all changes of ehe organisation register
chemselves chereon." Vgl. zur skulpcuralen Fotogra fie bei Caillois : Nicsche, ,,Spiele mit der
Sichtbarkeit ", 75.
194 Caillois, Myth e, 120.
88
INSEKTEN MIMIKRY
ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
196 umformt 197, als auch auf
„telephotographie" 195 , die er begrifflich zu „teleplastie"
Felix le Dantecs Konzept der chromatischen Mimikry. 198 Die Ins ekten foto grafieren ihre Umwelt, ,entwickeln' die Fotografien mit ihren eigenen Körpern und iden tifizieren sich mit der Umwelt.
Caillois' Mimikrytheorie hat sicherlich mehr von einer philosophischen Speku lation als von einer naturwiss enschaftlichen Theorie . Aus wissenschaftsgeschicht licher Perspektive betrachtet, begehre Caillois' Theorie gegen die darwinistische
Mimikryforschung und gegen jene Wissenschaftsideale auf, die ·während der Krise der Mimikryforschung für den Ausschluss der Einbildungskraft aus der wissen schaftlichen Forschung plädieren. 199
,,Die Mimikry ist eine in ihrem Kern rätselhafte Erscheinung und hat infolge dessen zu zahllosen Kontroversen Anlass gegeben ."20 Caillois kennt die Arbeiten
Franz Heikertingers, einem der vehementesten Opponenten der Mimikryhypo these, der die Existenz der Mimikry abstreitet. 201 Während die Wissenschaft das
„Spiel der Phantasie" 202 der sogenannten „Mimikryfanatiker" 203 mit Verachtung
strafe, bemüht sich Caillois um die Rehabilitierung der Einbildungskraft.
Bei seiner Wertschätzung der Einbildungskraft hängt er ganz offensichtlich der
romantischen Idee nach, dass der Naturwissenschaftler die Natur erst dann vollständig zu begreifen imstande ist, wenn er sie mit den Aug en eines Künstlers
wahrnimmt. 204
Caillois' ästhetisch -psychologische Mimikrytheorie ist ein Produkt der europä ischen Avantgarde, die den letzten Versuch einer Synthese der zwei Kulturen von
Geistes - und Naturwissenschaften unternimmt. Vertreter dieser Bewegung stam men aus der Gruppe der Surrealisten um Andre Breton und aus dem Collegede
Sociologie,zu dessen Begründern Caillois gehört. 205 Die hysterische Insek tenm i-
DER MIM IKRYFORSCHUNG
89
°
195 Ebd. 105. Loeb, ,,Die Bedeutung der Anpassung der Fische an den Untergrund für die
Auffassung des Mechanismus des Sehens".
196 Caillois, Mythe, 120.
197 Vgl. Caillois, ,,Mimese und legendäre Psychasthenie", 40 (Anmerk. 6 von Peter Berz).
198 Dantec, Lamarckiens et Darwiniens, hier 143; Pouchet, Des changements de colorations sous
l'i nfl uence des nerfi . Vgl. das Kapitel 3.2.
199 Vgl. zur Krise der Mimikryforschung das Kapitel 4.
200 Caillois, Meduse &C', 89. [Ü bersetzung v. K.C.]
201 Vgl. zur Krise der Einbildungskraft das Kapitel 4.2 .
202 Piepers, Mimicry, Selektion, Darwinismus, 12.
203 Hauser, Allerhand Schauspieler in der Tierwelt, 14.
204 Bernhard Fabian, ,,Der Naturwissenschaftler als Originalgenie", in : Europäische Aufklä rung. Festschrift für Herbert Dieckmann , hrsg . Hugo Friedrich, Fritz Schalk, München
1967, 47-68.
205 Im Zuge einer stärkeren Orientierung an den Na tur wissenschaften distanziert sich Caillo is allmählich vom Surrealismus, was schließlich zur Trennung von Breton führt, dem er
einen Mangel an wissenschaftlicher Methodik und Akkuratheit vorwirft. Caillois' Inter esse für die Arbeiten Gaston Bachelards erklärt sich aus der wachsenden Distanz zur surrealistischen Bewegung. Vgl. Roger Caillois, The Edge of Surrealism. A Roger Caillois Reader, hrsg. Claudine Frank, Durham/ London 2003 , 59. Die intellektuelle Prägung durch
Abb. 11: Roger Caillois, ,,Mimetisme et psychasthenie legendaire" ,
Le Minotaure 7 (1935), 4- 10, 5.
mikry entsprich t dem Muster psychischer Automatismen, die die Surrealisten in
ihren Bann schlagen. 206
Die Mimikry ist eines der „ungelöste(n] Rätsel" 207 in der Natur. Die Korallen Im itat ionen von Pflanzen auf dem Great Barrier Riff und der Kaisermantel in
einer Grotte in der Nähe von Montpellie r, in der quarzhaltige Wände ein Schau spiel natürlicher Schnitzereien bieten, gelten Breton als Beispiele für die Plastizität
der M imikry, die „auf ewig der Kunst des Bildhauers spottec." 208 Sehr treffend
äußert sich Rosalind Krauss dazu: ,,Mimikry ist also ein Beispiel für die natü rliche
den Surrealismus bleibt jedoch unverkennbar, etwa wenn er die „extreme Ausdifferenzie rung der Wissenschaft" als eine negative Entwicklung beschreibt. Caillois, Medu se & C',
50. Vgl. zum College de Sociologie: Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge . Soziologiegeschichte des College de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006 , 228 .
206 Andre Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbeck b. Hamburg 102001 , 26 f.: ,,SURREALISMUS , Subst., m . - Reiner psychischer Automat ismus, durch den man mü nd lich
oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrü cken suche. Denk -Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung . ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus
beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter
Assoziationsformen , an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens .
Er ziele auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will
sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihte Stelle setzen. "
207 Caillois, Meduse et C', 60
208 Ebd.
90
INSEKTENMIMIKRY
Produktion von Zeich en, für ein Vorkommnis in der Natur, das sich selbst in die
Repräsentation eines anderen verkehrt ."209
Es sind die Bizarrerien der Natur - und dazu zählt die Mimikry zweifelsohne - ,
die Caillois im Besond eren faszinieren. Diese Naturphänom ene scheinen
zunächst überhaupt keine Gemeinsamkeit zu haben[ ... ]. In Zusammenhängen, die
sich kaum miteinander vergleichen lassen, vereinen sie ganz unerwartet Einzelaspekte, die selbst wiederum nur die Wirkungen eines gleichen Gesetzes, die Folgen
eines gleichen Prinzips, die Antworten auf eine gleiche Herausforderung sind.2 IO
In der spannungsgesättigten Konstellation zufällig aufgefundener Objekte blitzt
ein „polyval entes Wissen" 211 auf. Caillois hat diese Üb erkreuzung der Wissensfel der programmatisch als das Zusammenwirken „diagonale[r] Wissens chaften "212
bezeichn et , in denen die Differenzen zwischen den Natur - und Humanwissen schaften aufgehoben werden sollen. In seinen Gedanken zur Mimikry der 1930erJ ahre anthropomorphisiert und psychologisiert Caillois das Insekt. In seiner anthropologischen Arbeit Les jeux et les hommes aus dem Jahre 1958 wird er
umgekehrt vorgehen und den Menschen theriomorphisieren. 213
209 Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1989, 117.
Diesen Hinweisverdanke ich Ulrike Hanstein.
210
211
212
213
MeduseetC ', 51.
Ebd., 51 f.
Ebd., 52 .
Vgl. Kapitel 8.9.
C.
POETIK DER EVOLUTION
Wissenstransfer als Wissensproduktion
6. Vom Insekt zum Menschen
Wie wird um 1900 das zoologische Konzept der Insektenmimikry anthropomor phisiert, genauer: ,anthropo -logisiert'? Was sind die diskursiven Bedingungen, die
einerseits· die Idee einer Mimikry des Menschen zulassen und ihr andererseits eine
gewisse Plausibilität verleihen? Wie wird der Sprung von der Natur zur Kultur,
· vom Insekt zum M enschen vorber eitet?
Die Funktion des szientistisch en Mythos der Humanmimikry besteht in der
Erfindung eines neuen Mimikrymenschen: des homo adaptivus. Wie konstruiert
man um 1900 das Bild eines Menschen, der sich physisch wie physisch an seine
Umwelt anähnelt? Diese Fragen erhalten ihre besondere Schwere durch den
Umstand, dass es eine universale Wissenschaft des Menschen nicht geben kann. t
Denn der Mensch ist ein unscharfes, ein sich dem Wissen letztendlich entziehendes. und verweigerndes Wissensobj ekt. 2
Was ist die Logik des Mythos? Das mythische Denken ist eine synkretistische
„Denkgewohnheit". 3 Im Unterschied zum empirischen Wissen ist der Mythos
insofern assoziativer, als bei der Verknüpfung epistemischer Elemente auf die
genaue Beobachtung und die experimentelle Rückversicherung verzichtet werden
Vgl. zu diesem Problem: Christian Brandt , Florence Vienne, ,,Einleitung: Die Geschichte
des Wissens vorn Menschen - hisroriografische Anmerkungen", in: Wissensobjekt Mensch.
Humanwissenschaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert, hrsg. dies., Berlin 2008 , 9-30. Vgl.
zu Begriff und Konzept der Humanwissenschaften: Michel Foucault, Les mots et !es choses.
Une archaeologie des sciences humaines, Paris 1966; Georges Guisdorf, Les sciences humaines
et la pensee occidentale, Paris 1966 .
2 Wäre es nicht denkbar, dass die Idee des ,Menschen' selbst ein Mythos wäre, und zwar einer, den die Wissenschaften selbst hervorbringen' Eine Beantwortung dieser Frage, die die
Anthropologie und die Humanwissenschaften betrifft, kann die vorliegende Untersuchung nicht leisten. Es sei lediglich an Hegels bekannte Beschreibung des Menschen als ein
Geschöpf des Denkens, das sich immer wieder in die Dunkelheit des Nichtwissens zurück zieht, erinnere, die das Problem einer (negativen) Anthropologie auf eine sehr anschauliche
Weise verdeutliche. .,Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält - ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm
gerade einfällt - , oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies die Nacht, das Innre der Natur,
das hier existiere - reines Selbst, in phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum
Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf - dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwindet ebenso - Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins
Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird - es hängt die Nacht der Welt hier
einem entgegen." Georg Wilhelm Friedrich Hegel.Jenaer Systementwürfe III Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskripte zur Realphilosophie und Philosophie
des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/ 06) , Hamburg, 1976, 187.
3 Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987.
94
POETIK DER EVOLUTION
kann. Das Wissen der Humanmimikry beruht zuvörderst auf der Kombination
und Verkettung heterogener Wissenselemente. Die interessanten Aspekte hin sichtlich der Logik der Zuweisungen sind dabei auf der Horizontalen , der Ebene
des Diskurses, situiert, wo sich die, mit Jean- Frans:ois Lyotard gesprochen, ,Verkettung' heterogener Aussagen ereignet. Verkettung ist d·as Pro blem der Imerdiskur sivität par excellence, da Übersetzungen von Wissenselementen nicht linear verlaufen können.
Ein Satz ,geschieht'. Wie läßt er sich verketten? Mit ihrer Regel liefert eine Diskurs an einen Komplex mögl icher Sätze, und jeder von ihnen gehört einem Satz-Regel system an. Eine andere Diskursart aber liefert einen Komplex anderer möglicher
Sätze. Aufgrund ihrer Ungleichanigkeit besteht ein Widerstreit zwischen diesen
Komplexen (oder zwischen den Diskursarten, von denen sie ins Spiel gebracht
werden) .4
Die Kombination oder bricolageist ein Merkmal des mythischen Denkens. An die
Stelle der Dinge der Logik tritt die Logik der Wörter. Gedanken finden im Mythos
schneller zueinander als Begriffe und Dinge.
Der Mythos schlägt ein Narrativ vor, das erzählt, wie aus der Mimikry im Laufe
der Evolution die Mimesis hervorgeht. Wie bereits ausgeführt wurde, handelt es sich
bei Lamarcks Evolutionstheorie um keine Deszendenztheorie im engeren Sinne, weil
ihr zufolge eine Art nicht aus einer and eren Art abstammt. 5 Trotzdem wird die Idee
der Phylogenese von Lamarcks Nachfolgern übernommen. 6 Das phylogenetische
Phantasma konstituiert ein Narrativ, das eine mythopoetische Funktion erfüllt:
einen imaginären Ursprung der Mimesis zu konstruieren.7 In der Terminologie der
Psychoanalysehandelt es sich bei dem Evolutionsmythos um ein Ursprungsphantas ma, weil mit der Vorstellung einer „Entwicklung der mimicry unter Menschen" 8 das
Bedürfnis der Libidosciendi nach Aufklärung über den Ursprung der menschlichen
Anpassung befriedigt wird. ,,In der Phantasie", so Laplance und Pontalis, ,,richtet
sich das Subjekt nämlich nicht auf das Objekt oder auf dessen Zeichen, sondern es
4 Jean-Fran~ois Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, 10 f. [Hv. v. K.C.] ,,Ein Satz,
selbst der gewöhnlichste, wird nach einer Gruppe von Regeln gebildet (seinem Regelsystem [regime]). Es gibt mehrere Regelsysteme von Sätzen. Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei Sätze ungleichartiger, heterogener Regelsysteme lassen sich nicht ineinander übersetzen. Sie können im Hinblick auf einen durch eine Diskursarc festgelegten Zweck miteinander verkettet werden." (ebd.)
5 Auch unterscheiden Lamarck und seine Nachfolger nicht streng zwischen Onco- und Phylogenese, sondern vermuten dahinter vielmehr denselben Mechanismus . Vgl. Kapitel 3.1.
6 So schreibt Haeckel über Lamarcks Philosophiezoologique,dass darin „die Deszendenzlehre
zum ersten Male als vollkommen abgerundete Theorie" dargestellt wird. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie- Allgemeine Grundzüge der organischenFormenwissenschaft,mechanisch
begründetdurchdie von CharlesDarwin reformierteDeszendenztheorie,Berlin 1866, 135.
7 Vgl. zum Narrativ: Gilian Beer, Darwins Plot. Evolutionary Narrative in Darwin, George
Eliot and Nineteenth Century Fiction, London 1983.
8 Nietzsche, Sämtliche Werke.KritischeStudienausgabe,XI, 111.
WISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
95
kommt darin selbst vor, eingefangen in der Sequenz der Bilder."9 Dieses Subjekt ist
der Mensch selbst. Die Frage nach dem Wesen des Menschen verbindet sich mit der
nach seinem Ursprung.
Mit diesem Hinweis beabsichtigt die Untersuchun g kein eswegs, die Tatsache
der Evolution in Frage zu stellen. Vielmehr wird die illegitime Ausweitung des
evolutionistischen Denkens auf alle Bereiche des menschlichen Lebens einer kriti schen Analyse umerzogen . ,Wenn es eine Mimikry der Ins ekten gibt, dann existiert eine Mimikry des Menschen, weil dies der Evolution entspricht.' So lautet der
naturalistische Fehlschluss, der zur Annahme der Human mim ikry führt. Der
phylogenetische Denkstil einschließlich seiner Ausweitung auf das menschliche
· Leben repräsentiert die notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für
den Mythos.
6.1. Die idio synkratische Struktur
des szientistischen Mythos der Humanmimikry
Die These laut et, dass der szientistische Mythos auf einer Poetik der Evolution
basiert. Die Poetik der Evolution ist eine Poetik des Wissens, die die fiktive Evolution einer mensch lichen Mimikry denkbar und aussagbar macht: Die Poetik der
Evolution ist die Poetik der (fiktiven) Evolution der Humanmimikry. Diese Poetik
stützt sich auf drei Strukturmuster, die die hinreichenden Bedingungen der Wissensproduktion dars tellen. Zusammen bilden sie die Entstehungsbedingungen für
den Mythos. Es handelt sich bei den drei hinreichenden Krit erien um Kohärenzmuster, die nicht aus den Naturwissenschaften, sond ern aus dem Wissen der Kultur und insbesondere aus der Literatur stammen.
Die drei O rdnungsmuster des Mythos lauten: ,Buchstäblichk eit', ,szientistischer Gestus', ,Thearralität'. 10 Unter Buchstäblichkeit ist das wörtliche Verständnis
von mimicry als Na chahmung im Sinne von Mim esis gemeint. Die biologische
Mimikry ist keine Mimesis, da die Farben und Formen auf den Schmetterlingsflügeln genetisc h festgelegt sind, wie die meisten Wissenschaftler schon damals
annehmen. Der Anspruch auf Wissenschafclichkeit wird mit dem zwischen den
9 Jean Laplanche, Jean -Bercrand Poncalis, Urphantasie. Phantasie über den Ursprung, Ursprüngeder Phantasie, Frankfurt a.M. 1992, 58. Laplance und Pontalis stellen zudem heraus, dass das Phantasma kein Objekt des Begehrens ist, sondern eine Struktur, eine Verweisstruktur der Signifikanten, über die sich das Subjekt verteile.
10 Bekanntlich hat Foucaulc die Ori entierung an der „Permanenz einer Themat ik " als Bestimmung des Diskurses abgelehnt. Michel Foucault, Archäologiedes Wissens,Frankfurt
a.M . 1981, 57. Doch gehr es hier nicht um eine feste Thematik oder Definition, sondern
um Strukturelemente von Diskursen, die sich am Wortgebrauch orientieren. Vgl. zum
Verhältnis von Diskurs- und Begriffsgeschichte : Dietrich Busse, Wolfgang Teuber, ,,Ist
ein Diskurs ein sprachwissenschafdiches Objekt? Zur Methodenfra ge der historischen Semantik", in : Begriffsgeschichteund Diskursgeschichte.Methodenfragen und Forschungsergebnisseder historischenSemantik, hrsg. Dietrich Busse, u. a., Opladen 1994, 10-28, hier 14.
96
W1SSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
POETIK DER EVOLUTION
Zeilen operierenden szientistischen Gestus markiert . Er suggeriert dem Leser die
Existenz einer menschlichen Mimikry. Als theatralisch erscheint da s Leben von
Insekt und Mensch, sobald sie als Schauspieler, die ihre Umwelt täuschen müssen,
um im Naturtheater der Evolution überleben zu können, beschrieben und als solche wahrgenommen werden.
Der Begründungszusammenhang des Wissens wird aus der Logik seines Entstehens abgeleitet. Mit anderen Worten: Wenn diese drei Merkmale zusammen mit
dem evolutionistischen Narrativ auftreten, ist die Möglichkeit gegeben, dass der
Mythos der Humanmimikry entstehen kann. Di e Poetik der (fiktiven) Evolution
des Menschen einschließlich ihrer narrativen, performativen, rhetorischen und literarischen Formen stellt also keinen abgeleiteten Darstellungsmodus des Wissens
dar: Sie ermög licht erst die Genese des szientistischen Mythos.
6. 1.1. ,Buchstäblichkeit' (Metapher)
„Unschuldige oder neutrale
Benennungen gibt es nicht."
(Georges Canguilhem)
Das englische ,mimicry', ursprünglich ein Wort aus der Alltagssprache, wird in
Ermanglung eines geeigneten Begriffs zunächst als eine Metapher in die Biologie
eingeführt . Der neuralgische Punkt , an dem die Untersuchung nun ansetzt, ist,
dass das Wort buchstäblich gelesen wird, was eine fortlaufende Kette von Missver ständnissen in Gang setzt. 11 Die Buchsräblichkeit, die eine bestimmte Wahrneh mungsweise vorgibt, steht am Anfang der Wissensproduktion .
D as englische Wort ,mimicry' leitet sich etymologisch von mimic beziehungs weise mime ab. Dem Oxford English Dictionary zufolge taucht es das erste Mal im
Jahre 1671 auf. Nicht die hohe, künstlerische Mimesis, sondern ihre komödianti sche Sehwundform ist mit dem Wort gemeint.
The action, practice, or art of copying or closely imitating, or (in early use) of reproducing through mime; esp. imitation of ehe speech or mannerisms of another in
order to entertain or to ridicule. An act, instance, or mode of copying or imitating ;
a product of imitation, a copy. 12
In TheNaturalist on the River Amazons verwendet Bares das Wort ,mimicry' zunächst
in Bezug auf die totemistischen Praktiken der Indian er, die in ihren Ritualen und
Tänzen Ti ere imitieren (,,the mimicry of different kinds of animals"). Das Verb
,mimicry' bezeichnet eine Maskierung, bei der die Eingeborenen pantomimische
Handlungen vollziehen, um sich in ihren tierischen Ahnen zu verwandeln und sich
11 „Die Metapher ist nur die Übertragung einer Übertragung." Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M. 1986, 51.
12 Oxford English Dictionary, Oxford 2 1989,IX, Sp. 702.
97
mit ihm für die Dauer des Festes zu identifizieren. Vermutlich liegt hier der Her kunftsort von ,mimicry' als eines biologischen Begriffs, der eine, wenn auch ganz
andere Form der ,Maskerade' unt er Schmetterlingen benennt.
The Indian idea of a holiday is bonfires, processions, masquerading, especially the
mimicry of different kinds of animals, plenty of confused drumming and monotonous
dancing, kept up hour afrer hour without intermission, and the most important
point after all, getting gradually and completely drunk. 13
Nomenklaturen beruhen auf terminologischen Konventionen, die das Verhältnis
von Begriff und Phänomen regeln. 14Mit der Last der veralteten Linneschen Namen
- ringend, die entweder abgeschafft oder modifiziert werden müssen, sieht sich die
britische Zoolog ie von den 1820er- bis 1840er -Jahren mit der Herausforderung kon frontiert, das Verhältnis der Wörter zu den Dingen neu zu bestimmen. Auf der Jah restagung der British Association of the Advancement of Science im Jahre 1842 schlägt
der Zoologe Hugh Strickland die Einrichtung eines Komitees für zoologische
Nomenklatur vor. Die neue Regelung sieht vor, dass die alten Bezeichnungen entweder beibehalten oder abgelehnt werden können . Den Forschern steht es zudem
frei an, ob sie sich für Linnes, Cuvi ers oder für Lamarcks System entscheiden. Mit
dem law of priority, das dem Entdecker das Erstrecht der Benennung einräumt , wird
eine pragmatische Vorgehensweise sich ergestellt. Am Ende dieser Reform steht, dass
der Gebrauch - und nicht eine innere Bedeutung - den Terminus bestimmt. 15
Bates wird mit der Regelung Stricklands vertraut gewesen und ihr gefolg t sein.
Bei der Lektüre von Contributions to an Insect Fauna kann man sich allerdings
nicht des Eindrucks erwehren, dass er weniger einen terminus technicus bilden als
vielmehr eine anschauliche Erklärung geben möchte. Viermal wird ,mimi cry' verwendet, um eine mimetische Analogie (,,mimetic analogy") 16 zu bezeichnen. Aber
nur zweimal wird damit die Baressehe Mimikry im eigentlichen Sinne bezeichnet,
wenn nämlich die ,Nachahmungen' der Danais Echeria durch die Papilio Cenea
und der lthomiae durch die Leptalis angeführt werden. 17 Eine zusätzliche begriffii che Unschärfe stellt sich ein, sobald im weiteren Verlauf des Textes so heterogene
Naturerscheinungen wie die Federkleidmimikry unter einigen Vogelarten oder
die Ähnlichkeit von Nachtfaltern mit Flechten, Zweigen , Blättern oder mit Vogelexkrement darunter erfasst werden. 18 Bates ist im Übrigen nicht der Erste, der
13 Bates, The Naturalist on the River Amazons, 201. (Hv. v. K.C.]
14 Vgl. dazu die vorzügliche Studie: Gordon Mcouat, ,,Species,Rules and Meaning: The
PoliticsofLanguage and ehe Ends ofDefinition in 19th Century Natural Hisrory", Stud ies in history and philosophy of biological and biomedical sciences27 (1996),473-520.
15 Vgl. zu Strickland und der Reform der Nomenklatur: H. E. Strickland, William Jardine,
Memoirs of Hugh Edwin Strickland, London 1858;Maria Di Gregori, ,,Hugh Strickland
(1811-53) on affinities and analogies.Or, the case of ehe missingkey",Idea and Production
34 (1987),35-50.
16 Bares,,,Contribucionsto an Insect Fauna of eheAmazon Valley",hier 508.
17 Ebd., 506, 512.
18 Ebd., 507 (Anmerk.),512.
98
POETIK DER EVOLUTION
das Wort im Zusammenhang mit einer natürlichen Ähnlichkeit gebraucht.
William Kirby und William Spence beschreiben im 21. Kapitel des zweiten Ban des ihres entomo logischen Textbuch es (1816/17) die Phasmida, die einem Zweig
zum Verwechseln ähnlich sieht. 19
,Mimicry' ist ein Begriff mit terminologischen Uns·chärfen, die durch die außer biologischen, sich in den Vordergrund drängenden Konnotationen entstehen. Seine alltagssprachliche Mitbedeutung ist für Biologen häufig ein Stein des Anstoßes.
Unablässig ergehen daher Ermahnungen, den Begriff nicht wörtlich zu verstehen,
um zu verhind ern, dass die Mimikry als eine Na chahmung missverstanden wird.
Ein Beispiel hierfür liefert die folgende, vielfach rezipierte Darstellung der Mimikry dur ch Alfred Wallace, Bates' Begleiter während der ersten Jahre auf der Amazo nas-Expedition. Walla ce betont, dass ,mimicry' keine volumative Mimesis ist. Der
wissenschaftliche Begriff bedarf der Konjektur, die die ,richtige', das heißt die wissenschaftliche Bedeutung von der nicht -wissenschaftlichen zu unterscheiden hilft.
Ir is to be particularly observed, however, that the word [d.i. ,mimicry'] is not here
used in the sense of voluntary imitation, but to imply a particular kind of resem blance - a resemblance not in internal structure but in external appearance - a
resemblance in those parts only that catch the eye - a resemblance that deceives. As
this kind of resemblance has the same effect as voluntary imitation or mimicry, and
as we have no word that expresses the required meaning, ,mimicry' was adopted by Mr.
Bates (who was the first to explain ehe facts), and has led to some misunderstanding;
but there need be none, if it is remembered that both ,mimicry' and ,imitation' are
used in a metaphorical sense, as implying that close external likeness which causes
things unlike in structure eo be mistaken for each other. 20
19 Noch interessanter ist ihre Antizipation eines später zu den Mimikryerscheinungen gezählten Phänomens. Die Schwebefliegen der Gattungen Vo!ucellaund Pterocera(vor allem
Pterocera bomby!ans) ähneln Bienen und Hummeln so sehr, dass sich die beiden Physikotheologen in ihrem Glauben an eine vollkommene Schöpfung bestätigt sehen. ,,A different kind of imitation, affords a beautiful instance of ehe wisdom of Providence in adapring
mean to their ends." William Kirby, William Spence, An introduction to entomo!ogyor e!ements of the natural history of insects, London 1816-17, II, 223. Vgl. Komarek, Mimicry,
Aposemantism and Re!ated Phenomena . Mimetism in Nature and the History ofits Study, 24.
Vgl. zu Kirby und Spence: J. F. M. Clark, ,,Hisrory from ehe Ground Up: Bugs, Political
Economy, and God in Kirby and Spence's Introduction ro Entomology (1815-1856)", ISIS
97 (2006), 28-55.
20 Alfred Russe! Wallace, Contributions of the Theory of Natura! se!ection.A Seriesof Essays,London 1870, 24 f. [Hv. v. K.C.] Vgl. die deutsche Übersetzung von Adolf Bernhard Meyer.
Alfred Russe! Wallace, Beitraege zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl. Eine Reihe von Essais.
Autorisierte deutsche Ausgabe, Erlangen 1870, 84: ,,Es muss jedoch besonders bemerkt werden, dass dieses Wort hier nicht in dem Sinne einer willkürlichen Nachahmung gebraucht
ist, sondern nur um eine besondere Art von Aehnlichkeit zu bezeichnen - eine Aehnlichkeit
nicht der inneren Srructur, sondern der äusseren Erscheinung - eine Aehnlichket in jenen
Theilen nur, welche das Auge treffen, - eine Aehnlichkeit, welche täuscht. Da diese Art von
Aehnli chkeit dieselbe Wirkung hat, wie willlkürliche Nachahmung oder Mimicry, und da
wir kein Wort besitzen, welches die erforderliche Bedeutung ausdrückt, so wurde das Wort
,Mimicry' von Herrn Bares, (welcher zuerst die Tharsache erklärte) gewählt, und es hat zu
WlSSENSTRANSFER ALS WlSSENSPRODUKT!ON
99
„As we have no word that expresses ehe required meaning" - ,mimicry' ist also ein
supplement, ein Stellvertreter, der in Ermangelung eines geeigneten Begriffs in
Kraft tritt. Diese Passage besitzt einen gewissen Bekanntheitsgrad unter Biologen.
Über Wallac e's Erklärun g schreibt Edward Poulton, der gleichfa lls auf die Miss verständnisse , di e das von Bates gewählte Wort häufig auslöst, hinweisen möchte :
Mr.ßares 's term has been criticised because ir is generally used ro describe voluntary
actions [... ]This use of the word, however, well known, and is not likely to mislead
anyone; and in addition to its histor ical accuracy the word is more convenient than
any other, as Mr . Walla ce has pointed out . Thus we obtain the convenient series of
words - mimicry, mimicry, mimetic, mimicker, mimicked, mimicking .21
„Gute Metaphern zu bilden bedeutet", so Aristoteles, ,,daß man Ähnlichke iten zu
erkennen vermag." 22 Das Gegenteil scheint in der Biologie der Fall zu sein. Dort
zeichnet sich in den folgende n Jahren eine kleine Geschichte des buchstäblichen
Missverständnisses und seiner Warnhinweise ab.
Ähnliche Bedenken existieren auch in der deutschspra chigen Biologie. 23 Die
Metaphernkritik deutscher Biologen gleicht im Wesentl ichen der ihrer englischen
Kollegen. August Weismann schreibt beispielsweise über die „Nachahmungen von
Pflanzen und Pflanzenteilen durch Tiere in Farbe, Gestalt und Zeichnung" sowie
einigen M issverständnissen Anlass gegeben; aber es brauchen keine solche obzuwalten, wenn
man nur daran denkt, dass sowohl ,Mimikry' als auch ,Nachahmung' bildlich gebraucht
sind, und nur jene genaue äussere Aehnlichkeir bedeuteten, welche bewirkt, dass Gegenstände die ihrer Structur nach ungleich sind, miteinander verwechselt werden können ."
21 Edward Bagnall Poulton, The Co!ors of Anima!s . Their Meaning and Use. Especia!!y Considered in the Case of Insects, New York 1890, 224 f.
22 Aristotel es, Poetik, 77, 1459 a. Im Folgenden geht es ausschließlich um die seit Aristoteles
bekannte analogische Metapher. Vgl. zur Gesamrda rsrellu ng von Merapherntheorien allerdings ohne Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte : Anselm Haverkamp, Me tapher. Die Asthetik der Rhetorik, München 2007; Eckard Rolf, Metaphertheorien . Typologie - Darstet!ung- Bibliographie, Berlin/ New York 2005.
23 In der von Julius Vikror Carus besorgten Übersetzung der Origin wird das Wort „Mimi kry" (in der Schreibweise mit ,k') beibehalten, die Mimikryschmetterlinge der Gattung
Lepta!is allerdings im Register als „nachäffende" Schmetterlinge angeführt. Charles
Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der
begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein, Stuttgart 1899, 499, 576. Im deutschen
Sprachraum ist ,Mimikry' ein Fremd wort und lange Zeit nach Lautung, Schreibung und
Flexion nicht in das deutsche Sprachsystem integrierba r. Die orthographische N ormie rung des Fremdwortes durchläufr unterschiedliche Erprobungsstufen. Neben ,Mi~ikry '
finden sich Varianten wie „Mimickry" (Alfred Döblin, Jüdische Erneuerung, Amsterdam
1933, 10), ,,Mimikri" (Carl Ludwig Schleich, Von der Seele, Berlin 1928, 147; Benjamin,
Gesammelte Schriften, II 318, 1051), ,,Mimikrie" (Aby M . Warbu rg, Schlangenritual Ein
Reisebericht, Berlin 1996, 57) oder „Mimerie" (Art. ,,Mimicry", in : Handwörterbuch der
Zoologie, Anthropologie und Ethnologie, hrsg . Anton Reichenow, Breslau 1888, V, 421).
100
101
POETIK DER EVOLUTION
WISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
die Imitation von anderen Tierarten: ,,Gewiss ist dies nicht wörtlich zu nehmen." 24
Zahlreich sind solche und ähnliche Warnungen vor dem buchstäblichen Lesen. 25
Der Bedeutungsinhalt einer analogen Metapher wird verzerre, sobald sie buch stäblich verstanden wird. So auch hier: Der buchstäbliche Sinn stimmt nicht mit
dem wissenschaftlichen Konzept überein. 26 Mimikry ist ja keine Mimesis. Nach
Paul de Man ist Rhetorik die „radikale Suspendierung der Logik und eröffnet
schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung". 27 In ihrem Anspruch
auf „Identität und Tocalität" 28 übersteigt die Metapher die einfache Analogie. 29
De Man ist zunächst darin zuzustimmen, dass „buchstäbliche und figurative
Bedeutungen einander ständig in die Quere kommen". 30 Er hat das Problem der
Metapher in dem Konflikt zwischen Rhetorik und Grammatik, zwischen figurativer und buchstäblicher Bedeutung gesehen 31, der nur durch die ,,Intervention
einer außersprachlichen Intention" 32 gelöst werden kann. Es sei an die Mecaphern kritik der Biologen erinnert, die eine solche Intervention darstellt, mit der die Wissenschaftssprache von ihren metaphorischen Resten gereinigt werden soll. .Die
Gefahr der Kontamination kann jedoch nicht ganz gebannt werden. ,,Tropen", so
de Man, ,,sind nicht bloß Reisende, sondern vielleicht auch Schmuggler". 33
Was im Bild vom ,Schmuggler' mitschwingt, ist, dass Tropen für einen Akt der
illegitimen Grenzüberschreitung stehen können. Episcemische Grenzen sind
Sprachgrenzen, überwacht von einem Regime der Konventionen, das die Ein- und
Auswanderung von Wö rtern erlaubt oder verweigert . Die vermeintliche Reinheit
wird verteidigt . Man fürchtet, dass die M etapher, einmal ins Inn ere des Diskurses
gelangt, eine Logik in Gang setzt, die zum unberechenbaren Selbstläufer avancieren könnte. Als Begriff getarnt wäre die Theatermetaphorik der Mimikry eine
,Schmuggelware' ganz im Sinne de Mans. Im Bild der Schmuggelei ist die Vorstellung illegitimer Grenzüberschreitungen zwischen Wissensfeldern bereits mitge dacht. An den Rändern der Mimikryforschung, wo Wissenselemente schneller
und einfacher miteinander vernetzt werden, wird die moralische Ökonomie des
wissenschaftlichen Schreibregimes unterlaufen; in der ,Schmuggelzone', um bei de
Mans Bild zu bleiben, kann ,Fälscherware' leichter abgesetzt werden.
De Mans Mecapherntheorie ist allerdings nur bedingt geeignet, das hier vorliegende Abhängigkeitsverhältnis von wissenschaftlichem Begriff, Metapher und
Alltagsbedeutung zu analysieren, denn seine methodische Zugangsweise ist ahistorisch. Eine Berücksichtigung des historischen Kontextes ist jedoch unerlässlich.
Der Aspekt der Historizität betrifft nicht nur die semantischen Felder, sondern
auch die damaligen Einschätzungen des episcemischen Potenzials der Metapher.
Welcher Stellenwert der Metapher beigemessen wird, ob ihr Gebrauch kritisiert
oder im Gegenteil als sinnvoll erachtet wird, hängt zudem von den einzelnen Disziplinen und ihren spezifischen Regeln des wissenschaftlichen Schreibens ab.
Die sich in den Interventionen artikulierende Mecaphernkritik spiegele ein neues
Echos wissenschaftlichen Schreibens wider, das sich dem Ideal höchster Objektivität verpflichtet fühlt und jene Elemente aus den Texten herauszustreichen versucht,
die auf ein Subjekt schließen lassen. Aus diesem Grund schließt Thomas Henry
Huxley die Sprache als Medium wissenschaftlicher Erkenntnis konsequent aus. Er
24 Weismann, Keimplasma, 568 . [Hv. v. K. C]
25 An dieser Stelle nur eine kleine Auswahl: Einer der vielen Irrtümer betreffe, so der Mimi kryexperte Arnold Jacobi, den ,,,Ausdruck Nachahmung"', dem eine „oberflächliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand" zugrunde liege. Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen, 24: ,,Man scheint ihn hier und da wörtlich verstanden zu haben, als wenn ein
Tier, mit oder ohne Bewußtsein, bestrebt sei, sich einem Vorbild ähnlich zu machen."
Wahrs cheinlich ist Jacobi diesem Missverständnis schon oft begegnet. Ders . ,,Mimikry
und verwandte Erscheinungen", Die Naturwissenschaft. Wochenschrift für die Fortschritte
der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik, 1. Jg. (1913), 681-684, hier 681. ,,Es
verdient Hervorhebung, daß der Ausdruck ,Nachahmung' in diesem und andern Fällen
nur bildlich genommen werden darf, ohne jede teleologische Voraussetzung. " Karl Semper,
einer der ersten Ökologen, schreibt in Bezug auf die Insekten von den „Harlekinen unter
den Tieren" (Existenzbedingungen, 234), doch stößt auch er Warnhinweise aus. Karl Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, Leipzig 1880, II, 229: ,,Ich brauche
wol [sie] nicht besonders zu betonen, dass die hier gebrauchten Worte nur im figürlichen
Sinne genommen sein wollen, denn es ist klar, dass ein Thier nie im Stande sein kann, absichtlich ein anderes nachzuäffen." Noch im Jahre 1919, also fast 60 Jahre nach der Entde ckung der Mimikry, wird man nicht müde auf diesen Fehler hinzuweisen. Srudy, ,,Die
Mimikry als Prüfstein phylogenetischer Theorien", hier 371: ,,Einzelne haben es sogar
fertig gebracht, den Terminus Nachahmung buchstäblich zu nehmen." [Hv. v. K. C.]
26 Die Unterscheidung der buchstäblichen von der figurativen Bedeutung ist nicht klar
zu fallen, da die Figurativität der Metapher vom Kontext und ihrem Gebrauch abhängt.
Vgl. zur umstrittenen Unterscheidung von literaler und figuraler Sprache : David E.
Rumelhart , ,,Some Problems with the notion of literal meanings", in: Metapher and
Thought, hrsg. Andrew Ortony, Cambridge 2 1998, 71-82; Zdravko Radman, ,,Metaphori cal measure of meaning. The problem of nonliteral use of language in science reconsidered ", Philosophical Studies 33 (1992), 153-170.
27 Paul de Man, ,,Semiologie und Rhetorik", in: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988,
31-51, hier 40 .
28 Ebd., 45.
29 Vgl. zur Metapher als Gefährdung des philosophischen Wahrheitsbegriff: Paul de Man,
,,Epistemologie der Metapher", in: Theorie der Metapher, hrsg. Anselm Haverkamp ,
Darmstadt 1996, 414-437. Vgl. zur Epistemologie der Metapher: Rolf, Metaphertheorien,
250-258.
30 Paul de Man, ,,Semiologie und Rhetorik", in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M .
1988, 31-51, 45. Der Begriff des ,misreading' wird in einem anderen Sinne in Harald
Blooms Theorie der Einflussangst verwendet. Vgl. Harold Bloom, The anxiety of influence. A theory of poetry, New York/ Oxford 1973.
31 Diese Eigenart seiner Metapherntheorie ist, weil sie als unhinterfragbare Basisannahme
seine sämtlichen Arbeiten durchzieht, kritisiert worden. Vgl. Jürgen Fohrmann, ,,Misreading Revisited . Eine Kritik des Konzepts von Paul de Man", in: Asthetik und Rhetorik.
Lektüren zu Paul de Man, hrsg. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt a.M . 1993, 79-97.
32 de Man, ,,Semiologie und Rhetorik", 39.
33 Ders., ,,Epistemologie der Metapher", 421.
102
POETIK DER EVOLUTION
WlSSENSTRANSFER ALS WlSSENSPRODUKTION
betont, dass die Welt der Fakten außerhalb und jenseits der Sprache liegt. 34 D er
„Kult der Mittelbark eit und Unparteilichkeit" 35 in der Wissenschaftssprache, welche
sich abschweifender Kapricen zu entraten hat, erreicht gegen Mitte des 19. Jahrhun derts seinen Höhepunkt. 36 Diese Herausbildung eines neuen Seilideals hallt in der
Mimikryforschung (nicht nur in England) wider. Die Metaphernkritik ist Bestand teil dessen, was man die moralische Ökonomie der Wissenschaften nennen könnte,
welche die Methoden, die Wahl der Objek te und den Sprachgebrauch bestimmt
und regelc.37 Erst diese Unsicherheit qualifiziert wissenschaftliche Prosa zu literari schen Texten. ,,The specificity of literary language resides in ehe possibility of misreading and misinterpretation." 38 In der Geschichte der wissenschaftlichen
Schreibseilnormierung seit dem 19. Jahrhundert wird die literale Bedeutung - indi rekt - als Störfaktor der naturwissenschaftlichen Erkenntnisbildung denunziert.
An den Randbereichen der Mimikryforschung wandert mit der Nachahmungs metaphorik ein kulturelles Wissen in die Biologie ein. Der Mangel an wissen schaftlicher Präzision schlägt damit um in eine unerwartete Bedeutungsfülle. Ein
von de Man abweichender und nicht -dekonstruktivistischer Zugang ist dort not wendig, wo es um das kreative Pot enzial der Metapher und der Einbildungskraft
geht. Denn Literarizität ist nicht gleichzusetzen mit interpretatorischen Missverständnissen, wie es bei de Man oft der Fall ist. Ihr e Analyse darf nicht bei der
D ekonstruktion von Irrtüm ern und Tarnstrategien stehen bleiben. Für de Man ist
es undenkbar, die produktiven Aspekte des misreading anzuerkennen , verlegt sich
do ch sein poststrukturalistischer Ansatz auf die Bloßlegung von Widersprüchen
und jen er Täuschungsstrategien im Text, mit denen dem Leser eine ,unsinnige'
Bedeutung suggeriert wird . Die Möglichkeit von Bedeutungserweiterungen bleibt
·dagegen ausgespart. 39 Aus diesem Grund wird das produktive Potenzial des misreading häufig unterschätzt. 40
Di e Produktivität von Metaphern steht im Mittelpunkt von Hans Blumenbergs
Me taphorologie . Im Falle von mimicry initii ert eine untergründige tropologische
Bewegung eine „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen",
deren Beschleunigungskraft sich aus der theatralischen „Hintergrundmetapher"
speist. 41 In den Paradigmen zu einer Metaphorologie 42 und im letzten Kapitel zum
genetischen Code in die Lesbarkeit der Welt betrachtet Blumenberg die Metapher
als ein legit im es Hilfsmittel im fortlaufenden Pro zess der Hypothesen - und Theo riebildung. Das produktive Potential der Metapher entfaltet sich vor allem zu
einem frühen Zeitpunkt der Theoriebildung, an dem das Wissensdefizit weder
theoretisch noch begriffiich eingeholt werden kann. Nach ihrer Einführung und
buchstäblichen Int erpretation verhärtet sich die Metapher zum Begriff. Später fällt
die außerwissenschaftliche Herkunft der wissenschaftlichen Erkenntnis in Vergessenheit. Blumenbergs Modell steht im Gegensatz zu jenen Auffassun gen, die
eine kontinuierliche Entwicklung vom ,Mythos zum Logos' postulieren. Stattdes sen geht er davon aus, dass sich die Wirkkraft der Metaph er in der Wissenschafts sprache latent erhälc. 43
In einem ähnlichen Sinne spricht Ludwik Fleck von der „magische[n] Versachlichung der Ideen." 44 Im Unterschied zu Blumenberg geht er allerdings von keiner
Verhärtungsentwicklung (von der Metapher zum Begriff) aus, sondern von einer
Oszillation. Bei ihm ist die M etapher vor allem ein Bild, das einem ,vor Augen
gestellt' (ante oculosponere) wird. 45
34 Thomas Henry Huxley, ,,Scientific Education : Notes of an After -Dinner Speech [1869]",
in: ders ., Science and Education, New York 1894, 115.
35 Lorraine Daston, ,,Die moralische Ökonomie der Wissenschaft", in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M. 2003, 157-184, hier 162.
36 Huxley fordert von den Wissenschaftlern eine Art zu schreiben, die sich subjektiver Elemente zu entraten habe . Man könnte dieses Schreibideal als den Versuch verstehen, eine, in
den Worten Lorraine Dastons, ,,aperspektivische Objektivität" zu verwirklichen. Damit ist
eine objektive Perspektive gemeint, die ohne „Anthropomorphismen" auskommt und sich
von einem „besonders farbige[n] Schreibstil" distanziert. Vgl. Lorraine Daston, ,,Objektivi tät und die Flucht aus der Perspektive", in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen, 127-156,
hier 129, 143.
37 Daston, ,,Die moralische Ökonomie der Wissenschaft", 158: ,,Unter einer moralischen
Ökonomie verstehe ich ein Netz affektgesättigter Werte, die in fest umrissenen Beziehun gen zueinander stehen und fungieren . Bei dieser Verwendung bringt der Begriff ,Moral'
seine sämtlichen Resonanzen aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert mit
sich: Er bezieht sich auf das Psychologische und das Normative."
38 Paul de Man, Blindness and lnsight . Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism,
Minneap olis 2 1983, 280.
103
39 Aus der Fülle der Forschungsbeiträge zum Verhälrnis von Naturwissenschaften, Literatur
und Rhetorik sei an dieser Stelle nur auf die folgende Überblicksdarstellung verwiesen:
Nicolas Peches, ,,Literatur - und Wissenschaftsgeschichte . Ein Forschungsbericht" , IASL
28 (2003), 181-231. Darin plädiert Peches für eine umsichtige Differenzierung von ,Wissenschaft' und Literatur' .
40 Dabei ist Innovation ohne Hybridisierung undenkbar, sind doch Wissen und Wissen schaft per se hybrid. Vgl. Peter Galison, Image and Logic. A Material Culture of Microphy sics, Chicago/ London 1997, 781-844. Die produktive Bedeutung sprachlicher Missverständnisse sind in den Studien, die sich mit der rhetorischen Strukturnaturwissenschaftlicher Texte auseinandersetzen, bisher nicht behandele worden. Vgl. zuletzt zur Diskussion
um die Rolle der Rhetorik in den Wissenschaften : Alan G. Gro ss, Starring the Text. The
Place of Rhetoric in Science Studies, Carbondale 2006.
41 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, 13.
42 Ebd . Vgl. auch ders., ,,Paradigma, grammatisch" , in : Wirklichkeiten in denen wir leben.
Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 157-162.
43 In diesem Sinne wäre die Mimikry des Menschen ein die „Lücke zwischen Metapher und
Modell" schließendes „hypothetische[s] Schema". Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der
Welt, Frankfurt a.M. 1981, 372-410 , hier 376.
44 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 46.
45 In den Begriffen der Rhetorik und Kantischen Ästhetik ausgedrückt: Sie ist eine veran schaulichende Hypotypose . Vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur
und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 20 02, 396; Rodolphe Gasehe,
104
POETIK DER EVOLUTI ON
WISSENSTRANSFERALS WISSENSPRODUKTION
Die Anschaulichkeit eines Wissens hat ihre besondere Wirkung . Zuerst vom Fachmann angewandt, um einen Gedanken anderen Mens chen verständlich zu machen
(oder aus einer Art mnemotechnischer Gründe), erhält die Bildlichkeit, die vorerst
ein Mittel war, die Bedeutung eines Zieles der Erkenntnis. Das Bild gewinnt Ober hand über die spezifischen Beweise und kehrt in dieser neuen Rolle vielfa ch zum
Fachmann zurück. 46
zu kurz greifen, denn das Besondere besteht gerade in der Spannung zwischen
Metaphorischem und Begrifflichem. Wann und unter welchen Bedingungen kann
aus einer Metaph er ein Begriff entstehen und vice versa?
Wenn aber weder die Festlegung auf die Metapher noch auf den Begriff ratsam
erscheint, was wäre die theoretis che Alternative? Um ein adäquates Modell für die
Hybridisierungsprozesse an den Grenzen des Wissens zu finden, soll der in der Biologie ~i e in den Humanwissenschaften zirkulierende proteische Bedeutungsträger
,Mimikry' als eine Figur des Wiss ens aufgefasst werden , die als terminus medius die
invariani:e, mehr dem Begriff verp flichtete Logik sowie die variable, stär ker der
Metapher zugeneigte Dimension der Bildlichkeit in sich aufnehm en kann .
Nach Fleck beruht die Umkehrung des Denkprozesses auf der Buchstäblichkeit
des metaphorischen Bildes, das nun zum Telos der Forschung wird . Für die Mimikry bedeutet das: Die anschauliche Nachahmungsmetaphorik avanciert zum Zielpunkt dessen, was es fortan zu beweisen gilt, doch vergisst man dabei ihre
ursprüngliche Funktion als bloßes Vehikel des Wissensprozesses. Auf gru nd des
misreading wird aus der Mimikry eine Nachahmung. Das Bild, suggeri ert durch
die Metapher, schiebt sich vor die Realität, die sodann verkannt wird.
Das Residuum kultur eller Fantasien im wissenschaftlichen Text ist die Meta pher, da sie der Königsweg zur Fantasie (in den Wiss enschaften ) ist. Naturwissen schaft und kultureller Diskurs stehen in einem Verhältnis der Latenz zueinander.
Das ,M issverstehen ' der ,Buchstäblichkeit', das die Texte zu literarischen qualifiziert, ist daher nicht umsonst als eine Gefahr und Subversion des Wissens wahr genommen worden.
Die Grenze zwischen Begriff und Metapher ist fließend . Eine methodologische
Entscheidung ist deshalb an dieser Stelle zu fällen. Auf den ersten Blick bieten sich
zwei Wege der Histori sierung an: die Begriffsgeschichte und die historisierende
M etaphorologie . Die Entscheidung für die Rubrizierung von ,Mimikry' entweder
unter eine Begriffsgeschichte 47 oder eine Metapherngeschichte 48 wü rde allerdings
,,Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kam", in: Was heißt darstellen>, hrsg.
Christiaan L. Haart -Nibbrig, Frankfurt a.M. 1994, 152-174.
46 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 154 f. Eine Untersu chung, die Flecks Überlegungen für die Metaphorologie fruchtbar mache, ist Christina
Brandt, Metapher und Experiment . Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttin gen 2004. Entgegen der These, dass sich die ,harten' Naturwissenschaften dezidiert gegen
die parasitären Populärwissenschaften mit ihren Analogien und Metaphern abschotten,
sollte stattdessen von einer nomadischen Bewegung ausgegangen werden, die in beide
Richtungen verlaufen kann. Vgl. dagegen Andreas Da um, Wissenschaftspopularisierung im
19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffent lichkeit 1848-1914, München 1998, bes. 464.
47 Vgl. zur Geschichte naturwissenschaftlicher Begriffe: Ernst Müller (Hrsg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften . Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin 2008. Vgl. auch: Begriffsgeschichteim Umbruch, hrsg. ders., Hamburg
2005 . Vgl. zum Rückblick auf wichtige Positionen der Begriffsgeschichte: Hans Ulrich
Gumbre cht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006 . Gumbrecht
spricht sich gegen die Begriffsgeschichte aus und favorisiert die Merapherngeschichte .
48 Letztere ist insofern methodologisch nicht unproblematis ch, weil es keine klare Einigung
über Ober- und Untermetaphern geben kann. Darauf macht schon aufmerksam : Manfred
Sommer, ,,Kritische Anmerkungen zu Theorie und Praxis begriffsgeschichclicher Forschung", Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), 227-244, bes. 240.
105
,Figur' könnte zu einem heuristi schen interdisziplinären Ins tru ment werden, mit
dem sich die Dichotomie von Begriff, Metapher, Diskurs und Sprachpragmatik
unterl aufen läßt, um insbesondere semantische Transfers, Registerwechsel und
Übersetzungen zwischen verschiedenen Wissensb ereichen zu erfassen. ,Figur' ist
nicht bestimmten Diskursen zugeordn et (wie der Begriff traditionell der Philosophie
und Wissenschaft, die Metapher dem literarisch-ästhetisc hen Disku rs) und erlaubt
durch ihre Bedeutungsgeschichte unterschiedlichste Zugri ffsmöglichkeiten .49
Die Figur ist „offener Schauplatz von Darstellungen und zugleich deren theoreti sche Reflexion". 50 Auf keine eind eutigen Wege, sondern auf eine via fracta 51, eine
Spur, di e den Raum für Wiede rholu ngen und das Spiel der Differenzen eröffnet,
stößt man in den Texten. Das Wort ,mimicry'I ,m imetisme'! ,Mimikry' wird in der
vorliegenden Untersuchung als ein Indiz zur Notiz genommen , von dem ausgehend das Netz di achroner und synchroner Zuordnungen ausgerollt werden soll,
die sich diagonal überkreuzen . Die Spur steht der Idee eines geordneten Wissens
od er einer homogenen Wissenschaft diametral entgegen .
Aus den zuvor genannte n Gründen wird eine methodologische Richtung eingeschlagen, die nicht auf eine Begriffs- oder M etapherngeschichte, sondern auf
den Diskurs und die diskursive Praxis hinausläuft. Anstelle linearer Verläufe treten ,Cluster', in denen sich die Bedeutungen und ihre Anwendungen dezentral
auffächern. 52 Die Iterationen des Wortes produzieren Differenzen und Spuren, die
nicht diachron aneinandergereiht sind, sond ern sich auf einer synchronen Fläche
ausbreiten.
49 Ernst Müller, ,,Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschafclicher
Perspektive", Begriffsgeschichteim Umbruch, hrsg. ders., Hamburg 2005, 9-20, hier 18.
50 Gabriele Brandscener, Sybille Peters, ,,Einleitung", in : De Figura. Rhetorik - Bewegung Gestalt, hrsg. dies., München 2002, 7-32, hier 8.
51 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M . 1998, 188.
52 Durch den Verzicht auf eine lineare Herleitungslogik gilc es, mit Isabelle Scengers gesprochen, das „Prinzip der Nichtableitung" zu verwirklichen, das heißt , nicht vorgegebenen
Ideen oder Ideologien zu verfallen. Stengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaften,
31 f.: ,,Es geht darum, den Gebrauch von Wörtern zu erlernen, die nicht gleich durch Berufung die Macht verleihen, (die Wahrheit hinter den Erscheinungen) zu enthüllen, oder
(die Erscheinungen, welche die Wahrheit verhüllen) zu denunzieren."
106
POETIK DER EVOLUT ION
WISSENSTRANSFER ALS W1SSENSPRODUKTION
Die Wirkung, die die buchstäbliche Interpretation auf die Produktion eines falschen, affektbeladenen Konzeptes haben kann, lässt sich mit Fleck wie folgt beschreiben . Es
noch der homo adaptivus zu sehen. Sie entziehen sich der wissenschaftlichen Beob achtung. Die sprachliche „Deixis am Phantasma" 57 erzeugt eine (trügerische ) Evidenz (ante oculosponere). 58
Dies ist die performative Funktion des szientistischen Gestus. Unter einem szientistischen Gestus ist also im übertragenen Sinne eine Handlung auf der Ebene
des Diskurses gemeint, die an und fü r sich leer ist für die Anschauung, dere n Aufgabe aber darin besteht, auf etwas zu verweisen und durch den Vorgang des Zei gens das Objekt performativ in Szene zu setzen. Erst durch den Akt des Zeigens
wird es möglich, Aussagen über einen Gegenstand zu fällen. Das gewählte Adjektiv ,szientistisch' soll das Telos dieser Handlung spezifizieren. Denn nicht nur
· beginnen sich die Umrisse des Objektes abzuzeichnen, sondern ebenso sein wissenschaftlicher Charakter. Wie kann aber etwas, für das es keine Beweise gibt, den
Rang einer wissenschaftlichen Aussage erhalten?
Der für die Untersuchung gewählte Ausdruck ,szientistischer Gestus' geht auf
Michel Foucault zurück, der unter der ,Geste' einen „Akt des Denkens" verstehc. 59
Giorgio Agamben beschreibt Foucaults Idee der Geste wie folgt:
erscheint das Denken [. ..] von der gefühlsbetonten Anschaulichkeit beherrscht, die
dem Wissen die subjektive Sicherheit des Religiösen oder des Selbstverständlichen
verleiht. Da werden keine denkzwingenden Beweise mehr verlangt, denn das Wort
ist bereits zum Fleische geworden.' 3
Buchstäblichkeit ist jedoch lediglich die notwendige, aber keinesfalls hinreichende
Bedingung für die Entstehung des wissenschaftlichen Mythos.
Der illokucionäre Sprechakt der anthropologischen Zuschreibung und die damit
einhergehende wissenschaftliche und sozio-kulturelle Bestimmung des homo adap tivus, wird im Folgenden als ,szientistischer Gestus' bezeichnet . Es wurde bereits auf
die ,,Intervention einer außersprachlichen Intention" 54 hingewiesen, die gleich einer
,unsichtbaren Hand' das Feld des Wissens ordnet. In diesem Zeigen liegt die Funk tion des szientistischen Gestus. Es ist die unsichtbar e Hand, welche aus der Metapher
einen Begriff macht, dem das Etikett der Wissenschaftlichkeit angeheftet wird.
6.1.2. ,Szientistischer Gestus' (Deixis)
Der szientistische Gestus simuliert Wissenschaftlichkeit, indem er sich auf die
Autorität der Wissenschaft beruft. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich
um die Anthropologie, Biologie, Psychiatrie oder Philosophie handelt. D er szien tistische Gestus ist nicht mit einer intentionalen Täuschung zu verwechseln. Er ist
auch kein populärwissenschaftli ches Manöver. Er ist ein schleichender Übergang
vom Nicht -Wissen zum Wissen.
Ein Beispiel für den szientistischen Gestus ist die folgende, bereits zitierte Aussage Nietzsches: ,,Entwicklung der mimicry unter Menschen". 55 In seiner Notiz wird
zunächst nichts mehr als eine mögliche Ausrichtung des weiteren Gedankengangs
angegeben. Man kann diese Aussage als ein ,Zeigen' auffassen, das den rätselhaften
Gegenstand der Humanmimikry avisiert und dabei zunächst nichts anderes offenbart als den Akt des Zeigens selbst, da das Objekt nicht existiert. Eine schlichte
Aussage wie ,Das ist die Mimikry des Menschen' entspricht ihrer Wirkung nach
einer sprachlichen demonstratio ad oculos.56 Doch ist weder die Humanmimikry
53 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 152, 155. Fleck bezeichnet es ausdrücklich als „populäre[s]Wissen", doch ist diese Annahme ebenso auf
randständige Wissensformationenzu beziehen,die nicht populärwissenschaftlichsind.
54 de Man, ,,Semiologieund Rhetorik", 39.
55 Nietzsche,Sämtliche Werlu. Kritische Studienausgabe, XI, 111.
56 AufBühlers linguistischesModell des Zeigfeldes,das die sprachlicheGeste vom tatsächlichen Zeigen ableitet, kann hier nur hingewiesenwerden. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die
Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934, 80
107
Es gibt alsojemanden, der, wenn er auch anonym und ohne Gesicht bleibt, die Aussage gemacht hat, jemanden, ohne den die These, welche die Bedeutung des Sprechenden negiert, nicht hätte formuliert werden können .60
Ein Wahrnehmungsdispositiv
formierend, repräsentiert
chenden Bedingungen der Möglichkeiten von Aussagen.
der Gestus die hinrei 61
In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System
der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den
Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelation, Positionen und Abläufe, Transformationen)
57 Ebd. 150, 80.
58 Vgl.zur Evidenzim Sinne eines,Vor-Augen-Stellens': Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit .
Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, 396.
59 In Wahnsinn und Gesellschaft macht Foucaulc eine sich im Laufe der europäischen Geschichte herauskristallisierende„Geste" aus, welche die Abspaltung des Wahnsinns von
der Vernunft nach sich gezogenhabe. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine
Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 12 1996,7.
60 Giorgio Agamben, Profanierung, Frankfurt a.M. 2005, 57. Agamben hebt das Paradox
von FoucaulcsAnsatz im Nachsatz hervor: ,,DieselbeGeste, die der Identität des Autors
jegliche Bedeutung abspricht, behauptet trotzdem dessen irreduzible Notwendigkeit."
(ebd.) Auf die Diskussion um den von Foucaulcbeschworenen,Tod des Autors' und die
Anonymität des Diskursesmuss hier nicht mehr eigens eingegangenwerden.
61 Vgl. zur ,Geste' in Foucaults Diskursanalyse:Peter Bürger, ,,Denken als Geste. Michel
Foucaulc,Philosoph", in: Das Denken des Herrn. Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus, hrsg. ders., Frankfurt a.M. 1992, 110-132;Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach
einer neuen Lebenskunst . Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei
Foucault, Frankfurt a.M. 2000, 531-537,hier 532.
108
109
POETIK DER EVOLUTION
WISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
definieren könnte, wird man übereins t immend sagen, daß man es mit einer diskur siven Formation zu tun hat. 62
Anstelle der Beobachtung tritt die Projektion der Wunschbilder auf die Objek te: Man glaubt zu wissen, was die Mimikry des Menschen ist, ohne jema ls den
Vorgang beobachtet zu haben, denn offensichtlich genügt schon ein Blick auf die
Tiere, um die Mimikry auf den Menschen zu projizieren. Das heißt nicht , dass
eine gezielte Täuschung vorliegt. Vielmehr drückt sich darin der unbewusste Cha rakter der libido sciendi aus .
Mit Jacques Lacan gesprochen: Das Subjekt ist stets im Obj ekt mit eingeschlos sen, ohne sich dessen bewusst zu sein. 67 Das Verhältnis des Forschers zum Objekt
besteht in einer Projektion, was Lacan die „intime Exteriorität" oder „Extimität"
des Dings nennt. 68 Der szientistische Gestus ist die täuschende Ummante lung,
· das Simulakrum der Wirklichkeit. Eine wissenschaftliche Autorität wird simu liert, um den Mythos vorab gegen jeden Zweifel zu immunisieren.
Der Selbstb etrug der libido sciendi kann auch als unbewusste Selbstvergewisse rung fungieren. Hier muss denn au ch die kritische Analyse ansetzen, damit ihr
modus operandi begriffen werden kann. Mit Foucault gesprochen, geht es darum,
das „positive[] Unbewußte[] des Wissens zu enthüllen". 69 Das Unbewusste des
Wissens kann (sich selbst) mithilfe von Mythen täuschen. Anders als Foucaults
Begriff der Geste akzentuiert das hier vorgeschlagene methodologische Konzept
des szientistischen Gestus den Aspekt der ,Täuschung' und des Simulakrums.
Letzteres ist von Foucault vernachlässigt worden. Für seine Diskursanalyse ist
Wissenschaftlichkeit kein verbindliches Kriterium; das ist sie nur für die Wissen schaftsgeschichte.70
Der sz ientistische Gestus besitzt zwei Funktionen. Indem der Gestus Wissensele mente ein- und ausschmug gelt, Transkriptionen forciert und Verkettungen schmi edet, schlägt er interdi skur sive Brü cken, verkettet Phänom ene miteinand er, die
nicht zusammengehören, und setzt so den Rahmen für die Zus chreibungen. Wenn
hier das Adjektiv ,szienti stisch' gewählt wird, so geschi eht das nicht in präjudizier ender Absicht. Als ,szientistisch' wird der Gestus bezeichnet, weil er den Aussa gen
das Prädikat der Wissens chaftli chkeit verleiht, ohne dass die konventionellen
Bedin gun gen notwendi gerweise erfüllt werden müss en. Er beweist ni cht, vielm ehr
wirkt er suggestiv.
Der szientistische Gestus erschafft eine katalytische Sphäre und erleichtert den
Prozess der Verkettung. Die epistemis chen Mythen in der Mimikryforschung und
der Mythos der Humanmim ikry haben den epistemolo gischen Bruch vom vorwissenschaftlichen, im Alltagsleben verank erten D enken, das an gereichert ist mit gelebten Illusionen, nicht vollzogen 63 , sondern den Schritt zur wissenschaftlichen Ratio nalität nur vorgetäus cht. Gaston Bachelard definiert die Wissenschaft über ihren
Unters chied zum Allta gswissen. Sie zeichnet sich dur ch die Anstr engung und den
Willen aus, das „epistemologische Hindernis" 64 auf der Schwelle zwischen alltägli chem und ,wissenschaftli chem' Wissen zu üb erwind en .
Wissenschaft wird damit ex negativo definiert. Sie ist keine „Meinung", welche
,,falsch denkt" beziehungsw eise „nicht denkt"; sie wide rsteht der Versuchung, ,,Bedürfnisse in Erkenntniss e" zu übersetzten. 65 Wissenschaftlich es Denken nach Bachelard ist, im übertragen en Sinne , asketis ch, diskret und verwirklicht sich idealer Weise im Experiment. Dem Wunschdenken folgt dage gen keine experimentelle ,Tat'.
Immer dann ist von einem szientistischen Gestus zu sprechen, wo eine solche Meinung, ja ein Gerücht in der Wissenschaft auf eine illegitime Weise verbreitet wird
und wo sich eine Übermacht des Imaginären unbemerkt herausbildet. Wo Selbstevidenz als Evidenz akzeptiert wird, herrscht die Allmacht des szientistischen Gedan kens, welcher sich der Überprüfung durch das Realitätsprinzip entzieht .66
62 Foucault, Archäologie, 58. Foucaults Vernachlässigung des epistemologischen Wertes der
Metapher, die angesichts seiner eigenen bildmä chtigen Sprache verwundern darf, ist vielleicht auf den Einf1uss seines akademischen Lehrers Georges Canguilhem zurückzuführen. Canguilhem hat sich zur Metapher im wissenschaftlichen Text nicht geäußert.
63 Vgl. Hans -Jörg Rheinberger, ,,Ein erneuter Blick auf die historische Epistemologie von
Georges Canguilhem", in: Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Caguilhem,
223 -238, hier 230 .
64 Bachelard, Epistemologie, 175-180.
65 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Beitrag zu einer Psychoanalyse
der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1978, 47.
66 Damit sollen im Umkehrschluss Expe rimentalsysteme nicht im Reich der Wirklichkeit
platziert werden, hat doch die Wissenschaftsgeschichte die Bedeutung des Imaginären
hervorgehoben und beispielsweise von den „hyperrealen Räumen des Labors" gesprochen.
Vgl. Hans -Jörg Rheinberger, Iterationen, Berlin 2005, 24 .
67 Jacques Lacan, ,,Die Wissenschaft und die Wahrheit", in : ders., Schriften II, hrsg. Norbert
Haas, Olcen 1975, 231-257, hier 239: ,,Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, in innerem Ausschluss in seinem Objekt eingeschlossen ."
68 Ders ., Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959-1960),
Weinheim/ Berlin 1996, 171. Nach Slavoj Ziiek täuscht die „innere Äußerlichkeit des
Realen", womit die diskursiv ·erzeugte symbolische Ummantelung gemeint ist, darüber
hinweg, dass sich hinter ihr nichts verbirgt. Der „harte Kern [ist] selbst rein virtuell, eigentlich gar nicht existent, eine Unbekannte (x), welche sich nur rückwirkend aus der
Vielzahl symbolischer Formationen rekonstruieren läßt, die ,alles sind, was es wirklich
gibt'." Slavoj Ziiek, Para!!axe, Frankfurt a.M. 2006, 36 (Anmerk. 17).
69 Foucau!t, Die Ordnung der Dinge, 12: ,,Eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissen schaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist ."
70 Ders., Archäologie des Wissens, 59: ,,Ebenso beweist mir nichts, daß eine solche Beschrei bung über die Wissenschaftlichkeit (oder N ichtswissenschaftlichkeit) dieser diskursiven
Gesamtheiten Beweise liefert, die ich als Angriffspunkt gewählt habe und die sich anfangs
sämtlich mit einem bestimmten Anspruch wissenschaftlicher Rationalität ergeben ." Wis sen und wissenschaftliche Rationalität, Diskurs und Wissenschaft markieren schlichtweg
unterschiedliche Areale . Foucaulc unterscheidet zwischen der diskursiven „Schwelle der
Positivität", der „Schwelle der Epistemologisierung" und der „Schwelle der Wissenschaft lichkeit" . (ebd ., 265 f.)- Auf diese Weise kann er von einer Chronologie der Wissenspro duktion nach dem Schema „diskursive Praxis - Wissen - Wissenschaft" (Ebd., 260) ausgehen. Wissen, das sei „wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann" . (Ebd.,
110
POETIK DER EVOLUTION
WISSENSTRANSFERALS WISSENSPRODUKTION
Dagegen versteht sich die vorliegende Archäologie des Wissens als eine Schwellenkunde. Die Grenzen der Diskursanalyse Foucaultscher Prägung zeigen sich dort,
wo die Schwellengebiete des Wissens ausgespart werden, in denen ein hybrides Wissen akkumuliert wird. Dies zieht einen wesentlichen Nachteil mit sich: Aufgrund
der Statik der Unterscheidung zwischen Wissen und Wissenschaftlichkeit gerät das
Spiel mit den Wissensgrenzen, ihre Verschiebungen und Transgression aus dem
Blick. Dass eine Aussage vorgibt, wissenschaftlich zu sein, kann von der Foucault schen Diskursanalyse als Irrtum und epistemische Mythe erfasst werden. 71 Dass die
Logik des Wissens und die Logik der Wissenschaften nicht zusammenfallen, wird
von Foucaults monistischem Ansatz außer Acht gelassen. Die Pluralität des Wissens
wird stattdessen diskursanalytisch mithilfe eines Kategorienapparats bewältigt, der
zwar eine historische Spezifizität postuliert, aber gleichzeitig mit einem universalen
Geltungsanspruch auftritt. 72 Das Problem besteht darin, dass die Positivität des
Wissens nicht hinterfragt wird, weil sie immer schon als ein historisches Apriori vorausgesetzt wird. Was Wissen und was Wissenschaft ist, beruht aber auf einer Entscheidungsinstanz, die wiederum auf diskursiven Voraussetzungen beruht. Mit
anderen Worten: Die Differenz von Wissen und Wissenschaft ist zu berücksichti gen, und zwar vor allem dann, wenn sie aufeinander bezogen werden.
Der szientistische Gestus geht also ni cht im Feld des positiven Wissens auf. Vielmehr stellt er eine performative Handlung dar, die die Emergenz eines neuen Sinns
ermöglicht. Diese Emergenz basiert auf einem deiktischen Paradoxon: Er zeigt
(auf) erwas, was nicht existiert, und bringt es so zum Erscheinen (evidentia).73 Die
Appellations - und Signalfunktion verweist also über das sprachliche ,Zeigfeld' hin aus auf das Reich des Imaginären, an deren Gestaden die rätselhafte Humanmimi -
kry wie aus der Feme glänzt. Man vergegenwärtige sich dazu die bereits in der Etymologie angelegte semantische Ambivalenz von evidentia, das sowohl Klarheit und
Deutlichkei t als auch Glan z, Schimmer und Silber bedeuter. 74
259.) Sorgfältig sei zwischen den „wissenschaftlichen Bereichen" und den „archäologischen Gebieten" zu unterscheiden . (Ebd., 260.)
71 Ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. 51999,
bes. 143 f
72 Er selbst hat dieses Problem wie folgt beschrieben: Foucaulr, Archäologie der Dinge, 301:
„D er Diskurs ist nicht das Leben: seine Zeit ist nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch
nicht mit dem Tode; es kann durchaus sein, daß Ihr Gott unter dem Gewicht all dessen,
was Ihr gesagt habe, getötet habt. Denkt aber nicht, daß Ihr aus all dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebe als Ihr."
73 Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riede! und Sabine Schneider schlagen einen literarischen
Evidenzbegriff vor, der als Gegenbegriff zur objektiven Evidenz verstanden werden soll.
Dieser entspräche einem „einleuchtende[n] Augenblick[]" und einer „Evokation von Bedeutungsfülle im Bedeutungslosen", die im Dienste einer „mediale[n] Magie" und „Inszenierung epiphanischer Augenblicke und Illuminationen" stünden, um die „Mangellogik
des Begriffs" zu kompensieren. Es erscheint reizvoll, diesen Ansatz einer Poetik der Evidenz nicht nur für die Ästhetik, sondern auch für die Naturwissenschaften fruchtbar zu
machen. Helmut Pfocenhauer, Wolfgang Riede!, Sabine Schneider, ,,Einleitung", in: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, hrsg. dies.,
Würzbur g 2005, !-XVII, hier IX f
111
6.1.3 . ,Theatralität' (Dramatisierung)
Sehr erstaunt bemerkt ein Dramatiker im Jahre 1907, dass sich bislang niemand daran versucht habe, ,Darwini smus' und ,Theater' in einen Zusammenhang zu bringen.
Er kann sich nicht entsinnen, ,,jemals irgend etwas über dieses Thema gehört oder
gelesen zu haben".75 Es ist ihm „ganz unbegreiflich, wenn nicht schon einmal ein
Naturforscher, der die Dichtung liebt, oder ein Dichter, der die Naturforschung
schätzt, die Worte ,Darwin und das Drama' sinnend verknüpft haben sollte".76
Einige Biologen greifen mit großer Vorliebe auf Theater -Metaphern zurück. Auf
diese Weise wird in den Texten das Leben dramatisiert und als ein Schauspiel in
Szene gesetzt Und dies gilt im besonderen Maße für die Mimikry. In der Tat findet
eine solche Übertragung des Theatralitätsmodells in der Mimikryforschung statt.
Aus einer ,bloßen' Metapher beziehungsweise Analogie wird auf diese Weise später
ein wissenschaftliches Modell.
Eine Minimalbestimmun g von Theater und Theatralität lautet: ,,Theater ereignet sich, wenn eine Person (A) etwas beziehungsweise Handlungen (X) vorführt,
während eine andere (S) zuschaur." 77 Wenn man Mimikry buchstäblich (miss-)versteht und die Mimikry irrt ümlich für eine schauspielerische Handlung unter Tie ren hält, dann kann man auch von einem Naturtheater und einem Theater der
Tiere sprechen . Das Theatralitäts -Modell ließe sich sodann problemlos auf die Tiere übertragen. In Bezug auf die Mimikry heißt dies: Ein Schmetterling (A) ähnelt
einem ungenießbaren Schmetterling (X). Der ,Nachahmer' (A) wird von dem
74 Thomas Schirren, Art. ,,enargeia", in: Wörterbuch der antiken Philosophie, hrsg. Christoph
Horn, ChristofRapp, Mün chen 2001, 131 f, hier 131.
75 Eduard Goldbeck, ,,Darw in und das Drama", Die Schaubühne 3 (1907), I, 284. Vgl. Peter
Sprengel, Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionstheorie in der deutschsprachigen Litera tur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998, 11. Offensichclich hat er Darwins The
Expression of the Emotions in Man and Animals nicht gelesen, worin Passagen aus Shakespeares Dramen zitiert werden, um sie als Beweise und Exempe l für seine Evolutionstheorie
des menschlichen Ausdrucks heranzuziehen. Darwins Abhandlung endet mit einem Zitat
aus Hamlet . Darwin, Expression, 285: ,,Is it not monstrous chat chis player here, Bur in a
ficcion, in a dream of passion, Could force his sau! so eo his own conceit That from her
working all his visage wann' d, Tears in his eyes, discraccion in's aspect, A broken voice,
and his whole function suicing Wich forms eo his conceic? and all for nothing!" (Shakespeare, Hamlet, II. Aufzug, 2. Akt, Vv. 556-561) Vgl. zur Theatralität in Darwins Expression: Hans-Christian von Herrmann, Das Archiv der Bühne, München 2005 , 271-284
76 Goldbeck, ,,Darwin und das Drama", 284 .
77 Erika Fischer-Lichte, ,,Die Zeichensprache des Theaters . Zum Problem theatralischer
Bedeutungsgenerierung ", in: Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, hrsg. Renate
Möhrmann, Berlin 1990, 233 -259, hier 237.
112
POETIK DER EVOLUTION
WISSENSTRANSFERALS WISSENSPRODUK T ION
Zuschauer (S), der nach Darwin der Prädator und die dritte Partei im Kampf ums
Dasein ist, verschont, weil di eser ihn für ungenießbar hält. Theatralität ist das
Medium wissenschaftlicher Theoriebildung in der Mimikryforschung, was sich
schließlich in der triadisch en Struktur von ,Nachahmer', ,Vorbild' und ,Beobach ter' konkretisiert wird . Der Mythos der Humanmim1kry würde ebenfalls durch
eine triadische Struktur bestimmt. Die Menschen mit der besonde ren MimikryAnlage sind ,Schauspieler' (A), die ein Vorbild imi tieren (X) und dabei von einem
Zuschauer (S) beobachtet werden.
Wolfgang Wick ler hat das triadische Modell, das zu Recht als das erfolgreichs te in der Geschichte der Mimikryforschung gelten darf, im Jahre 1965wie folgt
vorgestellt .
Es handelt sich hier jedoch um eine Ana logie (,,figurat ively speaking"), 82 Man
kann - noch nicht - von einem wissenschaftlichen Modell sprechen .
Wheelers Metapher stammt aus dem beliebten Reisebericht Tropical Afr ica
(1888) von H enry Drummond. ,,Mimicry is imposture in natu re."83 - heißt es
darin aufreißerisch. Tropical Africa ist ein humorvoller Erlebnis - und Reisebericht
über das afrikanische ,,land ofwonders" .84 In einer Episode schildert Drummond,
wie er von den perfekt getarnten Mimikrytieren getäuscht wird und sich daher
genötigt sieht, sich selbst zu tarnen, also gewissermaßen die Mimikry des Forschers an der Umwelt zu betreiben, um die Mantis, Phasmiden und andere „archdeceivers" doch noch zu Gesicht zu bekommen. 85 Mit gespielter Empörung lässt
er sich mit den folgenden Worten über die Mimikry aus.
Solche ungenießbar aussehenden, obwohl schmackhaften Tiere tragen also eine falsche Warntracht, sie schauspielern . Ein Schauspieler ist ein M ime, die Schauspiele rei mit falschen Warntrachten nannte man deshalb Mimikry. [...] Ganz allgemein
nennt man das zu Recht gemiedene Tier das ,Vorbild' (oder auch Modell) und dasjenige, das nachahmt, den ,Nachahmer'.7 8
Carlyle in his blackesc visions of ,shams and humbugs' among humankind never saw
anything so finished in hypocrisy as ehe nacuralist now finds in every tropical forest.
There are to be seen creacures, not singly, buc in cens of thousands, whose every
appearance, down eo ehe minucesc spoc and wrinkle, is an affront ro truch, whose
every atcicude is a pose for a purpose, and whose whole life is a sustained lie. Before
chese masterpieces of decepcion ehe mosc ingenious ofhuman impositions are vulgar
and transparent. Fraud is not only ehe general rule oflife in a tropical forest, buc the
one condition of it. 86
Wicklers Modell sieht vor, die Mimikryphänomene - bekannt als Baressehe, Mer tensche, Müllersche, Peckhamsche Mimikry, etc. - als unterschiedliche Formen
der Signaltäuschung zu untersuchen. 79 Hierbei werden die Merkmale einer Art als
Signale gedacht, welche der ,Nachahmer' kopiert. Die wichtigste Position nimmt
der Beobachter beziehungsweise der Prädator ein. Eine erfolgreiche Signaltäu schung liegt dann vor, wenn die Signale des ,Nachahmers' von der dritten Partei
falsch interpretiert werden, dieser also den ,Nachahmer' mit dem ungenießbaren
,Vorbild' verwechselt, woraus ein Populationsvorteil für das Mimikrytier resultiert. Das triadische Kommunikationsmodell besitzt eine vergessene Vorgeschich te, die zurück zu den Anfängen der Mimikryforschung führt.
Die Theatermetaphorik erfreut sich um 1900 einer besonderen Beliebtheit. Im
Jahre 1901 verfasst der bedeutende amerikanische Myrmekologe (Ameisenfor scher) William Morton Wheeler einen Artikel, mit dem er die Mimikry einer großen Leserschaft vorstellen möchte. Er greift dafür auf das berühmte „All the
world 's a stage" aus Shakespeares As you like itzurück .80 Wheeler schreibt, dass das
Leben der Tiere eine Farce ist, ein Melodrama mit unsicherem Ausgang.
Tue Shakesperian conception of the human world as a srage may be expanded ro
include ehe animal world as weil. Like ourselves, animals enrer on ehe struggle for
exiscence wich a modicum of equipmem in figure, complexion, voice, and demeanor, and wich ehe assignmenr of a definite role ro play in ehe melodrama oflife. 81
78 Wickler, Mimikry. Nachahmung und Täuschung in der Natur, 10.
79 Ders., ,,Mimicry and ehe evolucion of animal communicacion", Nature 208 (1965), 519-521.
80 William Shakespeare, As you Like it, in: ders., The Complete Works, hrsg. Scanley Wells,
GaryTaylor, Oxford 1986, 705-734, hier 717, Vv. 1063 f.
81 William Morcon Wheeler, ,,Imposcors among Animals", Century 40 (1901), 369-378, hier
369.
113
Derartige Anthropomorphismen sind keine Seltenheit. Auch Wallace verwendet
sie gerne in seiner Darstellung der Mimikry:
They [d.i. die Mimikryschmetterlinge] appear like accors or masqueraders dressed
up and painred for amusement, or like swindlers endeavouring ro pass rhemsel ves
off for well-known and respectable members of sociecy. Whac is the meaning of rhis
scrange travescie? Does Nature descend ro imposture or masquerade? We answer, she
does not. Her principles are coo severe .87
Im deutschsprachigen Raum bezeichnet man die Mimikrytiere ganz ähnlich als
,,Schauspieler" 88 oder „Harlekin[e]" .89 Edward Poulton warnt davor, über der Schauspielermetapher die natürli che Selektion ganz zu vergessen:
82
83
84
85
86
Ebd .
Henry Drummond, TropicalAfrica, London 1888, 161.
Ebd., 177.
Zu diesem Zeitpunkt wird ihre Tarnung noch als ,Mimikry' bezeichnet.
Drummond, Tropical Africa, 161. Vgl. Hillel Schwanz, The Culture of the Copy. Striking
Likenesses, Unreasonable Facsimiles, New York 1996, 178.
87 Wallace, Contributions, 124.
88 Vgl. Hauser, Schauspieler, 229.
89 Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, II, 229.
114
POETIK DER EVOLUTION
W!SSENSTRANSF ER ALS WISSENSPRODUKT!ON
Mr. Bates's term has been criticised because it is generally used to describe volunt ary
actions, whereas ehe Mimicry alluded to in ehese pages is of course unconscious, and
has been graduall y produced by ehe operaeion of natural selection .90
inquire whac reason can possibly be assigned for certain butterfües and moth s so
ofren assuming ehe dress of orher and quire distinct forms; why, to ehe perplexity of
narura lists, has nature condescended to ehe tricks of ehe stage? Mr. Bates has , we
cannot doub c, hie on ehe true explanation. Tue mocked forms, which always abound
in nurnbers, must habieually escape , to a !arge exrent, destruction, orherwise chey
could not exist in such swarms; and Mr. Bates never saw ehern preyed on by birds
and certain !arge insects which attack other butterfües; he susp ects chat ehis imrnunity i s owing to a peculiar and offensive odour ehat chey emit. Tue rnocking forrns,
on ehe other hand, which inha bir ehe same district, are comparatively rare, and
belong to rare groups; hence ehey must suffer habituall y from some danger, for ocherwise, from ehe number of eggs laid by all butterfües, chey would, if not persecuted,
in rhree or four gene rations swarm over ehe whole country . Now if a rnember of one
of chese persecuted and rare groups were to assurne a dress so like that of a well-pro tected species that it continually deceived ehe practised eyes of an entornologist, it
would often deceive predacious birds and insecrs, and ehus escape entire annihilarion. lt rnay almest be said that Mr. Bates has wirnessed ehe process by which ehe
rnimickers have come so closely to resemble ehe mimicked; for he shows rhat sorne
of ehe forms ofLeptalis, whether these be ranked as species or varieties, which mimic so many other butterfües, vary rnuch . In one district several varieties occur, and
of these one alone resembles, eo a certain extent, ehe common Ithomia of ehe same
disrrict. In another district there are rwo or rhree varieties, one of which is much
comm one r chan ehe ot hers, and this closely mocks and Ithomia. From rnany facts of
this nature, Mr. Bates concludes that in every case ehe Leptalis originally varied; and
chat, when a variety arose which happened to resemble in some degree any common
butterfly inhabiting the same district, chis variety, frorn its resemblance to a Bourishing and litcle-persecuted kind, had a better chance of escaping destruction from
predacious birds and insects, and was consequencly oftener preserved;- ,ehe less
perfect degrees of resemblance being generacion after generation eliminated , and
only ehe othe rs left eo propagate their kind.' So chat here we have an excellent illustration of ehe principle of natural selection .93
Bates' Aufsatz ist nicht die Hauptquelle der verbr eit<::ten Theater - und Schauspielermetaphorik. Viel mehr in Frage kommt dafür Darwins Origin of Species. Nachdem Darwin die verbl üffende Ähnlichkeit zwischen den Schmette rlin gsarten Lepta!is und lthomia vorgestellt hat, stellt er im 13. Kapitel der vierten Auflage die
alles entscheidende rhetorische Frage, die durch den Gebrauch de r Theatermetapher eine besondere Anschaulichkeit
und Zuspitzung erhält .91 „Why, eo ehe perplexity of nacuralists, has nature condescended to ehe tricks of the stage?"92 Auf grund ihrer zentra len Position innerhalb der Mimikryforschung
sei die Pass age
hier in voller Länge zitiert:
Tue most remarkable case of analogical resemblance ever recorded , though not
dependent on adaptation to similar conditions oflife, is that given by Mr. Bates wich
respect eo certain butterfües in ehe Amazonian region closely mimicking other
kinds . This excellent observer shows that in a district where, for instance, an Ithomia abounds in gaudy swarms, another butterfly, namely a Lepealis, will often be
found mingled in ehe same Bock, so like ehe Ithomia in every shade and stripe of
colour and even in ehe shape of its wings, that Mr. Bares, wich his eyes sharpened by
collecting during eleven years, was, though always on his guard , continuall y
deceived . When ehe mockers and ehe mocked are caught and compared they are
found eo be totally different in essential structur e, and to belong not only to distinct
genera, but often to distinct families. [.. .] Tue mockers and mocked always inhabit
ehe same region; we never find an imitator living remote from ehe form which it
counterfeits. Tue mockers are almest invariably rare inseccs; ehe mocked in almest
every case abound in swarms. In ehe same distr ict in which a species of Leptalis
closely imitates an Ithomia, there are sometimes ocher Lepidoptera mimicking ehe
same Ichomia; so thac in ehe same place, species of chree genera of bucterfües and
even mochs may be found all closely resembling a species of a fourth genus. It
deserves especial noti ce chat many of ehe mimicking forms of ehe Leptalis, as weil as
of ehe mimicked forms, can be shown by a graduaced series to be merely varieties of
ehe same species; whil sc others are undoubtedly distinct species. Buc why, it may be
asked , are certain forms created as ehe mimicked and others as ehe mimickers? Mr.
Baces saeisfactorily answers this question, by showing that ehe form wh ich is imitated keeps ehe usual dress of ehe group to which it belongs, whilst ehe counterfeicers
have changed cheir dress and do not resemble their nearest allies. We are next led to
90 Poulton, The Colors of Animals, 223 f Die unbewusste Aktion, die Poulton erwähnt , bezieht sich nicht auf die Hervorbringung von Eigenschaften, sondern auf das Verhalten, das
die morphologische Ähnlichkeit begleitet. Dazu zählt etwa die Ähnl ichkeit im Flugverhalten der Schmetterlinge .
91 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Darwins Gebrauch von Metaphern, deren
episremes Potenzial allerdings häufig unterschätzt wird, sollen hier nur zwei repräsentative
Arbeiten erwähne werden: Ferdinand Fellmann, ,,Darwins Metaphern", in: Arch iv für Begriffigeschichte (21) 1977, 285-297; Uwe Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen.
Historische und kritische Studien, Tübingen 1986, 130-139.
92 Darwin, On the Origin ofSpecies by Means of Natural Selection,1866, 506. [Hv. v. K. C].
115
In der von Carus besorgten deutschen Ausgabe wird „t ricks of the stage" 94 mit
,,Bühnenmanöver" 95 übersetzt. Vom ,Theater der Natur ' in den Na tur wissenschaf ten zu sprechen, ist zunächst nichts Un gewöhnliches. 96 Di e Theatermetaphorik
93 Ebd., 504-506 . Aus seiner zuvor veröffentlichten Besprechung hat Darwin die rhetorische
Frage wörtli ch übernommen : ,,Why then, we are nacurally eager eo know, has one butterfly or moth so ofren assumed ehe dress of anorher quite disrinct form; why, to ehe perplexiry of naturalists, has Nature condescended to ehe tricks of the stage?" [H . v. K. C.JCharles
Darwin, ,,[Review of1 Contribucions to an insect fauna of ehe Amazon Valley. By Henry
Walter Bares", Natural History Review 3 (April) (1863), 219-224 , hier 220 f.
94 Darwin, Origin of Species, 1866, 505.
95 Ders., Über die Entstehung der Arten, 498.
96 Vgl. zur Theatralirät als wissenschafrsgeschichclicher Kategorie: W. Tartarkiewicz, ,,Theatrics. The Science ofEnlighrenmem : From the 12th to the 17th Cencury",Journal of the
His tory of !deas 26 (1965), 263-273; Heimar Schramm, Karneval des Denkens . Theatralität
im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17 Jahrhunderts , Berlin 1996; Bühnen des
Wzssens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kun st, hrsg. ders., Hans-Christi an von
Herrmann, Berlin 2003.
116
POETIK DER EVOLUTION
(,,tricks of ehe stage") 97 ist allerdings weder bloßes Ornat noch die rhetorische
Aktualisierung des antiken Topos von der Welt als einer Bühne: ,,1heatermetaphorik unterstützte ganz konkret das Bemühen, sich einen Begriff von Welt zu
machen." 98 In der ,Zusammenschau' (theatron) der Naturerscheinungen werden
die Anpassungsvorgänge der Mimikry sichtbar gemacht (actualitas) beziehungs weise vor Augen gestellt (evidentia) .
Das Wort ,stage' ist semantis ch mehrdeutig. In den Origin meint es sowohl die
evolutionäre ,Stufe' als auch den Ort beziehungsweise Schauplatz der Evolution.
Darwin seinerseits entlehnt die Theatermetaphorik der Geologie, der damaligen
Leitwissenschaft in England .99 Im 10. Kapitel, das die Fossilfunde als Beweise für
die allmähliche Artentstehung anführt, repräs entieren die Erdschichten den vergangenen Schauplatz der Evolution. In den Palimpsesten zeigt sich nach Darwin
,,an occasional scene, taken almost at hazard, in a s!owly changing drama"_ too
,1heatrum' meint ursprünglich einen Ort, genauer: einen ,Schau -Platz', an dem
sich etwas ereignet. Diese Bedeutung hat sich im deutschen ,Theater' und engli schen ,th eatre' erhalten : ,,A place wher e some acrion proceeds; ehe scene of
action". toi So nimmt es nicht wunder, dass das Wort ,theatre' häufig in der Geologie Verwendung finde t. In Charles Lyells Princip!es of Geo!ogy und Robert
Chambers Vestiges of the natura! history of creation, die Darwins Evolutionstheorie
maßgeblich beeinflusst haben, ist ,theatre' die Metapher für die Erde . Lyell schreibt
vom „theatre of violent earthquakes". l02 Chambers stellt den Begriff in unter schiedliche geohistorische Kontexte, um das ,Schauspiel des Lebens' zu beschreiben : ,,theatre of life like the earth", ,,theatre for ehe existence of land planes and
animals", ,,a suitable theatre ofbeing for land animals", ,,the theatre of an extensi ve creation of ehe highest dass of animals", ,,a theatre of organic being", ,,the terraqueous theatre of their [d.i. Lebewesen] being". l03
97 Darwin, On the Origin , 1866, 505.
98 Schramm, Karneval des Denkens, 51. Vgl. zur Theatralität als literaturwissenschaftlicher
Kategorie: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, hrsg. Gerhard
Neumann, Caroline Pross, Gerald Wildgruber, Freiburg 2000; Theatralität und die Krisen
der Repräsentation, hrsg. Erika Fischer-Lichte, Stuttgart/ Weimar 2001; Theatricality . Mo dern Language Notes 122 (2005), hrsg . Rüdiger Campe, Christoph Wild.
99 Vgl. zu Darwins Verwendung von naturgeschichtlichen Topoi: Ospovat, The Development
of Darwins Theory.
100 Darwin, On the Origin ofspecies [1859], 315. (Hv. v. K. C]
101 Art. ,,theatre, theater", in: The Oxford English Dictio nary, XVII, 881-882, hier 882 .
102 Charles Lyell, Principles of Geology. Being an Attempt to Explain the Former Changes of the
Earth's Surface, by Reference to Cause Now in Operation, London 1830, I, 199.
103 Robert Chambers, Vestigesof the natural history of creation, London 1844, 39, 76, 240, 92,
127, 161, 162, 240.
WISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
117
Theatralität bringt - und darin liegt ihre epistemische Funktion - die „radikale
Neuheit"to 4 der Origin zur Darstellung: die Verzeidichung der Natur.l0 5 Stellt man
sich das Leben als ein Drama vor, so erhält es eine Struktur, in welche die natürliche
Selektion gleich einer unbekannten säkularisierten Schicksalskraft eingreifen kann.
Darwin, der sich bis zur Entdeckung der Mimikry vorwiegend auf fossile Funde
stützt, deren Lückenhaftigkeit zu seinem Leidwesen eine willkomm ene Zielscheibe
für seine Kritiker abgibt, wendet den Blick von den vergangenen zu den rezenten
Organismen, von den Erdschichten zur Erdoberfläche. Die Zeit wandert in den
Schauplatz der Natur ein: Das Theater der Mimikry eröffnet eine Perspektive auf
die Gegenwart, das Theater der Geologie dagegen auf die Vergangenheit. Verzeitlichung bedeutet nichts anderes als die Darstellung des Lebens in der Zeit, das in der
ständigen Differenz zu sich selbst steht. Mit der Emergenz neuer Arten produziert
die Natur ständig neue Differenzen. Evolution ist ein Prozess der Bildung von Differenz. In der Verzeidichung fußt die Affinität von Theatralität und Evolution. Theatralität ist ein Medium, welches das „s!owly changing drama"lOGder Evolution zeigt.
In dem theatralen Rahmen zeigt sich die Evolution als ein Drama von Leben und
Tod. Präsenz und Entzug zusammenzudenken, ist eine Besonderheit des theatralen
Denkstils. w7
Das Theatralitätsmodell wird von der (neo - und psycho -) lamarckistischen
Evolutionsbiologie übernommen, wo es einen Rahmen schafft, in dem das Verhältnis zwischen Umwelt und Tier untersucht werden kann. In einem zweiten
Schritt bereitet es die Psychologisi erung der Mimikry vor, indem zwischen Sein
und Schein der Tiere unterschieden wird. Die Theatralitäts -Metaphorik bewirkt
104 Vgl. Georges Canguilhem, ,,Zur Geschichte der Wissenschaften vom Leben seit Darwin", in:
ders., Wissenschaftsgeschichteund Epistemologie, hrsg. Wolf Lepenies, Frankfurt a.M. 1979,
134-153, hier 139. In welchem Ausmaß die Geologie zur Veränderung des Zeitbegriffs -von
einem durativen oder iterativem zu einem linear evolurionären - beigetragen hat, stellt an
dieser Stelle eine Frage von geringerem Gewicht dar, da hier allein die Theatermetaphorik
und ihre epistemische Funktion im Mittelpunkt stehe. Dass die geologischen Entdeckungen
die wahre temporäre Dimension der Erdgeschichte offenbart hätten, ist Stephan Jay Gould
zufolge ein Mythos. Trotzdem zeigt er anhand der geognostischen Theorien von Thomas
Burnet (Theoria sacra telluris, 1681), James Hutton (Theory of the Earth, 1795) und Charles
Lyell (Principles of Geology, 1830) den Übergang beziehungsweise das Zusammenspiel der
zyklischen und sagittalen Zeitvorstellung auf. Stephan Jay Gould, Times Arrow, Time's Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time, Cambridge 1987. Vgl. auch David
R. Oldroyd, Thinkingabout the Earth. A History of Ideas in Geology, London 1996.
105 Die Theacralität in den Origin ist bisher übersehen worden. Vgl. für ihre Bedeutung in
Darwins The Expression of The Emotions in Man and Animals: Herrmann, Das Archiv der
Bühne, 271 -284 .
106 Darwin, On the Origin ofspecies. A Facsimile, hrsg . Ernst Mayr, 315. (Hv. V. K. C]
107 Vgl. zur Ambivalenz von Präsenz und Entzug: Samuel Weber, Theatricality as medium,
New York 2004, 7, 13-17. Vgl. zur Theacralität als Denkstil: Schramm, Karneval des Denkens. Vgl. für einen Forschungsüberblick zum Thema ,Theatralität': Gabriele Brandstetter,
„Dies ist ein Test. Theacralität und Theaterwissenschaft", in: Theatralität als Modell in den
Kulturwissenschaften, hrsg. Erika Fischer-Lichte, u.a., Tübingen/ Basel 2004, 27-42.
118
POETIK DER EVOLUTION
damit die Selbstverdopplung des Tieres oder seine Spaltung in eine psychische
und physische Hälfte. Kurz, es wird möglich, dem Tier einen Geist und einen
Willen hinter der Verstellung zuzuschreiben. Ob die Mimikry auf ein em Willen,
Instinkt oder Trieb basiert, steht lange Zeit im Mittelpunkt von Debatten in der
Tierpsychologie. Wissenspoecologisch und metaphoroiogisch betrachtet, ermög licht es die Figur des Schauspielers, von einer teleologischen Absicht und einem
Willen hinter der Mimikry auszugehen . Die theatralische Dimension der Mimik ry bewirkt, dass das Leben - sei es das der Insekten oder das des Menschen - dra matisiert wird.
6 .2. Poetik des Wissens. Zur Abgrenzung
von Wissen und (Pseudo-) Wissens chaft
Der Ausdruck ,szientistischer Mythos' erweckt zunächst den Eindruck einer contradictio in adiecto, gelten doch Wissens chaft und Mythos für gewöhnlich als
Gegensätze. In aufk lärerischen Geschichtsauffassungen steht Wissens chaft für
einen Prozess der Überwindung der prärationalen Verstehensstruktur des Mythos.
Mit der Hinzufügung des Wortes ,szientistisch' wird hier die Absicht verfolgt,
eine Besonderheit des Mythos hervorzuheben, welche darin besteht, dass er mit
einer wissenschaftlichen Tatsache verwechselt wird.
Diese Simulation von Wissenschaftlichkeit ist das eigentlich erstaunliche an
ihm. Ausschlaggebend für die Suggestionskraft der Humanmimikry mag die ihr
immanente mythologische Struktur sein. Sie entspricht zwar weder den Normen
einer wissenschaftlichen Begründungslogik noch erfüllt sie die Kriterien der Prüf barkei t, aber sie stellt trotzdem eine Ordnung dar, eine Ordnung des Wissens,
welche der Logik der Wissenschaft täuschend ähnlich ist. Obwohl diese Logik auf
fragwürdi gen Annahmen und Schlussfolgerungen, die von vielen der Zeitgenos sen angezweifelt werden, basiert, scheinen sich die Elemente gegenseitig zu stützen
und bilden ein kohärentes Gedankengebäude. Es handelt sich um eine idiosynkratische ,Logik' der Wörter und Ideen, in deren Rahmen ein neuer Ver- und Zuweisungszusammenhang der Wissenselemente möglich wird .
Wie lässt sich aber der szientistische Mythos von der ,normalen' Wissenschaft
unterscheiden? Die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft
ist in jün gster Zeit stark hinterfragt worden, nicht zuletzt weil wissenschaftliche
Obj ektivitätskriterien keine metaphysischen Ideale darstellen, sondern dem histori schen Wandel unterliegen. Eine klare Differenzierung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft erweist sich aus diesem Grund als ein schwieriges Uncerfangen. 108
108 Vgl. zur Diskussion um den Begriff der Pseudowissenschaft: Michael Hagner, ,,Bye-bye
science, welcome pseudoscience? Reflexionen über einen beschädigten Status ", in: Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte,hrsg.
Dirk Rupnow, u.a., Frankfurt a.M. 2008, 21-50.
WISSENSTRANSFER ALS WISSENSPRODUKTION
119
Das sogenannte „Absetzungsprobl em" 109 betrifft nach Karl Popper die Differen zierung zwischen empirischer Wissenschaft und Nichtwissens chaft. Der Kritische
Rationalismus, der im wissenschaftlichen Fortschritt ein wesentliches Kriterium
von Wissenschaftlichkeit erkennt, folgt einer geschichtsphilosophischen Vorstellun g, die sich auf die bekannte Formel ,vom Mythos zum Logos' bringen ließe. 110
Poppers Instrument der rat ionalistischen Mythenkritik ist die Falsifikation. Empir ische Theorien sind wissenschaftlich , wenn sie falsifizierbar sind. Mit Popper ließe
sich die Geschichte der Wissenschaften als eine Geschichte der Prüfungen begreifen, der Myth en unterworfen werden. Inn erha lb dieser Geschichte versuchen sich
Myth en aber den Prüfungen zu entziehen. Hans Albert spricht diesbezüglich von
dem Versuch einer „Immun isierung gegen Kritik" 111 .
„Folglich muß Wissenschaft mit Mythen und mit der Kritik an Mythen
beginnen." 112 Diesem Anspruch hat sich auch der Kritische Rationalismus verschrieben. Seine eindeutige Trennung von Mythos und Wissenschaft ist jedoch
insofern problematisch, als sie die Möglichkeit ihrer klaren Unterscheidung voraussetzt. Wie verhält es sich aber mit jenen Mythen - und der Mythos der Humanmimikrygehörtzuihnen-,
dieversu chen, sich das „Label der Wissenschaftlichkeit" 113
anzuheften, ohne den Prozess der Falsifikation zuvor durchlaufen zu haben? Eine
derartige Untersuchung der Täuschungsstrategien steht offensichtlich außerhalb
des Interessengebietes des Kritischen Rationalismus, da dieser das positive, aber
nicht ,falsche' beziehungsweise verworfene Wissen analysi ert.
Paul Feyerab end vertri tt einen anderen Ansatz. Er beabsichtigt zu erklären, wie
Mythen in den Wissenschaften operieren . Sein fortschrittskritischer Zugang bezweifelt die teleologische Entwicklung vom My thos zum Logos. Er hebt, wie Hans
Blumenberg 114 , das Spielerische des Mythos hervor. 115 Mehr noch: Wissenschaftli che Theorien sind für ihn Mythen.
109 Karl R. Popper, Logik der Forschung, in : ders., Gesammelte Werke, hrsg . Herbere Keuch,
Tübingen 2005 , III, 10-15. Vgl. zur Diskussion zum Absetzungsproblem bei Popper, Imre
Lakacos und Paul Feyerabend: Scengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaften, 35-61.
110 Karl R. Popper, Vermutungen und Widerlegungen . Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, in : ders., Gesammelte Werke, X, 56 .
111 Hans Albere, Kritischer Rationalismus. Vi'erKapitel zur Kritik illusionären Denkens, Tübingen 2000, 208. Vgl. zur „Immunisierung" : Hans Albere, Traktat über kritische Vernunft,
Tübingen 1975, bes. 71 ff., 96 ff., 106 ff.; Popper, Logik der Forschung, 58.
112 Popper, Vermutungen und Widerlegungen, 76.
113 Scengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaften; 37.
114 In Arbeit am Mythos behandele Blumenberg die modernen Wissenschaften, abgesehen von
kurz gehaltenen Äußerungen zum Darwinismus und zur Gestaltpsychologie, leider nicht.
Es bestehen Parallelen zwischen seinem und Feyerabends Konzept, die vor allem das ludi sche Element des Mythos betreffen . Ein Vergleich ihrer beiden Mythenkonzepten kann
an dieser Stelle nicht erfolgen .
115 Feyerabend ist für seine anarchistische und relativistische Radikalität kritisiert worden.
Zwar sei ihm in Bezug auf seine Kritik am Glauben an eine wissenschaftliche Objektivität
zuzustimmen, so Scengers, doch entziehe er sich gleichzeitig der Frage, wie überhaupt das
Kriterium der Wissenschaftlichkeit bestimmt werden könne. Fragwürdig ist zudem seine
120
POETIK DER EVOLUTION
Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die
Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer
und fällt auf. 116
Feyerabend sieht in der menschlichen Subjektivität keines wegs den Geg enp ol zur
Wiss enschaft, sondern jene Instanz, die über den Wert oder den Unwert sowie die
Nützlichkeit von wissenschaftlicher Forschung entscheidet. 117
Entscheidungen über den Wert, die Nützlichkeit und den Gebrauch der Wissen schaften sind nicht wissenschaftliche , sondern Entscheidungen, die man ,existentielle' nennen könnte . Sie sind Entscheidungen, auf eine bestimmte Weise zu leben,
zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten .118
Inter essant ist, dass er von einem externalistischen, außerhalb der Wiss enschaft
und des Wissens liegenden Faktor ausgeht, dem er außerdem die Eigentümlich keit zuschreibt, Handlungs- und Denkschemata affektiv aufzuladen .
Feyerabend umgeht das Absetzungsproblem, indem er die Differenz von Wis senschaft und Nichtwissenschaft
in sich zusammenfallen
lässt. Er wählt einen
existenzialistischen Zu gang , um die Entstehung von Wissenschaft erklären zu
können. Existenzialistisch ist seine Perspektive auf die Wissenschaften und das
Wissen, weil er nicht von äußeren Faktoren ausgeht, sondern das wissenschaftli che Denken und Arbeiten innerhalb der menschlichen Existenz verortet. Aufgabe
der Wissens chaft ist es, das Leben verst ändlich und schließlich beherrschbar zu
machen. Hierin ähnelt sie nach Feyerabend im Übrigen der Kunst. 119
Einen vergleichbaren Weg schlägt Ludwik Fleck ein. Zwar spricht er ni cht explizit von My then, aber auch er betont die Bedeutung von irrationalen Motiven, die
Illusionseffekte gener ieren können. Bei der im Hintergrund des Mythos operierenzweite Hauptannahme, die Struktur der abendländischen Wissenschaft verdanke sich der
militärischen, ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse, eine These, die er in Irr wege der Vernunft vertritt . Paul Feyerabend, Irrwege der Vernunft, Frankfurt a.M. 1989,
bes. 431-432; Stengers, Die Eifindungder modernen Wissenschaften, 61.
116 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1986, 385. Vgl. Feyerabend,
Irrwege der Vernunft, 49.
117 Es sei angemerkt, dass Feyerabend hier kein Irrationalismus unterstelle wird. Denn er
wehrt sich nicht gegen die wissenschaftliche Praxis an sich, sondern gegen eine unüberlegte
Gleichsetzung von objekcbezogenerObjektivität und objektiver Methode .
118 Feyerabend, Irrwege der Vernunft, 49.
119 Scengerskritisiert Feyerabends oftmals als ,anarchistisch' bezeichneten Relativismus, der
Hand in Hand gehemit einer „Enthüllun gs- und Denunziacionsstracegie", welche die Entstehung von Wissenschaft und Wissen auf sozioökonomische oder militärische Interessen
zurückführt und damit eine mitunter vereinfachende Darstellung komplexer historischer
Vorgängedarstellt. Vgl. Scengers,Die Eifindung der modernen Wissenschaften, 61. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an einem anderen, eher ,existenzialistischen' Argument Feyerabends, dem zufolge Wissenschaft und Wissen eine Art von Lebenskunst repräsentiert, mit der der Mensch versucht, das Leben zu verstehen, zu ertragen und nicht
zuletzt zu beherrschen.
WISSENSTRA N SFER ALS WISSENSPROD UKTION
12 1
den Kombinationskraft
handelt es sich, in seinen Worten , um eine „schöpferische
Dichtung "; darunter versteht er die „magische Versachlichung der Ideen, das Erk lären, daß eigene w issenschaftliche Träume erfüllt seien. " 120 Durchaus ist die Human mimikry mit einem derartigen (Wunsch -)Traum vergleichbar, einem Traum, der in
den ,Meinungssystemen ' der Wissenschaft, Kultur und Literatur geträumt wird
und sich den jeweiligen Denkgewohnheiten
anpasst. Die Meinungssysteme teilen
ein gem einsa mes Anliegen: die Faktualisierung eines Wissensobjekt es, das pa rado xer Weise imaginärer Natur ist.
Mit einer „Poetolog ie des Wiss ens " 121 beabsichtig t Joseph Vogl methodisch übe r
das Feld des positiven Wissens hinauszugehen . Das Untersuchungsfeld der W issens geschichte ist damit weiter gefasst als das der Wissenschaftsgeschichte. Im Vergleich
zu Flecks Ansa tz werden die Elemente des wissenschafrlichen Wunschtraums und
seine latente Motivation stärker in den Vordergrund gerückt. Bei der Poetologie des
Wissens
geht also nicht nur um die Entdeckung wahrer Aussagen und Theorien, sondern vor
allem um die Formierung eines neuen und ergiebigen Objekts. Und dieses Wissen sobjekt wird als Ensemble von Implikationsrelationen gefasst, die sich [... ] zwischen
Hypothesenbildung und Fiktio n, Beobachtung, Evidenz, literarischer Überliefe rung und [.. .] Sehen und Imaginieren herstellen. 122
120 Fleck, Entsteh ung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 46. Mit Freud könnte
man auch von der Allmacht des Gedankens sprechen, der sein Recht auf die Wirklichkeit
geltend mache.
121 Poetologien des Wissens um 1800 , hrsg. Joseph Vogl, München 1999.
122 Joseph Vogl, ,,Robuste und idiosynkratische Theorie", KulturPoetik 2 (2007), 249-258,
hier 254 f.: Die Poetologie des Wissens untersuche, ,,welcheWissensobjekte mit der Form
ihrer Darstellung verknüpft" werden. Sie folgt der Annahme , ,,dass epistemische Sachlagen ästhetische Entscheidungen - und umgekehrt - implizieren." ,Wissenspoetik' bezieht
sich nicht auf die Poetik eines Autors beziehungsweise Wissenschaftlers, sondern auf die
poetische Struktur des Wissens. Es wird im folgenden der methodische Begriff der ,Poetik' dem einer ,Poetologie' des Wissens vorgezogen, weil auf diese Weise der regelgeleitete
beziehungsweise strukturelle Charakter des Wissens hervorgehoben werden soll. Der Begriff der Poetologie umfasst eine größere Zahl von Elementen, die zum Teil lose vorliegen
können. Vgl. zur Kontroverse bezüglich der Grenzen und Möglichkeiten einer Poetologie
des Wissens: Roland Borgards, ,,Wissen und Literatur. Eine Replik aufTilmann Köppe",
Zeitschrift für Germanistik 2 (2007), 425-428; Andreas Dittrich, ,,Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte", Zeit schrift
für Germanistik 3 (2007), 631-637; Gideon Stiening, ,,Am ,Ungrund' oder: Was sind und
zu welchem Ende studiert man ,Poetologien des Wissens'?", Kulturpoetik 2 (2007), 234248; Tilmann Köppe, ,,VomWissen in Literatur", Zeitschrift für Germanistik 2 (2007) ,
398-410; ders., ,,Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards
und Andreas Dimich" , Zeitschrift für Germanistik 3 (2007) , 638-646. Vgl. zur Unterscheidung zwischen einer ,Poetik' und ,Poetologie' des Wissens: Daniel Fulda, ,,Poetologie
des Wissens. Probleme und Chancen am Beispieldes historischen Wissens und seiner Formen". 15. Gött inger Workshop zur Literaturtheorie, 20.06.2008. http://www.simonewinko.de/fulda_text.htm.
122
POETIK DER EVOLUTI ON
Der Mythos der Humanmimikry ist ein Objekt der Wissensgeschichte, das in die
Wissens chaftsgesc hichte der Mimikry hineinreicht. D er Mythos geht nicht im
Feld des positiven Wissens auf. Zu ihm gehören auch solche Aussag en, über
deren wissenschaftlichen Status in Vergangenhe it wie Gegenwart Uneinigkeit
besteht.
·
In der vorli egenden Untersuchung soll das Absetzungsproblem und die Diskus sion um das Verhältn is von Mythos und Wissenschaft nicht weiter verti eft werden. Vielmehr gilt es, das Absetzungsproblem seinerseits zu historisieren, es also
als den geschich tlich en Hintergrund zu begreifen , vor dem die Frage nach dem
spezifischen epistemischen Status der Humanmimikry profiliert werden kann. 123
Ni cht die einmalige Markierung einer Differenz zwischen Wissenschaft und
N ichtwissenschaft steht damit im eigentlichen Zentrum des Interesses, sondern
der Prozess der Absetzung, welcher die Verschiebungen der Grenze zwischen Wis senschaft und Nicht -Wissenschaft, die Operationen der Verschleierung derselben
sowie die leisen Glissaden von Begriffen, Konzepten, Modellen, aber auch von
M etaphern innerhalb von Texten umfasst. Dieser Prozess findet nicht außerhalb,
sondern innerhalb der Geschichte des Wissens statt.
Im szientistischen Mythos der Humanmimikry amalgamieren die Logik der
Kultur und die Logik der Wissenschaft, was in einigen Fällen nicht unproblema tisch ist, da diese gegenseitige Kontamination häufig unbemerkt bleibt. Aufgabe
der vorliegenden Wissensgeschichte der Humanmimikry ist es aus diesem Grund,
die Strat egien zu unter suchen, mit denen Wiss en vortäu scht, wissenschaftli ch zu
sein . Welchen historischen Wandel durchlaufen Absetzungskriterien und welche
Wissens chaftler und Wissenschaften stellen sie auf? Unter welch en Bedingungen
und in welchen wissenschaftlichen Disziplinen um 1900 stellt die Humanmimikry eine wissenschaftliche Tatsache oder, im Gegenteil, einen Irrglauben dar?
123 Innerhalb der wissenschafrsphilosophischen Absetzungsdebatte im Kritischen Rationalis mus werden die histor ischen Aspekte dieses Problems nicht berücksichtigt.
D.
HUMAN MIMIKRY
Zur Wiss ensgeschichte des ,Menschen'
(ca. 1880---1960)
7. Das Auftauchen des Mimikrytiers ,Mensch' um 1900
(Ethnologie, Psychologie, Schauspielertheorie, Zoo logie, u.a.)
Der szientistische Mythos der Humanmimikry ist ein zufälliges Nebenpro dukt
der Krise, in der sich die Mimikryforschung um 1900 befindet. Er ist ein e jener
,,Ausgeburt[en] [der] wüste[n] Phantasie"1, vor denen die Kritiker der Mimikry forscher so eindringlich warnen. Di eser Einwand kann jedoch das Auftauchen der
menschlichen Mimikry in einer Vielzahl von Diskursen und Wissensformationen
nicht verhindern: In der M edizin und der Zoologie, in der Anthropologie und
Populärwi ssenschaft sowie in theoretischen Texten zur Schauspielkunst tritt sie
zunächs t auf ganz unterschiedliche Weisen in Erscheinung:
Welch eine geheimnisvolle Mimikry in der Bildung unseres Gesichts und unseres
Leibes nicht nur, sondern auch in den · feinsten Regungen unseres Gemütes . Hat
nicht das Au ge des Seemanns den Farbton der See, wie die Qualle den farblos
durchsichtigen Charakter des Wassers ?2
De r Verfasser dieser Zeilen ist der M ediziner und Erfinder der Infiltrationsanästhesie Ca rl Lu dwig Sch leich (1859-1922). 3 Neben seiner Tät igkeit als Arzt verfasst
er populärw issenschaftliche Texte wie etwa die Schrift Von der Seele, aus der das
obige Zitat stammt. Schleich ist der festen Überzeugung, dass eine Mimikry des
Menschen existiert .
Ist es ein Unterschied, wenn das lan gbeinige Insekt Form und Farbe von Zweig un d
Blatt an nimmt , und wenn des Menschen innerstes geistiges Bewegen, seine Lieder,
seine Sehnsüchte abhängig sind von dem Boden, der ihn geboren? Das eben sind jene
rhythmisch gestalten den Bewegungswellen, die Land und Pflanze, Tier und Mensch
eines bestimmt en Bezirkes schließlich abstimmt auf eine biologische oder ästhe tische
Einheit, die so klar hervortritt an den autochthonen Poeten der Heimat. 4
Schleich beobachtet im alltäglichen Leben, dass M enschen, wenn sie für eine
gerau me Zeit zusammenleben, sich im zunehmenden Maße ähn licher werden.
Werden doch Menschen ähnl ich im Gesichtsausdruck, die lange anei nander gekettet sind! Kann doch jede Form von Mimikri [sie] nur funktionell entstanden sein !5
1 Scudy, ,,Die Mim ikry als Prüfstein phylogenetischer Theorien", 371.
2 Carl Ludwig Schleich, Von der Seele, Berlin 29 1928, 297.
3 Die Infiltrationsanästhesie ersetzt die vorher übliche Äther-Vollnarkose.
4 Schleich, Von der Seele, 297.
5 Ebd. , 147. [Hv. v. K.C.J
126
127
HUMAN MIMIKRY
DAS MIMIKRYTIER ,MENSCH ' UM 1900
Einige Mimikryforscher stellen Überlegungen an , die in dieselbe Richtung gehen .
M ar inu s Cornelis Piepers erk lärt die Entstehung zwischenmenschlic her Ähnlichkeit mithilf e der Suggestionsth eorie . Unter Hypnos e können organismische Verän derungen hervorgerufen werden, die zur Folge haben, dass sich der Körper einem
Vorbild, unter dessen unmittelbarem Einfluss er steht, äußerlich angleicht.
die Ausbildung von Pigmentfle cken, sobald nämlich das Blut aus den Gefäßen austritt. Mit viel Fantasie will er eine Ähnlichkeit zu den Mimikrymust ern erkennen .
„Beachtenswert ist ja vor allem, dass besonders die Farbenmimikry in den Tropen
am häufigsten vorkommt, wo ja die Wärmestrahlung der Sonne intens iv auf die
Hautoberfläche einwirkt." 9 Die Wundmerkmale sind ihm zufolge keine übernatür lichen Wund ererscheinu n gen, sondern „bewußte oder unterbewußte, metaphysikfreie Stigmatisationserscheinungen". 10 Da ss Kispert sich zu derart freigeistigen wie
tollkühnen Spekulationen berufen fühlt, reflektiert das geistige Klima der Zeit, die
sich unter anderem im Spiritismus von den Restriktionen des Materialismus zu
erholen versucht. 11
D er psycho-physische Parallelismus bildet die Grundlage für ästhetischen
Nachahmungstheorien,
die um 1900 das Zusammenspiel von Innen und Außen
beziehungsweise von Körper und Psyche in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung
stellen . Di ese Debatte echot in der späteren Diskussion zwischen Psychologen und
Philosophen Theodor Lipps und Helmuth Plessner. Obwohl der Mimikrybegriff
hier keine Verwendung findet, wird exakt derselbe Sachverhalt beschrieben, den
man Jahrzehnte zuvor bereits in der peripheren Mimikryforschung antrifft. Lipps
und Plessner gehen nicht vom Bewusstsein oder dem Willen, sondern von einem
Regulationsmechanismus
aus, der die Muskelspannung,
Tonusschwankungen,
Organempfindungen
und vegetativen Prozesse betrifft. Plessn er entwirft damit
eine mechanistische Theorie der Autoplastizität. ,,Die Ästhetiker stellen dabei
Begriff und Sache der inneren Nachahmung, der imitatio ins Zentrum ihrer
Überlegungen ."12 Unübersehbar sind die Parallelen zu den angeführten Überle gungen des Mimikryforschers
Piepers. Im folgenden Zitat wird ein mit der
Humanmim ikry identisch er Sachverhalt beschrieben. Imitation wird als eine
,Umformung' der eigenen in eine andere Person verstanden.
Es ist doch aus den hypnotischen Untersuchungen der letzten Jahre bekannt, dass
Nerventhätigkeiten[,] durch äussere Einflüsse auf dem Wege der Suggestion angeregt, bei dem Menschen organische Veränderungen zustande bringen können von
viel zusammengesetzterer Art, als die der nur pigmentalen Verschiebung einer Farbenveränderung; im Hinbli ck hierauf kann deshalb auch die Thatsache, dass der
Gesichtsausdruck und selbst die Haltung des Menschen auch durch solch eine
unbewusste Suggestion verändert werden kann, schwerlich bezweifelt werden, und
muss also darin die Ursache davon wohl gesehen werden. Aber dann liegt auch auf
der Hand, wenn, wie wir in [Kapitel] X sahen, die Thatsache feststeht, dass bei vielen Tieren eine sehr grosse Empfindlichkeit für solch eine Nervemhätigkeit vorhanden ist, wodurch sich ihre Farbe nach der ihrer Umgebung, so wie sie dieselbe mit
ihrem Gesichtsvermögen wahrnehmen, verändert, - eine der allgemeinsten Mimic ry-Erscheinungen, die der grossen Aehnlichkeit in Farbe oder Gestalt zwischen Tieren und ihrer Umgebung oder einigen Gegenstän den daraus, auf dieselbe Weise zu
erklären : nämlich durch die Wirkung einer derartigen unbewußten Suggestion,
welche durch die lange Dauer einen bleibenden Charakter bekommen hat und erblich geworden ist. 6
Das „Streben zur Nachahmung
gemeines Naturgesetz.
der U mgebung"
7
ist, so fährt Piepers fort, ein all-
Aber auch abgesehen von dieser Erscheinung ist es eine Thatsache [,] dass sich bei
dem Menschen zwar nicht in der Farbe[,] aber doch im Ausdruck seiner Gesichtzüge und in seiner ganzen Haltung ebenfalls häufig eine starke Anpassung an seine
Umgebung wahrnehmen lässt. Es besteht z.B. ein sehr deutlicher Unterschied zwischen dem Auesseren der verschiedenen Gesellschaftsgruppen, Aristokratie, Militär,
Kaufleuten und Kleinbürgern und Handwerksleuten oder Bauern, wobei sicher
Ausnahmen vorkommen, worin man sich im Allgemeinen jedoch nicht betrügt .8
Eine kuriose Theorie stammt von Gustav Kispert. Im Abschnitt „Mimikry" in
Das Weltbild. Ein Schwingungserzeugnis der Hirnrinde . Eine naturwissenschaftliche
Grundlage der Psychologie (1920) vergleicht er Tier und Mensch miteineinander. Es
sei bekannt, dass einige Spanierinnen zum Schutze gegen die winterliche Kälte
Kohlenbecken unter ihren Röcken tragen. Ein Nebeneffekt dieser Erwärmung ist
6 Piepers, Mimicry, Selektion, Darwinismus, 148. Im Kapitel X behandelt Piepers die psychologischeDimension des Farbwechsels. Vgl. ebd., 147: ,, Man kann es deshalb als eine
wissenschaftlich feststehende Thatsache beschauen, dass die Empfänglichkeit für Farbenänderungen in Verbindung mit der Umgebung, bei vielen, besonders niedrigeren Tieren, nicht allein besteht, sondern sogar häufig stark entwickelt und dem Willen des Tieres
unterworfen ist."
7 Ebd., 148.
8 Ebd., 152.
Die Nachahmung, nicht jedem in gleicher Weise verfügbar, weist auf eine Bildbedingtheit der Äußerungsmöglichkeiten, welche den Nachahmenden innerlich mit
umformen. Er wird durch seine veränderte Haltung ein Anderer. Abgesehen von den
mimisch -imitatorischen Darbietungen, die den schauspielerischen Aktionen verwandt sind und zur Erheiterung beitragen, sind hier besonders diejenigen nachahmenden Angleichungen an einen bestimmten Lebensstil aufschlußreich, der im Zei9 Gustav Kispert, Das Weltbild. Ein Schwingungserzeugnis der Hirnrinde. Eine naturwiss.
Grundlaged. Psychologie,München 1920, 315.
10 Ebd., 317.
11 Der antimaterialistischen Bewegung gehört unter anderem der Philosoph Eduard von
Hartmann an. In die Philosophie des Unbewussten werden die „Berichte von Wundmalen
und Blutungen an ascetischen Schwärmerinnen" angeführt, an deren Richtigkeit kein
Zweifelerhoben wird. Hier führe das „bewussteWollen der Wirkung" zur „Blutung durch
die Haut". Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten, Leipzig 1923, I, 155, 157,
156.
12 Stefan Rieger, ,,Stiche des Wissens. Zur Genealogie der Psychophysik",in: Stigmata. Poetiken der Kärperinschrift, hrsg. Bettine Menke, Barbara Vinken, München 2004, 355-372,
hier 369.
128
129
HUMANMIMIKRY
DAS MIMIKRYTIER,MENSCH' UM 1900
chen der Nachfolge eines Vorbildes von einer Gefol gschaft gefordert wird. Das
religiöse, kriegerische, staacliche Leben bietet hierfür viele und mächtige Beispiele.
Freilich ist dann von Verstellung keine Rede mehr. Hier empfängt der Mensch
Richtung und Form aus einem Vorbild. Er bildet sich ihm nach. 13
nauseous in taste, and therefore not attacked by birds. In these cases it is genera lly
only the females that are mimetic, and in some cases only a part of ehern, so that
chere are two or even three kinds of females, ehe one retaining the normal colouri ng
of ehe group, ehe other mimicking another species. Some spiders closely resemble
ants, and several other insects mimic wasps and hornets. Some reptiles and fish have
actually the power of changing the colours of their skin so as to adapt themselves eo
their surroundings . [...] Even ehe brilliant blue of ehe kingfisher, which in a museum
renders it so conspicuous, in its native haunts, on the contrary, makes it difficult ro
distinguish from a flash oflight upon ehe water; and ehe richly coloured woodpecker
wears the genuine dress of a forester - the green coat and crimson cap. [...] In many
cases plants mimicry others which are better protected than themselves. 18
Die Autosuggestion,
auf die hier verwiesen wird, spielt eine nicht unerhebliche
Rolle in den Schauspieltheorien
um 1900. 14 In Masks or Faces?A Study in the Psychology of Acting (1880) stellt William Archer bereits fest, dass „die Einbildungs kraft ohne Schwierigkeit winzige, aber ausdrucksvolle - muskuläre und vaskuläre
- Veränderun gen bewirken [kann], die der Wille ohne Hilfe unmöglich erzielen
kann." 15 Mithilfe der Autosuggestion kann der Schauspieler sein Nervensystem in
die Lage versetzen, dem „ursprünglichen
Gefühle einer Figur" ihren richtigen
Ausdruck zu verleihen. 16
In Arthur J. Bleackleys The Art of Mimicry (1911) heißt es, dass der angehende
Pantomime sein Handwerk durch die Beobachtung der Mimikryinsekten
erlernen soll: ,,Observe the ,mimicry of nature'" 17. Auf diesen Hinweis folgt eine Pas sage aus The Beauties of Nature des Biologen John Lubbock, in der sie wie folgt
ausführlich beschrieben wird:
Insects take ehe colour of ehe leaves they feed on. Some moths are mottled so as to
mimicry ehe bark of trees, or moss, or ehe surface of stones [...] Many harmless animals mimic others which are poisonous. Some butterfiies mimic others which are
13 Helmurh Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers [1948], in ders., Mit anderen Augen .
Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, 146- 163, hier 158 f. [Hv. v. K.
C.] Vgl. auch ders., ,,Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes"
[1923], ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1980-85, III, 20: ,,Solange als Psychologie und Physiologie nur nach der parallelistischen Methodik der Psychophysik überhaupt hoffen konnten, in organische, die Einheit der Person berücksichtigenden Beziehung zueinander gebracht zu werden, mußte das eigentliche Zwischenreich der psychophysischen Indifferenz, auf das wohl zuerst Seheier in seiner Ethik hingewiesen hat,
unbeachtet bleiben, und war damit ein wirkliches Verständnis des Hineinragens des Physischen ins Psyche, die Wahrnehmung, des Psychischen ins Physische, die Ausdrucksbewegungen und -formen, unmöglich ."
14 Theaterhiscorische Untersuchungen wären um diese ,Vorgeschichte' der Mimikry zu ergänzen. Günther Heeg übernimmt Walter Benjamins und Theodor W. Adornos Mimikrykonzeption, um wesentliche Elemente von Johann Jakob Engels Schauspieltheorie erklären zu können . Vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, 317 f.
15 William Archer, Ma sks or Faces?A Study in the Psychology of Acting, in: Texte zur Theorie
des Theaters, hrsg. Chriscopher Balme, Klaus Lazarowicz, Stuttgart 1991, 227-233.
16 Ebd., 230 f. Archer beschreibt zwar die „mechanische Mimikry" (ebd., 232), doch meint
sie hier etwas Anderes als die biologische Mimikry, und zwar den oberflächlichen wie
emotionslosen Nachvollzug von Handlungen . Ausgehend von Diderots Paradox des
Schauspielers gibt Archer den aktuellen Streit zwischen Emotionalisten und Anti -Emotio nalisten wieder, der um die Notwendigkeit des emotionalen Nachvollzugs im schauspielerischen Akt kreist. Die mechanische Mimikry ist ein Prinzip, das die Anti -Emotionalisten
für eine authentische Wiedergabe als sinnvoll, ja als notwendig erachten.
17 Art hur J. Bleackley, The Art of Mimicry, New York/ London 1911, 17.
Man vergleiche diese Äußerung mit der folgenden Passage aus Broadbents A History of Pantomime (1901), die die Geschichte der Pantomime mit der Mimikry
beginnen lässt. Die bio logische Mimikry ist die „Pantomime of Nature" und „a
kind of instinctive Pantomime or Mimicry which each and every one of us possesses
in greater or lesser degrees, and as much as we do the dramatic instinct":
To trace the original [sie] origin of Pantomime, or Mimicry, we must go to Nature
herself where we can find this practised by her from the beginning of all time as freely, and as fully, as ever it was, or ever will be, upon the Stages of our theatres . What
better evidence, or instances, of this can we have than in those studies of her handiwork? As the !arger species of caterpillars, when, by stretching themselves out in
imitation of, and to make their foes think that they are snakes; tigers and lions choo sing a background in keeping wich, and in imitation of, ehe colours of their bodies,
in order to seize their unwary prey; and for ehe same purpose crocodiles imitating a
rotting log; ehe green eint of ehe lizard's skin for ehe sake of concealment; ehe playful
imitativeness of ehe mocking bird; ehe hysterical laugh of the hyaena; ehe gaudy
colours of tropical snakes imitated by others, besides many other examples of
Mimicry, in such as butterfiies of ehe species Danaidae and Acraediae, ehe Heliconi diae of tropical America; and hornets, wasps, ants, and bees. All this, it may be
urged, is only instinct. True; but is it not also Mimicry - ehe Pantomime of Nature,
and, chough, of course, of a different kind, and for very different objects, is, nevertheless, of a kind of instinctive Pantomime or Mimicry which each and every one of us
possesses in greater or lesser degrees, and as much as we do ehe dramatic instinct. 19
Auf gleicher Linie mit Broadbent steht die Mimikrydarstellung
d es Darwin -Geg ners und Lamar ckisten Samuel Butler. Mimikry ist die Schauspielkunst der Tiere,
die - wie die Menschen auch - an der Nachahmung
Freude verspüren. Über die
südamerikanischen
Mimikrys chmetterlinge schreibt er:
[C]reatures have conceived ehe idea of making themselves like other creatures or
objects which it was ro their advantage or pleasure ro resemble [. .. ]. [W] e see that
certain birds, withour any particular desire of gain, no sooner hear any sound than
they begin ro mimick it, merely for ehe pleasure of mimicking; so we all enjoy to
mimick, or eo hear good mimicry, so also monkeys imitate ehe actions which they
18 Ebd.
19 R. J. Broadbent, A History of Pantomime, London 1901. [Hv. v. K. C.]
130
HUMANMIMIKRY
DAS MIM IKRYTIER ,MENSCH ' UM 1900
observe, from pure force of sympathy. To mimick, or to wish to mimick, is doubt!ess
often one of the first steps towards varying in any given direction. 20
zieht sich in Migrationsprozessen immer dann eine ku lturelle Mimikry, sobald im
Zuge der Übersiedlung in eine andere klimatische Zone neue Bedürfni sse entste hen. 29 Diese Überlegungen weiten das tableau der M imikryformen aus. In ih m
taucht der Mensch als das neue Mimikrytier auf. Dass der Mensch ein Tier ist, ist
dabei nicht das eigentliche Novum. Neu ist vielmehr, dass der Mensch in d ie O rdnung der Mimikry integriert werden kann.
In Imitation, or the mimetic force in nature and human nature (1900 ) bezieht sich
Richard Steel auf eine ähnliche Weise auf die Mimikry. Um seiner Nachahmungs theorie ein wissenschaftliches Fundament zu verschaffen, beruft er sich auf Alfred
Wallac e.
He [d.i. Alfred Russe! Wallace] frequent!y refers to imitation in his Theory of Natural
Selection, and it is to be noticed that in his use of the word he does not ar all restrict
himself to conscious imitation, but uses ir frequently in cases where any conscious
element of copying cannot be supposed eo exist. Thus he teils us, inter alia, ofLepi doptera ,imitating ' other species; that certain Coleoptera or beetles ,imirace' other
insects, and that insects of other orders ,mimic' beetles. [...] And he distinctly comes
to the conclusion ,that the peculiar notes of birds are acquired by imitation, as surely as a child learns English or French, not by instinct but by hearing the language
spoken by its parents .' 21
It is crue chat the cerm imitation is used by these natural isrs in more limited senses than
I have assigned eo it; but although the senses are more limited, they do not fail to be
included in my own idea, and chus all chat they say of Imitation becomes relevant to
the suggested general principle, for although not the whole it is part of ehe truth . The
only difference is that the factor which they consider to be of great importance becomes amplified in my view, and it thus invested wirh a still more extensive sway.22
In der Soziologie, die sich mit einer besonderen Vorli ebe der Theatermetaphorik
bedient, steht die Mimikry für sozio-kulturelle Assimilations - und Transformati onsprozesse . Der Soziologe Gabriel de Tarde befasst sich beispielsweise mit einem
historischen Fall, und zwar mit dem Herrschergeschlechts der Stuarts, die die fran zösischen Hofsitten annehmen. Tarde bezeichnet diese Fälle als „moralische
Mimikry" 23 , worunter er eine „ethisch e Verkleidung versteht, eine gewollte Aus schmückung des gewöhnlichen Verhaltens, das sie [d.s. die Stuarts]verdecken". 24
Eine ähnliche Richtung schlagen die Ethnologie und die Rassenbiologie ein. Als
Stichwort (,,Mimikry, kulturelle") wird es im Register von Friedri ch Keiters Rasse
und Kultur. Eine Kulturbilanz der Menschenrassen als Weg zur Rassenseelenkunde
(1938) angeführt. 25 Leo Frobenius diskutiert die „kulturelle Mimikry" 26 als eine
,,geographische Umbildungskraft". 27 Gemäß seiner „biologischen Elementargedan kenlehre", die er bew usst von einer „kulturellen Deszendentallehre" 28 absetzt, voll 20
21
22
23
24
25
26
27
28
Samuel Butler, Lift and Habit, London 1878, 202 f.
Richard Seeei,Imitation, or the mimetic force in nature and human nature, London 1900, 113.
Ebd., 115.
Gabriel de Tarde, Die Gesetze der Nachahmung [1890], Frankfurt a.M. 2003 , 379.
Ebd.
Keirer,Rasse und Kultur, 325 (Verweisauf Seite 59).
Frobenius, Das Zeitalter des Sonnengottes, 12.
Ebd., 11.
Ebd., 10.
131
7. 1. W issen und Fiktion
Außer den angeführten Beispielen existieren theoretisch weitaus avancierte re Versuche, die Humanmimikry
zu erfassen. Der theoretische Übergang von der Insek ten - zur Humanmimikry
ist fließend, da der Wandel ohne eine spektakuläre Ent deckung, besondere Ankündigungen
oder geschichtliche Ereignisse zu verlaufen
scheint, die für gewöhn lich eine wissenschaftliche Revolution auszeichnen. Dieser
Wissenstransfer , den man sich als eine schleichende wie unmerkliche Verschie bung von Begriffen, Konzepten und epistemischen Grenzen vorzustellen hat , stellt
die Bedingungen der Möglichkeit der Wissensproduktion
im Wissen vom M en schen sowie in der Literatur dar.
Indem die Entstehung des wissenschaftlichen Mythos in der zoologischen For schung und seine Verbreitung im Wissen vom Menschen rekonstruiert werden
soll, geht es um die
29 Bei Frobenius ist noch der Einfluss von Basrians Lehre von den ,geografischen Provinzen'
spürbar, die dem klimatischen Umwelteinfluss einen großen Stellenwert beimisst. Adolf
Bascian, Ueber Klima und Acc!imatisation nach ethnischen Gesichtspunkten, Berlin 1889.
Vgl. auch: Julius Kollmann, ,,[Rezensionzu] A. Weismann, ,Ueber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie' und R. Virchow, ,Ueber Akklimatisation', B iologisches Centralblatt 5 (1886), 673-679, 705 -7 10, hier 707: ,,Die alce hippokratische Vorstellung von der Veränderlichkeit des Menschen durch die Verhältnisse des
Ortes, durch das Klima, hat sich im Laufe der Jahrtausende bis heure erhalten und durch
das Selbstgefühl der Menschen mehr und mehr zu einem bahnbrechenden Gedanken entwickelt, der gewöhnlich unter dem Namen des ,Kosmopolitismus des Menschen' ausdrücken soll, dass menschliche Ansiedlung eigentlich überall geschehen könne. [...] Wir befinden uns in diesem Augenblick in der kritischen Periode, wo alle diese Gedanken streitig werden." Klimatheorien, welche sich im Zeicalcerkolonialer Großmachcsbestrebungen
einer besonderen Beliebtheit erfreuen, untersuchen mit besonderem Interesse die Anpassungsmöglichkeiten des (europäischen) Körpers. Die Kolonialmedizin beschäftige sich
aus diesem Grund mit dem physiologischen Leistungsvermögen des europäischen Körpers. Wie reagiert der Europäer auf die Veränderung der Umwelcverhältnisse?Nach den
Erkenntnissen der Kolonialmedizin verläuft die fehlgeschlageneAnpassung im schlimmsten Fall dergescalc, dass die Kolonisten dem Wahnsinn verfallen. Aus der Forschungsliteratur zum so genannten Tropenkoller vgl.: Stephan Besser, ,,Tropenkoller. Th e !nterdiscursive Career of a German Colonial Syndrome", in: Framing and lmagining Disease in
Cultural History, hrsg. George Sebastian Rousseau, New York 2003, 303 -320.
132
HUMAN MIMIKRY
Historisierung biologienaher Tatbestände [. .. ], d. h. von solchen , die einerseits tief
genug verankert sind, um noch eine Art biologisches Substrat erkennen zu lassen, zum
anderen aber zu ihrer vollen Entfa ltung einer kulture llen Überformung bedürfen. 30
Was von Lepenies eine kulturelle Überformung gena nnt wird, sind im Falle der
Human mimikry die traditionellen Vorstellunge n von Mimesis, die sich mit dem
zoologischen Konzept verbinden.
Dass der szientist ische Mythos historisch in die prämolekulare Epoche der Biologie falle, die sich nach der Wiederentdeckung von Mendels Vererbungsg esetzen
um 1900 allm ählich ihrem Ende zuneigt, ist vermutlich kein Zufall. Mit dem Aufkomm en und der Etablierung der Genetik als biologische Disziplin verliere der
Lamarckismus, der im Hintergrund der Humanmimikry steht, merklich an Einfluss.31 Die Genetik scheine die Lösung für das Rätsel der Mimikry gefunden zu
haben. Der Einfluss der Umwel t wird in den Lebenswissenschaften allgemein stärker eingegrenzt. In der Retrospektive erscheint daher das Mimikrytier ,Mensch ' als
ein Phantasma, dessen Entstehung typisch ist für die Dezennien um 1900, als
milieutheoretische Üb erlegungen Konjunktur haben und die Debatte um nature
versus nurture ihrem Höh epunkt encgegenscrebt.
In den folgenden Kapiteln zur Humanmimikry werden Überlegungen und Fiktionen vorgestellt, in denen der Übergang von der Insekten - zur Humanmimikry
beziehungsweise von der Zoologie zum Wissen und zu den Wissenschaften vom
Menschen erprobt wird. In einigen Fällen bleibt es nicht bei bloßen Spekulationen
und Gedankenexperimenten. Was zunächst als das Durchspielen einer fiktiven Gedankenanordnung beginnt, kann sich zu einer wissenschaftli chen Auffassung steigern, deren Herkunft aus dem an Phantasmen reichen Alltagswissen alsbald vergessen wird. Die Verschiebung von der Fiktion zum Faktum, von Jiction zu scienceist ein
schleichender Prozess. An den Gedankenexperimenten nimmt die Literatur in zweifacher Hinsicht teil.
Für Ernst Mach fallen Romane, Ged anken über mögliche Welten und andere
Fantasi en der menschlichen Vorstellungskraft unter die Kategorie des Gedankenex periments.32 Man denke außerdem an Emile Zolas Abhandlung Le Roman experi30 WolfLepenies , ,,Probleme einer historischen Anthropologie", in: Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis, hrsg. Reinhard Rürup, Göttingen
1977, 126-159, hier 139. Einen instruktiven Überblick über das Konzept der Human wissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Arbeiten Michael Foucaults und
Geor ges Guisdorfs findet sich in: Vienne, Brandt, ,,Einleitung : Die Geschichte des Wissens vom Menschen - historiografische Anmerkungen".
31 Im Zuge der Etablierung des Modells des ,Gens' verliert die Mimikry gegen Ende der
1930er-Jahre im zunehmenden Maße ihre geheimnisvolle Aura, von der nicht zuletzt die
Faszination für eine Mimikry unter Men schen zehrt. Vgl. für eine Gesch ichte der Mole kularbiologie und des Konzepts des ,Gens' : M ichel Morange, A History of Molecular Biology, Cambridge, MA ., 1998.
32 Vgl. Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 4 1920, bes. 186. Vgl. zum Gedankenex periment als Erprobung wissenschaftlicher Argumentationsketten: Hans Poser, ,,Wovon
handelt ein Gedankenexperiment?", in : Ontologie und Wissenschaft. Philosophische und
DAS MIMIKRYTIER ,MENSCH' UM ! 900
133
· mental, in der der Roman auf einer Ebene mit der wissenschaftlichen Forschung
angesiedelt wird. Zum einen setzen rhetorische Strukturen und Narrative die Wissensproduktion in wissenscha ftlichen Texten in Gang. Zum anderen werden dieselben Gedankengänge in der Literatur simuliere und durchgespielt. Ein Gedankenex periment stelle eine „Form der Erzählung" dar. Es verfügt über ein Narrativ, das die
Argumente miteinander verkette t. ,,Im Gedanken experiment werden Literatur und
Wissenschaft geradezu gezwungen, sich zu verbind en."33
Den hier vorgestellten wissens chaftlichen Texten ist eine literarische Struktur
immanent, die zugleich die Möglichkeit bietet, sich der Fiktion als eines Erkennt nismediums zu bedienen . Mit Sigrid Weigel lässt sich das Gedanken experiment
als eine Ausschöpfung der facu!tas Jingendi begreifen, die neue Sinndimensionen
eröffnet und deren ureigenstes Medium der literarische Text ist: ,,Fiktion als
Erkenntnismedium mit einem argumentati ven Vermögen im Hinblick auf Aussagen über die Gesetze der Natur." 34 Das Wissen der Literatur steht insofern auf
einer Ebene mit der Wiss enschaft vom M enschen, als sie selbst als ein Laboratori um der Gedanken fungiere: ,,[d]ie Literatur also als Gedankenexperiment oder
imaginäres in-vivo-Labor." 35 In diesem Sinne ist der homo adaptivus ein Produkt
des literar ischen in -vivo -Labors. 36
In diesem Labor verändern sich die Auffassungen vom Menschen und die mit
ihm verbundenen Vorstellungen bezüglich seines Verhältniss es zu seiner Umwelt.
Zu nennen sind vor allem drei Aspekte : die Grenze zwischen Natur und Kultur,
die ,Biologisierung ' eines traditionellen Verständnisses von Mim esis sowie die Psychologisierung des homo adaptivus .
7.1.1. (Krypto -)Lamarckismu s: Kultur als Natur, Natur als Kultur
D en wissenschafcsgeschichtlichen Hintergrund der Humanmimikry bilden der
N eo- und Psycholamarckismus. Di e Evolutionsbiologie hat das Wissen des Men schen bekanntlich grundlegend verändere. Diese Wirkung kann nicht dem Dar winismus allein zugeschrieben werden, obwohl unzweifelhaft ist, dass er den
33
34
35
36
wissenschaftshistorischeUntersuchungen zur Frage der Objektkonstitution, hrsg. Hans Poser,
Hans -Werner Schütt , Berlin 1984, 181-198.
Annette Wunsche!, Thomas Macho, ,,Mentale Versuchsanordnungen", in : Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, hrsg. dies.,
Frankfurt a. Main 2004, 9-14, hier 11.
Sigrid Weigel, ,,Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur", in : Science & Fiction, 183-208, hier 186.
Ebd. , 201.
Vgl. zum Menschenexperiment: Menschenversuche. Eine A nthologie 1750-2000, hrsg.
Nicolas Peches, u.a., Frankfurt a.M . 2008.
134
HUMAN MIMIKRY
DAS MIMIKRYTIER ,MENSCH' UM 1900
größten Anteil daran hat. 37 Als einflussreich erweist sich auch die ältere Evoluti onstheorie Lamarcks. 38
Das Verständnis der Nachahmung als einer Mimikry und Anpassung wird durch
die lamarckis tische Evolutionsbiologie vorbereitet. Ihre neuen Bedeutungen und
Funktionen entfaltet und übernimmt ,Mimikry' deshalb nicht im (Sozial-)Darwi nismus, sondern im Lamarckismus respektive in jenen kulturalistischen Milieuthe orien, die diesem nahe stehen oder von ihm beeinflusst werden. Die lamarckistische
Theorie erweitert um 1900 das traditionelle Verständnis von Mimesis . Der Lamar ckismus und die ihm im 20. Jahrhundert nachfolgenden Theorien des Neo - und
Psycholamarckismus, welche sein Kernkonzept einer Vererbung erworbener Eigenschaften erweitern, bilden zusammen jene antidarwinistische Evolutionstheorie, aus
der das - aus der heutigen Sicht - ,falsche' biologische Verständnis der Mimikry als
einer mimetis chen Erwerbung von vererbbaren Eigenschaften entstammt.
Bei den hier versammelten Autoren handelt es sich überwiegend um Antidarwi nisten, unte r denen sich auch einige befinden, die sich selbst zu den Anhängern
Darwins zählen würden, ohne eine eindeutige Grenzziehung zwischen Lamarckis mus und Darwinismus vornehmen zu können . Zum einen sind sie mit der Biologie
Lamarcks nicht vertraut, zum anderen sind sie sich der Distanz nicht bewusst, die
zwischen ihrer Auffassung vom evolutionären Wandel und der Theorie Darwins
liegt. Erkennbar ist dieses Missverständnis an ihren Auffassungen von der Anpas sung. Nach Darwin verläuft die Evolution gemäß der natürlichen und sexuellen
Selektion in kleinen Schritten . Eine spontane Anpassung, die, wie viele der vermeintlichen Darwinisten glauben, eine unmittelbare Verwandlung eines Individu ums nach sich zieht, ist dagegen mit Darwins Theorie unvereinbar.
In Bezug auf den Lamarckismus könnte man von einem latent wirkenden Kryp tolamarckismus sprechen. Zugespitzt formuliert: Wider besseren Wissens halten
einige Autoren für Darwinismus, was eigentlich Lamarckismus ist. Der Grund
hierfür liegt unter anderem darin, dass sich um 1900 unter der Bezeichnung ,Dar winismus' häufig ganz unterschiedliche Evolutionstheorien verbergen.
Findet Lamarcks Theorie unter seinen Zeitgenossen noch wenig Beachtung, 39
so kann in Bezug auf das späte 19. und 20. Jahrhundert gesagt werden, dass sie als
Milieutheorie die Wissenschaften und das Wissen vom Menschen entscheidend
geprägt hat.
Der Einfluss des Lamarckismus auf die historischen Auffassun gen von Kultur
erklärt sich aus dem Umstand, dass diese biologische Evolutionstheorie eine strik te Trennung zwischen Natur und Kultur nicht zulässt. Wenn die Kultur für die
Gestaltung der Umwelt sorgt respektive die Umwelt selbst ist, unter deren Einfluss
die Lebewesen stehen, so ist eine Unterscheidung von natürlichen und kulturellen
Reizen beziehungsweise von natürlicher und kultureller Evolution nicht mehr
möglich. 40 Daraus ergeben sich weiterfü hrende Schlussfolgerungen für die histo rische Auseinanderentwicklung der zwei Kulturen von Natur - und Geisteswissen schaften·. In der Forschung wird unter anderem die These vertreten, dass sich von
den 1930er- bis in die 1970er-Jahre die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften einerseits und den Human - beziehungsweise Sozialwissenschaften ande rerseits entlang der Grenze von Darwinismus -M endelismus und Lamarckismus
vollzieht. 41 Gemeint ist damit, dass sich in den Naturwissenschaften der Darwi nismus und die Genetik durchsetzen, während in den Humanwissenschaften das
lamarckistische Denken in Gestalt von Milieutheorien erhalten bleibt.
37 Vgl. für eine Darstellung alternativer Evolucionscheorien: Bowler, The Eclipse of Darwinism; George S. Levit, Kay Meister, Uwe Hoßfeld, ,,Alternative Evolutionstheorien", in :
Philosophie der Biologie, 267-286.
38 Die lamarckistischen Theorien kennen im Grunde eine Evolution im Sinne Darwins
nicht, da die Idee der Abstammung für sie keine Rolle spiele. Nicht die Population, sondern das Individuum gilt als Träger der zu vererbenden Eigenschaften. Trotzdem taucht
die Idee der Phylogenese in jenen lamarckistischen Theorien auf, die Elemente des Darwi nismus übernehmen.
39 Tschulok führt dies auf den die Disziplinen übergreifenden und integrativen Charakter
von Lamarcks Theorie zurück, der seine Zeitgenossen befremdet. Tschulok, Lamarck, 38.
135
7.1.2 . Mimikry als die andere Mimesis und das Andere der Mimesis
Mimikry naturalisiert beziehungsweise ,biologisiert' traditionelle Vorstellungen
von Mimesis und erweitert auf diese Weise ihr Bedeutungsspekrrum. Es wird nun
möglich, die Nachahmung als eine Anpassung zu begreifen. Diese Sichtweise auf
die Mimesis zieht weitreichende biologische Konsequenzen nach sich, die das Verständnis der Auswirkungen mimetischer Handlungen auf den Körper betreffen.
Dazu gehören unter anderem die Ideen einer morphologischen Verwandlung
sowie die Vererbung von erworbenen Eigenschaften, welche als Formen oder
Resultate der Mimesis neu in Betracht kommen.
Mimikry gilt um 1900 als ein biologischer Prozess der mimetischen Anähnli chung, bei dem physische wie psychische Eigenschaften erworben werden, die aus
der Umwelt stammen und in das Erbgut eingehen können. Dies gilt sowohl für
Mensch als auch Tier. Diese Biologisierung mimetischer Prozesse bricht mit der
40 Wissenschaftsphilosophen haben daher die Frage aufgeworfen, ob kulturelle Evolution
nicht generell als lamarckistisch bezeichnet werden kann oder sogar sollte. Diese Auffas sung wird vor allem im französischen Raum vertreten. Jean J. Barloy, Lamarck contre Dar win, Paris 1980, bes. 16. Vgl. auch : Maria E. Kronfeldner, ,,Is culcural evolucion Lamar ckian'", in : Biology and Philosophy 22 (2007), 493-512. Andere haben diesem Standpunkt
mit dem Hinweis widersprochen, dass die spontanen Veränderungen sich oft als nachteilig
erweisen, weil sie zu schnell verlaufen. Dagegen gewährt die langsamere natürliche Selektion Darwins eine längere Erprobungszeit. Vgl. Werner Callebaut, David L. Hull, ,,Is culcural Evolution Lamarckian?", in: Taking the naturalistic turn, or How real philosophy of
science is done, hrsg. Werne r Callebauc, Chicago/ London 1993, 423 -431, bes. 425.
41 John Tooby, Leda Cosmides, ,,The psychological foundations of culture", in: The adapted
Mind, hrsg . Jerome H . Barkow, Leda Cosmides , John Tooby, Oxford 1992, 19-136.
136
HUMAN MIMIKRY
aristotelischen Doktrin, der zufolge das Tier kein Künstler, geschweige denn
Schauspieler sein kann, weil es weder über rechne noch poeisis verfügt. 42
Während Mimes is in Kultur und Gesellschaft ein Verhalten ist, das keine
beziehungsweise vergängliche Spuren am Körper hinterlässt, repräsentiert Mimi kry eine auf der organischen Ebene angesiedelte Ver~andlungsfähigkeit, die die
physische wie psychische Konstitution des Individuums sowie der nachfolgenden
Generationen nachhaltig verändern kann. Biologische Ähnlichkeit kann allgemein auf zwei Wegen entstehen. Einer davon ist die Vererbung. 43 Mimikry ist der
komplementäre Prozess zur Vererbung von Ähnlichkeit . Diese Anbindung an die
Vererbung und die Fähigkeit zur Verwandlung unterscheiden sie von älteren Vorstellungen der Mimesis.
Die Mehrheit der darwinistischen Mimikryforscher und Biologen unterschei den zwischen ,Mimesis' und ,Mimikry'. 44 Unter den meisten Biologen jener Zeit
herrscht ein Konsens darüber, dass Mimikry keine Nachahmung ist und die
Nachahmung von ,Eigenschaften' nicht mit dem biologischen Erwerb neuer
Merkmale verwechselt werden darf
Wer nachahmt, gibt die Eigenschaften desjenigen, den er imitiert, nicht an seine Nachkommen weiter. Die Darwinisten weisen dezidiert darauf hin, dass die
Farben und Muster der Insekten das Resultat der natürlichen Selektion und von
Vererbungsprozessen sind. 45 In Bezug auf den Menschen ist ihnen auß"erdem die
Vorstellung einer gemeinsamen Phylogenese von Insekten - und Humanmimikry
fremd . Diese Denkfehler rühren von der bereits behandelten Verwechslung mit
der Alltagsbedeutung von ,mimicry'.
Aufgrund der neu hinzugewonnenen biologischen Dimension kann Mimikry
sowohl für die andere Mimesis als auch das Andere der Mimesis stehen. Die Mimi kryfiktion ist Dreh - und Angelpunkt einer Diskursstrategie, die mit ihrer Absetzung von der Mimesis zugleich eine definitorische Grenzziehung zwischen Tier und
Mensch, natürliche und kulturelle Evolution sowie zwischen Natur und Kultur
42 Aristoteles, Poetik, 11 (1448a -1448b). Vgl. Arbogast Schmitt, ,,Mensch und Tier bei
Aristoteles", in: Tier und Mensch. Unterschiede und Ähnlichkeiten, hrsg . Günrher Eifler,
Otto Saame, Peter Schneider, Mainz 1994, 177-213. Nach Fortenbaugh sind Tiere aus der
aristotelischen Ethik ausgeschlossen, weil sie über keinerlei emotionale Reaktionen und
Tugenden verfügen. In den zoologischen Schriften habe Aristoteles ihnen dagegen beides
zugeschrieben. W. W . Fortenbaugh, ,,Aristode. Animals, Emotion, and Moral Virtue",
Arethusa 4 (1971), 137-165. Als handelndes Subjekt und vor allem als Schauspieler erfreut
sich das Tier dagegen in der postmodernen Ästhetik und Performance-Kunst großer Beliebtheit. Vgl. Romeo Casrellucci, ,,The animal being on stage", Performance Research (On
Animals) 5 (2000) , 23 -28 .
43 ,Like produces like' ist ein im 19. Jahrhundert beliebtes Motto aus der Tierzüchtung.
44 In der Ethologie der Gegenwart wird zwar von einer Mimikry des Menschen (,Echomimikry') gesprochen, doch handelt es sich dabei lediglich um eine Analogie.
45 Die phänotypische Ähnlichkeit verdankt sich dem Wechselspiel von Erbgut und Umwelt einflüssen; dem Spielraum der phänotypischen Plastizität sind genetische Grenzen gesetzt .
DAS MJMJKRYTIER.MENSCH'
UM 1900
137
erlaubt .46 Als die andere Mimesis repräsentiert Mimikry den phylogenetischen Vorläufer der ästhetischen und sozialen Mimesis. In diesen Diskursen findet sich häufig
die Überlegung wieder, dass die Nachahmung des Menschen aus der Verwand lungsfähigkeit der Insekten evoluierte. Die Kunst stellt dem zufolge eine in ihrer
Körperlichkeit abgeschwächte Form der einstigen Verwandlungsfähigkeit der Insekten dar. Mit anderen Worten: Mimesis ist human, Mimikry dagegen anima lisch.
Dieser Auffassung steht diejenige Vorstellung zur Seite, der zufolge Mimikry das
Andere der Mimesis ist.47 In der Restnatur des mimetischen Vermögens wird dem
modernen Menschen eine primitivistische Ur- und Alteritätserfahrung zuteil.
Inmitten der menschlichen Gesellschaft scheinen noch Körper zu existieren, die
besonders anfällig für die Reize der Umwelt sind und die von einem unbeherrsch baren Impuls zur Anpassung beherrscht werden, den zu bändigen eigentlich Aufgabe der Zivilisation ist. Der Mimikrytrieb wird zu einem Überbleibsel der natürli chen Evolution erkiärt, das sich nicht domestizieren lässt.48 Ohne Verstand und wie
von einem inneren Zwang getrieben, liefert sich der homo adaptivus seiner Umwelt,
von der er sich nicht abgrenzen kann, aus, bis sie ihn ganz vereinnahmt.
46 Unter dem Modell der „anthropologischen Maschine" beschreibt Giorgio Agamben einen
ähnlichen Mechanismus . Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier,
Frankfurt a.M . 2003, bes. 47.
47 In seiner wichtigen Arbeit Mimesis and Alterity argumentiert Michael Taussig, dass die
europäische Avantgarde von der Erfahrung anderer mimetischer Formen tiefgreifend beeinflusst wird, die im außereuropäischen kolonialen Kontext aufrauchen. Das Archaische
der Mimesis manifestiert sich als mimicry. Auf die Evolutionsbiologie geht Taussig allerdings nicht ein, womit ein wesentlicher historischer Aspekt der Mimikry außer Acht gelassen wird. Vgl. Taussig, Mimesis andAlterity .
48 Paradigmatisch hierfür ist Theodor W . Adornos Beschreibung der Mimikry als Bestandteil von „archaische[n] Schemata", die „Augenblicke der biologischen Urgeschichte" wieder aufrufen . Ein solches Beispiel stellen Ekelreaktionen dar, in denen der Körper vor seiner natürlichen Umwelt erschrickt. Explizit leitet Adorno die körperlichen Reaktionen der
Idiosynkrasie von der Mimikry ab. ,,Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern
an die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der
Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbstständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der
Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für
Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur . [. . .]
Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen am Men schen sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen
Fortbestand durch Angleichung ans Tote . Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. PhilosophischeFragmente, in: Adorno, Gesammelte Schriften, III, 204 f.
Adorno, so Josef Frücht!, unterscheidet nicht streng zwischen ,Mimikry' und ,Mimesis ',
sondern hebt ihre Gemeinsamkeit hervor. Josef Früchcl, Mimesis. Konstellationen eines
Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986, 39. Vgl. zu Adorno: Gabriele Gern!, ,,,Wie ein
Naturlaut' . Mimikry als Mytho-Logik bei Theodor W. Adorno", in : Mimikry, 189-211.
138
HUMAN MIMIKRY
7.1.3. Psychologisierung
Humanmimikry evoziert in besonderer Weise psychologische beziehungsweise psychologisierende Reflexionen über den Menschen. Die Psychologisierung der Mimikry und ihre ,Anthropologisierung' scheinen Hand in Hand zu gehen. Die Psychologie der Mimikry, in deren Mittelpunkt die Frage nach ihren psychologischen
Motiven steht, versucht, in das Innere des homo adaptivus vorzudringen .
Ausgehend von der phylogenetischen Auffassung einer Abstammung der Humanmimikry von der Insektenmimikry wird eine universale evolutionäre Ethologie und Psychologie entworfen. Man vermutet, dass sich ein Verhaltensprogramm,
das unter den Mimikryinsekten beobachtet wird, erhalten hat und auf der Stufe
des menschlichen Lebens weiterentwickelt wurde. Die Evolutionspsychologie als
Weiterführung der Evolutionsbiologie zu begreifen, stellt eine weitverbreitete Ten denz innerhalb des biologischen Denkens dar. 49
Die Psychologisierung steht für einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Mimikry. Mimikry wird nicht mehr als Teil eines ökologischen Systems, sondern als das Vermögen eines Organismus angesehen: Man fragt nicht
mehr danach, unter welchen Umweltbedingungen die Mimikry evoluiert, sondern nach dem Subjekt, das geformt wird. Durch diese Umstellung von einer
externalistischen zu einer internalistischen Perspektive und vom System zum einzelnen Lebewesen wird es möglich, eine emotionale Struktur - einen Trieb oder
einen (unbewussten) Willen - hinter der morphologischen Ähnlichkeit zu vermu ten. Es sei daran erinnert, dass von einem Mimikrytrieb bei Bares und Darwin nie
die Rede gewesen ist. Mimikry beruht auf keinem isolierbaren Trieb. Das würde
an ihrem funkionalen Charakter vorb eigehen. Denn Mimikry ist nicht als eine
Triebstruktur zu denken, sondern als ein ökologisches System, an dem drei Partei-
49 Darwin selbst sieht diese psychologische Ausrichtung der Forschung am Ende seiner Origin of species voraus . Er fordert sie regelrecht ein. In Zukunft soll der Schwerpunkt auf der
psychologischen Betrachtung der Evolution liegen: Darwin, On the Origin of species, 1859
488 . ,,In ehe distant fumre I see open fields for so far more important researches. Psychology will be based on a new foundation, that of ehe necessary acquirement of each mental
power and capacity by gradation. Light will be thrown on ehe origin of man and his history." Im Descent of Man behandelt Darwin eine spezifische Form der Mimikry, die eine
große Rolle bei der sexual selection spiele. Auch bei ihr handelt es sich um eine Täuschung
beziehungsweise ein Verhalten, bei dem die sexuelle Attraktivität einen Fortpflanzungsvorteil signalisieren soll. Nach Darwin übernimmt beim Menschen die Kleidung die
Funktion dieser Körperornamente . Die Mimikry (im Rahmen der sexuellen Selektion)
und ihre Ausprägungen beim Menschen spielen in der vorliegenden Untersuchung eine
kleinere Rolle. Ihr Ausgangspunkt ist vielmehr das Element der Täuschung und Abschreckung, wie es durch das Konzept der Baressehen Mimikry beschrieben wird. Vgl. zur Ästhetik des Darwinismus und zur Ästhetik aus evolutionsbiologischer Perspektive: Winfried Menninghaus, Das Versprechender Schönheit, Frankfurt a.M . 2003.
DAS MIMIKRYTIER ,MENSCH' UM 1900
139
len mitwirken: ein ,Nachahmer', ein ,Vorbild' und ein Prädator beziehungsweise
eine Beute.
Die Isolierung und Reduktion auf einen Mimikrytrieb wird durch die Psychologisierung der Mimikry ermöglicht. Die Psychologisierung beruht auf einem Missverständnis, auf das der amerikanische Psychologe James Baldwin bereits um 1902
hinweise. In seinem Dictionary of Philosophy and Psychology verfasst er zusammen
mit Poulton einen Artikel mit dem Titel „Mimicry", welcher unterteilt ist in zwei
Unterartikel zur „Mimicry (in biology)" und zur „Mimicry (in psychology)". Ihre
gegenseitige Identifizierung ist nach Baldwin für einige Wissenschaftl er äußerst inspirierend gewesen, obwohl es sich um einen Irrtum handelt.
Thus resemblances of habic and attitude are as characteristic of mimicry as resem blances of form. Tue use of ehe term mimicry, which sometimes implies conscious
Imitation, has been a fruicful source of confusion. 50
In der zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten aufgeteilten „Sphäre
der Imagination, der Vorstellung und der Sprache" 51 findet die Psychologisierung
des Menschen ihre idealen Rahmenbedingungen zur Erfindung eines psychischen
Inn enlebens vor. Das Fremdpsy chische, das sich per se dem Zugriff der Umwelt
verweigert, wird zur Projektionsfläche der Imagination .
Im Rückblick entsteht der Eindruck, dass die Psychologisierung der Mimikry
nicht zuletzt ihrer Pathologisierung Vorschub leistet. Eine häufige Diagnose lautet, dass es sich bei der menschlichen Mimikry um ein hysterisches Symptom han delt. So wird - neben Kindern und außereuropäischen ,Wilden' - vor allem Hysterikern eine Disposition zur Mimikry zugeschrieben. Die psychologischen,
genauer: psychologisierenden Interpretationen des Mimikrymenschen weisen eine
Nähe zur Literatur auf, die wenig überraschend ist. Vor allem in literarischen Aussagen tritt häufig der Wuns ch offen zutage, diesem Menschen ein psychisches
Innenleben zu verleihen und es mit unterschiedlichen Motiven, unausgelebcen
Wünschen und anderen Defiziten barock auszugestalten, um den Drang erklären
zu können, der Umwelt unbedingt ähnlich sein zu wollen.
Auf der Suche nach einer geheimen Ursache dringt der psychologische Blick
unter die Haut. Einer Hermeneutik des Verdachts genügt es offensichtlich nicht,
bei der Verwunderung über eine Ähnlichkeit zwischen Menschen, die nicht mitein ander verwandt sind, stehen zu bleiben. Man geht weiter und forscht nach dem
Begehren, der Umwelt ähnlich zu werden, und versucht so, den Mangel zu benennen, der das Mimikry-Subjekt angeblich dazu verleitet, seine Autonomie aufzugeben. Der Erfindung des Mimikryti ers ,Mensch' schließt sich seine Psychologisierung an, um einem „reicheren, aber auch gefäh rlicheren und schwankenden
Geschöpf, dem homo psychologicus" 52, das Feld zu bereiten. Die Psychologie will
50 Art . ,,Mimicry (in biology)", in: Dictionary of Philosophy and Psychology, hrsg. James Marc
Baldwin, Bristol 1902, II, 79-81; Art. ,,Mimicry (in psychology), in : ebd ., 81.
51 Ebd., 185.
52 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im finde siede, Frankfurt a.M. 1982, 4 .
140
HUMANMIMIKRY
das Innere des Mim ikryciers ,Mensch', sein sentiment interieur, erkunden . Dem
Psychologen kommt dabei die Literatur zu Hilfe, die sein Gesellschaftslabor mit
erzählerischen Formen und fiktiven Elementen barock ausk leidet.
8. Der Mitmensch als Objekt
der theoretischen Neugierde
Die Insektenfaszination von Lebenswissenschaftlern und Literaten ist ein not wendiger, aber noch kein hinreichender Grund für das Interesse an der Humanmimi.kry . Die Experimente mit dem zoologischen W issen stellen deshalb keine bloße
Fortführung der zoologischen Forschung dar. Vielmehr ist das wissenschaftliche
Interesse an einem Objekt, dessen Existenz sich einer Analogie verdankt, untre nnbar mit einem sozio-kulturellen Interesse am Mitmenschen verbunden .
Ein Wille zum Wissen treibt also die theoretische Neugierde an, die um den
homo adaptivus und seine Interakt ion mit der Umwelt kreist. Das Geheimnis seines
Wesens steht in einem Zusammenhang mit Fragen, die etwa wie folgt lauten können: Welche Gestalt nimmt die Humanmimikry in der Geschichte und in der
Gegen wart an? Welche W irkung entfaltet die Fähigkeit zur Mimikry, die unter
Insekten der Abschreckung, Tarnung und Verführung dient, im Leben des Menschen? Wie wirkt sich die Mimikry auf die Konstitution und die Selbstwahrnehmung des Mimikrymenschen aus? Sind die Ursachen für die Anähnlichung physischer oder psychologischer Natur? Was sind die Motive, die hinter der Simulation
einer anderen Identität stecken? Ist die menschliche Mimikry norma l oder anormal? Und schließ lich: Wie ist die Humanmimikry zu bewerten? Ist ein Mensch ,
der eine Mimikry betreibt, vertrauenswürdig?
Vor allem an den Aspekt des Vertrauens schließt sich eine Vielzahl weiterfüh render Fragen an. Denn weil das Vertrauen die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist, wenden sich nicht wenige Menschen bevorzugt solchen Personen
zu, die sie seit längerer Zeit kennen : Angehörige der Familie oder Mitglieder einer
sozialen Gruppierung, der man sich verbunden fühlt.
So nimmt es nicht wunder, dass ausgerechnet das zoologische Konzept der
Mimikry auf den Menschen übertragen wird. Es sei daran erinnert, dass die
Mimikryschmetterlinge unerkannt im großen Schwarm ihrer ,Vorbilder' mitfüegen, denen sie ähnlicher sind als den Artgenossen aus der eigenen ,Fami lie'. Di e
Vorstellung von ,Familie' oszilliert in Bezug auf den Menschen zwischen einer biologischen und sozio-kulturellen Bedeutung.
Diese Bedeutung von sozio -kultureller ,Verwandtschaft' (in einem weiteren
Sinne) bildet den Hintergrund für eine Hermeneutik des Verdachts, die die th eoretische Neugierde antreibt und die sich gegen jene wendet, die nicht Teil des Verwandtschaftssystems sind, es aber womöglich werden möchten. In dieser von M isstrauen bestimmten Perspektive erscheint die Existenz des homo adaptivus und
seine qua Mimikry erworbene Identität häufig in einem schlechten Licht, da er
wie die fragwürdige Kopie einer als ,authentisch' geltende n Identität wirkt. Es ist
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HUMAN MIMIKRY
PHILOSOPHIE
der Gestus des misstrauischen ,Hint erfragens' , der sich diesem unbedingten Wil len zum Wissen artikuliert. Friedrich Nietzsche beschreibt diese Neigung, die
Existenz seines Mitmens chen zu hint erfragen, auf eine sehr eindrückliche Weise:
zum Gegenstand der Untersuchung erhoben. Unter Mimikry versteht Nietzsche
die unter Menschen wie Insekten verbreitete Fähigkeit zur Lüge und Verstellung .
Ihre Evolution und Hominisation werden inn erha lb seiner Genealogie der
Moral behandelt. 57 Wenn die Verstellung zur Gewohnheit wird, können die vorgetäuschten Merkmale inkorporiert werden, sodass die Differ enzierung zwischen
eigenen und fremden Merkmalen im Laufe der Zeit unmögli ch wird. Hier argumentiert er wie Lamarck, der in der Änderung der Gewohnheiten den Grund für
organismisch e Transformationen sieht. So heißt es bei Nietzsche: ,,Aus der dau ernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Natur: die Verstellung hebt sich
am Ende selbst auf, und Organe und Instincte sind die kaum erwarteten Früchte
· im Garten der Heuchelei." (KSA 3, 204) Eine dieser ,Früchte' ist ihm zufolge die
Moral, deren Herkunft in einem biologischen Instinkt der Täuschung vermutet
wird.
Nietzsche beabsichtigt, die „Entwi cklung der mimicry unter M enschen" (KSA
11, 111, 25 [379]) genealogisch nachzuzeichnen, wofür er die Transformationen
des Mimikryinstinkts beim Übergang von der tierischen zur menschlichen Gesellschaft berücksichtigt.
Er stellt eine Typologie auf, bestehend aus drei sozio-kulturellen Figuren, die
die historischen Repräsentanten der Humanmimikry sind: den antiken Sklaven,
das subalterne Individuum und den Künstler. Was sie miteinander gemeinsam
hab en , ist ihre Verwandlungsfähigkeit und die außergewöhnliche Plastizität ihrer
Körper, die die perfekte Anpassung an die soziale Umwelt ermöglichen. Diese
unterschiedlichen Typen teilen zudem die psychische wie physische Ausrichtung
ihrer Existenz auf ein Anderes, auf ein Vorbild, das sie kopieren können und über
das sie sich zu legitimieren versuchen. In der Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Umwelt, die ihrer Existenz den Stempel aufdrückt, sind sie darauf
angewiesen, ihre Subjektivität ständig von Neuem zu erfinden.
D as Mimikryverhalten ist kein rein biologisches Phänomen für Nietzsche , sondern eine Realisierung des Willens zur Macht. Wenn im Folgenden vom ,Willen
zur Macht' die Rede ist, dann ist mit diesem Ausdruck eigentlich eine Vielzahl
von Willen gemeint, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen .58 Der
,Wille zur Macht' ist ein Kollektivsingular, unter dem Nietzs che ein Werden, ein
plurales Wille -zur-Macht -Geschehen erfasst. Der Wille zur Macht ist vor allem
eine Auseinandersetzung mit anderen Willen . Ein Wille will nicht Macht per se,
Hinterfragen. - Bei allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kan n man fragen :
was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorunheil soll es
erregen) Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und wor in vergreift er sich dabei? 53
8.1. Philosophie. Der Wille zur Verwandlung (Friedrich Niet zsche)
Worin ähneln oder unterscheiden sich die Mimikry der Insekten und Menschen ?
Während viele Form en der Insektenmimikry bekannt sind, fehlt es an vergleichbaren Beobachtungen unter Menschen. Die Frage zielt nicht zuletzt auf die histo rische Dimension ab, das heißt auf die Transformationen des Verhalt ens im Lauf e
der Menschheitsgeschichte : Z um einen geht es um den stets in Erwägung zu ziehenden Funktionswandel beim Übergang vom Insekt zum Menschen, zum ande ren um die gesellschaftshistoris chen Rahmenbedingungen, in denen M imikr y
Vorteile bringt oder schlicht notwendig ist.
Von 1880 bis 1889 beschäftigt sich Friedrich Nie tzsche mit der Batesschen und
der Müllerschen Mimikry sowie mit den unter Insekten verbreiteten Tarnphänomenen.54 In Morgenröthe (1881), Die Fröhliche Wissenschaft (1882/ 1887), Zur
Genealogie der Moral (1887) und Götze n-Dä mmerung (1889) verwendet er den
Begriff ,mimicry' sowohl für aposematische Farbmuster als auch für Tarnphänomene (Mimese, Krypsis).55 Die Mimikry entspric ht dem, was in seinen frühen Texten die „Dekoration des Lebens" (KSA 1, 333) - die Formen der „Verstellung und
Verhüllun g" (KSA 1, 333 f.) - genannt wird. Was zuvor noch undenkbar ist 56 , dass
nämlich auch die Natur lügen kann, wird in den späten Schriften ausdrücklich
53 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe . Gedanken über die moralischen Vorurtheile, 5. Buch, Nr.
523, in: ders., Kritische Studienausgabe, III, 301.
54 Es wird aus der folgenden Ausgabe zitiert: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Moncinari, 2., durchgesehene
Auflage, München 1999. Zitate werden im Folgenden mit der Sigle ,KSA' unter Angabe
des Bandes und der Seitenzahl ausgezeichnet. Auf Dokumente aus dem in Weimar liegenden Nachlass wird mit ,fN''hingewiesen .
55 Nietzsches Kenntnisse beschränken sich auf die optischen Mimikryerscheinu ngen. Ge ruchs - oder Tastmimikry scheinen ihm dageg en unbekannt zu sein.
56 In Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben wird dem Tier die Lüge beziehung sweise die Verstellung noch nicht zugetraut. Das Tier „weiss sich nicht zu verstellen, verbi rgt
nichts und erscheine in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht
anders sein als ehrlich." (KSA l, 249). Lüge ist ausschließlich ein Merkmal der Kultur. In
Geburt der Tragödie wird folglich zwischen einer „Naturwahrheit" (KSA 1, 58) und einer
,,Culcurlüge " (KSA l, 59) unterschieden.
57 Vgl. zur Genealogie als Methode : Marein Saar, Genealogie als Kritik . Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M. 2007.
58 Die immanente Pluralität des Willenskonzepts haben herausgearbeitet: Wolfgang MüllerLaucer, Über Werden und Wille zur Macht, Berlin/ New York 1999, bes. 25-96; Vgl.
Günter Abel, Nietzsche . Die Dynamik des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr,
Berlin/ New York 1984, bes. 65 f.; Volker Gerhardt , Vom Willen zur Macht. Anthropologie
und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York
1996, bes. 322-330.
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HUMAN MIMIKRY
PHILOSOPHIE
sondern er will Anderes, er will das, was sich von ihm unterscheidet. Je freier der
eigene Wille von äußeren Faktoren und Umständen ist, desto stärker ist der Wille .
Sich dem Begehren der Anderen auszusetzen und trotzdem unbeeinflussbar zu
bleiben, macht just diese Stärke aus. Di e Mimikry stellt insofern eine Besonderheit
dar, als sie ihr Ziel auf einem anderem, auf einem ·umgekehrten Weg erreichen
will. Durch die Aufgabe des Selbst an ein e Umwelt, soll dieselbe bezwungen werden . Di e Genealogie der menschlichen Mimikry ist zugleich die G eschicht e der
Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher Willen zur Macht : der Wille des
Mächtigen, der seine Absicht unmittelbar exekutiert und der Wi lle des Schwa chen, der sich der List und der Täus chung bedient.
zend gefärbte Insekten meistens, wenn auch nicht ausnahmslos, von den gewöhn lichen Insektenfressern gemieden werden. 59
8.1.1. Insektenmimikry. Philo sophische Entomolo gie
Mach t nimmt unter Tieren unterschiedliche Form en an. Ein Farbmust er, das Giftigkeit signalisiert, stellt eine solche Möglichkeit dar. Nietzsches erste Kenntnisnahm e der Mimikry bezeugt das folgende Fragment aus dem Jahre 1880, in dem
die Müll ersche Mimikry beschrieben wird . Bei der Müll erschen Mimikry teilen
unterschiedliche Art en dieselben apo sematischen Farbmuster, um durch die Signal isierung ihrer Gifti gkeit od er Un gen ießbarkeit ihre Prädatoren auf Distanz zu
halten.
Die Thiere welche durch eine entsetzliche Buntheit aller Augen auf sich ziehen, werden trotzdem sehr in Ruhe gelassen : sie haben alle eine böse Waffe, ein Gift und
dergleich en - Gleich niß. (KSA 9, 173; 4 [298])
Die Qu elle seines Gleichnisses, aus d~r er fast bu chstäblich zitiert, ist Karl Sempers
Die natürlichen Existenzbedingungen der lhiere . Darin erklärt Semper, weshalb
diese auffälligen Ins ekten, die die Vorbilder der Mimikryinsekt en sind, frei und
unbes chwert herumflie gen, ohne gefressen zu werden. Er beschr eibt die Abschre ckungsfunktion der Farbmuster (Müll ersche Mimikry) wie folgt :
Anders ist es aber oft mit zahlreiche n Fällen höchst auffallender Färbung bei vielen
Thieren, namentlich Insekten; ihre Farben sind so brillant, die Zeichnung ihrer Flügel oder des Körpers so auffallend, dass sie unbedingt den Blick jedes Insektenfres sers auf sich ziehen müssen . Sie scheinen also ihren Feinden zu Liebe so recht ausgezeichnet zu sein und es ist wahrscheinlich, dass keine dieser lebhaft gefärbten Formen
lang e der Vernichtung durch ihre Feinde entgehen könnte, wenn sie nicht auf ande re Weise geschützt wäre. Das scheint aber in der That wo! immer der Fall zu sein [...J.
So haben die so überaus glänzenden gefärbten Bienen und Wespen den Stachel, mit
dem eine Giftdrüse in Verbindung steht; andere Insekten [...] sind durch ausserordenrlich feste Panzer geschützt; die Wanzen und die Marienkäferchen und manche
Schmetterlinge besitzen Hautdrüsen, deren Absonderung, wie jedermann von den
Wanzen weiss, höchst übel riechend ist, und nachstellenden Thieren gewisse sehr
unangenehm oder gar schädlich ist; [. . .] andere nehmen eine eigenthümliche Stellung an, durch welche sie, wie es scheint, andern Thieren wirklich Schrecken einzujagen vermögen . Damit steht denn auch in Zusammenhang, dass derartige glän-
Auf die Funktion der Abschreckung will Nietzsche die Mimikry jedoch nicht
reduzi eren. Anders als Semper ist er kein Funktionalist. Mimikry dient seines
Era chte ns nicht dem Überl eben, vielmehr handelt es sich bei den exuberanten Farben und Mustern um einen ästhetischen Luxus, den sich die Natur leistet. 60 D er
Antidarwinist Nietzsche kritisiert den in der Biologie vorherrschenden Funktio nalismus. Di ese Kritik ist zugleich gegen den Darwini smus und sein Theorem der
natürlichen Selektion gerichtet, dessen Ableitung aus Malthu s' Sparsamkeitsprinzip die Herkunfr aus der funktionalistischen Ökonomie verrät. 61 Ökonomisch
verfährt die Natur nach Nietzsch e jedoch nicht. Anpassun g ist, anders als Darwin
behauptet, ein „Überschuß von Anpa ssungs -Fähigkeiten aller Art, welche sich
nicht mehr im Di enste des nächsten engsten Nutz ens" (KSA 3, 608) befriedigen
lassen . Der Kampf ums Dasein ist nicht auf den Kampf ums Überleben zu redu zieren . Was die Natur begeh rt, ist nicht die Erfüllun g ein er bestimmten Funktion,
sondern die Vermehrung von Ma cht . Die Emergenz neuer Formen ist also ein
Machtphänom en.
Er [d.i. der Kampf ums Dasein] kommt vor, aber als Ausnahme; de r Gesammt Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum,
59 FN'Karl Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, Leipzig 1880, II , 228 f.
Vgl. Friedrich Niet zsche, Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 5. Abt., Bd. 3, Giorgio
Colli, Mazzino Moncinari, Berlin/ New York 1973 ff., 775 .
60 Für Darwin dienen sie der sexuellen Selektion. Vgl. zur Darwinschen Ästhetik:
Menninghaus, Das Versprechender Schönheit.
61 In der hier vorliegenden Interpretation liegt der Akzent auf Lamarck und seiner Bedeutung für Ni etzsches philosophische Biologie und biologische Eth ik. Sein Anti -Darwinis mus wird daher als eine fundamentale Kritik an der teleonomischen Ökonomie der darwinschen Theorie verstanden. Nietzs ches Haltun g zu Darwin wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert . Seine Interpreten schwanken zwischen seiner Beurteilung als eines
Anti -Darwinisten (vgl. Abel) beziehungsweise ,schlechte n' Anti -Darwinisten (vgl.
Moore), der Darwins Theorie nur mangelhaft versteht, als eines (,schlechten') Darwinis ten (vgl. Düsing, Stegmaier), welcher die darwinsche Evolutionstheorie, wenn auch mit
Widerwillen, begrüßt, weil sie eine atheistische Bewegung repräsentiert, oder als eines
Über -Darwinisten (vgl. Skowron), dessen Kritik lediglich dazu dient, über Darwins
Erkenntnisse hinauszugehen. In der letzten großen Monografie zu diesem Thema hebt
John Richardson die Ambivalenz des Verhältnisses zu Darwin hervor : Einerseits habe
Nietzsche Darwin zweifellos kritisiert, andererseits weisen seine Anleihen darauf hin, dass
es um ihm eine interne Revision und damit Erweiterung des Darwinismus geht. Abel,
Nietzsche; John Richardson, Nietzsche,· new darwinism, Oxford 2004; Gregory Moore,
„Nietzsche and evolutionary theorie", in: A company to Nietzsche, hrsg. Keith Ansell
Pearson, Malden/ Oxford/ Carlron 2006, 517-531, bes. 530; Edith Düsing, Nietzsches
Denkweg. Theologie, Darwinismus, Nihilismus, München 2006; Werner Stegmaier, ,,Darwin, Darwinismus, Nietzsche . Zum Problem der Evolution", Niet zsche-Studien 16 (1987),
264 -287, hier 269; Michael Skowron, ,,Nietzsches ,Anti -Darwinismus"', Nietzsche -Studien 37 (2008), 160-194.
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HUMANMIMIKRY
PHILOSOPHIE
die Üppigkeit, selbstdie absurde Verschwendung, - wo gekämpft wird, kämpft man
um Macht ... Man soll nicht Ma!thus mit der Natur verwechseln. (KSA 6, 120; Hv.
V. K.C.)
Nietzsches Mimikrytheorie weist eine große Übereinstimmung mit den späte ren psycholamarckistischen Mimikrytheorien auf. 65 Wie August Pauly folgert er,
dass sich die Emergenz von Farbmustern weder auf die natürliche Selektion (Dar winismus) noch die Änderung der Gewohnheit (Lamarckismus) oder physikali sche Umwelteinflüsse (Neolamarckismus) zurückführen lassen. Entscheidend ist
der vielmehr Wille und Emotion. Die kreative Spannung von Erregung (Dyna mogenie) einerseits und Hemmung (Inhibition) andererseits kann sich mitunter
in einer körperlichen Verwandlung entladen.
Der Wille, der im Zentrum seiner vitalistischen Theori e steht, ist keineswegs
ein abstraktes, metaphysisches Prinzip, sondern reicht tief in das Feld des Psychi schen wie Physischen hinein. Hinter jedem Gefühl steht ein Will e.66 Es ist daher
der Wille, welcher die Farben u nd Muster auf der organismischen Oberfläche entstehen lässt. Im Unters chie d zu Pauly wird nach Nietzsche der Wille zum Farb wechsel jedoch nicht durch ein Gefühl, wie zum Beispiel die Angst, ausgelöst,
sondern es ist der Wille selbst, der die unhintergehbare Letztbegründung für orga nismische Transformationen repräsentiert.
Eine Err egu ng wie die Liebe führt beispielsweise zur Exprimierung von Farbmustern, mit denen sich Mensch wie Tier schmückt, um einem Beobachter zu
gefallen. In diesem, der sexuellen Selektion vergleichbaren Vorgang entdeckt Nietz sche nichts weniger als den organischen Ursprung der Kunst. Liebe und Betrug
sind daher eng miteinander verwandt.
Die Entstehung von Farbpigmenten besitzt nach Nietzsche eine physiologische
Basis. Die Pigmente der Mimikrymuster werden produziert, weil der Organismus
den Wunsch verspürt, seiner Umwelt zu gefallen . Jeman dem zu gefallen, bedeutet,
eine Macht über ihn auszuüben, indem man die Herrschaft über seine Aufmerk samkeit erlangt und seine Gefühle beeinflusst, wenn nicht sogar steuert.
Im Gefallen -Wollen erkennt Nietzsche den Ursprung der Lüge und nicht zuletzt
der Kunst. In einer Notiz aus dem Jahr e 1888 beziehungsweise 1889 schreibt er
über den Farbwechsel:
[M]an muss sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken, durch alle
Muskelarbeit und Beweglichkeitdie Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden:
sodann als unfreiwilligeCoordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden),- als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems
unter dem Impuls von Innen wirkender starker Reize- ; Unfähigkeit, die Reaktion zu
verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt . Jede innere Bewegung
(Gefühle, Gedanke, Affekt)ist begleitet von Vaskular -Veränderungen und folglichvon
Veränderungen der Farbe, der Temperatur, der Sekretion (KSA, 13, 356)
Diese Passage gehört zu jenen Texten aus dem Na ch lass, in denen Nietzs che eine
(fragmentarisch gebliebene) ästhetische Theorie formuliert, die auf dem psycho physischen Parallelismus basiert. Anders als zu erwart en wäre, ist nicht Gustav
Theodor Fechner, der herausragende Vertreter der Psyche -Physik im 19. Jahrhun dert, sondern Charles Fere sein wicht igste r Gewährsmann in diesen Fragen. 62
In Sensation et mouvement gibt Fere mit ,Erregung' und ,Hemmung' die zwei
grundlegenden Zustände für Lebensprozesse an. 63 Die summi erte n optischen und
akustis che n Reize werden in Lokomotion übersetzt. Fere teilt mit Fechner die
Auffassung, dass Reize als quantifizierbare Größen mithilfe von Statistiken
(Dynamographen) dargestellt werden können.
Nietzsche denkt Feres Dynamogeni e-Kon zept weiter, sich jedoch nicht mit der
Feststellung der reinen Messbarkeit psych ischer Energien begnügen d. Sein Anlie gen geht darüber hinaus . Es betrifft die Frage nach dem ästhetischen Effekt, der
sich infolge der akustischen und optischen Perzeption einstellt. 64
Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den
engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie [d.i. die Liebe] als größtes Stimulans des Lebens,- Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, dass sie lügt. . .
[. . .] Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen
heraus : vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders . (KSA 13, 299; Hv. v. K. C.)
Nietzsches Interesse an Lamarcks Theorie beruht nach Deleuze in der Faszination
für die Plastizität des Organismus, die sich mit ihr besser erklären lässt als mit der
Darwins, weil sie den Gedanken an eine spontane, nicht an die Vererbung gebundene Anpassung erlaubt:
Er [d.i. Nietzsche] bewundert Lamarck, weil Lamarck die Existenz einer wahrhaft
aktiven plastischen Kraft geahnt hat, die gegenüber den Anpassungsprozessen primär ist: einer Kraft zur Umwandlung. 67
62 Vgl. zu Fere: Helmut Pfotenhauer,Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie
und literarische Produktion, Stuttgart 1985, 229 f.; Bettina Wahrig-Schmidt, ,,,Irgendwie-
jedenfalls physiologisch'.Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Fere
1888", Nietzsche Studien 17 (1988), 434 -46 4.
63 Charles Fere, Sensation etmouvement, Paris 1887, bes. 47-50.
64 So schreibt Nietzscheüber die mächtige „Wirkungeiner tragischen Emotion", dass sie psychophysiologischmithilfe eines „Dynamometers" (KSA 13, 410) messbar ist. Vgl. zur
Energetik des Willens:Arnim Schäfer,Joseph Vogl, ,,Feuer und Flamme. Über ein Ereignis des 19. Jahrhunderts",in: Kultur im Experiment, hrsg. Henning Schmidgen, Peter
Geimer, SvenDierig,Berlin2005, 191-215.
65 Vgl.zum Psycholamarckismusdas Kapitel 3.3.
66 Vgl. zum Willen als psychologischesPhänomen: Günter Haberkamp, Triebgeschehenund
Wi!!e zur Macht . Nietzsche - Zwischen Philosophie und Psychologie,Würzburg 2000, bes.
59-81; Bernard Williams, Nietzsche'sminimalist moral psychology,in: Nietzsche, genealogy, history. Essays on Nietzsches ,Genealogy of morals', hrsg. Richard Schacht, Berkeley
1994, 237-247.
67 Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 2002, 48.
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HUMAN MIMIKRY
Diese Aussage bedarf insofern der Korrektur, als Nietzsche die „Lehre vom Einfluß
des milieu" (KSA 12, 154; 2 [175] 45) ablehnt. 68 Eine tiefe Ambivalenz prägt das
Verhältnis zu Lamarck. Lamarcks Evolutionstheorie wird wie diejenige Darwins,
wenn auch aus leicht unterschi edlichen, noch an späterer Stelle genauer auszufüh renden Gründen, von ihm kritisiert. Andererseits zeigen seine Aussagen zur Mimi kry, dass er der Lamarck (fälschlicherweise) zugeschri ebene Vorstellung einer „Evolution durch Wollen" 69 folgt und in seine eigene Philosophie des Willens zur Macht
integriert. Für die Geschichte der Mimikry sind Nietzsches Mimikryreflexionen
von besonderem Int eresse, weil sich in ihnen die Verschiebung des biologischen
Willenskonzepts hin zu einem philosophischen studieren lässt.70
Mimikry ist für Nietzs che auch ein psychologisches Phänomen. Zu Unrecht
wirft Nietzsche Darwin die Vernachlässigung der Tierpsychologie vor. ,,Darwin
hat den Geist vergessen." (KSA 6, 121) Nietzsches „Thierpsychologie" (KSA 5,
389) geht es dagegen vor allem um den Geist der Ti ere und die Psychogenese.
Mimikry beinhaltet das Abschätzen und Verstehen der Reaktionen des Beobachters. Das tierpsychologische Interesse konzentriert sich auf die Abschreckung,
das heißt auf die Semiotik der Macht und das Angst gefühl, das bestimmte Farben
und Muster erregen.7 1 Psychologische Interpretation en gehen bei ihm mit ethologischen Überlegungen einher. 72 Die Müllersche Mimikry, bei der unterschiedli che ungenießbare Insekten demselben Mimikrysystem angehören, ist daher ein
ausgezeichnetes Konzept zur Erforschung der Semiotik der Warnfarben und Symptome der Furcht.
In psychologischer Hinsicht aufschlussreicher als die Abschreckung sind Verstellung und Tarnung. Über die thanatosis, das Totstellen, heißt es im Aphorismus
,,Die Thiere und die Moral" aus der Morgenriithe:
[D]iese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl
rode stellen , um nicht ,zu viel' zu thun, bei grosser Gefahr), hat sich Dank jener
Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet (KSA 5, 280)
In demselben Rahmen wird das Phänom en der Tarnung behandelt .
68 Stegmaier, ,,Darwin, Darwinismus", 274. Lamarcks Rolle innerhalb der Philosophie
Nietzsches ist bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Neben Deleuze ist Carl
Friedrich von Weizsäcker zu erwähnen, der Nietzsche ebenfalls als Lamarckisten begreift.
Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Wahrnehmung der Neuzeit, München 1983, 75.
69 Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 385.
70 Damit wird nicht behauptet, dass Nietzsche sein Konzept des Will ens von Lamarcks Biologie ableitet . Vielmehr liegen hier deutliche Parallelen und Übereinstimmungen vor.
71 Albert Vinzens, Friedrich Nietzsches Instinktverwandfungen, Basel 1999, bes. 159, attes tiert Nietzsche dagegen ein fehlendes Inreresse an der Tierpsychologie.
72 Als einen Beitrag zur Verhaltensforschung liest Kerger die Texte Nietzsches. Inzwischen
wäre der epigenetische Verhaltenseinfluss auf die Erbanlagen zusätzlich in Erwägung zu
ziehen. H. Kerger, ,,Wille als Reiz. Nietzsches Beitrag zur Verhaltensforschung", Nietzsche
Studien 22 (1993), 331-354.
PHILOSOPHIE
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[M]an will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen sein er Beute begünstigt
sein . Deshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der We ise verstellen,
daß manche zum Beispiel ihre Farb en der Farbe der Um gebung anpassen (vermö ge
der sogenannte n ,chroma tischen Function'), daß sie sich todt stellen oder die Formen
und Farben eines anderen 7hieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen
annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen) .73 (KSA 3,
36; Hv. v. K.C. )
Die Psychologisierung der Mimikry zielt auf das erkenntnistheoretische Problem
des Fremdpsychischen beziehungsweise auf die Frage ab, ob und wie ein Zugang
zu fremden Gefühlen und Gedanken möglich ist. 74 Hier liegt der Ursprung der
Psychologie.
Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ih re
Eigenthümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein (KSA 3, 37)
Nur wer also weiß, was und vor allem wie der andere wahrnimmt, kann sich auf
ihn einstellen und ihn täuschen. Dieser Gedanke besitzt eine folgenreiche Konsequenz. Wenn die Mimikry die evolutionäre Urform der Verstellung darstellt und
die Verstellung ihrerseits auf dem Vermögen beruht, sich in eine fremde Psyche
hineinzuversetzen, dann sind die Mimikryinsekten die ersten ,Psychologen'. Sie
wissen, wie man sich tarnt, abschreckt und an lockt, weil sie imstande sind, die
Wahrnehmung und Gedanken von Prädator und Beute gleichermaßen zu antizi pieren .
73 Über die im Zitat erwähnte chromatische Function informiert er sich in den biologischen
Abhandlungen Sempers' und Alfred Espinas' . FWSemper, Die natürlichen Existenzbedin gungen, II, 232. (Die Seite 253 im zweiten Band, wo tatsächliche und vermeintliche Mimi kryfälle Erwähnung finden, hat Nietzsche, das sei nur beiläufig erwähnt, mit einem Eselsohr versehen.) FN"AlfredEspinas, Die Thierischen Geseftschaften. Eine vergleichend-psychologische Untersuchung., 2. erweiterte Ausgabe, Braunschweig 1879, 278. Als eine weitere
Quelle kommt außerdem in Frage: FWFriedrich Albert Lange, Geschichtedes Materialismus
und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn/ u.a. 1887, 590. Dort werden Pouchets Experimente mit Steinbutten und Groppfischen beschrieben: ,,Wir erwähnen namentlich die Versuche Pouchets über Farbenänderung bei Steinbutten und Groppfischen.
Dass die Fische sehr häufig die Färbung des Bodens ihrer Gewässer haben, war längst bekannt und es braucht nicht bezweifelt zu werden, dass bei dieser sehr einfachen ,Mimicry'
in manchen Fällen auch die natürliche Zuchtwahl das Hauptmittel zu ihrer Herstellung
gewesen ist."
74 Vgl. zum Problem des Fremdpsychischen: Thomas Nagel, ,,Wie ist es, eine Fledermaus zu
sein?" in : Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Weinheim 1993, 261-275;
Dominik Perler; Markus Wild, ,,Der Geist der Tie re. Eine Einführung", in: dies. (Hrsg.),
Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktueften Diskussion, Frankfurt a.M.
2005, 10-76. Vgl. zu Nietzsches Philosophie des Bewusstseins (ohne Berücksichtigung des
epistemologischen Problems des Fremdpsychischen) Erwin Schlimgen, Nietzsches Theorie
des Bewusstseins, Berlin/ New York 1999.
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HUMAN MIMIKRY
PHILOSOPHIE
Ich verstehe unter Geist [. .. ] die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die
grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend) . (KSA 6, 121)
der Humanmimikry ist zugleich eine Arbeit am naturwissenschaftlichen Begr iff,
ein auf semantische Extension ausgerichtetes Experimentieren mit Interpretat ionsmöglichkeiten. 78 D er biologische Text ist sowoh l Versuchso bjekt als auch phi lologisches Labor, in dem das Werden des Seins sowie seine unterschiedlichen
In terpretationen erprobt werden. Ein wichtiger Quellentext ist die Abhandlung
Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere von Karl Semper. 79 Der Stil dieses
Buchs ist dekorativ, zuweilen plakativ. Der Biologie zeigt darin keine Scheu vor
dem Gebrauch von bildlichen Ausdrücken.
Semp~r schreibt über die Mimikryinsekten, sie seien „Harlek in e unter den
Thieren". 80 Des Weiteren verwendet er Metaphern und Analogien (,,Verkleidung",
„Maskerade", ,,Kleidung")81, um die Mimikry zu umschreiben. 82 Es handelt sich
um Analogien, um Metaphern, um nichts mehr oder weniger, wie der Autor hervorhebt.
In seinen Überlegungen zieht Nietzsche den Objektivitätsanspruch der Psycholo gie in Zweifel. Psychologie kann keine objektive Wissenschaft sein, sie ist im
Gegenteil höchst subjektiv, weil sie selbst Ausdruck und Manifestation eines tieferen Ressentiments ist. Psychologie ist die Wissenschaft, die das Erleben und das
Verhalten beschreibt und analysiert . Älter als die wissenschaftliche Disziplin ist
nach Nietzsche das psychologische Denken, aus dem sie entsteht. Das psychologi sche Denken, das heißt die Erkundung der Absichten und Wünsche des Anderen,
wird von demjenigen betrieben, der damit seine Ohnmacht zu kompensieren
beabsichtigt. An die Stelle des eigenen Tuns tritt die Deutung der Taten Anderer,
anstelle der Umsetzung eigener Wünsche die Deutung fremder Begehren, anstelle
der Aktion also letztendlich die Reaktion. Wer ohnmächtig ist, ist darauf ange wiesen, zu verstehen und sich in seine Umwelt einzufühlen, um im Notfall voraus eilenden Gehorsam leisten zu können. Im Tierreich zeichnet sich ein Kräftespiel
ab, das sich unter Menschen fortsetzt: Tumbe physische Gewalt wird durch Ein fühlung und die listige Kunst der Täuschung pariert.
8.1.2. Philologie der Biologie
Mit eigenen Augen gesehen hat Nietzsche die Mimikryinsekten nicht. Texte, in
denen sie beschrieben werden, sind seine Ideen - und Inspirationsquellen . Sein Verständnis der Mimikry als einer Mimesis ist das Resultat einer Anthropomorphisie rung, auf deren Grundlage die Insekten als Schauspieler in Szene gesetzt werden.
Mit Deleuze ließe sich dieses Verfahren als eine „Dramatisierungsmethode" 75
bezeichnen. ,,Ein Ding, ein Tier, ein Gott sind nicht minder dramatisierbar als ein
Mensch oder als menschliche Bestimmungen." 76 Der Übergang von den antiken
Dramen, die er zuvor studierte, zum evolurionsbiologischen Naturtheater ist fließend . Nach dem Leben des antiken Menschen wird nun das Leben der Insekten
,dramatisiert'.
Die Metapher im naturwissenschaftlichen Text ist der Dreh - und Angelpunkt
der Anthropomorphisierung,
die zu ihrer ,Anthropologisierung' und schließlich
zur Erfindung der Mimikry des Menschen führt .77 Nietzsches Arbeit am Mythos
75 Ebd., 86; Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne . Nietzsches Materialismus, Frankfurt
a.M . 1986, hat am Beispiel der Geburt der Tragödie gezeigt, wie Nietzsche mithilfe der
Theatralitätsmetapher den Prozess der Aufklärung als ein Drama begreift.
76 Deleuze, Nietzsche, 87.
77 Nietzsche ist sich bewusst, dass die Anrhropomorphisierung ein Verfahren der Konstruk tion ist. In seiner Philosophie kann es keinen archimedischen Punkt der Erkennrnis geben, da die Natur in Unkenntnis von Anthropomorphismen lebt und auch keine Gattungen kenne . Vgl. bes. KSA 1, 880-883 . Seine Kritik der Taxonomie ist durch Kants Trans-
Ich brauche wo! [sie] nicht besonders zu betonen, dass die hier gebrauchten Worte
nur im figürlichen Sinne genommen sein wollen, denn es ist klar, dass ein Thier nie
im Stande sein kann, absichtlich ein anderes nachzuäffen. 83
Nietzsche schlägt jedoch Sempers Warnung in den Wind. Um die englische Wort bedeutung wahrscheinlich wohl wissend, liest er den Text anders, als der Autor es
wünscht: Wo Semper die Metapher ausdrücklich nicht wörtli ch, sondern ,figürlich' verstanden wissen will, nimmt Nietzsche die ,Einladung zum M issverständ nis' dankbar auf . Erweist sich Nietzsche hier als ein ,schlechter ', weil naiver Leser
naturwissenschaftlicher Texte, als jemand, der die Metaphorizität der Sprache
zendenralphilosophie hindurchgegangen. Das signifizierte Lebendige, wie etwa ein
Säugetier, ist ein Ding an sich oder, wie es in seinen eigenen Worten heißt, ist „durc h und
durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der ,wahr an sich ', wirklich
und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen wäre." (KSA 1, 875) . Wie noch zu
zeigen sein wird, handelt es sich bei der Anthropomorphisierung um ein Experimenrieren
mit dem Mimikrybegriff, um auf diese Weise neue Perspekriven auf das Naturphänomen
zu gewinnen .
78 Nietzsche selbst hat zu bedenken gegeben, dass die „Geschichte eines ,Di ngs', eines Organs, eines Brauchs" sich nicht eindeutig fixieren lässt, da die Analyse stets von Neuem
anheben muss , um mit der vom Zufall bestimmten Evolution mitzuhalten. ,,[D]ie ganze
Geschichte eines ,Dings', eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte
Zeichenkette von immer neuen Inrerpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursache selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein braucht, vielmehr unte r U mständen sich blass zufällig hinrer einander folgen und ablösen." (KSA 5, 314)
79 Semper gilt zusammen mit Haeckel ais einer der ersten Ökologen.
80 FN'Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, II, 229 .
81 Ebd., 233 f.
82 Dass Nietzsche mit diesen Passagen vertraut ist, lässt sich anhand des Aphorismus „Vom
Probleme des Schauspielers" zeigen. Darin ist die Rede von der „Kunst des ewigen Versteck-Spielens, das man bei Tieren mimicry nennt". (KSA, 3, 608)
83 FN'Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, II, 234. [Hv. v. K. C.]
152
HUMANMIMIKRY
übersieht? Liegt hier eine kratylis che Täuschung vor, bei der die figurale und die
literale Bedeutung miteinander verwechselt werden?
In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne wird das intrikate Verhältnis von Begriff und Metapher genauer unter die Lupe genommen. Zu eng sind
beide miteinander verwoben, als dass nach Nietzsche eine klare Unterscheidung
zwischen ihnen getroffen werden könnte . Hier wird ein prinzipielles epistemologisches Probl em berührt, das den Status der „wissenschaftlichen Wahrheit" (KSA 1,
886) ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt. Zwischen philosophischem
Wahrheitsb egriff und wissenschaftlicher Objektivität vermittelt die Philologie,
wodurch der Primat der Sprache für die Wissensproduktion hervorgehoben wird.
Wenn die Wahrheit nichts anderes ist als „ein bewegli ches Heer von Metaphern,
Metonymien , Anthropomorphismen" (KSA 1, 880), wie er in Ueber Wahrheit und
Lüge schreibt, kann sich der Begriff nicht aus der Umklammerung der Rhetorik
befreien.
Aus diesem Grund ist das buchstäbliche Missverstehen keinem Versehen,
geschweige denn einer Naivität geschuldet; es ist vielmehr Methode . Die Hierar chie von Begriff und Metapher wird auf den Kopf gestellt. Wenn es heißt, dass der
Begriff das „Residuum einer Metapher" (KSA 1, 882) ist, dann wird auf den Bedeutungsreichtum der Metapher hingewiesen. Der Bedeutungsüberschuss zeugt von
keiner menschlichen Willkür oder Ungenauigkeit. Es ist die Natur selbst, die sich
darin zeigt. Die Philologi e liegt keinesfalls außerhalb der Naturwissenschaften, ist
nichts ihr Oktroyiertes, sondern es ist die Naturwissenschaft selbst, allen voran
die Biologie, die Teil der Sprache ist. Die Wissenschaft ist nicht das Andere des
Lebens, sie ist vielmehr das depravierte, asketische Leben. Nietzsche trennt die
Sprache nicht vom Leben. 84 Ein Bereich außerhalb der Sprache existiert für ihn
nicht. So geht er von einem Trieb zur Metaphernbildung aus. 85 Sowohl durch
naturwissenschaftliche Begriffe als auch durch Metaphern spricht die Natur. Ihr
ist die Metapher allerdings näher als der Begriff, ist sie doch anschaulicher, und
das bedeutet lebendiger. Die Philologie ist das Labor der Wörter, in dem die Natur
sich offenbart.
84 Christian Emden sieht in der Metapher und in der Interpretation eine organische Leistung. Es besteht eine physiologische Neigung, die Umwelt durch Bilder, Begriffe und Zeichen zu verstehen und damit zu beherrschen. Vgl. Christian Emden, Nietzsche on Language, Consciousness, and the Body, Champaign 2005, 140.
85 Die Wissenschaft wird unter den Verdacht gestellt, den „Trieb zur Metaphernbildung",
jenen „Fundamentaltrieb" (KSA l, 887) des Menschen, domestiziert und verleugnet zu
haben . Der Naturwissenschaftler vergisst aufgrund seines Abstraktionsbestrebens, dass
auch er ein „künstlerisch schaffendes Subjekt" (KSA 1, 883) ist. ,,Der Forscher[ .. .] sucht im
Grunde die Metamorphose der Welt in den Menschen. Er ringt nach einem Verstehen der
Welt als eines menscharrigen Dinges und erkämpft sich bestenfalls das Gefühl einer Assimilation ." (KSA 1, 883). Giorgio Colli weist darauf hin, dass Nietzsche selbst die Meta pher gebraucht und jedes Sprechen über die Metapher bereits immer metaphorisch ist.
Giorgio Colli, ,,Nachwort", in: KSA l, 899-919, hier 918. Vgl. auch Walter Kaufmann,
Nietzsche . Philosoph, PsychologeAntichrist, Darmstadt 1988, 250.
PHILOSOPHIE
Wie gelangt Nietzsche zu diesem philologischen Wahrheitsbegriff?
Lacoue-Labarthe liefert die Buchstäblichkeit den Schlüssel dazu.
153
Nach
Man weiß, daß Nietzsche, indem er die Rhetorik ,anwandte', der Sprache der Philosophie und Wissenschaft die Frage ihres Anspruchs auf Wahrheit zu stellen suchte,
ihres Wunsches nach reiner und unverstellter Buchstäblichkeit, - ihres Willens zur
Eigenrlichkeit, wenn man so will. 86
Lacoue -Labarthes Bestimmung ist zwar der Vorzug der Deutlichkeit zuzubilligen,
doch ist ihr deshalb nicht ohne Weiteres beizupflichten. Weder dient die Redukti on auf die literale Bedeutung der Metapher einem Selbstzweck noch ist die Literarizität die ,Wirklichkeit' selbst. Vielmehr muss es nach Nietzsche darum gehen,
unbekannte Perspektiven auf das Leben über bislang aus- und verschlossene Sinn dimensionen der Sprache zu erschließen. 87 Um zu lesen und anschließend zu
,sehen', was die Naturwissens chaften noch nicht beobachten können, aber mögli cherweise zu einem späteren Zeitpunkt zu beweisen imstande sind, dafür können
sich die polysemischen Valenzen als nützli ch erweisen. 88 Die Gleichnisse sind
futurologische Gedankenexperimente in der Sprache, die die Experimente der
Zukunft antizipieren und auf diese Weise den Wissenshorizont der Gegenwart
überschreiten. 89 Die Metapher wirkt als ein Medium der Wissensgenerierung und
des Denkmöglichen, nicht das zeigend, was ist, sondern das, was möglich wäre.
Ihre Zeigefunktion ist das Entscheidende. Nicht der Tatsachensinn, sondern der
Möglichkeitssinn wird durch die Metapher geschärft. In diesem Sinne schreibt
Paul de Man:
Die Metapher ist nicht ,wirklich' die Wesenheit, die sie buchstäblich bedeutet, aber
sie kann als Verweis auf etwas verstanden werden, in dem Bedeutung und Sein
zusammenfallen. [. . .] Die Metapher bedeutet nicht das, was sie sagt, aber letzten
Endes sagt sie doch, was ihr Sagen bedeutet; denn sie bleibt gelenkt von und gerichtet auf eine besondere oder eine Reihe von Bedeutungen. 90
86 Philippe Lacoue-Labarthe, ,,Der Umweg", in : Nietzsche in Frankreich, hrsg. Werner
Hamacher, Berlin 2003, 125-164, hier 125.
87 Vgl. zu diesem Verfahren bei Nietzsche : Bernhard H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt a.M.
2004, 372 -376.
88 Vgl. zum Perspektivismus als ein genuin philologisches Verfahren in Nietzsches Erkenntnistheorie: Alexander Nehamas, Nietzsche. Lift as Literature, Cambridge 1985; Christian
Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philosophie, Berlin/ New York 2005, 212 -237.
89 Vgl. zu dieser Funktion der Gleichnisse und Sprachbilder: Walter Gebhard, ,,Zur Gleichnissprache Nietzsches . Probleme der Bildlichkeit und Wissenschaftlichkeit", Nietzsche Studien 9 (1980), 61-90.
90 Paul de Man, ,,Genese und Genealogie", in: ders., Allegorien des Lesens, hrsg. Werner
Hamacher, Frankfurt a.M. 1988, 118-145, hier 131.
154
155
HUMANMIMIKRY
PHILOSOPHIE
Wenn Ni etzsche die Schauspieleranalogi e und -metaphorik (,,Harlekin", ,,Verkleidung", ,,Maskerade" und „Kleidung") 91 von Semper übernimmt, dann wird auf
eine Bedeutungseb ene jenseits des naturwiss enschaftlichen Horizonts der empirischen Beobachtung verwies en . Deshalb macht die Philologe ernst mit der Meta pher, während der Biologe fordert, der Verführung durch die Metapher nicht zu
erliegen.
Nietzsche nennt die Philolo gie die „Goldschmiedekunst und -ken nerschaft des
Wortes" (KSA 3, 17). Die Interpretationsfigur der Umkehrung erfordert ein hohes
Maß an Sensibilität für versteckte Bedeutungen, das heißt für ,Hintergedanken',
die zu unbekannten Ebenen im Text führen. Die biologischen Texte werden mit
der gesteigerten Aufmerksamkeit eines Verliebten gelesen, der mehr erkennt, als
sich dem ersten Blick nach offenbart. Gut lesen bedeut et, ,,langsam, tief, rück- und
vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern
und Augen lesen" (KSA 3, 17). Nietzs ches Wissens chafts kritik betrifft nicht nur
den wissenschaftlichen Zugang zum Leben , sondern auch die unsensible Lektüre,
die unterschlägt, dass Etymologie schlussendlich die Suche nach Wahrheit ist.92
Das ästhetische Element - oder vielmehr : die spielerische Sinnlichkeit im Umgang
mit Wörtern ist dem lebensf eindl ichen Naturforscher verloren gegangen. 93
Die Naturwissenschaft entdeckt die Phänomene durch Beobachtung, die Phi lologie entdeckt sie im Akt der Interpretation. Nietzsches Wissenschaftskritik ist
eine philologische, da die Wissenschaft von der Sprache selbst ,verführt' werden
kann 94, doch bleibt diese Kritik nicht bei der Destruktion von Chimären stehen,
sondern räumt der Interpretation einen produktiven Aspekt ein. Nur wer sich
durch die Wörter verführen lässt, kann Neues in und mit ihnen zutage fördern . Das methodologische Verhältnis von Philologie und Naturwissenschaft bei
Nietzsche kann demnach kein antagonistisches sein, sondern ist als ein komple mentäres anzusehen.
Für Ni etzsches Ausführung en gilt, was Ludwik Fleck als ein unbewusstes, aber
nichtsdestotrotz produktives Missverst änd nis der naturwissenschaftlichen Theo riebildung identifiziert, nämlich die Umkehrung des Verhältnisses von veran schaulichendem Bild und Sachverhalt. Das Verfahren ist dasselbe : Was im Grun de als bloß es Anschauungsbild gedacht ist, um einen noch ungeklärten Sachverhalt
begreifbar zu machen, wird selbst zum Untersuchungsobjekt. 95Die Identifi kation
vom heuristischen Bild und Erkenntnisobjekt ist kein Versehen. In der Geburt der
Tragödie hat Nietzsche diese Umkehrbewegung wie folgt auf den Punkt gebracht 96:
„Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein
stellvertretendes Bild, das ihm wirkli ch, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt."
(KSA 1, 60) Naturwissenschaftler sind Dichter, auch wenn sie es vergessen oder
verleugnen.
Die Frage, ob Nietzsche lediglich ein schlechter Leser ist, der einer kratylischen
Täuschung aufliegt, kann somit verneint werden. Er legt das epistemische Poten zial der Metapher für die Wissensproduktion frei, indem er Interpretationsalterna tiven berücksichtigt, auch wenn es sich aus der Perspektive eines Naturwissenschaftlers um ein ,falsches' Wiss en handelt. Ein falsches Wissen kann es nach
Nietzsche nur dann geben, wenn Bedeutungsdimensionen ausgeschlossen werden .
Die Etymologie und die buchstäbliche Lektüre fungieren als Medi en der Wissen sproduktion.97 Gleichzeitig richtet das buchstäbliche Lesen die Welt so ein, dass
die Wörter und Dinge im Modus der Buchst äblichkeit zueinand er finden. Am
Anfang steht die inventio, die Intuition und das Gedankenexperiment der Imagi nation, die die Zukunft der Naturwissenschaft entwirft. Die Interpretation kann
nun die Bühne in der Natur errichten, wo sich das Schauspiel der Mimikry ereignet, zunächst unter den Tieren und dann, im derzeitigen Akt der Geschichte, unter
den Menschen.
91 FN"Semper,Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, II, 233 f.
92 In der Etymologie von Wörtern, was Nietzsche vor allem in der Genealogie der Moral behandelt, wird die Intention ihrer Enunzianten, den Sprechern eines Diskurses, aufbe wahrt . Vgl. Deleuze, Nietzsche, 82. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral', Darmstadt 1994, 102,103.
93 Der Wissenschaftler verkörpert nach Nietzsche die Dekadenz, denn er hat, paradoxerweise, unter all dem angehäuften Wissen das Leben vergessen. Er hat verlernt, zu leben, das
heißt, auf seinen Körper zu hören.
94 „Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen ,die Kraft bewegt, die Kraft
verursacht' und dergleichen, - unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache" . (KSA 5, 279 f.)
95 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 154 f.
96 Martin Stingelin hat Nietzsches Verfahren als eine „Rückübertragung" bezeichnet. ,,Im
Grad ihrer Rückübertragung auf die ,ursprünglichen ' Bildfelder gewinnen biologische
Metaphern in Friedrich Nietzsches Werk an Wirkungsmächtigkeit." Martin Stingelin,
„Nietzsche und die Biologie - Neue quellenkritische Studien", Niet zsche Studien 32
(2003), 503-513 , hier 506.
97 Vgl. zur Geschichte der Etymologie als der Suche nach Wahrheit: Stefan Willer, Poetik der
Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik, Berlin 2003.
156
HUMAN MIMIKRY
PHILOSOPHIE
8.1.3. Humanmimikry . Psychologie und philosophische Etho logie
,,You are white as snow,
but you think like a slave."
(Philipp Roth, lhe Human Stain)
Der Mensch ist nach einer bekannten Formulierung Nietzsches das „noch nicht
festgestellte Tier." 98 (KSA 5, 81) Als ,philosophischer Ethologe' rekonstruiert er die
Hominisation des Mimikry -Verhaltens, die Handlungen der Tiere mit denen des
Menschen vergleichend. 99 Dabei bilden Natur und Kultur keine kategorialen
Gegensätze mehr, sondern stellen graduelle Abstufungen innerhalb einer gemein samen Phylogenese dar. Kultur ist die Fortsetzung der natürlichen Evolution mit
anderen Mitteln. 100 Eine rseits soll die Natur in der Kultur entlarvt und andererseits
die Kultur in der Natur entdeckt werden. Natur kann nicht überwunden werden,
ist sie doch nicht das Andere der Kultur, sondern die andere Kultur. Die anthropo logische Differenz zwischen Mensch und Tier wird nivelliert, weil Kultur nicht an
der Grenze beginnt, wo Natur endet. Auch die Tiere besitzen eine Kultur, aus welcher die menschliche hervorgeht. Nietzsches Gedankenexperiment zur Mimikry
ist ein Beispiel für das , was er selbst die „Vernatürlichung des Menschen" nennt, die
durch eine „Entmenschung der Natur" vervollständigt wird. (9, 525; 11 [211]) Die
98 Margot Norris führt Nietzsches Mimikrykenntnisse auf eine Lektüre von Darwins Origin
zurück, was als fragwürdig erscheinen muss. Nietzsche hat Darwins Abhandlungen nicht
gelesen, weder im Original noch als Übersetzung . Es ist daher auszuschließen, dass er jene
Passage in der vierten Auflage der Origin of Species kennt , in der die metaphorische Wen dung „tricks of the stage" auftaucht. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural
Selection, 4. Auflage (1866), 504. Nietzsche lernt Darwin vermutlich über Paul Ree kennen .
Vgl. zur Nachlassbibliothek : Nietzsches persönliche Bibliothek, hrsg. Giuliano Campioni,
u.a., Berlin 2003. Weitere Quellen von Autoren wie etwa Semper berücksichtigt Norris
nicht . Die Konstruktion der Humanmimikry wird nicht hinterfragt, sodass der Sprung von
der Insekten- zur Humanmimikry, und damit deren Unterschied, nicht problematisiert
wird . Vgl. Margot Norris, ,,Darwin, Nietzsche, Kafka, and the Problem ofMimesis", MLA
5/ 95 (1980), 1232-1253.Vgl. zu Paul Ree: Hans-Walter Ruckenbauer, Moralität zwischen
Evolution und Normen . Eine Kritik biologistischerAnsätze in der Ethik, Würzburg 2002. Den
Einfluss Rees vor allem zur Zeit der Niederschrift von die Geburt der Tragödie haben zuletzt hervorgehoben: David Owen, Nietzsches Genealogy of Morality, Stocksfield 2007;
Christopher Janaway, Beyond Selflessness.Reading Nietzsches Genealogy, Oxford 2007 .
99 Die Nietzsche -Forschung hat die Frage bejaht, ob die Genealogie der Moral evolutionär
verstanden werden muss . Vgl. zuletzt Robin Small, ,,Nietzsche's Evolutionary Ethics", in:
Nietzsche and Ethics, hrsg . Gudrun von Tevenar, Bern/ New York 2007,119-135.
100 Eine gegensätzliche These vertritt Christian Kalb. Hominisation werde bei Nietzsche als
ein Bruch beschrieben . Das Sprachvermögen diene dabei sowohl als Triebabkehr als auch
-ersatz. Christof Kalb, Desintegration . Stadien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt a.M . 2000, bes. 239-241; 244-251. Nietzsches Auffassung von Kultur
und Natur lässt sich jedoch nicht so eindeutig voneinander trennen wie mit der Differenz
,N atur versus Sprache' suggeriere wird. Dies soll im Folgenden gezeigt werden .
157
Evolution der Moral ist nach Nietzsche keine Fortschrittsgeschichte. Denn bemer kenswert ist, dass nicht die Starken, sondern, im Gegenteil, die Schwachen sich
durchsetzen.
Mimikry steht paradigmatisch für diesen Aspekt ein, denn sie wird nur von
schwachen Lebewesen betrieben. Ausdrü cklich schreibt er von der „Moralität der
Schwachen als mimicry" (KSA 10, 493). Die Grundlage für diese Evolutionsfiktion
bildet ein naturalistischer Fehlschluss, welcher die Übertragung eines naturwissen schaftlichen Konzepts auf das menschliche Leben plausibel erscheinen lässt. 101
Während der Phylogenese der Verstellung nimmt ihre Virtuosität zu.
Die Zunahme der ,Verstellung' gemäß der aufwärrssteigenden Rangordnung der
Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen, in der organischen beginnt
die List : die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. (KSA 12, 550)
Die Gleichsetz ung von Adaptation und Verstellung ist charakteristisch für
Nietzsche. Das Begehren, das die Anpassung antreibt, ist das der Aufwertung des
eigenen Status.
Die gewöhnlichsten
Umgebung an, man
anderen Menschen,
Höheres als man ist.
Arten der Verstellung sind: erstens man ähnele sich seiner
versteckt sich gleichsam in ihr; zweitens man macht es ein em
der Ansehen und Erfolg hat, nach und giebt sich als etwas
(KSA 9, 53)
Gleich dem bunten, aber harm losen Insekt, das ein ,Vorbild' imitiert, dessen
Macht in seiner zur Schau getragenen Giftigkeit beruht, ahmt ein schwächerer
einen stärkeren Menschen in der Hoffnung nach, sich dessen Merkmale beziehungsweise Insignien der Macht aneignen zu können.
Die Typologie der Humanmimikry wird historisiert. Die drei Typen, die jeweils
für ein schwaches Subjekt in einer bestimmten historischen Situation stehen, sind
der Sklave in der antiken Gesellschaft, das nicht näher bestimmte subalterne Indi viduum in der Modeme und schließlich, etwas überraschend, der Künsder. 102
In der Antike wird das Verhältnis von Sklave und Herr von Nietzsche ausdrücklich als eine Mimikry verstanden . Der Herr nimmt gegenüber dem Sklaven allerdings nicht die Rolle des Prädators ein. Vielmehr ist er das Vorbild, an dessen Macht
das schwächere Subjekt partizipieren will . Durch die Mimikry eignet es sich die
101 Vgl. zu Nietzsches Naturalismus : Christopher Janaway, ,,Naturalism and Genea logy", in:
A companion to Nietzsche, hrsg. Keith Ansell -Pearson, Oxford 2006, 337-352. Vgl. zur
Bedeutung naturwissenschaftlicher Modelle für die Erklärung von Moralphänomenen:
Brian Leiter, Nietzsche on morality, London 2002, bes. 8. Der Einfluss der Naturwissen schaften auf Nietzsche sowie der Einfluss seiner Philosophie auf die Wissenschaftsp h ilosophie werden zuletzt ausführlich behandelt in: Babette E . Babich (Hrsg .), Nietzsche and
the sciences, Dordrechc/ u.a. 1999, I-II.
102 Vgl. zur Mimikry als Eigenschaft der Schwachen in „Vom Probleme des Schauspielers"
Andreas B. Kilcher, ,,Das Theater der Assimilation . Kafka und der jüdische Nietzscheanis mus", in: Für Alle und Keinen . Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, hrsg.
Joseph Vogl Friedrich Balke, Benno Wagner, Berlin/ Zürich 2008, 201-230, hier 205 -208.
158
HUMANMIMIKRY
PHILOSOPHIE
Leitwerte der herrschenden Kultur an; sodann vererbt es die inkorporierten Eigen schaften an die Nachfolgegeneration. In dem folgenden Zitat wird ein historischer
Umbruch vorausgesetzt, bei dem sich der „Niedergang der blutverwandtschafdi chen Organisationsform der ,Gemeinschaft"' (KSA 5, 329) abspielt.
und Ideenkreisläufen das Wertesystem der Herren konsolidiert wird, dort die vertikale Transmission, bei der ein fremdes Wertesystem inkorporiert wird. 105 Durch
die von Nietzsche lamarckistisch gedachte Vererbung erworbener Eigenschaften,
werden die durch Imitation erworb enen Merkmale weitergegeben, was zu einer
allmählichen Anähnlichung der Sklaven an die Herren führt.
Wenn der Sklave die Eigenschaften des Herrn nicht erbt, sondern qua Mimikry
erwirbt, kreuzen sich mehrere unt erschiedliche intergenerationelle Linien in ihm: die
eigene Geschichte und die des Herrn, den er imitiert. Als Abkömmlinge des „Auflösungs -Zeii:alter[s]" haben die Sklaven daher die „Erbschaft einer vielfältigen Her kunft im Leibe". (KSA 5, 120) Der Sklave ist, mit anderen Worten, ein Hybrid. 106
·Der Sklave hat einen Körper, der ihm stets ein wenig fremd erscheinen muss, weil er
zum Teil seinem Herrn gleicht, ohne dass er von ihm genetisch abstammt.
Die Genealogie des subalternen Sklaven ist also die Genealogie des (hegemoni alen) Anderen. Die Mimikry des Sklaven produziert eine Pseudogenealogie, weil
sie die ,Mimikry' der Genealogie des Herrn ist. Der Sklave ist die Verkörperung
par excellence von Nietzsches Idee der Genealogie. Es gibt nach Nietzsche keinen
festen Ursprung, von dem aus sich ein Lebewesen oder ein Objekt bestimmt ließe.
An die Stelle der Idee des Ursprungs tritt die Vorstellung einer Genealogie, nach
der die Geschichte als ein Ensemble unterschiedlicher Kräfte zu denken ist, die
sich gegenseitig beeinflussen .107
In der antiken Gesellschaft verringert die „mimicry" (KSA 5, 329) den durch
die Rangordnung legitimierten sozio -kulturellen Abstand zum Herrn. Der Sklave
ist eine subalterne Existenz, weil er am Gemeinwesen nicht teilhaben darf Die
Gemeinschaft der Herrschenden ist eine „grosse Vernunft" (KSA 4, 39) des gesun den Leibes. Indem der Sklave sich angleicht, wird er Teil des kollektiven Herrschaftsleibes. Es handelt sich um einen Vorgang der ,Züchtung', genauer: der ,Auf
Den Übergang [zu einer nicht mehr auf der Blutsverwandtschaft basierenden
Gesellschaftsordnung] bereiten Sklaven - und H örigen -Bevölkerungen, welche sich an
den Götter -Kultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwü rfigkeit
und mimicry, angepaßt haben: von ihnen aus fließt dann diese Erbschaft nach allen
Seiten über. (KSA 5, 329; Hv. v. K.C.)
In diesem Zitat steht die Mimikry in einem Spannungsverhältnis zur Vererbung,
bei der auf einem anderen Wege eine zwischenmenschliche Ähnlichkeit entsteht.
Der Vorstellung einer Vererbung erwo rbener Eigenschaften, welche die komple mentären Asp ekte der Vererbung und der Anpassung in sich vereinigt, kommt
eine große Bedeutung in Niet zsches Text en zu. 103 An dem hohen Stellenwert, den
er der Lösung des Rätsels der Vererbung beimisst, besteht kein Zweifel : ,,Kein
Nachdenken ist so wichtig, wie das üb er die Erblichkeit der Eigens chaft en" (KSA
8, 301).104 Über das Verhältnis von Anpassung und Vererbung heißt es:
Daß ,Vererbung', als etwas ganz Unerklärtes, nicht zur Erklärung benutzt werden
kann , sondern nur zur Bezeichnung, Fixirung eines Problems. Eben das gilt vom
,Anpassungs-Vermögen'. Tatsächlich ist durch die morphologische Darstellung,
gesetzt sie wäre vollendet, nichts erklärt, aber ein ungeheurer Tatbestand beschrieben. (KSA 11, 562 )
Worin gründet nun die Kompl ementarität von Anpassung und Vererbung? Vererbung und Mimikry stellen zwei unterschiedliche Formen der Transmission von
Werten dar: Hier die symmetrische Transmission der Vererbung, in deren Blut-
103 Die Forschung hat sich dagegen vorwiegendauf die Rolle der Vererbung beziehungsweise
der natürlichen Selektion und der Mutation konzentriert. Vgl. Moore, Nietzsche. Biology
and Metaphor, 122 (Anmerk. 15); Skowron, Nietzsches ,Ami-Darwinismus', bes. 168. Ei-
ne Ausnahme bildet die Arbeit von Herbert Thüring, der das Konzept des Gedächtnisses
an der Schnittstelle von Natur und Kultur verortet. Vgl. Hubert Thüring, Geschichte des
Gedächtnisses. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert, München 2001, bes. 325-332.
104 Auch hier fällt eine Unterscheidung von lamarkistischem und darwinistischem Gedankengut nicht leicht. Nietzsche ist mit der Vererbungstheoriedes Darwinisten Francis
Galton, dem Cousins Darwins, bekannt, dessen Inquiries into Human Faculty and its De velopment und The hereditary genius, an inquiry into its laws and consequenceser 1884 und
1888 liest. Vgl. Friedrich Wilhelm Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in
8 Bänden, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Mominari, München Berlin/ New York 1986,
VIII, 347. Vgl. Begegnungen mit Nietzsche, hrsg. Sander L. Gilman, Ingeborg Reichenbach, 2 ., verb. Aufl., Bonn 1985, 479 f. In Henry W. Hollands Aufsatz „Heredity" findet
Nietzsche eine Zusammenfassung der Thesen Galtons. Henry W. Holland, ,,Heredity",
The Atlantic Monthly 52 (1883), 447 -453 . Vgl. Thomas H . Brobjer, ,,Nietzsche'sReading
and KnowledgeofNatural Science:An Overview",in: Nietzsche and Science, hrsg. Moore,
Brobjer,21-50, hier 45.
159
105 Vgl. zu ,Rasse' und ,Züchtung' bei Nietzsche die umfassende, die Vieldeutigkeitdes RassenbegriffshervorhebendeArbeit: Gerd Schank, ,Rasse' und ,Züchtung' bei Nietzsche, Berlin/ New York2000.
106 Vgl. zur Bedeutung von Familiengeschichten für das genealogische Denken: Sigrid
Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur - und Naturwis senschaft, München/ u.a. 2006, 9: ,,In der Genealogieverschränken sich Natur und Kul-
tur. [.. .] Es gibt keine Genealogie, ohne daß aus der ,natürlichen' Reproduktion soziale
Strukturen der Verwandtschaft gebildet werden. Und es gibt keine Genealogie,ohne daß
kulturelle Formen die Art und Weise regeln, in der Forrzeugung und Abfolgeder Generationen geschehen. Damit berührt die Genealogiedie Geschichte in einem elementar materialen Sinne, damit ist sie die Matrix der Geschichte. Denn sie beschreibt Wege der
Überlieferung und Fortzeugung, die durch die Leiber hindurch gehen; sie beschreibt das
Schicksalvon Körpern und Körperschaften in der Dimension der Zeit."
107 Michel Foucault, ,,Nietzsche,die Genealogie,die Historie", in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (1970 -1975), hrsg. Daniel Defert, Francois Ewald, Frankfurt a.M. 2002,
II, 166-191, hier 173: ,,Erbschaft ist kein Besitz, der immer größer und sicherer würde;
vielmehr ist sie voller Spalten und Risse und besteht aus heterogenen Schichten, die sie
brüchig werden lassen und den fragilen Erben von innen her oder von unten bedrohen."
Der fragile Erbe ist in diesem Fall der Sklave,da er, unfreiwillig, der illegitimeErbe ist.
16 1
HUMANMIMIKRY
PHILOSOPHIE
Zucht' im Sinne Nietzsches, wobei der .Akzent auf der Wertsteigerung liegc. 108
Der Sklave partizipiert jedoch nur metonymisch an der großen leibgewordenen
Vernunft, bleibt er doch ein W erkzeug und Mitt el, während di e Existenz de s
H errn autonom ist. Von Aristoteles stammt eine Beschreibung des ,Werkzeug' Charakters des Sklaven, die ein bezeichnendes Licht auf Nietzsches Auffassung
der Sklavennatur w irft: ,,Von Natur ist also jener ein Sklave [...], der so weit an der
Vernunft teilhat, daß er sie annimmt, aber nicht besitzt." 109
Es gibt zahlreiche Nachfahren des Sklaven in der Modeme. Zu unterscheiden
ist deshalb zwischen dem Sklaven als einer historis chen Figur und dem sklavi schen Denken und Verhalten, das in seinen modernen Erben fortbesteht. Das
Fragment Vom Probleme des Schauspielers handelt ausführlich von der„eingejleischten
Kunst des ewigen Ver steck-Spielens, das man bei Tieren mimicry nennt". (KSA 3,
608; Hv. v. K.C.) Nietzsche folgt hier Darwin, der davon ausgeht, dass ein Verhal ten im Laufe seiner Evolution einen Funktionswandel erfahren kann 110, und über trägt diese Annahme auf die Mimikry . Nach Nietzsche wird der Mimikryinstinkt
Die gläserne De cke der G esellschaft zu dur chstoß en, indem man sich die M einung der Anderen zu eigen mac ht, dies zeichnet di e Existenz der M im ikry su bjekte aus, di e von einer permanenten Rastlosigkeit heim gesuc ht werden. Sie sind
ständig beschäftigt, sich zu verändern oder zu ,verbessern ', in dem sie versuchen,
ihr e Existenz aufzuwerten.
In dem Fragment stellt Nietzsche die These auf , dass der Ursprung der Kunst in
der sozio -kulturellen Assimilation liegt . D er Künstler entstammt aus den besagten
subalternen Familien. Der Wille zur Erhöhung des eigenen Selbst wandelt sich in
einen Willen zum Schein beziehungsweise zur Scheinexistenz. Die Angst ums
überleben und vor der übermächtigen Umw elt weicht der Lust an der Verwand lun g; an die Stelle des Gefühls der Ohnma cht tritt der Rausch; das Spiel der
Ma ch t schlägt in ein Spiel mit der Ma cht um. Im Laufe der Mimikry verleibt sich
das Individuum di e Welt ein. Es handelt sich um einen ekstatischen Prozess, bei
dem es zu einem Anderen wird.
160
sich am leichtesten bei Familien des niederen Volks ausgebildet haben , die unter
wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen
mußten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Um stände
immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten (KSA
3,608)
108 Hier argumentiert Nietzsche im Übrigen sehr platonisch, auch wenn er sich ansonsten von Platon abzusetzen versuche. Vgl. die folgende Anmerkung zur Nachahmung in:
Platon, Der Staat. Über das Gerechte, Hamburg 1961, 101 (395 c-d): ,,Wennsie aber nachahmen, so müssen sie gleich von Kind auf die diesem ihrem Beruf entsprechenden Vorbilder nachahmen, also tapfere, besonnene, fromme, freie Männer und alles, was dem
gleiche, alles Unfreie aber dürfen sie weder tun noch geschickt sein, es nachzuahmen, und
überhaupt nichts Häßliches, damit sie nicht auf Grund der Nachahmung wirklich so werden. Oder hast du nicht gemerkt, daß die Nachahmun gen, wenn sie von Jugend auf ununterbrochen fortgesetzt werden, zur Gewohnheit und (anderen) Natur werden, mag es den
Leib oder die Stimme oder die Denkweise betreffen."
109 Aristoteles,Politik , in: ders., Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. Hellmur Flashar, Berlin
1991,IX, 17 (1254b). Von modernen Sklavenkann auch in Bezugauf die modernen Wissenschafclergesprochen werden, die sich einer Aufgabe selbsclosunterordnen. Wallace unterscheidet den real-historischen Sklaven vom modernen ,Sklaven' mir einem entsprechenden
sklavischenBewusstsein. Er vertritt zudem die streitbare These, dass Nietzsche den antiken
Sklavennicht im Sinne gehabt haben kann, weil dieserzum revoltierendenUngehorsam unfähig gewesenist. Um revoltierenzu können, ist es, so Wallace, notwendig, dass man sich im
Rechesiehe,die Güter und Werte der ,Herrn' zu besitzen. Vgl. R. Jay Wallace,,,Ressentiment.
Value, and Self-Vindicarion.Making sense of Nierzsche's Slave Revolr",in: Nietzsche and
Morality, hrsg. Brian Leiter, Neil Sinhababu, Oxford/ New York 2007, 110-137.Vgl. zur
Sklavengesellschaft:Karl Brose, Sklavenmoral. Nietzsches Sozialphilosophie, Bonn 1990. Es
ist allerdingszu bezweifeln,ob überhaupt ein Phänomen bei Nietzsche denkbar ist, das nicht
am Willen zur Macht Teil hat, wie Brosein Bezugauf das Gefühl der Sozialiräcbehauptet.
llO Darwin, The Expression of Emotions in Man andAnimals.
Vom Probleme des Schauspielers. - Das Problem des Schauspielers hat mich am
längsten beunruhigt; ich war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt
noch), ob man nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff ,Künstler' - einem mit
upverzeihlicher Gutmüti gkeit bisher behandelten Begriff - beikommen wird. Die
Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten ,Charakter' beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein
Überschuß von Anpassung s-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten N utzens zu befriedigen wissen: Alles das ist vielleicht nicht
nur der Schauspieler an sich? [... ] Ein solcher Instinkt [... ] befähigt allmählich, den
Mantel nach jedem Wind e zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als
Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Versteck-Spielens,
das man bei Tieren mimicry nennt: bis zum Schluß dieses [. .. ] als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den ,Künstler' erzeugt (den Possenreißer, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown, zunächst, auch den klassischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte
des Künstlers und oft genug des ,Genies'). 111 (KSA 3, 608 f.; Hv. V. K. C.)
Di e drei Idealtypen - Sklave, subalternes Individuum, Künstl er - stellen die
Abbilder ihrer Umwelt dar. Vorn ehm lich reaktiv und reproduktiv bilden sie die
Wert e der anderen ab, nehmen sie qua Imitation auf und ver erben sie gegebenenfalls weiter. Ihr e Neigun g zum Faszi ni ert -Werden geht Hand in Hand mit der
Fähi gkeit zum rauschhaften Selbstverlust. ,,Di e Aktivität der Ku ltur", so Deleuze
über Nietzsches Kulturbegriff, ,,erstreckt sich grundsätzlich auf die reaktiv en
Kräfte, legt ihnen Gewohnheiten, zwingt ihnen Vorbild er auf, um sie instand zu
111 Nietzsche, so Derrida, entwickelt in diesem Aphorismus die Utopie einer ,männlichen'
Kunst, die anders als die bisherige ,weibliche'Kunst nicht mehr rein passiver und rezeptiver Natur sein soll. Jacques Derrida, ,,Sporen. Die SeileNietzsches", in: Nietzsche in Frank reich, 130-168.
162
HUMAN MIMIKRY
setzen, zum Wirken gebracht zu werden." 112 Eine Eigenart der Sklavenexistenz ist,
dass sie sich durch pure Reaktivität auszeichnet, das heißt sie ist Repräsentation
ohne Bewusstsein von Tradition. Dem Sklaven genügt bereits der oberflächliche
Schein der Welt, die er nicht weiter ergründen, sondern nur kopieren will.
Als nachahmendes Thier ist der Mensch oberflächlich: es genügt ihm, wie bei seinen
Instinkten, der Anschein der Dinge. Er nimmt Unheile an, das gehört zu dem ältesten Bedürfniß eine Rolle zu spielen. (KSA 11, 111; 25 [379]; Hv . v. K .C.)
Selbst eine perfekte Repräsentation reicht allerdings nicht aus, um die Grenzen
der Tradition zu überwinden und Gleichberechtigung zu erlangen. Typisch für die
Mimikry ist ein Paradox: Je stärker die mimetische Anähnlichung erfolgt, hier die
des Sklaven an den Herrn, desto tiefer wird die innere Kluft zwischen Nachahmer
und Vorbild sein und umso größer der Mangel, der im Herzen der Sklavenexistenz
verborgen liegt. Der Sklave ist eine Teil-Repräsentation des Herrn (pars pro toto).
Alles, was der Sklave verstehen kann, ist bloß die Dekoration der Kultur, aber
nicht die Kultur selbst, das heißt ihre Geschichte. Das Sklaven-Subjekt ist traditionslos, es hält allein auf die Repräsentation, die ihn befriedigt. Es ist daher stets
nur eine partielle Verkörperung des Vorbildes.
Es geht Nietzsche letztendlich darum, die Trennung von Sein (esse)und Wirken
(operari) genealogisch nachvollziehen zu können. Vom Tierreich über das antike
Herrschaftssystem bis zur modernen Demokratie zieht sich das Verhältnis von
Selbst und Wirklichkeit durch Natur und Geschichte. Diese Trennung schafft den
Raum für das bereits erwähnte Begehren, der Andere sein zu wollen.
Die Genealogie der Mimikry ist, wie gezeigt werden sollte, die Genealogie des
Sklaven. Letztere stellt Geschichte als eine Geschichte von Rangkämpfen dar, die
zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen ausgetragen werden. In Bezug auf Sklave und Herr unterscheidet Nietzsche zwischen zwei Moralen. Als ein Streben nach
Repräsentation verkörpert Mimikry die Sklavenmoral. Dagegen ist der Herr das
reine Selbst, das in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit steht.
Jede Moral steht für eine erkenntnistheoretische Perspektive. Die Sklaven - und
Herrenperspektiven unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. Der Sklave
sieht die Welt durch die Perspektive des Herrn. Umgekehrt kennt der Herr die
Sicht des Sklaven auf die Welt nicht. Die Herren in der antiken Gesellschaft gehö ren zu den Wenigen, denen ein reines, autarkes Selbst vergönnt ist, das im Ein klang mit der Wirklichkeit lebt und glaubt, die Wirklichkeit selbst zu sein. Dem
112 Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 146. Vgl. zu Nietzsches Ideal von ,Aristokratie' :
Bruce Decweiler, Nietzsche and the politics of aristocratic radica!ism, Chicago/ London
1990. Christian Emden, der in seiner Untersuchung auf die Soziologie Pierre Bourdieus
zurückgreife, mache in der Verbindung von Naturgeschichte und Moral ein besonderes
Inte resse Nietzsches am menschlichen Habitus fest. Der Habitus ist insofern von großer
gesellschafclicher Relevanz, als seine Entstehung der Gründung gesellschafclicher Institutionen vorausgehe. Emden, Nietzsche on Language, Consciousness, and the Body, bes.
162.
PHILOSOPHIE
163
Herrn ist die Erfahrung des Perspektivismus unbekannt, weil er die Notwendig keit überhaupt nicht kennt, eine andere Perspektive einnehmen zu müssen. Es sei
daran erinnert, dass die Einfühlung in die Perspekti ve des Anderen eine Fähigkeit
ist, die Nietzsche zuerst den ,schwachen' Mimikryinsekten, den ersten Psychologen, zuschreibt. Der Herr ist im Besitz einer leibgewordenen Vernunft, in der
Innen und Außen, Selbst und Anderes als unvermittelte Einheit vorliegen. Aus der
Perspektive der Macht ist der Sklave das Außen, er ist der rechtlose Außenseiter,
der dieses Außen selbst erzeugt, indem er sich nach dem Vorbild, das außerhalb
seines Selbst liegt, richtet.
Ein Vergleich mit der Unterscheidung von Herrschaft und Knechtschaft, die
Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschreibt, bietet sich an dieser Stelle
an. 113 Darin geht Hegel auf die unterschiedlichen Perspektiven des Sklaven und
Herrn ein. Er führt eine interessante Differenz zwischen dem Herrn und dem
Sklaven ein, die er als den Unterschied zwischen Genießen und Arbeiten auffasst:
Die Existenz des Herrn zeichnet sich durch die Fähigkeit des Genießens aus, die
des Sklaven durch die Arbeit . Die Frage, ob und wenn ja, wann der Sklave genießen kann, ist auch für Nietzsche von eminente r Bedeutung. Bei Hegel braucht der
Herr den Knecht, um in ein Verhältnis zu sich selbst treten zu können. Während
der Knecht aufgrund seines Werkzeugcharakters zur Arbeit verpflichtet ist, ist der
Herr imstande, das reine Sein zu genießen. 114 Mit dem Knecht bezeich net Hegel
eine Existenz , die nicht in sich ruht, sondern sich stets von Neuem erfinden muss .
Der Knecht muss sich seine Existenz erarbeiten. Deshalb ist der Herr für ihn das
Wesen, dessen Perspektive er begehrt, um sein eigenes Sein in einem anderen
Licht sehen und es überhaupt genießen zu können, denn die Fähigkeit zum Genuss
ist seiner Existenz wesensfremd.
Die Unterscheidung von ,Genießen' und ,Arbeiten' trifft zum Teil auf die Unter scheidung von Herren - und Sklavenperspektive bei Nietzsche zu. Auch der Sklave
ist ein Werkzeug; das subalterne Individuum muss sich seine Existenz erarbeiten,
während der Herr sein Leben genießt. Hinter der Mimikry steht kein aristokratisches Pathos der Distanz. Nihil admirari oder noli me tangere, die Selbstvergewisserungsmottos des aristokratischen Geistes, sind dem Sklaven fremd. Der Sklave ist
reines Begehren, und als ein solches ist er ein Begehren nach Repräsentation, weil
das Sklavenbewusstsein nicht bei sich selbst bleiben kann, will es doch stets etwas
Anderes sein, das es sich mimetisch einverleiben möchte. Wer sich ähnlich machen
will, begehrt nach gesellschaftlicher Anerkennung. Der Sklave begehrt die Macht
als Anerkennung, um sein Selbst zu erhöhen. Mit anderen Worten: Der Sklave
kann nicht genießen , weil er im Gegensatz zum Herrn über kein Selbst verfügt, das
er genießen könnte. D enn er will genießen, was er nicht hat und nicht ist.
113 Vgl. Georg Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke, hrsg.
Reinhard Heedel, Wolfgan g Bonsiepen, Hamburg 1980, IX, 109-116.
114 Vgl. ebd., 113-115.
164
165
HUMANMIMIKRY
PHILOSOPHIE
Der Sklave ist es, der die Macht nur als Gegenstand einer Anerkennung, Materie
einer Repräsentation, Einsatz eines Wettstreits begreift und der sie folglich, am
Ende eines Kampfes, von einer bloßen Zuschreibung durch herrschende Werte
abhängen lässt.115
socialen Existenzbedingungen" 118 vollzieht. 119 Dagegen begreift Ni etzsche die An passung als ein Phänomen der Schwäche und ein Symptom eines degenerierten
Lebens. Denn wer sich anpasst, muss sich zurüc knehm en können.
Das Mimikryverhalten bildet nach Nietzsche die biologische Voraussetzun g für
das Zusammenleben . Es steht für die Nivellierung von Rangunterschieden, da
Merkmal e von jed em Individuum durch Imitation erworben werden können.
Demokratie ist ohn e Repräsentation beziehungsweise einen Willen zur Repräsenta tion undenkbar. Mimikry entspricht einem biologischen Tri eb zur demokratischen
Repräsentation. Es erklärt außerdem die Evolution emotionaler Kompetenzen wie
etwa die Einfühlung in ein Gegenüber, was die emotionale Grundlage von Demo kratie überhaupt darstellt. Denn es existiert keine Demokratie ohne die Repräsenta tion von Gleichheit, welche sich in der Ähnlichkeit der Mens chen manifestiert .
M imikry beinhaltet die Idee der Gleichheit. Nietzsche, der die „Lehrevon der
,Gleichheit der Menschen"' (KSA 3, 389) mit großer Vehemenz ablehnt 120 , kritisiert
den Mimikrytrieb, weil durch ihn die sozio-kulturelle, auf dem Gesetz der Ge nealogie beruhende Rangordnung in Frage gestellt wird . So lange die Ähnlichkeit der
Menschen auf eine Vererbun gsgenealogie schließen lässt, ist die Ranghierarchie
nicht gefährdet. Di es ändert sich jedoch, sobald zwischen einer genealogischen und
einer pseudogenealogischen, das heißt einer durch Anpassung erzielten Ähnlichkeit
nicht mehr unterschieden werden kann. 121 Diese Erschütterung steht am Anfang
einer Entwicklung, deren Ende die demokratische Werteordnung markiert.
M an ginge deshalb fehl in der Annahme, dass der Sklave, wie ihn Nietzsche
beschreibt, eine vollkommen altruistische Existenz führt und ihm Machtgelüste
fremd sind. Der Sklave verzehrt sich im Gefühl des Ressentiments. Auch in ihm
walte t der Wille zur Ma cht, der sich bei ihm in Gestalt eines mimetischen Begehrens verwirklicht. 122 Denn es gibt kein Lebewesen, in dem der universale Willen
zur Macht nicht zu finden wäre. Deshalb ist Mimikry, wie jede andere Lebensweise auch, ein Ausdruck des Willens zur Macht. 123 Dass das Dienen nicht als ein
Im Laufe der Evolution verändern sich aber nicht nur Verhaltensformen, sondern
auch Persp ektiv en. Eines Tages lernt der Sklave, zu genießen. Es ist die Ästhetisie rung der Existenz, die zu einer Veränderung der Perspektive führt, die die Grund lage für die Fähigkeit zum Genuss ist. Mit anderen Worten: Als Künstler und nur
als ein solcher gelingt die nihilistische Umwertung: Im Rausch genießt er die
Anpassung an die Umwelt, die für das subalt erne Individuum eine Arbeit am
Selbst ist. Der Genuss liegt darin, das Andere nicht zu sein, sondern es zu spielen,
das heißt Identifizierung als ein Spiel aufzufassen , in dem viele Ichformen erfun den werden. Das Ich ist dann ein Anderes, das genossen wird.
8.1.4 . Die Evolution sozialer Instinkte
„Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein
Versuch, so lehre ich's - ein langes Suchen:
sie sucht aber den Befehlenden!"
(Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
Das Mimikrytier ,Mensch' ist ein politisches Tier. Mit Foucault ließe sich seine
Situation wie folgt beschreiben: ,,Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mens ch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als
Lebewesen auf dem Spiel steht." 116 Ni etzsches Aussagen zur „Entwicklung der
Mimikry unter Menschen" (KSA 11, 111; 25 (379]) sind Teil seiner Kritik an
der demokra tischen Entwicklung der Gesellschaft. Sein Gegenspieler ist Herbert
Spencer. Dessen Idee einer Evolution der Moral liegt die gegensätzliche Auffassung
zugrunde, dass ein Zusammenleben nur dann möglich ist, wenn der ursprüngliche
Egoismus überwunden und in einen sozialen Altruismus überführt wird. Keine
Revolution erschafft die demokratische Gesellschaft, sondern die Evolution. 117
Kultur ist der Ort, wo sich die „Anpassung der menschlichen Natur an die [... ]
118 Herbert Spencer,Die Tatsache der Ethik, Stuttgart 1879, 90.
119 NietzscheAuffassungenzu Anpassung und Evolutionbeziehensich aufSpencer. Vgl.KSA
5, 316; 9, 469, 11 (73] . Vgl. zu Spencer: Gregory Moore, ,,Nietzsche, Spencer, and the
Echicsof Evolution",The Journal of Nietzsche Studies (2002) , 1-20.
120 Eine andere Deutung legt VolkerGerhardt vor. Recht kann bei Nietzschenur dort existie-
ren, wo ein Gleichgewichtder Mächte vorherrscht. Dies setzt allerdings auch einen Prozess der gegenseitigenVerständigung voraus. Volker Gerhardt, ,,Das ,Princip des Gleichgewichts'. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12
115 Deleuze,Nietzsche, 15.
116 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983,
170 f.
117 Auf welche Weise Nietzsche versucht, gesellschafclichenWandel beziehungsweiseden
Wandel von Staatsformen evolutionär zu denken, und wie diese Entwicklungen mit den
Veränderungenvon Moralsystemenzusammenhängen, ist meines Erachtens noch keine
Aufmerksamkeitgeschenkt worden. Vgl. zu einem Vergleich zwischenNietzsches Schriften und der zeitgenössischenSoziologie:Franz Graf zu Solms-Laubach,Nietzsche and Early German andAustrian Sociology, Berlin/ New York2007.
(1983), 111-133.
121 Vgl. zum Problem der Demokratisierung der Gesellschaft und Nietzsches Versuch, der
Idee einer Rangordnung ein philosophisches Fundament zu geben: Bernhard Taureck,
Niet zsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig2000, bes. 202-208.
122 Vgl. zum mimetischen Begehren: Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt
a.M. 1992.
123 Für Jean Starobinskiist das Gegensatzpaarvon ,Aktion' und Reaktion' konstitutiv für die
Genealogie der Moral. Jean Starobinski,Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffipaars, Frankfurt a.M. 2003, 432-348. Ihr dialektischesZusammenspiellässt er aller-
166
167
HUMANMIMIKRY
LITERATUR
Machtverzicht begriffen werden darf, sondern vielmehr im Gehorsam der versteckte Wunsch verborgen liegt, die Macht eines Tages an sich zu reißen, drückt
Nietzsche im Zarathustra wie folgt aus: ,,Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu
sein." (KSA 4, 147 f.)
o-endenJahrzehnten vor allem in (populär -)wissenschaftlichen Abhandlungen über
die Mimikry informieren 125 , die Wirkung des Ersteindrucks, den Nietzsches Reflexionen auf ihn ausgeübt haben dürften, ist nicht zu unterschätzen. Es darf daher
o-eschlossenwerden, dass seine literarische Ausarbeitung der Mimikry auf diesen
o
..
126
Text zuruckgeht.
Wie im vorausgegangen Kapitel gezeigt wurde, betrachtet Nietzsche den genialen Künstler als einen evolutionären Nachfahren des Mimikryinsekts . Die Mytho logisierung der Evolution, die auf diese Weise als ein phylogenetisches Ursprungs narrativ· in den Dienst genommen wird, ist bereits in der Joseph-Tetralogie zu
finden. 127 Die Evolution des Schönen, in deren Verlauf der „Mensch nicht mehr
das Amphibium oder das Reptil spielt, sondern seinen Weg zum Körperlich -Gött lichen schon recht weitgehend verfolgt hat" 128 , wird in den Bekenntnissen des Hoch -
8.2. Literatur.
Die Evolution des schönen Menschen (Thomas Mann)
„Ich hatte die Natur verbessert, einen
Traum verwirklicht, - und wer je aus dem
Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis
und Ans chauung der Dinge, kurz: aus
der Phantasie, unter kühner Einsetzung
seiner Person eine zwingende, wirksame
Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der
kennt die wundersame und träumerische
Zufriedenheit, mit der ich damals vor
meiner Schöpfung ausruhte."
(Thomas Mann, Bekenntnisse
des Hochstaplers Felix Krull, 302)
Eine augenfällige Eigenschaft der Mimikryschmett erlinge ist ihre Schönheit, die
viele ihrer menschlichen Betrachter in den Bann schlägt. Ihre Schönheit zeigen sie
auf eine auffällige und farbenfrohe Weise. Für ihre Prädatoren signalisieren die
aposematischen Farbmuster jedoch Giftigkeit und Ungenießbarkeit, was allerdings nur vorgetäuscht ist (Batessche Mimikry), da die Mimikryschmetterlinge
anders als ihre ,Vorbilder' durchaus genießbar sind . Um etwas anderes handelt es
sich bei der sogenannten Lockmimikry. Hier dienen farbige Muster unter ande rem dazu, um einen Geschlechtspartner zu· werben. Wie verhält es sich nun mit
dem menschlichen Körper und seiner Schönheit? Geh en im Falle der menschli chen Schönheit ebenfalls Täuschung und Anlockung Hand in Hand? Macht
Schönheit nicht verdächtig?
Thomas Mann setzt Nietzsches Arbeit am Mythos der Humanmimikry fort. In
seiner 1896 erworbenen Naumann -Ausgabe von dessen Werken versieht Mann das
im letzten Kapitel behandelte Fragment „Vom Probleme des Schauspielers" am
Rande mit einem Kreuz und einem Ausrufezeichen. 124 Mag Mann sich in den foldings außer Acht. Wie dagegen Deleuze zeigen kann, bahnt sich in Nietzsches Denken eine
letzte Wendung an, die in dieser Umkehrung der Werte einen letzten Ausdruck des Willens
zur Macht erkennt. So spricht er von einem „Qualitätswechsel im Willen zu Macht" und
dem „Aktiv-Werden als universelles Werden aller Kräfte". Deleuze, Nietzsche, 190 f.
124 Im Folgenden werden Materialien aus dem Thomas-Mann -Archiv mit ,TMA' und Bücher
mit TM·ausgezeichnet. TM-Friedrich Nietzsche, Nietzsches Werke, Leipzig 2 1895, V, 311313. Das Buch trägt die Jahreszahl ,,[18]96" als Erwerbungsdatum . Vgl. zur Datierung:
Terence James Reed, ,,Thomas Mann und die literarische Tradition", in : Thomas-Mann Handbuch, hrsg . Helmut Koopmann, 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2001, 95-136,
hier 98. Auf die Bedeutung von Nietzsches Text hat vor allem Hans Wysling hingewiesen :
Hans Wysling, ,,Die merkwürdige Lebensbahn des Glücks - und Hermeskindes Felix
Krull", in: ders. Hans Wysling. Ausgewählte Aufsätze 1963 -1995, hrsg. Thomas Sprecher,
Cornelia Bernini, Frankfurt a.M. 1996, 249 -283, bes. 257.
125 TM'Otto J. Hartmann, Erde und Kosmos im Leben des Menschen, der Naturreiche, Jahreszeiten und Elemente. Eine philosophische Kosmologie, Frankfurt a.M . 1938. Weitere Abhand lungen sind: TM'Paul Kammerer, Allgemeine Biologie, Stuttgart/ Berlin/ Leipzig 1915;
TM'Adolf Portmann, Falterschönheit. Exotische Schmetterlinge in farbigen Naturaufnahmen
(Vorwort von Hermann Hesse), Bern 1935. Vgl. Malte Herwig, Bildungsbürger auf Abwe gen. Naturwissenschaft im Werk Thomas ivfanns, Frankfurt a. M . 2004, 151: ,,Die Phäno mene von Erwähltheit, Verstellung, Trug und Betrug, die ihn an der Kunst immer fasziniert haben, sucht der Autor auch in der Natur und findet sie in der Mimikry wieder."
126 Wysling, ,,Die merkwürdige Lebensbahn des Glücks- und Hermeskindes Felix Krull",
macht in Nietzsches Aphorismus „Vom Probleme des Schauspielers" die Haupteinflussquelle
für das parodistische Bild des Künstlers im Werke Manns aus. Nietzsches formendem Einfluss auf Manns Interesse an der Biologie ist bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Vgl. zum Einfluss Nietzsches auf Manns Lebensphilosophie und seine Vorstellung der
Evolution: Hans Dieter Heimendahl, Kritik und Verklärung. Studien zur Lebensphilosophie
Thomas Manns in ,Betrachtungen eines Unpolitischen', ,Der Zauberberg', ,Goethe und Tolstoi'
und Joseph und seine Brüder', Würzburg 1998, bes. 129-138, 202-215, 241 f. Vgl. zur Rezeption der Naturwissenschaften die wichtige Studie : Herwig, Bildungsbürger auf Abwegen.
127 Vgl. zum Mythos : Manfred Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann,
Bern/ München 1972, 160-168.
128 Thomas Mann, Josef und seine Brüder, in : ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden,
Frankfurt a.M . 2 1974, IV, 395. Für das Seelilienmotiv in den Bekenntnissen hat Malte
Herwig gezeigt, dass Mann die „Evolution des Lebens als biologische Vorgeschichte des
Schönen" darstellt. Malte Herwig, ,,,Nur in der Jugend gestielt'. Die langen Wurzeln des
Felix Krull", in : Thomas-Mann -Jahrbuch 18 (2005), 141-158, hier 145. Vgl. zur Idee der
Evolution bei Mann : Helmut Koopmann, ,,Imitation, Mutation, Evolution. Steuern Lebensprozesse das Erzählen?", in: , Was war das Leben? Man wusste es nicht!'. Thomas Mann
und die Wissenschaften vom Menschen, hrsg. Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2008, 91110; Manfred Eigen, Thomas Mann und die Evolution, in: Scientia poetica. Literatur und
Naturwissenschaft, hrsg. Norbert Elsner, Werner Frick, Göttingen 2004, 335-350 .
168
169
HUMAN MIMIKRY
LITERATUR
staplers Felix Krull (1922/ 1954) thematisiert. In seinem letzten Roman sind es
jedo ch nicht Amphibium oder Reptil, von denen der Mensch abstammen soll,
sondern der Mimikrys chme tterlin g. Auf das tierische Erbe des Menschen wird im
Roman ausdrücklich hin gew iesen. Von Professor Kuckuck wird Felix mit den folgende n Worten in die Evolutionsbiologie eingeführt;
·
zehnjährigen Emil Gessenharter erzählt, eines ehrgeizigen jungen Mannes, der
Schriftsteller werden will. Er zieht in eine größere Stadt, wo sein älterer Bruder
Rasso lebt, der, einst ein ambitionierter Kunststudent, seinen Lebensunterha lt
nun im Kunst gewerbe bestreitet. Emils Wunsch, ein Künstler zu werden, ist das
Verlangen eines Menschen, der ästhetische Existen z mit autonomer Individualität
identifiziert. Sein Bruder, durch unangenehme Erfahrung offensichtlich vorzeitig
gereift, rät ihm jedoch, seine künstlerischen Ambitionen aufzugeben. Stattdessen
empfiehlt er die Mimikry, die Anpassung .
Wie es sich aber verhalte in der übrigen Natur, so auch in der Menschenwelt: auch
hier sei immer alles versammelt, alle Zustände der Kultur und Moral, alles, vom
Frühesten bis zum Spätesten, vom D ümmsten bis zum Gescheite sten, vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wild esten bis zum Höchst- und Feinstenwickelten bestehe
allezeit nebeneinander in dieser Welt, ja oft werde das Feinste müd' seiner selbst,
vergaffe sich in das Urtümli che und sinke trunken ins Wilde zurück. 129
8.2.1. Kriminelle Ho chstapl er.
Ökonomi e und Vertrauensverlust um 1900
Der im Jahre 1954 veröffentlichte Roman, an dem Mann seit 1905 - mit län geren
Unterbrechungen - arbeitet, erzählt die Geschichte eines deutschen Immi grante n.
Als jung er Mann wandert Felix nach Frankrei ch aus. Zu diesem Schritt entschei det er sich nach dem Selbstmord seines Vaters, der das Familienunternehmen in
den Ruin führte . Im sozialen Abstieg erfährt die Familie den eigenen „bürgerlichen Tod" (B 331) und verlässt daraufhin die H eimat im Rhein gau. Felix wird
nach Paris geschickt, wo ihm sein Pate Schimmelpreester eine Anstellung in einem
Hot el unweit des Place Vendome vermittelt.
Der Roman ist auf zwei historische n Ebenen angesiedelt: Während die Hand lung in den Jahrzehnten nach der deutschen Reichsgründung spielt, ist die Erzähl situation in der Ge genwart verortet, von der aus das biografische Ich auf seine Vergangenheit zurückblickt. Zu Beginn der langen, fast 50 Jahre währenden Arbeit
werden die Bekenntnisse als eine satirische Reaktion auf die einst beliebten sozialdar winistis chen Romane konzipiert. Obglei ch dieser Roman nach seinem Erscheinen
vor allem als Künstlerroman bekannt geworden ist, besitzt er eine leichte sozialdar winistis che Färbung, welche jedo ch im Laufe der lan gen Entstehungszeit mit ihren
zahlreichen Unterbrechungen nahezu unkenntlich geworden ist.
Der Aufstei ger ist ein beliebtes Sujet zur Zeit der krisengeschüttelten Weimarer
Republik um 1900. Es sei nur an die sozialkritischen Texte Carl Sternheims erinnert , von denen einige als Vorlagen der Bekenntnisse in Frage kommen .130 In die sem literarischen Umfeld erfreut sich das Wort ,Mimikry' einer großen Beliebtheit. Mimikry . Ein Stü ck mod ernes Leben lautet der Titel von Maria Janitscheks
sozialkritischem Roman aus dem Jahre 1903. Darin wird die G eschichte des acht129 Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in: ders., Gesammelte Werke, VII,
547. Im Folgenden werden Zitat aus dieser Ausgabe mit der Sigle ,B' ausgezeichnet.
130 Vgl. Hans Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des
Hochstaplers Felix Krull, Bern/ München 1982, 53-55.
Mimikry ist das Geheimnis aller Menschen, die etwas erreicht haben. Ohne Mimi kry kann der prächtigste Schmetterling die Beute eines gemeinen Raubvogels werden, der bedeutendste Käfer von der Nadel eines Buben aufgespießt werden. Mimi kry ist das einzige Hülfsmittel, das jeder Menschen zu seinem Fortkommen von der
Natur erhält. 131
Felix' und Emil Gessenharts Lebensläufe spielen sich etwa zur gleichen Ze it ab.
Felix kommt kurz nach der deutschen Reichs gründung auf die Welt. Als die frühe
Romanfassung der Bekenntnisse im Jahre 1922 erscheint, leidet die Weimarer
Republik an der Hyperinflation. In einer Z eit des sozio-ökonomischen Vertrauens verlustes mehren sich die Berichte über betrü gerische Hochstapler 132 , die falsche
Schecks ausstellen oder als Erbschleicher große Berühmtheit erlangen. Unzählige
Zeitungsartikel über diese Hochstapler sammelt der junge Schr iftsteller und Kauf mannssohn, um aus diesem Stoff seinen neuen Roman zu formen. 133 Der Hoch stapler stellt die kriminelle Verkörperung der Finanzkrise dar. Wenn das Kreditwe sen des Kapitalismus etwas mit Vertrauen und Vertrauensvorschüssen zu tun hat,
dann verkörpert der Hochstapler das Misstrauen in den Finanzmarkt.
In den Bekenntnissen erscheint der Hochstapl er als Künstl er und der Künstler
als Hochstapler. Mann nimmt die sozialdarwinistische Mimikry -Vorstellung auf
- und deutet sie um. Mimikry ist keine Anpassun g, die im Gegensatz zur künst lerischen Existenzform steht, wie in Janits cheks Roman postuliert wird, sondern,
im Gegenteil, eine ästhetische Praxis.
Das Misstrauen gegenüber dem Wirtschaftssystem geht Hand in Hand mit
einem Misstrauen in den M enschen. Die Psychologi e entdeckt die bislang überse henen Abgründe der menschli chen Existenz. Wie alle Verhaltensformen durchlau fen auch Betrug und Täuschung eine natürliche Evolution. Ein signifikantes Beispiel für diese Tendenz liegt in der ein Jahr nach den Bekenntnissen veröffentlichen
Studie Die Psychologiedes Hochstaplers des Staatsanwaltes Eri ch Wulffen vor. In die
Fußstapfen des Kriminologen Cesare Lombrosos tretend 134, empfiehlt dieser Autor
131 Maria Janitschek, Mimikry. Roman aus d[em} 19. jh., Breslau/ Berlin/ Leipzig 1919, 6. [Hv.
V. K .C ]
132 Vgl. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M . 1983, 849-875.
133 TM' Mac. 3/ 170-195, 3/ 287-355.
134 Martin Stingelin, ,,Verbrecher als Lebenslust. Das Problem der Identität, die Identifizierung von Verbrechern und die Idenfikation mit Verbrechern bei Friedrich Nietzsche", in:
170
HUMANMIMIKRY
kriminologischer, kriminalpsychologischer und sexualpathologischer Schriften
sich mit einer evolutionistischen Begründung der verbrecherischen Instinkt e. Es sei
davon auszugehen, dass bereits im Gehirn der Tiere die „Anfänge der Psycholo gie
des Hochstaplers" zu finden seien; ein solcher „angeborene[r] Verstellungsinstinkt"
entspreche daher der Normalität des menschlichen Leb.ens.135 Eine der schillerns ten Hochstapler -Figuren zur Zeit der Finanzkrise, der Wulffen sogar eine Mono grafie widm et, ist der Rumäne George Manolescu. 136 Mann faszinieren die Memoi ren Manolescus 137, der als Vorbild für die Romanfigur Felix Krull dient. Von ihm
übernimmt er den mittelalterlichen Ausspruch Mundus vu!t decipi.138
Für das Thema der Mimikry ist nun von Belang, dass die sozialdarwin istische
und kriminologische Vorstellung eines evolutionären Täuschungstriebes litera risch umgesetzt wird. Um das Verhältnis von Mimikryschmetterling und Mensch
darzustellen, bedient sich Mann seiner Leitmotivtechnik, die das (diachrone) phylogenetische Phantasma der Humanmimikry auf die synchrone Ebene des litera rischen Werkes projiziert. So wird der Mimikryschmetterling zu Felix' Leitmotiv Tier.
135
136
137
138
Verbrecher - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart,
hrsg. Joachim Linder, Tübingen 1999, 135-154.
Erich Wulffen, Die Psychologiedes Hochstaplers, Leipzig 1923, 7.
Ders ., Georges Manolescu und seine Memoiren . Kriminalpsycholog. Studie von Dr . Erich
Wulffen, Staatsanw[alt}, Berlin 1907.
Georges Manolescu, Ein Fiirst der Diebe. Erlebtes und Erlittenes, Berlin 1907. Vgl. Thomas
Sprecher, ,,Das grobe Muster. Georges Manolescu und Felix Krull", Thomas-Mann-Jahrbuch 19 (2006), 175-200 .
·
Thomas Mann, Notizblacr 583 (Felix Krull), in : Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, 417.
LITERATUR
171
8.2.2 . Literarisch e Entomologie. Der Schmetterling als Leitmotiv
„So etwas wie meine vorliegende Arbeit
wird von den Wissenschaftlern als Philosophie bezeichnet, und, wie ein Kollege in der
Diskussion meinte, ,die führt zu nichts '. Ob
all das Laboratoriumsgewurschtel
zu etwas
führt, stand nicht zur Diskussion." 139
(Klaus Mampell in einer Widmung
an Thomas Mann)
. D as Spannungsverhältnis von Natur und Kultur durchzieht den Roman. Die Kul tur ist auf der Ebene der Handlung angesiedelt, während auf die Natur auf der darunter liegenden Ebene des Leitmotivs angespielt wird: Als ein soziales Wesen ist
Felix ein mondäner Dandy, als ein biologisches Wesen ist er ein Tier, genauer ein
Schmetterling. In Gestalt des Schmetterlings ist die evoluti onäre Vergangenheit
für den Leser, einmal darauf aufmerksam gemacht, stets präsent. Das Leitmotiv Tier offenbart die Animalität des Menschen. Die Leitmotivtechnik erlaubt die
Übernahme der sozialdarwinistischen Tier -Mensch -Analogie sowie ihre gleichzeitige Ästhetisierung und Ironi sierung . Was den Protagonisten auf der Handlungs ebene lange Zeit verborgen bleibt, erschließt sich dem Leser auf der Bedeutungs ebene der Leitmotive. Mithilfe der Leitmotivtechnik entschlüsselt er Felixens
„geheime Identität[ ]" 140 als Mimikryschmetterling. Felix' Animalität manifestiert
sich zum einen in seiner sexuellen Natur, seiner erotomanischen Flirt - und Locksucht, und zum anderen in seinem Mimikrytrieb, das ist das unkontrollierbare
Bedürfnis zur Verstellung
Sehr deutlich zutage tritt diese leitmotivische Doppelstruktur in jenem Kapitel,
das von Felix' Initiation als Hochstapler im Wiesbadener Op erettentheater erzählt.
Auf der Bühne singt und tanzt der Schauspieler Müller -Rose, den Felix sich zum
Vorbild nimmt. Bezeichnend ist die Beschreibung Müller -Roses als „selige[r] Falter[ ]" (B 294). Im Theaterraum herrscht eine aufgeregte Atmosphäre, deren
Beschreibung ganz von einer zoomorphen Tiermetaphorik beherrscht wird. Das
Publikum sei ein „Riesenschwarm von armen Motten und Mücken" (B 294 ), die
sich kollektiv an der Zurschaustellung des leichten Lebens ergötzten. Ein Schau 139 TM'Klaus Mampell, ,,Wandlungen des Organischen", in: Revue Suisse de Zoologie. Annales
de la Societe Zoologique Suisse et du Museum d'Histoire Naturelle de Geneve, Juin 1951, Fascicule (N r. 34), Geneve 1951, 537-551. Klaus Mampell arbeitet als Biologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Der Bewunderer Tho mas Manns hält am 18. März
1951 einen Vortrag in Zürich. Der veröffentlichte Vortrag, in dem Mampell ausführlich
auf die Evolution aus der Sicht der Genetik eingeht, trägt eine Widmung an Mann, der
den Text, wie die zahlreichen An - und Unterstreichungen belegen, intensiv studiert .
140 Nach B0rge Kristiansen dient das Leitmotiv der Verschlüsselung „geheimer Identitäten",
die den Figuren beigelegt werden und nur für den Leser erkennbar sind. B0rge Kristiansen,
,,Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. Leitmotiv - Zitat - My thische Wiederholungsstruktur", in: Thomas-lvfann -Handbuch, 823 -835, hier 831.
172
LITERATUR
HUMAN MIMIKRY
spiel, das den Karikaturen Grandvilles entsprungen sein könnte, breitet sich vor
dem Auge des Lesers aus. Sehnsüchtige Motten bewundern einen eitlen Schmet terling. Das Arrangement von Schmetterlingsmotiv und Verblendung findet sich
bereits im Doktor Faustus: Adrian Leverkühns Vater beschreibt die Mimikry schmetterlinge wie folgt:
·
173
Abb . 12: Adolf
Portmann, Falterschönheit. Exotische Schmetterlinge in farbigen
Naturaufnahmen,
Leipzig 1935, o.S.
Ja, ja, die Natur kennt ihr Laubblatt genau, nicht nur in seiner Vollkommenheit,
sondern mit seinen kleinen alltäglichen Fehlern und Verunstaltungen
und aus
schalkhafter Freundlichkeit wiederholt sie sein äußeres Ansehen in anderem Bereich,
auf der Unterseite der Flügel dieses ihres Schmetterlings, zur Verblendung anderer
ihrer Geschöpfe.141 (DF 24; Hv. v. K .C.)
Müller -Roses Dandyismus, seine Imitation des höheren Lebensstils bringt die
soziale Praxis der Mimikry auf die Bühne. Hier finden die Aufsteiger einen Trost,
den ihnen die Realität nach dem Verlassen des Th eaters wied er nehmen wird.
„Schlichte Väter blicken auf ihr e glänzenden Söhne" (B 290), deren Existenz sich
141 In Bezug auf die Mim ikry sei an dieser Stelle auch auf die folgende Passage aus dem Teufelsgespräch hingewiesen. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in: ders .: Gesammelte Werke, VI, 333:
„Er (an sich herunterblickend mit gespreizten Armen): ,Wie denn, wie denn' Wie seh' ich
denn aus? Nein, es ist wirklich gut, daß du mich fragst, ob ich weiß, wie ich aussehe, denn
wahrhaftig, ich weiß es nicht . Oder ich wußte es nicht, du bringst es mir erst zur Bemerkung . Sei versichere, ich schenke meinem Äußeren gar keine Aufmerksamkeit, überlasse es
sozusagen sich selbst. Das ist reiner Zufall, wie ich aussehe, oder vielmehr, es macht sich
so, es stellt sich so je nach den Umständen her, ohne daß ich auch nur acht darauf gebe .
Anpassung, Mimicry, du kennst das ja, Mumschanz und Vexierspiel der Mutter Natur, die
immer die Zunge im Mundwinkel hat . Aber du wirst doch, mein Lieber, die Anpassung,
von der ich so viel und so wenig weiß, wie der Blattschmetterling, nicht auf dich beziehn
und sie mir für übel halcen 1" (Hv . v. K.C.) Manns Evokation der dämonisch-gespensti schen Bilderwelc ist nicht zuletzt auch eine etymologische Spielerei, die sich auf die ,Gespenscschrecke' beziehe, auch Phasmida (griech . für ,Phantom') genannt. Das neuhoch deutsche ,Gespenst' stammt wiederum vom mittelhochdeutschen ,gespanst' und althoch deutschem ,(gi)spanst' ab, was soviel wie ,Lockung', ,Verlockung' oder ,teuflisches
Trugbild' bedeutet . Man erinnere sich an Adrians Vater, der seiner Familie und Zeitbloom
die „farbig illluscrierten Bücher über exotische Falter und Meergetier" (ebd ., 26) vorführe.
Der Ethnologe Koch -Grünberg berichtet von dem großen, farbenprächtigen Morpho
menelaus L. (Abb. 12), aus dessen Flügeln die Indianer Masken anfertigen, die sie vor
Krankheiten schützen sollen. Mann erfährt von diesem Mythos durch Porcmanns „Falterschönheic", worin er die entsprechende Textstelle und die farbige Illustration des Schmet terlings anstreicht . ,,Die Indianer fürchten Morpho menelaus L., so Koch -Grünber g, als
Dämon, der ihnen die Malaria sendet." (™'Portmann, Falterschönheit, 21) Die gefährli chen Schmetterlinge sind, so lautet es dann im „Doktor Fausrus", böse Geister: ,,Die In sekten, die in phantastisch übertriebener Schönheit ein ephemeres Leben fristen, und von
denen einige den Eingeborenen als böse Geister gelten" (Mann, Doktor Faustus, 21) bräch ten, so der Volksglauben, die Malaria. Vgl. zur intertexruellen Übernahmen aus Portmanns Buch allerdings ohne genauere Berücksichtigung der dämonisch -geisterhaften Erscheinung der Schmetterlinge: Herwig, Bildungsbürger, 146-148.
einmal weit über ih re eig~ne erheben soll. Und hier, wo die Jugend in den Augen
ihrer gescheiterten Erzeuger, die sich für kurze Zeit schwelgend verjüngen, noch
einmal glänzt, beginnt Felix' theatralische Sendung.
Die für die (Baressehe) Schmetterlingsmimikry essenzielle Verschränkung von
(,verstecktem') Ekel und (sichtbarer) Schönheit - das farbenfrohe Vorbild ist un genießbar, während der ihm zum Verwechseln ähnlich aussehende Mimikryschmet terling sehr wohl gefressen werden kann - kommt im Verhältnis zwischen Felix
und Müller -Rose zum Tragen. 142 Beim Besuch seiner Garderobe deckt Felix den
geheimen Makel des als „Falter" (B 294) bezeichneten Müller -Rose auf: Der
Schock ist groß, als Felix ihn ohne seine blendende Verkleidung erblickt. Wäh rend der Betrachtung des von Pickeln übersäten Rückens überkommt ihn ein
Ekel. Es sei an jene Schmetterlinge erinnert, die den Mimikryschmetterling als
Vorbildern dienen und die, wie im Doktor Faustus ausführlich beschrieben wird,
gemieden werden, weil sie ihren Verfolgern ein „Ekel"sind .143
142 Wie schon beim zarten Geäder der Madame Chauchac im Zauberberg wird auch hier auf
den schönen Schein der Oberfläche großer Wert gelegt: Felix wird auch „Glückshaut" (B
406, 557) genannt.
143 Mann, Doktor Faustus, 26 . [Hv. v. K. C.]Der Mocivkomplex der Schmetterlingsmimikry
tauche im Doktor Faustus und den Bekenntnissen auf. In beiden Romanen symbolisiert der
Schmetterling die Vorstellung einer ,unreinen' Schönheit, in der Idealisierung und Körperlichkeit, Kunst und Wahrheit, Leben und Tod koexistieren. Während auf der Oberflä che alles glänzt, verbirgt sich darunter Verwesung und Tod . Im Doktor Faustus ist es die
Syphilis, deren Träger die Prostituierte ist, in den Bekenntnissen die Pickel auf der Haut
Müller -Roses .
174
175
HUMANMIMIKRY
LITERAT U R
Sehr präzise wird also die theacralisch -triadische Konstellation von ungenießbarem Vorbild (,Müller -Rose'), Mimikry -Schmetterling (,Felix') und getäuschtem
Betrachter (,Theaterpublikum') umgesetzt. Felix' Mimikry entspricht der Mimik ry jener Schmetterlinge, die selbst durchaus genießbar sind, jedoch zum Selbstschutz die von den Fressfeinden verschmähten Vorbilder imitieren. Müller-Rose
ist schön und eklig, Felix will nur schön sein wie die Mimikryschmetterlinge.
Die Mimikry besitzt neben der Täus chung der Umwelt eine weitere Funktion.
Was Felix über den Ekel der nackten Physis hinweghilft und ihn für die lügner ische Sch ausp ielerexistenz einnimmt, ist das Vermögen der Kunst, einen persönlichen Makel, so groß er auch sein mag, zu überdecken, ihn unsichtbar zu machen
und mithilfe der Illusion einer höheren Identität wenigs tens für den Augenblick zu
tilgen. Dies ist der Ursprung seiner Mimikrykunst.
Zouzou, die junge Tochter Professor Kuckucks, der Felix in Lissabon den Hof
machen wird , bittet ihn, sein ,flatterhaftes Wesen' doch etwas im Zaum zu ha lten.
Gebiete deinem Ekel und empfinde ganz, daß er [d.i. Müller-Rose] es vermochte,
sich in dem geheimen Bewußtsein und Gefühl dieser abscheulichen Pickel mit so
betörender Selbstgefälligkeitvor der Menge zu bewegen, ja unterstützt freilich durch
Licht und Fett, Musik und Entfernung, diese Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben! (B 294)
In dem Begehren, selbst begehrt zu werden, liegt das Wesen der erotischen Wuns chstruktur, wie sie Felix zu eigen ist. Der Schmetterling ist in der Kulturgeschichte als
das Symbol sexueller Begierde bekannt. In Brehms Tierleben heißt es, dass Hunger
und Trieb die Instinkthandlungen des Schmetterlings dominierten, wäh rend seine
geistigen Fähigkeiten sehr beschränkt ausfallen .144 In Manns Besitz befindet sich die
populärwissenschaftliche Abhandlung Fa!terschönheitdes Biologen AdolfFortmann,
zu der Hermann Hesse das Vorwort verfasst hat. Der Schmetterling, so Hesse,
lebt nicht, um zu fressen und alt zu werden, er lebt einzig, um zu lieben und zu zeugen, dazu ist er mit einem unerhört prachtvollen Kleide angetan, mit Flügeln, die
viele Male größer sind als der Leib, und die in Schnitt und Farben, in Schuppen und
Flaum, in einer höchst mannigfaltigen und raffinierten Sprache das Geheimnis seines Daseins ausdrücken, nur um es intensiver zu leben, um das andere Geschlecht
zauberischer und verführerischer zu locken, das Fest der Fortpflanzung strahlender
zu begehen.145
144 Brehms Tierleben . Allgemeine Kunde des Tierreichs, hrsg. Otto zur Strassen,4., vollständig
neubearbeiteteAuflage,Leipzig/Wien 1915,II, 214.
145 Hermann Hesse, [Vorworc],in: TiVl
"Porcmann,Falterschönheit, 5-12, hier 8. Vgl. Herwig,
Bildungsbürger, 146-148. Mann strich sich außerdem folgende Passage,in der sexuelle
Metaphern zur Beschreibungvon Naturerscheinungenverwendetwerden: TM"Harcmann,
Erde und Kosmos, 333: ,,Solche,tierhafte' Blüten verlierenden unschuldig-blumigen Charakter, weil sie nicht mehr nur von kosmischerSeelenhafcigkeitüberleuchtet,sternenhafc'
(z.B.Maßliebchen) oder windblütig (Weidenkätzchen und Gräser),sondernBild dunkler
Triebe sind. Es ist daher schon symbolisch für dekadente, sexualisierte Großstadtkultur,
wenn Orchideen zu Modeblumen werden." (Randanstreichungv. T. M.)
Nach ihrer [d.i. Zouzou] Meinung heiß das meine Gewohnheiten verkennen, die
zweifelloseher denen eines Schmetterlings gliche, der von Blüte zu Blüte gaukle, um
überall nur flüchtig ein wenig Süßigkeit zu nippen . (B 586)
8.2 .3. ,,,Eine Art von Erb -Überli eferung"'.
Mimikry als (auto)poetologischer Begriff
,,Der Stil ist der Mensch selbst."
(Georges Buffon)
Felix' Mimikry umfasst nicht nur die Nachahmung des Verhaltens und Kleidungsstils anderer Personen. Eine große Herausforderung besteht in der Fälschung der Unterschrift . Die Unt erschrift eines Menschen ist das Signum seiner
Persönlichkeit und der Ausdruck sein er Individualität.
In einer nach Paris verlegten Schlüsselepisode des Romans nimmt Felix' Traum
vom Aufstieg, zumindes t auf dem Papier, konkrete Gestalt an. Er macht die
Bekanntschaft des Grafen Venosta, ein junger Lebemann, der dem Erwartungs druck seiner Eltern zu entfliehen versucht. An einem lauen Sommerabend entspannt sich zwischen den beiden in einem Cafe hoch über den Dä chern der Stadt
eine Plauderei übe r lästige Familienverpflichtungen. Man schließt einen Pakt , de r
dem Grafen mehr Zeit für die Liebe und Felix eine adlige Existenz auf Zeit verschaffen soll. Venosta bittet Felix, seine Rolle einzunehmen, ihn sozusagen zu vertreten, damit er sich mit seiner Geli ebten für eine geraume Zeit unbemerkt zurückziehen kann. Natürlich wird diese T ät igkeit vergütet. Di e Frage ist nur wie, denn
über Bargeld und ein eigenes Einkommen verfügt der aristokratische Sprössling
nicht. Felix erhält daher die Schecks, mit denen Venostas Eltern die Zukunft der
Familie finanzieren. Lediglich die Unterschrift des Grafen muss Felix fälschen .
Ein genaues Studium der Handschrift muss dem natürlich vorausgehen, damit
Felix sein ,Stipendium ' aus adligem Vermöge n, das ihm für die Ausbildung seines
Selbst nutzen soll, empfangen kann.
,Vererbt oder selbst erfunden?' fragte ich, indem ich die Füllfeder an mich nahm .
,Vererbt', sagte er. ,Papa macht es geradeso. Nur nicht so gut', fügte er bei. (B, 518)
Felix ist im übertragenen Sinne ein Erbschleicher, da er, mit Erlaubnis des Sohn es
allerdings, den Familiennamen fälscht. Nicht nur der Name wird vom Vater zum
Sohn weitergegeben, sondern auch die Art und Weise zu unterschreiben.
Venostas ironische Nachtrag ,,,Nur nicht so gut"' weist darauf hin, dass es sich
dabei weder um einen individuellen Persönlichkeitszug des Vaters noch des Soh nes handelt, son dern um eine skripturale Familienähnlichkeit, einen genealogischen Schriftarchetypus, den der junge adlige Amoroso übererfüllt, währen d er
176
177
HUMAN MIMIKRY
LITERATUR
dagegen in anderen Lebensbereichen
vom Ideal seiner Herkunft abweicht . Als
Felix seinen ersten Scheck einlösen will, fällt dem Bankangestellten
die ostentative
Extravaganz des Schriftzuges auf, worauf Felix entschuldigend
sagt, es handele
sich bei der Unterschrift um ,,,eine Art von Erb -Überlieferung . [... ] Seit Generati onen unterzeichnen wir so."' (B, 555)
Die zwischen den Zeilen stehende graphologische Aussage, nach der die Unter schrift einer physischen oder mentalen Eigenschaft entspricht, die durch einen qua si-biologischen Vererbungsmechanismus
vom Vater auf den Sohn weitergegeben
wird, soll nun eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, da sich an ihr das Verhältnis der Mimikry zum Konzept der Generation untersuchen lässt.
Felix ,Schreibstunde' in Paris ist keine bloße Persiflage auf das Genre der Auto biografie . Ihr liegt eine wissenschafrsgeschichtliche
Diskussion zugrunde, die
Mann schon im Rahmen der Arbeit am Zauberberg interessiert. i 46 Die Frage ,Vererbt oder selbst erfunden' nimmt auf die Debatte um die lamarckistische Theorie
zur Vererbung erworbener Eigenschaften
Bezug, die den Romanhelden
Hans
Castorp in ihren Bann schlägt.
Der Biologe Hermann Friedmann schreibt im Jahre 1904: ,,Wenn die Hand schrift bei Vater und Sohn die gleichen Züge aufweise, so liegt nach Darwin Erb lichkeit vor." 147 Mann hat diese Arbeit nicht gekannt, doch stößt er bei Nietzsche
auf einen ähnlichen Gedanken. In der Naumann-Ausgabe
streicht er die folgende
Passage an:
In dieser Episode ,schreibt' sich Felix - Buchstabe für Buchstabe - in eine frem de Generationenkette
ein. Als d ie unmittelbarste
Verlängerung des menschlichen
Körpers und seiner Id entität fließt der ph ysische Körper in den Textkörper ein. In
der gefälschten Unterschrift, die das Leben und Schreiben des Dichters symbolisiert, gerinnt die Blutlinie der Vererbung zur Buchstabenfolge des Namens. Die
Handschrift ist das Medium von Körper und Textkörper. Die Unterschrift ist aber
nicht authentisch, das heißt, sie stammt nicht vom Urheber, dem authentes, ab.
Explizit tritt die Vererbungslehre erneut als die natürliche Schrift des Lebens in
149
In der
Erscheinung, als das, was von Generation zu Generation vererbt wird.
Biologie gilt die Mimikry, gemäß einer damals verbreiteten historischen Auffas 15
Führt man
sung, als eine „Ähnlichkeit, die nicht auf Verwandtschaft
beruht."
dies en Gedanken weiter, so liegt in der Unterschriftenfälschung
eine Form der
Schrift -Mimikry vor.
Mimikry ist Manns poetologische Chiffre für das Spiel mit Masken und die lite rarische Camouflage. 15l Andere Autoren haben zu derselben Analogie von Schreib -
Alle Tradition wäre jene fast unbewußte der ererbten Charaktere: die lebenden
Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie uadirt
werde. Mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Documem und als papiernes Gedächtnis .148
146 Thomas Mann, Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe Tagebücher, Frankfurt a.M. 2002, V.l, 427. In seiner Lektüre zeitgenössischer Werke zur
Vererbungslehre und Zelltheorie sind es die „Gene", ,,Bioplasten" und „Biophoren" (ebd.),
die Mann nachdenklich stimmen. Er las Oscar Hertwigs Standardwerk Al/gemeine Biologie, das ihn mit den notwendigen Details versorgt. Vgl. Michael Neumann, Kommentar,
in: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, V. 2, 233 -230. Sowohl im literarischen als
auch im naturwissenschaftlichen Text erfährt das Gedächtnis eine Aufwertung, da es als
eine materialistische Speichereinheit verstanden wird, die dem Erwerbung- und Vererbungsmechanismus von Eigenschaften zugrunde liegt. Der Unterschied zwischen einem
neuronalen und genetischen Gedächtnis, wie sie Hertwig macht, wird von dem Leser
Thomas Mann übergangen, da er für ihn nicht weiter von Belang ist. Für Hans Castorp
sind die Gene das große Geheimnis des Lebens, weil sie unsichtbar zwischen Materie und
Geist zu stehen scheinen. Vgl. zur Vererbung als generischem Gedächtnis ohne Berücksichtigung des Doktor Faustus und der Bekenntnisse: Laura Oris, Organic Memory. History
and the Body in the Late Nineteenth and Early Twent ieth Centuries, London 1994, 122-127.
147 Hermann Friedmann, Die Konvergenz der Organism en. Eine empirisch begründete Theorie
als Ersatz für die Abstammungslehre, Berlin 1904, 175.
148 TM-FriedrichNietzsche, Nietzsches Werke. Nachgelassene Werke. Aus den Jahren 1872, 2.
völlig neu gestalteten Ausgabe Leipzig 1903, 2. Abt., Bd. X , 267, Nr. 10. [Randansrrei chung v. T. M.]
°
149 Das wichtige Thema der Generation und der Vererbung von oft degenerativen Eigenschaften durchzieht die Romane Manns. Vgl. zuletzt am Beispiel der Buddenbrooks: Katrin Max, Niedergangsdiag-aostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in ,Buddenbrooks',
Frankfurt a.M. 2008 .
150 Romanes , Darwin und nach Darwin, 377.
151 Hinter dem poetologischen Gebrauch des Wortes ,Mimikry' bzw. ,mimicry' steht Friedrich
Nietzsches abwertendes und von Mann übernommenes Urteil über Wagner und dessen
„Mimikrykunsr". ,,WagnersMimikrykunst triumphiert nirgends geheimnisvoller als in der
Srilgebung des ,Trisran', die sich nicht aufs Sprachliche beschränkt, sich nicht in Redewendungen aus dem Geist der höfischen Epik erschöpft, sondern auf irgendeine intuitiv-geniale Weise das Keltische, eine englisch-normannisch-französische Atmosphäre in den WortTon-Komplex aufzunehmen und ihn damit zu durchdringen weiß, - mir einer Einfühlung,
die zu erkennen gibt, wie sehr und eigentlich die Wagnerische Seele in einer vornarionalsraatlichen europäischen Sphäre beheimatet ist." (Hv. v. K.C.) Thomas Mann, ,,Die Leiden
und Grösse Richard Wagners [1933]", in: ders., Gesammelte Werke, IX, 403 . Ähnlich heißt
es über Hans Pfizner: ,,Diese archaischen Quinten und Quarten , diese Orgellaure und Kirchenschlüsse - sind sie nichts als Mimikry und historische Atmosphäre? [... ] Welche hohe
Artistik in der Vereinigung nervösester Beweglichkeit, durchdringender harmonischer
Kühnheit mir einem frommen Värersril." Mann, ,,Vonder Tugend", in: ders., Gesammelte
Werke, XII, 375-427, hier 408 . Hans Rudolf Vager, Seelenzauber. Thomas Mann und die
Musik, Frankfurt a.M. 2006, 155: ,,Wagner lieferte also nicht nur Masken, sondern in der
Hauptsache Formen. Wagner'sche Masken bilden lediglich ein Requisit der Camouflage
unter vielen; doch welche Form der Camouflage auch gewählt wird, sie funktionieren nach
Art der Wagner'schen Motivsrruktur." In einer Prachtausgabe von Ecce Homo streiche
Mann die folgende Passage an, in der auf die Schauspielernarur Wagners eingegangen
wird.: ,,So wird zum Beispiel mir Inscinkr-Sicherheir bereits hier das Elementarische in der
Natur Wagner's als eine Schauspieler-Begabung bezeichnet, die in seinen Mitteln und Absichten nur ihre Folgerung zieht." [Hv. v. K. C.] TM'Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, hrsg.
Roul Richter. Illustration Henr y van de Velde, Leipzig (o.J.), 73. [Randansrreichung v. T.
M.] Mann ist bekanntlich mit Nietzsches Wagnerkritik vertraut gewesen, doch bleibt der
Komponist der Fixpunkt seiner künstlerischen Entwicklung. ,,Mann hingegen fand seine
178
HUMANMIMIKRY
seil und tierischer Verhalten sweise gegriffen. 152In einer Kritik zu der ersten deut schen Übersetzung von Balzacs Comedie Humaine heißt es beispielsweise: ,,Balzacs
Sprache gewinnt wie die Mimicry von Tier en das Ansehen seiner Umwelt". 153In
Zum Bilde Prousts stellt Walter Benjamin eine ähnliche Analogie zur Schmetter lingsmimikry her. Prousts dichterische Mim esis ist der Mimikry der Schmetterlin ge vergleichbar, die, auf Ästen sitzend, den Blättern aufs Haar ähneln. Im Essay
repräsentiert der Schmetterling den „Geist im Laubdach der Gesellschaft" 154,deren
Sprache er sich anpasst.
Diesem Lebenskreise entstammt, als Verfahren des Dichters, die Mimikry. Seine
genauesten, evidentesten Erkenn misse sitzen auf ihren Gegenständen wie auf Blättern, Blüten und Ästen Insekten, die nichts von ihrem Dasein verraten, bis ein
Sprung, ein Flügelschlag, ein Satz dem erschreckten Betrachter zeigen, dass hier ein
unberechenbares eigenes Leben unscheinbar sich in eine fremde Welt geschlichen
hatte. 155
Mimikry steht in Opposition zum Konzept der Generation . Mit dem Traduzia nismus oder Generatianismus, denen zufolge die seelische und körperliche Verfasstheit des Sprösslings (tradux) aus den väterlichen Anlagen stammen, wie schon
die Stoiker und Epikur behaupten, wird im Roman gebrochen. 156Bereits in seiner
Kindheit ist er sich der vollkommenen Herrschaft über seinen eigenen Körpers
sicher, der sogar Krankheiten erfolgreich simulieren kann: ,,Ich hatte die Natur
verbessert, einen Traum verwirklicht". (B, 302)
Die Schreibszene stellt eine mise en abyme in der Romanhandlung dar. In ihr
werden autopoetologische Reflexionen literarisch eingekleidet. Die Mimikry
repräsentiert ein bewusst gewähltes antigenealogische Modell als Alternative zur
Blutsverwandtschaft und Familie (genos). Was auf dem Spiel steht, ist die Idee der
Literaturges chichte als Familiengeschichte. Hier werden die Verwandtschaftsvor stellungen von Erbe und Generation sowie deren Gegenteil, die Mimikry, poeto logisch aufgeladen.
Identität als Epiker über das Vorbild Wagners." (Vager, Seelenzaube,·, 149) Unschwer erkennbar ist die versteckte Selbstcharakterisierung des Literaten, der zu Reche als der „literarischer Erbe Wagners" (Vager, Seelenzauber, 34) angesehen wird.
152 Ein anderer Literat des 20. Jahrhunderts, der sich intensiv mit der Mimikry auseinander setzt, ist Vladimir Nabokov. Nabokov arbeitet sechs Jahre als Research Fellow am Museum ofComparative Zoology der Harvard Universicy und veröffentlicht 22 wissenschaftli che Beiträge zur Lepidopterologie . Vgl. Victoria N. Alexander, ,,Nabokov, Teleology, and
Insect Mimicry", Nabokov Studies 7 (2002), 177-213; Dieter E. Zimmer, ,,Mimicry in Naeure and Art", in: Nabokov's World, hrsg. Jane Grayson, Arnold B. McMillin, Priscilla
Meyer, New York 2002, I, 47-57.
153 Otto Stoessel, Balzac, Die Fackel, XV, H. 290 (1913), 5 f., hier 6.
154 Benjamin, Gesammelte Schriften, II, 318.
155 Ebd .
156 Art. ,,Traduzianismus", in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg . Rudolf Eisler,
Berlin 1910, III, 1514 f.
LITERATUR
179
Mimikry ist Teil des Selbstporträts des Autors Mann, der sich mit besonderer
Vorliebe zum Fälscher stilisiert. Die ,Schreibstunde'l 57repräsentiert daher die poe tologische Schlüsselszene des Romans, in der das literarisch umgesetzt wird, was
Mann bereits Jahre zuvor die „Art von Mimikry, die ich liebe und unwillkürlich
übe", nannte. 158Als autopoetologische Bezeichnu ng für seine zwischen Anpas sung und Parodie angesiedelte Schreibweise verwendet Mann den Begriff der
,Mimikry', um seinen Stil in Tod in Venedig zu bezeichnen.
Unter·uns gesagt ist der Stil meiner Novelle [d.i. der Tod in Venedig] etwas parodis tisch. Es handelt sich da um eine Art von Mimikry, die ich liebe und unwillkürlich
übe. Ich versuchte einmal eine Definition des Stiles zu geben, indem ich sagte, er sei
eine geheimnisvolle Anpassung des Persönlichen an das Sachliche. 159
Dass die Novelle Tod in Venedig von ihrem Autor als Parodie angelegt wird, ist
zunächst verkannt worden. In einem Brief an Paul Amann zeigt Mann sich enttäuscht über seine Leser, weil sie die Intention „aufs Plumpste missverstanden" ha ben .160„Am peinlichsten war, daß man mir die ,hieratische Atmosphäre' als einen
persönlichen Anspruch auslegte,- während sie nichts als mimicry war." 161Das
„Bildungs -Griechentum", verziert mit Anspielungen an Platons Symposium urrd
Phaedrus sowie Plutarch Erotikos, ist als purer „Selbstzweck" fehlgedeutet worden .162Ihre Antikenverehrung macht das gebildete Bürgertum blind für den pa rodistischen Charakter der Novelle.
Mimikry, zweifellos das Markenzeichen dieses Autors, der sich außer als Erb fälscher auch als Abschreiber und Hochstapler versteht 163, meint die stilis tische
Id entität in ihrer ironischen Differenz zur literarischen Tradition . Im Gegensatz
zu vielen anderen Fällen, in denen von der ,Mimikry' in einer zumeist abfälligen
Weise die Rede ist 164, trägt der Begriff bei Mann eindeutig positive Konnotatio 157 Vgl. zur Graphologie in genealogischer, religiöser und rassenbiologischer Hinsicht: Yahya
A. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des
Anderen, Köln/ u.a. 2004, 144-181.
158 Mann, Brief an Josef Ponten (Mün chen, d . 6.6 .1919), in : ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe- Tagebücher, XX, 293-295, hier 294.
159 Ebd.
160 Thomas Mann, Brief an Paul Amann (Tölz, 10.9.1915), in: ders., Große kommentierte
Frankfurter Ausgabe, XXII, 93-97, hier 94.
161 Ebd.
162 Ebd. Vgl. zu den antiken Vorbildern: Terence James Reed, Thomas Mann . The uses of tradition, 2. erweiterte Auflage, Oxford 1996, bes. 156.
163 Vgl. Bernhard J. Dotzler, Der Hochstapler. Thomas Mann und die Simulakren der Literatur,
München 1991; Wysling, Narzissmus.
164 Harsch ist beispielsweise das Urteil Walter Benjamins über die angeblich linken Autoren
Kästner, Mehring, Tucholski, deren Werke seines Erachtens nach eine „proletarische Mimikry zerfallener bürgerlicher Schichten" offenbaren . Benjamin, Gesammelte Schriften, II,
695. Vgl. zur Mimikry als Seilparodie: Almur Vierhufe, ,,,Bluffende Mimikry'. Literari sche Stil- und Sprachkritik am Beispiel von Gottfried -Benn -Parodien", in: Sprache im Leben der Zeit . Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit
180
181
HUMAN MIMIKRY
LITERATUR
nen. Mimikry ist ein virtuoses Stilmittel ersten Rang es, erfordert sie doch das
sorgsam e Taxieren der Distanz zwischen Original und Kopie einsch ließlich der
Markierung ihrer Diff erenz.
In den Bekenntnissen kommt die Gattung des Familienromans zu ihr em Ende.
Was Mann in seinem Essay „Freud und die Zukunft'' emphatisch als „Vaterbin dung, Vaternachahmun g, das Vaterspiel und seine Übertragung auf Vaterersatz bilder höh erer und geisti ger Art" 165 an pre ist, wird im Versteckspiel der Mimikry
überwunden.
Mimikry lehnt die Id entifikat ion mit der Erbschaft ab , doch
bekennt sie sich zu den Vorbildern, indem sie die literarische Ähnlichkeit nicht auf
die Grundlage einer überkommenen Erbschaft stellt, sondern als eine Ähnlichkeit
beg reift, die auf einer mimetischen An eignung beruht.
Dass das Erbe im Zentrum der Identitätsproblematik
steht , darauf weist Manns
Lektüre von Ernst Kris' psychoanalytischer Abhandlung „Zur Psychologie älterer
Biographik (dargestellt an der des bildenden Künstlers)" h_in, in der er zahlreiche
Stellen anstreichr. 166 So auch die folgende Passage, in der es um jene geht, die
„ohne Beziehung zu Erb e und Tradition" leben . Dies trifft exakt auf die Mimikry
zu:
Felix ist nicht „der Asoziale par excellence" 169, nicht zuletzt weil Anpassung
ohne soziale Norm en unmöglich wäre, was sie best ätigt. Wer sich anpasst, will lieben und geliebt werden. Anpassung ist nur an das Geliebte möglich: ,We r die
Welt recht liebt , der bildet sich ihr gefällig. " (B, 330) Kurz, wo Felix sich anpasst,
be gehrt er und will verführen. Ob und wie eine Id entität - sei es eine körperliche,
soziale oder literarische - Teil einer Tradition werden kann, wird in den Bekennt nissen verhandelt. Mimikry ist ambivalent. Zum einen wird die Nähe gesucht,
zum anderen die Distanz als notwendig empfunden, um die Umwelt beobachten
und beschreiben zu könn en. Das double bind von solitärer Existenz und gesell schaftlicher Anpa ssung macht die Eigenart seines ästhetischen Parasitismus aus.
Felix' Leb en als Hochstapler und Schriftsteller folgt einer ,Para -Logik'. 170 In Para sitismus und Parodie ist die Trennung kein Abschluss, sondern ein Beziehungsge flecht von N ähe und Feme.
Wer ein Erbe ablehnt, vollzieht eine Trennung. Gleichzeitig dient diese Tren nung der Vorb ereitung einer neuen Bindung. Denn nach dem Verschwinde n alter
Verbindlichkeiten
wird eine neu e Möglichkeit geschaffen, Bezüge zu seiner
Umwelt zu schaffen. Anstelle ,alter' Eigenschaften können neue Merkmale treten,
di e das Subjekt selbst auswählt und erwirbt.
Felix Bestimmung ist es, das Erbe, sei es das eigene oder das ihm angetragene,
abzulehnen , was vor allem in der mit der ,Schreibstunde' korrespondierenden
Kilmarnock -Episode deutlich wird . Der kinderlose Lord Kilmarnock ist einer von
Felix' Bewunderern. Er möchte ihn zu seinem Erben machen und will ihn aus die sem Grund adoptieren. Do ch Felix schlägt das freundliche Angebot dankend aus.
Bevor sie voneinand er Abschied nehmen, schenkt Kilmarnock ihm einen Ring.
Der Ring ist eine Gabe, die an die Stelle des ausgeschlagenen Erbes tritt . Ein
Gegenstand aus Kilmarnocks Leben geht im Akt des Schenkens auf Felix über eben n icht als Erbstück, sondern als Gabe. Die Id entität als Erbe wird einer Person
bereits bei der Geburt zugeschrieben. Man kann sich also nicht dazu entscheiden,
ein Erbe zu werden. Mit der Gabe verhält sich es anders. Es besteht keine Notwen digkeit, sie anzunehmen. Erst mit der Bereitschaft dazu akzeptiert man die Rolle
des Empfangenden und stellt eine Verbindung mit dem Gebenden her.
Der Ring ist der frei gewählte Signifikant eines anderen Lebens, ein loses
Schmuckstück am Finger, das ihn ziert. Nach der psychoanalytischen Deutung
Jacques Lacans zeichnet sich der Vorgang der Trennung (separare) durch einen
ambivalenten Charakter aus. Separare ist verwandt mit separare, dem sich Vor be -
Eine Reihenbildung ließe sich ausdenken, die von den lächerlichen Gestalten jener
- nicht eben seltenen Menschen -, die für Tagebuch oder Nachruf leben, dafür
leben, ,biographische Vorbilder' in irgend einem Sinne zu sein oder zu werden, zu
jenen führen, die, ohne diese Beziehung zu Erbe und Tradition bewußt zu betonen,
durch die Tat, die sie setzen - oft, indem sie Tradition überwinden - die alten Ideale der Biographik in neuer Gestalt realisieren. 167
In seinem Leseexemplar versieht Mann die Einfügung „ohne diese Beziehung zu
Erbe und Tradition bewußt zu betonen" am Rand mit einem Fragezeichen und
setzt ein Ausrufezeichen bei: ,,die alten Id eale der Biographik in neuer Gestalt rea lisieren ." 168
und Gegenwart, hrsg. Armin Burkhardt, Dieter Cherubim, Tübingen 2001, 45-65; Breger,
,,Mimikry als Grenzverwirrung: Parodistische Posen bei Yoko Tawada".
165 Mann, ,,Freud und die Zukunft", in: ders., Gesammelte Werke, IX, 498.
166 Mann erwähnt Kris in: Thomas Mann, ,,Freud und die Zukunft" , in: ders., Gesammelte
Werke, IX, 478-501, hiet 491.
167 TM"Ernst Kris, ,,Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an der des bildenden
Künstlers)", Imago. Zeitschrift for psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und An wendungen XXI (1935),320-344 . [Rand- und Unterstreichungen v. T. M.]
168 Für seinen Joseph-Roman hatte Mann dagegen die Vaternachahmung als charakteristisches Merkmal hervorgehoben. Mann, ,,Freud und die Zukunft", in: ders., Gesammelte
Werke, IX, 498 f.: ,,Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das Vaterspielund seine Übertragung auf Vaterersatzbilder höherer und geistiger Art - wie bestimmend, wie prägend
und bildend wirken diese Infantilismen auf das individuelle Leben ein! Ich sage ,bildend';
denn die lustigste und freudigste Bestimmung, dessen, was man Bildung nennt, ist mir
allen Ernstes diese Formung und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch die
kindliche Identifikation mit einem aus innerster Sympathie gewählten Vaterbilde."Damit
beschreibt er nichts anderes als das, was er unter der imitatio Goethes für seine eigene
Schriftstellerexistenz in Anspruch nimmt.
169 Thomas Sprecher, Felix Krull und Goethe. Thomas Manns ,Bekenntnisse' als Parodie auf
Dichtung und Wahrheit, Bern/ Frankfurt a.M./ New York 1985, 28.
170 Paria (gr.) bedeutet ,neben', und ,mit'. Felix steht immer neben dem Familienstammbaum,
neben der Tradition. Vom gleichen Wortstamm abgeleitet sind Parasitismus und Parodie
etymologisch miteinander verwandt. Die Parodie entstand, als sich Wort (logos)und Gesang (melos) trennten. Die Parodie war der Text neben der Musik: paraten oden. Vgl. zur
Parodie: Agamben, Profanierung, 30-44, hier 32 f.
182
183
HUMANM IM IKRY
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
reiten und „Schmücken mit dem Signifikanten" des Anderen. 171 In der Gabe
Kilmarnocks manifestiert sich das double bind von separare und se parare, das den
Gegensatz von Erben und Schenken, Erbteil und Gabe verdeutlicht. D er Ring ist
das Symbol einer Trennung (separare) und des Verzichts auf Familie und Erbe;
gleichzeitig ist er der Schmuck des Anderen (se para~e) am Finger des späteren
Schriftstellers Felix Krull.
Die ,Ringparabel' in den Bekenntnissen ist auf ihre immanente poetologische
Dimension hin zu deuten . Es ist kein Zufall, dass Felix beim Verfassen seiner
Memoiren den Ring am Finger trägt. An der Hand des Schriftstellers, der seine
Bekenntnisse niedersch reibt, wird der Ring zu einem Symbol, das für das Verhältnis
zwischen dem Autor und seinen literarischen Vorgängern stehe. Felix ist, wie man
annehmen darf, das alter ego Thomas Manns, der sich ebenfalls keiner Tradition
verpflichtet fühlt, sie aber gerne als eine Gabe annimmt. Die Tradition ist das Fun dam ent der Literatur. Sie ist aber nicht das, was im Innern der Literatur lebt, sondern ihre glänzende Patina. Dieses Spiel von Innen und Außen erinnert an die auf
ihr Äußeres bedachten Mimikryschmetterlinge, die von ihren menschlichen
Betrachtern mit anderen Schmetterlingen verwechselt werden und denen man aufgrund ihrer Schönheit uneingeschränkte Bewunderung zollt.
ha ss'.173 In Der jüdische Selbsthass zäh lt Tneodor Lessing die „Mimikry " nach der
Verachtu ng und dem Selbsthass zu den drei denkbaren Art en des inneren Tod es.
8.3. Kultur - und Religionsgeschichte
Seit dem späten 19. Jahrhundert wird das Wort ,Mimikry' von jüdischen Autoren
verwendet, um die gesellschaftliche Anpassung in der Diaspora zu bezeichnen.172 Es fällt häufig im Zusammenhang mit dem sogenannten ,Selbst171 Jacques Lacan, ,,Die Stellung des Unbewussten", in : ders., Schriften II, 3 ., korrigierte Auflage, Weinheim/ Berlin 1991, 205-230, hier 222.
172 Vgl. zur Verwendung von ,mimicry'/ ,Mimikry' im selbstref1exiven jüdischen Diskurs ohne Berücksichtigung des biologiegeschichdichen Hintergrunds: Andreas B. Kilcher, ,,Das
Theater der Assimilation. Kafka und der jüdische Nietzscheanismus", in: Für Alle und
Keinen . Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, hrsg. Joseph Vogl, Friedrich
Balke, Benno Wagner, Berlin/ Zürich 2008, 201-230. Von dieser Verwendung des Wortes
ist jene im Antisemitismus strikt zu unterscheiden, zu der sie in keinem Zusammenhang
steht . Vgl. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, 327: ,,Es ist
ja erstaunlich, wie beweglich der Jude sein kann, wenn er einen bestimmten Zweck im
Auge hat . Es gelingt ihm selbst , seiner ausgesprochenen Körperlichkeit in weitem Umfan ge das Aussehen zu geben, das er ihr geben möchte. Wie er sich früher durc h ,Sichtotstel len' zu schützen wusste, so jetzt durch ,Farbanpassung' oder andere Arten von Mimicry."
Es seien hier nur einige wenige Beispiele aus antisemitischen Texten angeführt. ,,Die Ju den sind das einzige Volk, das Mimikry treibt. Mimikry des Blutes, des Namens und der
Gestalt." Hans Blüh er, SecessioJudaica, zic. nach : Alexander Bein, ,,,Der jüdische Parasit'.
Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage", Vierteljahresschrift far Zei tgeschichte 13
(1965), 121-149, hier 131. Vgl. auch Joseph Goebbels, ,,Mimikry", in : ders ., Die Zeit ohne
Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 19391 401 41, München 1941, 526 -531, bes.
527; ders ., Rede des Reichspropagandaleiters Reichsminister Dr. Goebbels im Berliner Sport-
Die große Wandlung gelingt, jede ,Mimi kry' gel ingt. Du wirst ,ein er von den
andern' und wirkst fabelhaft echt. Vielleicht ein wenig zu deutsch, um völlig deutsch
zu sein . Vi elleicht ein wenig zu russisch, um völlig Russe zu sein. Und gerade weil
dir das Christliche noch so neu ist, stellst du es etwas zu geflissentlich heraus. Aber
immerhin: Nun bist du verborgen. 174
palast am 18. Februar 1943, hrsg. Reichpropagandaleitung der NSDA P, Berlin 1943, 12.
Diese Imagination eines ,jüdischen' Körpers mit schier unbegrenzten Anpassungs - und
Verwandlungsmög lichkeiten wird durch einen Vulgärlamarckismus ermöglicht, der vom
Antisemitismus für seine Zwecke missbraucht wird . Als ,Parasit', als welcher der Jude diskriminiert wird, zeichnet er sich angeblich dadurch aus, dass er über keine eigene Identi tät
verfügt. Seine Eigenschaften seien erworben, weshalb er im Verdacht steht, seine wahre
Identität zu verbergen. Dies schürt die Befürchtung, dass sich die jüdische Bevölkerung in
eine andere Rasse verwandeln könnte . Im historischen Hintergrund dieser Vorstellung
stehen die rassenbiologischen Untersuchungen menschlicher Eigenschaften. Ein Beispiel
hierfür ist die von 1871 bis 1886 von RudolfVirchow durchgeführte Untersuchung von
sieben M illionen Schulkindern. Vgl. RudolfVirchow, ,,Gesamtbericht über die Farbe der
Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder in Deutschland", Arch iv far Anthropologie
16 (1886), 275-475. Vgl. zur Reaktion auf das Untersuchungsergebnis: George L. Mosse,
Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 1990, 114: ,,So wissenschaftlich
begründet die Untersuchung war, sie muß den jüdischen Kindern ihren Minderheitsstatus
und ihre andere Herkunft bewußt gemacht haben." Aus der Forschungsliteratur zur ,Mi mikry ' sei hier verwiesen auf: Sander L. Gilman, The Jew's Body, New York 1991. Eine
ausführliche Unt ersuchung der Debatte um die ,Rasse der Juden' hat Veronika Lipphardt
vorgelegt: Biologie der Juden . Jüdische Wissenschaftler über ,Rasse' und Vererbung 1900 1935, Göttingen 2008. Vgl. zur Konstruktion des ,Schädlings' : Bein, ,,,Der jüdische Para sit'; Sarah Jansen, ,Schädlinge'. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts
1840- 1920, Frankfurt a.M./ u.a . 2003 .
173 Vgl. zum Selbsthass: Sander L. Gilman, Jewish self-hatred. Anti -Semitism and the hidden
language of the jews, Baltimore 1986; Jens Malte Fischer, ,,,Jüdischer Selbsthaß' . Zur
deutsch -jüdischen Pathologie am Ende des 19. Jahrhunderrs", in: Studien zur Subjektkons titution in der Vor- und Frühmoderne, hrsg. Manfred Pfister, Passau 1989, 141-151.
174 Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthass, München 1984, 50. Ein anderes Beispiel ist die
Beschreibung Alfred Döblins, der „Mimickry" mit willfähriger Anpassungsberei tschaft,
Raffinesse und Schauspielertum gleichsetzt. Alfred Döblin, Jüdischer Erneuer ung, Ams terdam 1933, 10, 53: ,,Anpassung, Anpassung, Verstecken: das sind ihre Hauptwort e. Sich
ducken, sich unsichtb ar machen, Mimickry [sie]: das sind ihr e Hauptgebote. [... ] Der
Zwang zur Anpassung fördert schauspielerische Begabung. Positiv kommt hinzu der
Drang, das in der Realität versagte Dasein im Schein auszuleben. [. . .] 0 Fälschung, Entstellung und Selbstbetrug!"
184
185
HUMANMIMIKRY
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
,Mimikry'
dient in diesem Zitat als ein Synonym für ,Assimilation'. 175 Beide
Begriffe bezi ehen sich auf die durch mim etische Anpassung entstand ene Ähnlich keir. 176
nur noch Deutscher, Franzose, Italiener usw. wie jeder andere seiner Landsleute und
schöpfe aus derselben Volksquelle wie sie das Maß von Gemeinleben, das zur vollen
Entwicklung des Individuums unentbehrlich ist. Da brach nach einem Schlummer
von 30 bis 60 Jahren, vor etwa zwei Jahrzehnten , der Antisemitismus in Westeuropa
von neuem aus den Tiefen der Volksseele hervor und enthüllte vor dem Auge des entsetzten Juden seine wirkliche Lage, die er nicht mehr gesehen hatte .179
Max Nordau, der langjährige Weggefährte Theodor Herzls, schreibt üb er die
„Psychologie des Ghettojuden" 177, dass dieser, nach Jahren der Isolation, das
Begehren verspürt, ,,alle Brücken sofort hinter sich abzubrechen." 178
Sein T rieb der Selbsterhaltung paßte sich sofort und vollständig den neuen Dase insbedingungen an . Früher war dieser Trieb auf schroffste Absonderung gerichtet gewesen, jetzt strebte er nach äußerster Annäherung und Anähnlichung. An die Stelle der
rettenden Gegensätzlichkeit trat förderliche Mimicry. Ein oder zwei Menschenalter
lang, je nach dem Lande mit überrascht gutem Erfolg. Der Jude durfte glauben, er sei
175 Walther Rarhenau kritisiert mit der Mimikry die Assimilation . Stattdessen fordert er eine
Umwandlung der jüdischen Identität, die auf der Auswahl der besten deutschen Eigenschaften beruht . Vgl. Walther Rathenau, ,,Höre Israel!" in: Deutschtum und Judentum . Ein
Disput unter Juden aus Deutschland, hrsg. Christoph Schulce, Sruttgart 1993, 28-39, hier 32
f.: ,,Was also muß geschehen? Ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang: die bewußte
Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen. Anpassun gen nicht
im Sinne der ,mimicry' Darwins, welche die Kunst einiger Insekten bedeutet, sich die Lokalfarbe ihrer Umwelc anzugewöhnen, sondern eine Anarrung in dem Sinne, daß Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, daß sie den
Landesgenossen verhaßt sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden. Könnte zugleich durch diese Metamorphose die Gesamtbilanz der moralischen Werthe verbessert
werden, so wäre Das [sie] ein erfreulicher Erfolg. Das Ziel des Prozesses sollen nicht imitierte Germanen, sondern deutsch geartete und erzogene Juden sein. [.. .] Dieser Stand
wird durch seine Wurzeln von unten heraus neue Nahrung aufsaugen und mit der Zeit Alles verarbeiten, was an umwandlungsfähigem und verderblichem Material vorhanden ist."
176 Assimilation ist ein unscharfes Konzept. Wo sie anfängt und wo aufhört und welche ihrer
Formen notwendig und welche auferzwu ngen sind, ist schlussendlich nicht zu bestimmen.
Arnos Funkenstein, ,,Die Dialektik der Assimilation", in: Wissensbilder. Strategien der
Überlieferung, hrsg. Ulrich Raulff, Gary Smith, Berlin 1999, 203-220, unterscheidet zwei
Formen der Anpassungen . Von orthodoxen Juden wird die Assimilation, so Funkens tein,
als „antijüdische Einstellung[]" (210) missbilligt . In ihren Augen liegt die daraus resultierende Gefahr in der Abkehr von Gott. Was übrig bleibt, ist die seit „Theodor He rzls ,Judenstaat' geläufige zionistische These" (2ll) vom Ausverkauf der eigenen Identität, die eine
Auswanderung notwendig macht. Funkenstein differenziert zwischen der Tradition der
Assimilation, für die im sprachlichen Bereich das Jiddische ein Beispiel ist, und der spontanen Anpassung . ,,Die meisten jüdischen Histor iker bis zum heutigen Tag teilen dieses tief
verwurzelte Vorurteil gegen die Assimilierung . Doch kein gewissenhafter Historiker wagt
das Offenkundige zu leugnen, nämlich die Tatsache, daß die jüdische Kultur stets und
überall mim etische Kräfte bewies, daß sie sich den unterschiedlichsten Umweltbed ingun gen anpaßte. Die Lösung des Dilemmas lag darin, zwischen dem Ununterscheidbaren der essentiellen ,Assimilation' und der beiläufigen ,Anpassung' - zu unterscheiden. Das eine ist schlecht und zu vermeiden, das andere gut und unvermeidlich ." (ebd.)
177 Max Nordau, ,,1. Kongreßrede (Basel, 29. August 1897)", in : ders., Zionistische Schriften,
Berlin 1923, 39-57, hier 49.
178 Ebd. 49 f.: ,,Er hatte nun eine andere Heimat, er bedurfte des Ghettos nicht mehr; er hatte
einen andern Anschluß, er brauchte sich nicht mehr an die Glaubensgenossen zu nesteln ."
Di ese Situation ist bezeichnend für die Diaspora, in der die eigene Identität nicht
verwirklicht werden kann. Die zionistische Bewegung lehnt unter anderem aus
di esem Grund, den historischen Zustand der Diaspora ab.
Sie [d.s. die Zionisten ] sind zur Erkenntnis gekommen, daß dies in der Zerstreuung
[d.i. die Diaspora) nicht möglich ist, da unter diesen Verhältnissen Vorurteil, Haß ,
Verachtung sie immer verfolgen und bedrücken und entweder ihre Entw icklung inhibieren oder sie zu einer ethnischen Mimicry nötigen werden, die aus ihnen statt daseinsberechtigter Originale m ittelmäßige oder schlechte Kopien fremder Modelle machen
wird. Sie arbeiten deshalb planmäßig darauf hin, das jüdische Volk wieder zu einem
normalen Volke zu machen, das auf eigener Scholle lebt und alle wirtschaftlichen,
geistigen, sittlichen und politischen Funktionen eines gesitteten Volkes verrichtet. 180
81
Der Autor der zivilisationskritisch enAbhandlungEntartung1
, worin die Gefahren
der Degeneration angemahnt werden, vermutet hinter der Anpassung einen Wil lensakt. ,,Für mich ist also die Anpassung meistens kein Ergebnis zufälliger erlang ter Eigenschaften, sondern eine Will enshandlung". 182 Das Problem ist, dass ein sol ch er Wille nicht zu einer autonom en Handlung führt. Eine mimetische Anpassung
an Vorbilder kann deshalb auf eine Willensschwäche
hindeuten. Ähnlich degenerative, durch Drill und blinden G ehorsam hervorgerufene Willensdeformationen
beschreibt er in seiner Abhandlung Biologieder Ethik.183
179 Ders., Zionistische Schriften, hier 49 f. [Hv. v. K. C]
180 Ders., ,,Der Zionismus" [1902], ders., Zionistische Schriften, hrsg. Zionistisches Aktionskomitee, Köln/ Leipzig 1909, 18-38, hier 22 . [H .v. K.C.J
181 Vgl. George L. Masse, ,,Max Nordau and his ,Degeneration', in: Max Nordau. Degeneration, hrsg. ders., New York 1968, XIII -XXXVI. Vgl. zu Nordaus Kulturkritik : Petra Zudrell, Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum
und Judentum, Würzburg 2003. Vgl. zu Nordaus Biografie: Christoph Schulte, Psychopathologie des Finde siede. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt a.M.
1997. Vgl. zum Verhältnis Nordaus zu Nietzsches Philosophie der Dekadenz : Christoph
Schulte, ,,Nietzsches Entartung 1892. Max Nordau als früher Nietzsche -Kritiker", in:
Jüdischer Nietzscheanismus, hrsg. Werner Sregmaier, Berlin 1997, 151-167; Steven E.
Aschheim, ,,Max Nordau, Friedrich Nietzsche et ,Degenerescence"', in : ivfax No rdau
1849 -1923. Critique de la degenerescence,mediateur franco-a!lemand, pere fondateur du sionisme, hrsg. Delphine Bechre!, Dominique Bourel, Jacques Le Rider, Paris 1996, 133-147.
182 Max Nordau, Entartung, Berlin 1893, II, 35.
183 Ders., Biologie der Ethik, Leipzig 1916. Im Rahmen seiner Zivilisationskritik geht er auf
das sogenannte ,Nachäffen' ein, das häufig als deutsches Synonym für ,Mimikry' verwendet wird. Es stellt eine besondere Form geistiger Entartung dar. Max Nordau, Entartung,
Berlin 2 18.92-1893, II, 460. Zwar benutzt er in Biologie der Ethik das Wort ,Mimikry'
186
HUMANMIMIKRY
In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie der evolutionsbiologische Begriff
,Mimikry' ein älteres religiöses Vorläuf erkonzept beerbt , das vor der Entd eckung
der Evolution dazu dient, die Assimilation zu beschreiben . Es handelt sich um eine
aus der jüdis chen Mystik stammende Verwand lungsl eh re. Wo ma n im selbstrefle xiven jüdis chen Diskurs früher von mystischer Verwandlung spricht, ist im späten
19. und frühen 20. Jahrhund ert von assimilatorischer ,Mimikry' die Rede.
8.3 . 1. Assimilation als drohender Ident itätsverlust
Das Problem der Assimilation steht im Mittelpunkt von Nord aus Drama Doktor
Kohn, in dem lang gehegte Hoffnungen zunichte gemacht werden. Aus diesem
Grund nennt Herz! dieses Stück ein „Trauerspiel der Assimilation". 184 Das Drama
besitzt den Charakter eines in die Familie verlegten sozialen Experiments. Leo
Kohn, seines Zeichens frisch gekürter Mathematiknobelpreisträger, hält um die
Hand Christin es an. Ihr Vater Julius Chr istian Möser stellt sich jedoch gegen die
Heirat, weil Kohn dessen Forderung ablehnt, zum Christentum zu konvertieren .
Für Christ ines Vater entwickelt sich die Begegnung mit Kohn zu einer traumatischen Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, ist doch Möser selbst ein Konvertit, ein sogenannter ,Taufjude'. 185 Allmählich erwacht er aus dem Traum, der ihm
für eine lange Zeit die Möglichkeit einer geglückten Assimilation vorgaukelt. ,,Es
nicht, trotzdem wird dasselbe moralische Defizit in einen Bezug zum „Durchschnirrs menschen" und „Dutzendmenschen" gestellt . Ders ., Biologie der Ethik, 40 . Nordaus moralphilosophische Beschreibungen erfassen exakt das, was Ni colai Hartmann die
„blinde,Mimikry' des Guten" (Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 4 1962, 80) nennt . Damit
ist eine die Ins tanz des Gewissens umgehende Einstellung zur sozialen Umwelt gemeint ,
deren Gesetze unkritisch übernomm en, ja blind kopiert werden. Diese Form der Sirrlichkeir ist, so Nordau, ein „Automatismus", ein „Drill" und eine .mechanische Sirrlichkeir",
welche „eine annehmbare Lenker in und Berater in [isr], nur bleibt sie dem innern Empfin den des Mensche n etwas Äußerliches und fremdes, da er, wie ein Sklave den Bürrel seines
Herrn, gern hintergeht und überlistet, wo er irgend kann, ohne sich der Gefahr der Peirschenhiebe auszusetzen ." Norda u, Biologie der Ethik, 40 .
184 Theodor Herz!, Nordaus Doktor Kohn, in: ders., Zionistische Schriften, Berlin 3 1934, 333 341, hier 335. Am Ende des Stücks wird die Auswanderu ng als einziger möglicher Ausweg
vorgestellt. Bevor die zionistisch e Alternative sich aber als eine aus der Geschichte gezogene Lehre anbieten kann, wird die Idee einer „Versöhnung der Rassen" durch die sogenann te „Mischehe" zwischen Juden und (deutschen) Christen ad absurdum geführt. Vgl. zu
Doktor Kahn: Hans -Peter Söder, ,,Les juifs saus Je Kaiser. ,Dr Kah n', une rragedie bourgeoise', de Max Nordau", in : Max Nordau 1849-1923, hrsg. Bechtel, Bourel, Le Rider,
245-258; Ingrid Spoerk, ,,L'image du juif dans !es ecrits de Max Nordau", in: ebd., 259271; Mark H. Gelber, La ,Sarisfaktionsfähigkeir' juive dans ,Das neue Ghetto' de Herz! et
,Dr Kahn' de Nordau . Une emde de la reception, in: ebd ., 201-224 .
185 Nach Narhan Samrer ist die Taufe „eins [sie] der traurigsten Symptome von dem krankhaften Zustand unserer Religionsgemeinschaft." Narhan Samter, judentaufen im neun zehnten Jahrhundert , Berlin 1906, 96 .
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
187
handelt sich darum", so versucht er sich noch einmal vor Kohn zu rechtfertigen,
,,Deutscher mit Deutschen zu sein." 186 Aber nun meldet sich in Möser die lang verstummte Stimme der kulturellen H erkunft zurück, die durch „Selbsttäuschung" 187
zum Verstummen gebracht wurde.
Kohn macht sich über die Assimilationsrräume seines Wunschschwiegervaters
lusti g. Sie scheinen dem Naturwiss enschaftler so absurd wie die bekannte kabba listische Lehr e der Seelenwanderun g.
Sie empfehlen also eine Art Seelenwanderung. Man soll als Jude sterben, dann zur
Buße und Reinigung eine Zeit lan g als nied rige s Thier leben, um endlich nach
genügender Prüfung als glänzender Arya wiedergeboren zu werden. Nein, Herr
Geheimrath, dazu bin ich doch zu sehr Individualist und wenig Mystiker. Und ich
188
bin dazu auch nicht Mill ionä r genug . Es ist mein gutes Recht, ehrgeizi g zu sein.
Die Vorstellung, nach der die jüdische Seele nach dem Ableben zunächst hinab
auf die Stufe des Tiers sinkt , um sodann - durch die Taufe - die Stufe des Ariers
zu erklimmen, in dessen Körper sie dann wied ergeboren wird , wird von Kohn als
ein lächerlicher Gedanke abgetan.
Im Drama wird auf die lurianische Seelenwanderungslehre angespielt, die vor
allem im aschkenasischen Judentum sehr bekannt ist.189 Der historische Hinter 186 Max Nordau, Doktor Kahn, Berlin 1899, 84 .
187 Ebd., 92 .
188 Ebd., 93. [Hv. v. K.C.J Diese Anspielung auf die Seelenwanderung ist mit der ebenfalls
häufig anzutreffenden Ums ch reibun g des Ident itätsverlustes als eines Seelentodes verwandt . Lessing, Der jüdische Selbsthass, 50: ,,Dein Leichnam ist geborgen. Du bist tot. Mir
deinem Zwiespalt bist du gestorben. Du gingst den Weg des Selbstmörders zu Glück und
Ruhm . Aber zuriefst in deiner Seele weinen Millionen Tote, und die Toten sind mächtiger
als all dein Glück und Ruhm."
189 Es sind der in Saphed lebende Jizchak Lurja (1534-1572) und sein Schüler Chaim Vital
(1543-1620), die die kabbalistische Seelenwanderungslehre über den engen Kreis ihrer
Schüler bekannt machen . Lurjas Seelenmodell muss an dieser Stelle nicht im Detail wiedergegeben werden. Die vorliegende Darstellung basiert auf: Gershom Schalem, Von der
mystischen Gestalt der Gottheit . Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Bern 1962, 226233. Im Zentrum steht der Urmensch, Adam Kadmon, der einst ein lebloser Golem war
und an dem alle Gerechten hingen. Er ist der Träger einer Gesamtseele, bestehend aus 613
Gliedern respektive großen Wurzels täm men, die 613 Groß -Seelen bilden. Insgesamt gibt
es nicht mehr als 600 000 Individualseelen oder auch Seelenfunken, welche sich in jeder
Groß-Seele befinden. Zwischen den Seelenfunken bestehen Affinitäten und Sympathien.
Nach dem Bruch der Gefäße - das Tongefäß ist das Symbol für den aus Erde (adamdh)
erschaffenen Menschen (adam) - fallen die kosmischen Glieder Adams ab in den Bereich
des Klippoth und verstreuen sich in eine hierarchisch angeordnete mater ielle und geistige
Welt. Durch den lbbur (Seelenschwängerung) und Gilgul (Seelenwanderung) erreicht der
individuelle Seelenfunken den Wiederaufstieg nach dem Durchgang durch alle fünf Welten. Die Seelenfunken leiden miteinander, doch ist hier von keiner Verwandtschaft im
strikten Sinn , sondern von einer gegenseitigen geistigen Sympathie auszugehen. Ebd .,
233: ,,Die Aufgabe des Menschen ist erfüllt, wenn er alle Funken, die zu einer Seele gehören, auf allen Ebenen gereinigt und wiederhergestellt hat, so daß jener Wurzelstamm
188
HUMAN MIMIKRY
grund der Seelenwanderungslehre
erschließe die tieferen Sinndimensionen
des
Stückes. Zwi schen 1180 und 1200 wird in Südfrankreich das Buch Bahirverfassc,
in dem es zwar noch keinen Begriff für die Seelenwanderung gibt - ,Gilgul' wird
erst Jahrzehnte später im Buch Temuna (1240) verwendet - , doch wird hier bereits
der identisch e religiöse Sachverhal t bes ch rieben. 190 Im § 86 wird die Antwort des
Rabbi Akiba wiedergegeben, der den Vers aus dem alttestamentarischen
Buch
Kohelet l,4 (,,ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt") im Kontext der
Seelenwanderungslehre wie folgt auslegt. 191
Ein König hatte Diener und kleidete sie seinem Vermögen nach in Gewänder aus
Seide und Stickerei. Sie gerieten auf Abwege, da warf er sie hinaus, stieß sie von sich,
zog ihnen seine Gewänder aus, und sie gingen fort. Da ging er hin und nahm die
Gewänder und wusch sie gut, bis keinerlei Schlacke mehr an ihnen übrig war, und
legte sie fertig zurecht und warb sich andere Diener und kleidete sie in jene Gewän der, ohne daß er wußte, ob jene Diener gut sein würden oder nicht. So hatten sie den
teil an Gewändern, die schon auf die Welt gekommen waren, und andere hatten sie
vor ihnen angezogen. 192
Gemäß der Lesart Gershom Scholems schickt Gott, im Gleichnis der König, die
Seelen beziehungsweise die Kleid er in die Schöpfung, wo sie von unt erschiedlichen
Körpern, den Dienern, getragen werden. 193 Das tertium datur von Mimikry und
Seelenwanderung ist das Gewand, das an - und ausgezogen wird. Die Metempsy chose oder Gilgul wird in sehr frühen kabbalistischen Texten explizit als ein Rol lenspiel bezeichnet. Mimikry, häufig als die „Kunst nationaler Verkleidung und
194
Verwandlung"
bezeichnet, wird in Doktor Kohn als „Verkleidung" umschrieben.
zweiten Grades, aus dem er kommt, in seiner Einheit als Groß-Seele wieder unverletzt dasteht." Nach dem Bruch der Gefäße wird die Ordnung erst durch den Messias wiederhergestellt, der - und dies ist entscheidend - nicht von Adam abstammt und deshalb nicht in
den Kreislauf der Metempsychose eingegangen ist. Vgl. Gershom Scholem, Ursprung und
Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, 168. Ungeachtet des zwischen dem religiösen Gesetz
der Metempsychose und der allmächtigen Instanz Gottes bestehenden theologischen Widerspruchs, bleibt die Seelenwanderungslehre beliebt. Zu bedenken ist, dass sie kein Bestandteil der Tora ist, sondern im volkstümlichen Judentum gepflegt wird.
190 Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala, 413, geht davon aus, dass der in dem Buch
Temuna (1240) zum ersten Mal erwähnte Begriff ,Gilgul' den älteren Terminus ,Ibbur',
die Seelenschwängerung, bei der eine weitere menschliche Seele dazukommt, ersetzt.
191 Dem Kohelet-Vers kommt eine große Bedeutung zu, weil er die ,Seelenwanderung' mit
dem Problem des Generationenzusammenhangs verknüpfe. Wenn die Mimikry nun an.
die Stelle der Seelenwanderung tritt, so übernimmt sie auch ihre Funktion als Vermittlung zwischen den Generationen.
192 Das Buch Bahir, hrsg. Gershom Scholem, Darmstadt 2 1970, 93. Vgl. Scholem, Von der
mystischen Gestalt der Gottheit, 199. Es ist auch eine andere Deutung denkbar, nach der die
Kleider die Körper allegorisieren.
193 Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 200, identifiziert umgekehrt die Seelen
mit den Gewändern. Dafür ist es notwendig, eine bestimmte Stelle aus dem Talmud
(Schabbath 152b)hinzuzuziehen. Ebd., 297 (Anmerk 12).
194 Joseph S. Bloch, Israel und die Völker nach jüdischer Lehre, Berlin/ Wien 1922, 725
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
189
Im Gleichnis ist die Seele die Metapher für die kulturelle Identität. Sie steht für
einen Identitätskern, während der Körper dessen kontingente äußere Hülle ist, die
als austauschbar erachtet wird . Die Seelenwanderung wird nicht auf die jüdische
Gemeinschaft beschränkt. 195 Eine ,jüdische' Seele kann auch in einen ,deutschen'
Körper einwandern. 196
Unsere jüdische Seele nimmt man uns durch die Erziehung und den Unterricht,
und die deutsche Seele, die man uns einhaucht, dürfen wir nicht ausleben. Das ist
das große Verbrechen , das man an uns begeht . Man macht uns unserm eigensten
natürlichen Wesen abtrünnig, man zieht uns ein fremdes an und läßt uns dann fühlen,
daß es eine Verkleidung ist, durch die wir uns lächerlich machen. [... ] Ihre Abstammung folgt den Juden wie eine geheime Polizeinote auch ins Christemhum hinüber
und verhindert sie daran, unter den Deutschen zu verschwind en. 197
Diesem „Trieb der Selbsterhaltung" 198 nachgeben und ,Unsichtbarwerden',
ein
Leben wie die anderen führen ohn e jene „Polizeinote" 199, die auf dem empfunde nen Makel der jüdis chen Herkunft prangt - dies ist ein vergebliches Bemühen, weil
der Blick von außen - so lehrt die Erfahrung - die äußere Tarnun g stets durch dringt und sich am Ende die quälenden Gewissensnöte nicht besänftigen lassen.
Das Einhauchen der Seele und die Kleidermetapher leiten schließlich zu einer
weiteren beliebten Identitätsmetaph er über : dem Schauspieler. Die ältere theatrummundi -Vorstellung, die in der Selbstreflexion in Bezug auf das Dasein als Jude wei te Verbreitung findet, wird bereits in den älteren Traditionssträngen der Kabbala
vorb ereitet . Unübersehbar ist dabei die Tendenz zur „Theatralisierung des Judentums", um die „Selbstentzweiung der jüdischen Existenz" zu thematisieren. 200 Der
,Jude', so schreibt beispielsweise Arnold Zweig, ist ein
195 Dies widerspricht der ursprünglichen Seelenwanderungsidee,der zufolge die Seele nur in-
196
197
198
199
200
nerhalb des jüdischen Volkes wandere. Vgl. Moshe Idel, ,,The Secret of Impregnation as
Metempsychosis in Kabbalah", in: Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommuni kation IX, hrsg. Aleida und Jan Assmann, München 2006, 341-381. Nach Idel ist die
kabbalistische Lehre unabhängig von der antik-griechischen Seelenwanderungsphilosophie. Die kabbalistische Lehre betont vielmehr das Kollektiv und denkt die Fragmentierung der individuellen Seelen im Sinne einer Rekombination, aus der eine gemeinsame
Identität hervorgehen soll. Die Bewahrung einer individuellen Identität und einer kollektiver Integrität sind ihr Hauptziel.
Ein strikter Leib-Seele-Dualismus wie im (Neo-)Platonismus entspricht eigentlich nicht
der kabbalistischen Seelenwanderungslehre, da Körper und Seele nicht voneinander zu
trennen sind. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass sich hier neoplatonische Einflüsse
bemerkbar machen.
Nordau, Doktor Kahn, 86 f. [Hv. v. K.C]
Ebd.
Ebd., 92.
Philipp Theisohn, Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur. Eine andere Poetik
der Moderne, Stuttgart/ Weimar 2005, 135 f. In zionistischen Texten macht sich dagegen
des Öfteren ein antitheatraler Affekt bemerkbar, bei dem es darum geht, die Spaltung und
Entfremdung der jüdischen Identität aufzuheben. Theison schließt auf ein „konstitutives
190
HUMANMIMIKRY
geborene[r] Schauspieler [. . .], nicht weil der viele Iche hat , wie der Neurotiker, sondern weil er sein Ich so selbstverständlich fest hat, dass er jederzeit in andere hinü bertauchen kann, die ihm nur soviel Rätsel bieten, als zur Verlockung nöt ig ist .201
Hier ist im strikten Sinne nicht von Mimesis die Rede,. sondern von einem , wie es
ausdrücklich heißt, ,,[H]inübertauchen" in einen anderen Körper, so wie einem
Körper eine Seele, respektive eine Identität, eingehaucht wird.
Der ,Schauspieler' ist eine beliebte Metapher für die Beschreibung der Metempsychose. 202 Die Wiedergeburten in anderen Körpern werden als eine Wanderung
der Seele durch die Geschicht e gedacht. Metaphorologisch betrachtet bleibt die
Seele unverändert, nur wechselt sie ihre physischen Träger wie der Körper seine
Kleider. Die Mimikry gleicht der Seelenwanderung insofern, als die Anpassung
als ein rein äußerlicher, die jüdische Seele im Grunde nicht berührender Vorgang
aufgefasst wird. Denn nicht der Körper, sondern die Seele, respektive das kulturelle Gedächtnis der Tradition, steht im Zentrum des Judentums. Die kulturelle
Anpassung stellt demnach keine wirkliche Gefahr für die Identität dar, da die religiöse Existenz unangetastet bleibt. Wo genau die Grenze zwischen Kult und Kultur verläuft, lässt sich jedoch in diesem Fall nur schwer ermitteln.
Eine nähere Betrachtung verdient die der Verkettung von ,Mimikry' und ,Metempsychose' zugrunde liegende Paarung der Oberbegriffe ,Evolution ' und ,Gilgul' .
Erneut erweist sich die Etymologie für das Verständnis des historisch -metaphorolo gischen Arrangements als hilfreich. Gilgul bedeutet ursprünglich ,Rolle', ,Wälzung'
oder ,Kreis'. Gilgul-neschamakann als die ,Rollen der Seele' übersetzt werden und
bezeichnet die zyklische Kreisbewegung, welche die „rotirende Seele"203 nach dem
,Bruch der Gefäße' bis zum Tikkun, der Restitution der Ordnung, durchlaufen muss.
Das ,Rollen-Spiel', bei dem die „rotirende [jüdische] Seele"204 zwischen vegetabilen,
animalischen und menschlichem Körper wandert - keinesfalls immer teleologisch
201
202
203
204
Strategem" (ebd. 104), das im programmatischen Kern der zionistischen Texte Herzls vorliege. Er spricht von einer Poetologie zionistischer Texte, die sich im Falle Herzls durch
eine „signifikatorische[ ] Machtübernahme" (ebd.) auszeichnet. Indem Herz ! das jüdische
Schicksal als theatralisches Schauspiel in Szene setzt, nimmt er die Handlung des symbo lischen „Ablegen[s] von Fremdbeschreibung" vorweg, um die „anschließende Selbstbe gründung" (ebd., 111) zu stärken.
Arnold Zweig,Juden auf der deutschen Bühne, Leipzig 1927, 23 .
Vgl. die folgende Aussage von Glasenapps zur indischen Seelenwanderungslehre: ,,Unter
der Wirkung des verhängnisvoll en Irrtums, der sie glauben mache, sie sei mit dem materiellen Körper verbunden, wandelt die Seele seit anfangsloser Zeit in der Welt umher, wie
ein Schauspieler immerfort die Rollen wechselnd." Helmuch v[on] Glasenapp , Der Hinduismus, Religion und Gesellschaft im heutigen Indien, München 1922, 288.
Franz Joseph Molitor, Geschichte der Philosophie oder über die Tradition, Münster 18271853, 547.
Ebd.
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
191
,nach oben' - , wird auch als ,Revolution ' bezeichnet. 205 Revolution wiederum leitet
sich von re-volvereab und meint - wie Gilgul- eine Kreisbewegung. Somit besteht
eine etymologi sche Parallele zur Evolution (evolvere),die ihr em Wortsinn nach ebenfalls eine Kreisbewegung beschreibt. 206
Dem Modell der Metempsychose ist eine heilsgeschichdiche Dimension immanent. Vor dem historischen Hintergrund der Diasporaerfahrung des jüdis chen Volkes kristallisiert sich immer deutlicher heraus, wie die Seelenwanderung zum meta physischen Erklärungsmodell avanciert. Begreifbar wird diese Neudeutung durch
die hisrorische Katastrophe im Jahr e 1492, dem Jahr der Vertreibung der Sepharden
208
von der Iberischen Halbinsel. 207 Seitdem gilt Gilgul als das „Exil der Seele". Als
Abwärtsbewegung und Verwandlung in niedere Existenzformen aufgefasst, wird
209
das Schicksal der Seelwanderung als eine Strafe über den Menschen verhängt.
In
Doktor Kohn darf die Wiedergeburt des Juden als Arier wohl als eine solche metaphysische Strafmaßnahme verstanden werden. 210
205 So zumindest bei Lurjas Vorgänger und Lehrer Joseph Karo (1488-1575). Vgl. R. J. Zwi
Werblowsky, Joseph Karo. Lawyer and Mystic, Oxford 1962, 250 . Christian Knoor von
Rosenroch hat Chajim Vicals Werk Sefer ha-Gilgulim (Das Buch der Wanderungen) unter
Mitwirkung von Franciscus Mercurius van Helmonc unter dem Titel De revolutionibus
anima rum herausgebracht . Christian Knorr v~n Rosenroch, Kabbala Denudata, Sulzbach
1677/ Frankfurt 1684, II. 2, 244-478. Vgl. Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999,
190. Vgl. zur Begriffsgeschichte von ,Revolution ' zwischen astronomischer Naturbeob achtung und gesellschaftlich-politischer Sphäre : Reinhart Koselleck, VergangeneZukunft.
Zur Semant ik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M . 1979, 67-8 6; Bernard Cohen, Revolutionen in den Naturwissenschaften , Frankfurt a.M. 1985.
206 Vor der Entstehung des Darwinismus ist die biologische Wo rtbedeutung im Übrigen keinesfalls dominierend. Im 17. und 18. Jahrhundert wird von dem Begriff in Tanzlehren und
im Militärwesen Gebrauch gemacht, wo er, vom lateinischen evolvere abstammend, für eine komplizierte Bewegung des Tänzers oder von Truppenteilen steht. Art . ,,Evolution", in:
Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung, Stuttgart 1999, VIII,
Sp. 2456 f.
207 Gershom Schalem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1957,
267-275.
208 Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala, 446 . Vgl. auch ders., Die jüdische Mystik in
ihren Hauptströmungen, 274 f.: ,,Das Bewußtsein von den Schrecken des Exils findet auch in
der nun mit großer Vehemenz einsetzenden Entwicklung der Lehre von der Seelenwanderung , als den verschiedenen Graden des Exils, seinen Ausdruck . [.. .] Das völlig heimadose
Dasein wird zum unheimlichen Symbol des Wide rgötdichen , zum Grenzbegri ff aller moralischen und seelischen Katastrophen . In Gott eingehen oder der absoluten Verbannung, die
weit mehr ist als Vernichtung, preisgegeben sein - zwischen diesen beiden Polen müssen
sich die Ordnungen entfalten, die das moralische Leben des Juden begründen, das Leben
unter der Herrschaft des Gesetzes, das die Gewalten der Verbannung zu b·ewältigen sucht ."
209 Die Reinkarnation in Tiere, den Geroneser Kabbalisten noch unbekannt, wird zum ersten
Mal im Buch Temuna (1240) erwähne . Im Buch Bahir werden Tiere und nichtmensch liche Wesen als Reinkarnacionskörper noch nicht berücksichtigt. Vgl. Schalem, Ursprung
und Anfänge der Kabbala, 414 , 166.
210 Nordau, Doktor Kohn, 93.
192
HUMANMIMIKRY
KULT UR- UN D RELIGIONSGESCHICHTE
Der kabbalistische Glaube erhält sich in der Modem e, wo er sich mit der Idee
der Evolution verbindet. In der folgenden Aussage Herzls sind die quasi -messiani schen Konnotationen noch dort zu greifen, wo von den Verwandlungen der Lebe wesen die Rede ist. Die Seehunde stehen für die assimilierten Juden, die nicht
mehr im Meer umherschwimmen müssen, sondern zu ortsansässigen ,Landtieren'
geworden sind:
zyklische Kreisstruktur , die Wiederholungen berücksichtigt. Dieses, nicht unmit telbar offen liegende, sondern vielmehr latente kabbalistische Verständn is der Evolutionstheorie ist ein Beispiel für eine theologische Rezeption des Darwinismus im
20. Jahrhunderc. 214
Die wissenschaftlichen Missverständnisse im Zitat indizieren, dass die Mimi kry als eine Umformung und Verwandlung verstand en wird, bei der eine neue Art
entsteht. 215 Herzls ,kabbalistische' Neudeutung der Evolution ist vor allem aufgrund der Fehler und Wissenslücken aufschlussreich, weil gerade sie es sind, die
den Schwellencharakter der Mimikry zwischen jüdischer Tradition und moderne r
Wissenschaft offenbaren.
Im Zuge des die Narrative von ,Evolution' und ,Seelenwanderung' miteinander
verkette nden Recyclings 2 16 ähneln sich beide Konzepte an. Zum einen wird die
Evolution in die Heilsgeschichte incegriert 217, zum anderen geht die kabbalistische
Mecempsychoselehre in die Ordnung des Naturwiss ens ein, wo sie den Status eines
Naturgesetzes erlangt. Vor dem Hintergrund dieser eschatologischen Verschrän kung steigert sich das Naturgesetz zum Gottesgesetz und erhärtet sich das Gottesgesetz zum Naturgesetz. 218
Der Antisemitismus, der in der grossen Menge etwas Starkes und Unbewusstes ist,
wird aber den Juden nicht schaden. Ich halte ihn für eine dem Judencharakter nützli che Bewegung. Er ist die Erziehung einer Gruppe durch die Massen und wird vielleicht zu ihrer Aufsaugung führen. Erzogen wird man durch Härten. Es wird die Darwinsche Mimicry eintreten. Die Juden werden sich anpassen. Sie sind wie Seehunde,
die der Weltzufall ins Wasser warf. Sie nahmen Ges talt und Eigenschaften von
Fischen an, was sie nicht sind. Kommen sie nun wieder auf festes Land und dürfen da
ein paar Generationen bleiben, so werden sie wieder aus ihren Flossen Füße machen. 211
Sobald Juden ein Land ihre Heimat nennen dürfen, so ließe sich diese Passage
deuten, bedürfen sie nicht länger der Mimikry einer fremden Identität.
,,Metaphysischer Darwinismus" nennen die Zeitgenossen diese mystische Evolutionsauffassung, ,,wonach das Anpassungsresultat auf das organisierende Prinzip
übergehe und in einer neuen Inkarnation wirksam wird ."212 Die Bezeichnung der
Mimikry als einer „Darwinschen" 213 ist insofern bemerkenswert, als hier eigentlich
ein quasi-lamarckiscischer Grundgedank e vorliegt, nach der die Anpassung an die
Umwelt die Voraussetzung für die Evolution der Arten ist. Die Verwandlung von
Seehunden in Fische ist nur mithilfe der lamarckistischen Evolutionstheorie zu verstehen, die eine Transformationstheorie ist.
Im Kern von Herzls Evolutionsfantasie steht eine mystis che Idee. Di e Wande rung der Seele von Körper zu Körper verläuft durch die Evolution, wobei jede evolutionäre Stufe eine Etappe der Seelenreise darstelle. Das auf diese Weise dynami sierte scala-naturae-Modell beschreibt kein statisches tableau mehr, sondern eine
211 Theodor Herz!, Zionistisches Tagebuch 1895-1899, in: ders., Briefe und Tagebücher, hrsg.
Alex Bein, u.a., Berlin/ Frankfurt a.M./ Wien 1983, II, 49. [Hv. v. K.C.] Das Gespräch, das
Theodor Herz! in seinem Pariser Tagebuch festhält, findet wahrscheinlich im Jahre 1895 in
Baden in der Nähe von Wien statt. ,,,Das ist eine welthistorische Auffassung"' (ebd.), stimmt
ihm sein damaliger Gesprächspartner Speidel zu. Herz! antwortet: ,,Und welch ein wunder licher Nachhall zu meiner ,welthisrorischen' Auffassung . Das Welthistorische nützt da
nichts." (Ebd .) Vgl. zu seiner Pariser Zeit, in der er unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre
erstmals mit dem Antisemitismus konfrontiert wird, was ihn zur Niederschrift des Judenstaats im Juni 1895 veranlasst: Julius H . Schoeps, Theodor Herz!, Zürich/ Frankfurt a.M.
1975, 26-49.
212 Art . ,,Metaphysischer Darwinismus", in: RudolfEisler, Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Berlin 1910, II, 792 . Eisler bezieht sich auf: Carl du Prel, Die monistische Seelen/ehre.
Ein Beitrag zur Lösung des Menschenrätsels, Leipzig 1888. Vgl. zum metaph ysischen Dar winismus: Peter Sprengel, ,,Metaphysischer Darwinismus in der Literarur um 1900", in :
Scientia poetica. Literatur und Naturwissenschaft, hrsg. Elsner, Frick, 293 -315.
213 Herz!, Zionistisches Tagebuch 1895 -1899 , in: ders., Briefe und Tagebücher, II, 49.
193
214 Vgl. zum Verhältnis von Darwinismus und Judentum: jewish tradition and the cha!Lengeof
Darwinism, hrsg. Geoffrey Cantor, Marc Swet!itz, Chicago , III. 2006.
215 Eine ähnliche Metemps ychose-Vorstellung findet sich in der christlichen Seelenwanderungslehre des Mystikers Joseph von Görres, der davon spricht, dass sich im Laufe der
Metemps ychose eine „Art umbilde[t]". Joseph von Görres, Die christliche Mystik, Regens burg 1836-42 , V, 485: ,,So sind es, nach Verschiedenheit des Bedürfnisses, auch andere
Thierformen , in die sich der dämonisirte und darum innerlich deprimirte Mensch versetzt: eine Art Seelenwanderung, in der das degradirte Selbstbewußtsein, nach und nach
absteigend, alle Momente der tierischen Schöpfung durchwandert, die der Mensch , als
Herr dieser Schöpfung gebunden und verborgen in sich beschließt, und die alle umeinander, wenn er, statt sie zu beherrschen, sich von ihnen beherrschen läßt, in ihm erwachen ,
und dann ihn in ihre Art umbildend, das Regiment in ihm führen. Der Mensch kann also, niedersteigend im Geiste, zu verschiednen Zeiten alle diese verschiedenen Thierlarven
durchwandern ."
216 Unter ,Recycling ' wird mit Gerard Genette eine Strategie der mythopoetischen Verkettung umschrieben, durch die sich der Status und die Semantik eines Mythos oder einer
Theorie ändern kann. Gerard Genette, Fiktion und Diktion, München 1992, 61: ,,Es ist
[...] möglich , daß eine Geschichte [...] den Status wechselt, von den (und für die) einen als
Wahrheit produziert , wird sie von den anderen als Trug bewertet und, durch ein ,Recycling' in die Fiktion, neu interpretiert . So illustriert der Mythos einen Zustand unfrei williger Fiktion, deren illokutionäre Formulierung an beiden Enden der Kette nicht übereinstimmt. Und diese Art von Quidproquo kann nicht nur die ,Darstellung' affizieren, sondern die Realität selbst, wenn sie als Fiktion aufgefaßt wird." Es handelt sich um keine
lineare Übersetzung, sondern um eine reziproke Beeinflussung von Wissensfeldern .
217 Vgl. zur eschatologischen Dimension der scafa naturae: Arthur 0 . Lovejoy, Die große Kette
der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M. 1985, 298.
218 Hier besteht eine innere Ideenaffinität zwischen den Vertretern des monistischen Panps ychismus der Dezennien um 1900, die der anorganischen wie organ ischen Materie ein Seelenleben zuschreiben, und den säkularisierten Positionen der jüdischen Tradition. Dies ist
194
HUMANMIMIKR Y
8.3.2. Die diasporische Identität im Zeitalter des Nationalismus
Was sind die Gründe für die anhaltende Faszination der Seelenwanderungslehre
im säkularisierten späten 19. und frühen 20. Jahrhundert? Im Hintergrund, so die
These, steht die Idee der Geburt, welche einen ideologischen Bedeutungsschub im
Zeitalter des Nationalismus erfährt. Denn die Geburt nimmt eine zentrale Funktion für die Bestimmung einer nationalen Identität sowohl auf der Ebene des Kollektivs als auch auf der des Individuums ein.
D ies wird unmittelbar einsichtig, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung
der Nation im Sinne einer ,Geburts'-Gemeinschafr vergegenwärtigt. ,Nation' ist
eine Entlehnung aus dem Lateinischen. Es leitet sich ab von natio, das mit ,Geburt'
und ,Volksstamm' oder ,Gattung' und ,Art' übersetzt wird; es bezieht sich auf nasci und natus sum, was ,geboren werden' bedeutet. Über die Zugehörigkeit zu einer
Nation, die gleichbedeutend ist mit einem Volksstamm, deren Mitglieder über
eine gemeinsame Abstammung, Sprache und Sitte verfügen, entscheidet im späten
19. und frühen 20. Jahrhundert der Ort der Geburt. Nationalismus entspricht
einer Diskursstrategie, welche eine Zuschreibung von ,Land' und ,Identität' vornimmt. Das Nationalgefühl kann sich zu einer Halt gebenden Befindlichkeitska tegorie steigern, sobald das Faktum der Geburt für einen vorindividuellen und
natü rlichen Zustand steht, der als unwandelbar gilt und damit nahezu metaph ysisch erhöht wird. 219
Im Gegensatz zum modernen Nat ionenkonzept kann das diaspor ische Judentum über keinen vergleichbaren genius loci verfügen. Man erinnere sich an Herzls
Unterscheidung von ,Land' - und ,Meerestieren ', in der die für das diasporische
Judentum typische Dissoziation von ,Land' und ,Geburt' echot , welche konstitu-
aus wissenschafcs- und kulturgeschichtlicher Perspektive insofern interessant, als hier eine
Affinität der Kabbala zum Monismus offen zutage tr itt. Von Haeckel ist überliefere, dass
er die Möglichkeit der Seelenwanderung nicht ausschließe. ,,[I]ch könnte an Seelenwanderung glauben. " Ernst Haeckel alias Paul Kämpfer , Brief an Franziska von Alcenhausen
(Neckarsteinach, 15.8.1899), in: Franziska von Altenhausen, Ein Roman aus dem Leben
eines berühmten Mannes in Briefen aus den Jahren 1898/1903, hrsg. Johannes Werner,
Leipzig 1927, 100-102, hier 102. Zander, Geschichte der Seelenwande rung, 509, stellt die
leider nicht weiter ausgeführte These auf, das Reinkarnationsmodell sei die „Variante des
Lamarckismus ". Vgl. zum Monismus : Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychop hysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertw ende, Tübingen 1993; Monismus um
190 0. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, hrsg. Paul Ziehe, Berlin 200 0.
2 19 Pointiere heiße es dazu bei Benedicc Anderson: Der Gedanke der Nation ,,findet sich in
allem ,Natürlichen ' immer ein Element des ,Nichc-be wussc-Gewählcen '. So kommt es, daß
N ation-Sein der H autfarbe , dem Geschlecht , der Herkunft und der Zeit, in die man geboren wird , nahe stehe - all dem also, was nicht zu ändern ist. [... ] Gerade weil solche Bindungen nicht bewußt eingegangen werden, erhalten sie den hehren Schein , hinter ihnen
steckten keine Interessen." Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Z ur Karriereeinesfolgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1996, 144.
KULTUR- UND RELIGIO NSGESCH ICH T E
195
tiv für das historische Selbstverständnis der assimilierten (West-)Juden ist. 220 D as
diaspo rische Subjekt ist ein geografisch verstreutes, mult ilokales Subjekt.
Die Religion spiegelt die weltliche Erfahrung. Die Transmigration der Seele ist
das mystische Äquivalent zur realen, physischen Migration . Die migratio animarum steht für die Migration der Körper. Paradigmatisch hierfür sind Lessings Aussage, dass der Jude „schlechtgeboren" 221 ist, und Franz Rosenzweigs Unter scheidung zwischen einer ,erdgeborenen' und einer ,zugewanderten' Existenzform :222
Adam ist erdgeboren , der Jude ist zugewa nde rt; von A bra h am ab ist der My tho s des
Volks eine Abfolge solcher Einwanderungen
in das Land , das nicht ,Land der
220 Vgl. zu literarischen Texten, die diese Dislokation beschre iben: Anne Fuchs, A space of
anxiety. Dislocation and abjection in modern German-Jewish literature, Amsterd am, Atlanta , GA 1999. Auf die Frage nach der Definition des Judentums kann an dieser Stelle nicht
genauer eingegangen werden. Jacob Klaczkin , ,,Boundaries (1914-1921)", in: The Z ionist
Idea, hrsg . Art hur Herczberg, N ew York 1966, 314-328 , hier 319, hat die Aufgabe des Zionismus gerade im Aufbau einer Nation und eines nationalen Lebens gesehen. Vgl. dagegen Judich Butler, Gefährdetes Leben, Frankfurt a.M. 2005, 147: ,,Der ,Jude' ist ebensowenig durch Israel definiere wie durch antisemitische Schmähreden . Der ,Jude' gehe dabei
über jede Bestimmungen hinaus und ist im Wesentlichen als dieser Diaspora-Über schuß
auszumachen, eine historisch und kulturell wechselnde Ident ität, die nicht nu r eine einzige Form annimmt und nicht nur ein Telos hac."
221 Lessing , Der jüdische Selbsthass, 51.
222 Rosenzweig ist ein Kritiker des Zionismus. Der Versuch Rosenzweigs, eine auf Dauer gestellte Diaspora als Schicksal zu akzeptieren , wie anhand der Identifizierung mit der Figur
Abrahams ersichclich wird, steht in einer Spannung zur theologischen Idee der Diaspora ,
die sie als eine Überg angszeit ansiehe, der die Rückkehr nach Israel folge. Rosenzweig gehe
auf Dist anz zum Zionismus und lehnt dessen Anspruch auf universale Deutungsho heit in
Bezug auf das Wesen und Schicksal des Judentums ab. Franz Rosenzweig, Glauben und
Wissen, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften , hrsg. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrechc/ Bosten/ Lancaster 1984, III, 581-596, hier 589 . ,,Man soll ein
Leben der Hoffnung führen . Aber spüren sie [d .s. die Zionisten] nicht, wie da die Rezepte
versagen? Ein Leben , als doch mein Leben. Wie ich früher obje ktiv gegen den Zio nismus
sagte , er mache sich das Ziel zu nah, das war noch schlechter Idealismus - ich nehm e es zurück. Nur als innerzionistische Kritik wäre das berechtige, nicht als Kritik von auße n . [... ]
Man kann so wenig ein Rezept fürs Judesein geben, wie - fürs Menschsein . Als im jüd ischen
Leben erkenne ich ihn an, als das jüdische Leben : nein." Bei dem unveröffentlichte n Text
handele es sich um einen Vorcragscext für eine Vorlesungsreihe vom Mai bis Juli 1920 in
Kassel. Scephane Moses , System und Offenbarung, München 1985, 165, fasst die amb ivalente Haltung Rosenzweigs zum Zionismus wie folge zusammen: ,,Rückwirkend folgte dar aus
die zionistische Deutung der Lage des Judentums, der Rosenzweig im übrigen seh r na hestehe. In der wesentlichen religiösen Perspektive Rosenzweigs ist jedoch diese den Jud en von
der politischen Realität des modernen Europas auferlegte Absonderung nichts and eres als
die säkularisierte, also politisch gefaßte Form eines tieferen Unterschieds, desjenigen zwischen einem Volk, das in einer stehenden, ritualisierten Zeit lebt , und den übrigen N ationen, deren Schicksal sich innerhalb der historischen Zeit abspiele. Aus diesem Gru nde ist
Rosenzweig, der wie die Zionisten die Assimilation , welche er als eine unheilvoll e ,Fiktion '
auffasst, ablehnt, nicht bereit, die zionistische Lösung zu akzeptieren, in der er eine gefährliche Reduzierung des jüdischen Erlösungsscrebens auf ein bloßes politisches Ideal erblicke."
196
HUMANMIMIKRY
Geburt' ist, sondern dass ich Dir zeigen werde. Abrahams Samen soll von dem Boden
[,} den er braucht, nicht besessenwerden, um der Ausschließlichkeit des Besessenseins
willen, die ihn in das Land geführt hat; der Boden darf ihm nie zur Scholle werd en.
Nie werden. 223
Rosenzweigs Metapher vom Samen Abrahams ist in einem übertragenen Sinne zu
verstehen; es handelt sich um eine theologische Metapher für das kollektive Gedächt nis.224Der ,Samen' kann als die Seele des jüdischen Volkes gelesen werden, die von
Körper zu Körper, von Scholle zu Scholle ,wandert'. 225
KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE
197
8.3.3 . Zukunft ohne Messias
Ein metaphysischer Trost, wie ihn die Ankunft des Messias repräsentiert, wird vom
politischen Zionismus abgelehnt. 226Herz! und Nordau übernehmen den Mythos der
Seelenwanderung nicht einfach. Im Gegenteil: Sie brechen mit ihm. Mit der zum
Teil ironischen Ablehnung der kabbalistischen Metempsychose verwerfen Herz! und
Nordau das zyklische Geschichtsmodell. 227 Die kabbalistische Seelenwanderung
setzt das Ende der migratio animarum und der Diaspora erst mit der Ankunft des
Messias an. 228 So lange aber will der säkulare Zionismus nicht warten. 229
Der neue Zionismus, den man den politischen nennt, unterscheidet sich aber vom
alten, religiösen messianistischen darin, daß er aller Mystik entsagt, sich nicht län ger mit dem Messianismus identifiziert, die Rückkehr nach Palästina nicht von
einem W under erwartet, sondern sie durch eigene Anstrengung vorbereiten will. 230
223 Franz Rosenzweig, ,,,Deutschtum und Judentum"', in : ders., Gesammelte Schriften, III,
169-176, hier 169. [Hv. v. K. C.JDer typologische Antagonismus von ,Adam vs . Abraham'
basiert auf einer Allegorie, in der das Verhältnis von jüdischer Diaspora und Nationalstaat
zum Ausdruck komm t. Adam repräsentiert also das Prinzip der Erde und der Nation. Die
Erschaffung des Menschen aus der Erde, das im biblischen Wortspiel mit den Begriffen
addm für ,Mensch' und adamdh für ,Ackerboden' beziehungsweise ,Scholle' wiedergegeben wird (Gen. 2, 7), mag dabei höchst wahrscheinlich im Hintergrund stehen. Diese Rezension von Hermann Cohens Deutschtum und Judentum wird nach der Veröffentlichung
verfasst, aber auf Rosenzweigs eigenen Wunsch hin nicht für den Druck freigegeben.
Rosenzweig, der das Vorwort zu den gesammelten Schriften Hermann Cohens verfasst,
meldet erhebliche Zweifel an dessen emphati scher Ident ifizierung mit der deutschen Kultur an . Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum, in : ders., Jüdische Schriften, hrsg .
Bruno Strauß, Berlin 1924, II, 237-301, hier 274, bestimmt Deutschland zum „Mutter land seiner Seele" [d.i. die des Juden]. Das ,Jüdische' sei kein Rassentypus, sondern eine
„ethis che Kulturkraft" und ein „ethische[r] Kulturwert[ ]". Hermann Cohen, Deutschtum
und Judentum, in: ders ., Jüdische Schriften, II, 302-318, hier 313. Ein anderer prominenter
Vertreter dieser auf kulturelle Erneuerung setzenden Bewegung ist Achad Ha'am, dem mit
Martin Buber wichtigsten Fürsprecher dieser Position. Vgl. zum Einfluss Ha'ams: Yehuda
Reinharz, ,,Achad Ha'am, und der deutsche Zionismus" , Bulletin des Leo Baeck Institute
1982, Nr. 61, 3-27.
224 Rosenzweig nimmt eine kritische Haltung gegenüber dem Naturalismus der Wissen schaften ein, die in seinen Augen mystisch verklärt zu werden drohen. Er denkt dabei vor
allem an die Theorien des Milieus und der Vererbung, die absolute Geltungsansprüche
vertreten. Franz Rosenzweig, Die Wissenschaft vom Menschen, in: ders., Gesammelte Schrif
ten, III, 643 -654, hier 644 : ,,So der Naturalismus und wiederum eine Art Mystik (Milieu .
Vererbung) . Wie ,real' da plötzlich die Welt genommen wird." Bei dem Text handelt es
sich um den Entwurf eines Vortrags für eine Vorlesungsreihe, die vom Januar bis März
1922 im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main stattfand .
225 Vgl. zur Bestimmung des jüdischen Generationenkonzeptes: Weigel, Genea-Logik, 126.
Zwei diam etral entgegengesetzte Geschichtsvorstellungen stehen sich hier gegenüber. Die Ge gner des Zionismus kritisieren, dass das Projekt der Rückkehr in das
gelobte Land rein historisch gedacht wird, was eine Abwendung von der Tradition
und sogar die Tr ennung von Gott impli ziert. 231 Sie unterscheiden nämlich zwischen profaner Weltgeschichte und Heilsgeschichte.
226 Vgl. zur Ideengeschichte des Zionismus und insbesondere seinen Anfängen : Walter
Lacquer, Der Weg zum Staat Israel. Die Geschichtedes Zionismus, Wien 1975; David Vital,
The Origins of Zionism, Oxford 1975; Julius H . Schoeps, ,,Autoemanzipation und Selbsthilfe. Die Anfänge der national jüdischen Bewegung in Deutschland 1882-1897", in: Jüdi scheIntegmtion und Identität in Deutschland und Österreich 1848-1918, hrsg. Walter Grab,
Tel Avi.v 1984, 231-256.
227 Vgl. zum Verhältnis von Zionismus und Religion : Robert S. Wistrich, ,,Zionism and
Its Religious Critics and Fin -de-Siecle Vienna", in : Zionism and Religion, hrsg . Shmuel
Almog, Jehuda Reinharz, Anita Shapira, Hanover/ London 1998, 140-158; Jacob Katz,
Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte, Frankfurt a.M.
1993, 21-36, bes. 35, geht aufgrund der Diesseitigkeit der Erwartung von einer Kontinuität von Messianismus und Zionismus aus.
228 Der Zionismus wird vor allem in religiösen Kreisen als ein falscher Messianismus kriti siert. Vgl. zu den Spannungen zwischen Herz! _und dem traditionellen Ostjudentum, die
bis zum dritten Zionistischen Kongresses an Intensität zunehmen : Yosef Salmon, ,,Zionism and Anti-Zionism in Traditional Judaism in Eastern Europe", in: Zionism and Religion, hrsg . Almog, u.a., 25-43, bes. 31-33.
229 Vgl. Nachman Syrkin, ,,TheJewish Problem and the Socialisc-Jewish Stare [1898]", in: The
Zionist Idea, hrsg. Hertzberg, 350. Es ließe sich nach Rubinstein auch von einem „säkula ren Messianismus" sprechen . Rubinscein, Geschichtedes Zionismus, 75
230 Nordau, ,,Zionismus", 22.
231 Eine weniger radikale Position erkennt im Zionismus eine Revolution der Säkularisie rung, die religiöse Inhalte neu- und uminterpretiert. Shlomo Avineri, ,,Zionism and the
Jewish Religios Tradition. The Dialectics ofRedempcion and Secularizacion", in: Zionism
and Religion, hrsg . Almog, u.a., 1-12, hier 7: Social Zionism is a „cransformacive revolucion that reinterprets the uadicions of ehe past" and a „hiscorical synthesis between memory and poli tical chinking" .
198
199
HUMANMIM!KRY
LITERATUR
Herzl und Nordau lehnen die in der lurianischen Lehre angelegte Akzeptanz
der ständigen Wanders chaft ab232 , da sie ihnen als ein unnötiger, ja gefährlicher
Aufschub gilt. 233 Nich t dulden will der Zionismus die nach trägliche Rechtferti gung des historischen Schicksals, weil den zukünftigen Generationen ein anderes
Los beschienen sein soll. Als „jüdischer Nationalist" unterscheidet sich der Zionist
deutlich von den europäischen Nationalisten, denn jede Form von Chauvinismus
wird von ihm dezidiert abgelehnt. 234 Herzl verstehe den Zionismus nicht als eine
Festlegung oder fixe Verortung in einem bestimmten Land, wie er auf dem ersten
Zionistenkongress herausstelle : ,,Der Zionismus ist die Heimkehr zum Jud entum
noch vor der Rückkehr ins Judenland." 235
Der Zionismus betrachtete die Galuc weder als Bestrafung noch als offenkun diges Schicksal, sondern als demütigende Krankheit, die geheilt werden muss. 236
Der Messias drohe infolgedessen, die Rolle des Erlösers einzubüßen. 237 „Es wird
kein Messias sie da heraushol en . Sie werden schon selbst etwas dazu tun müssen." 238
Die Zukunft stehe auf einem anderen Blatt, das von den nachfolgenden Generatio nen selbst, die nicht mehr von Scholle zu Scholle wandern müssen, beschrieben
werden soll.
Assimilation hinaus. 239 Denn der Bericht führt die negativen Auswirkun gen der
Anpassung nicht nur vor, in ihm ist eine Analyse jener Myth en entha lten, die von
den säkularen Zionisten kritisiert werden. Da zu gehören unter anderem die Me tempsychose und das mit ihr verbundene Narrativ eines kollektiven Ur spru ngs. In
den folgenden Ausführungen sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Mimikryauffassung en bei Kafka und Herz! und Nordau anha nd des
Berichts herausgearbeitet werden. 240
Nicht der Wunsch, sondern die Not ist die Motivation hinter der Mimikry
Rotp eters. ,,Ich ahmte nach , weil ich einen Auswe g sucht e, aus kein em anderen
Grund. "241 Die Depersonalisierung, das heißt die Entfremdung vom eigenen Körper, der Handlungen erlernen muss, die nicht die eigenen zu sein scheinen, steht
im Zentrum des Berichts.
In Kafkas Text stellt die Anthropogenese die Allegorie des Assimilationsprozes ses dar. 242 Der Affe ist die Verkörperung des sich assimilierenden Menschen par
8.4. Lit eratur .
Evolution als Allegorie der Assimilation (Franz Kafka)
Wenn Mimikry eine Verwandlun g ist, in deren Verlauf eine andere Persönlichkeit
angenommen wird, so stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dieser Prozess
auf die Identität und vor allem auf die Erinnerung an die eigene Herkunft hat. Mit
anderen Worten: Wie weit geht die Ver- und Umwandlung? Erfasse die Mimikry
auch das kulturelle Gedächtnis oder beschränkt sich die Anpassung auf den Körper?
Franz Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie (1917) gehe in wesentli chen Punkt en über die im vorausgegangen Kapitel dargestellte Ablehnung der
232 Im frühneuzeitlichen Judentum wird die Seelenwanderung zur Bedingung des Tikkun,
der messianischen restitutio integrum, stilisiert, weil damit das Los der Vertre ibung seine
heilsgeschichrliche Rechtfertigung finden würde . Vgl. Schalem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 234 f.
233 Nach Jacob Klaczkin, ,,Boundaries (1914-1921)", in: The Zionist Idea, hrsg. Hertzberg,
hier 322-327, könne erst mit dem Ende des Galuch die jüdische Identität wieder voll verwirklicht werden.
234 Nordau, ,,Zionismus", 23.
235 Theodor Herz!, Zionistische Schriften, hrsg. Leon Keller, Berlin o. J ., 222.
236 Vgl. Amnon Rubinscein, Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herz! bis heute, München
2001, 45.
237 Vgl. The Zionist Idea, hrsg. Hertzberg , 17 f.
238 Döblin,Jüdischer Erneuerung, 56.
239 Auf die allgemeine Rolle des Zionismus in Kafkas Werk und der biografischen Einflüssen, die sich über Kafkas Kontakte zu Max Buber, Felix Welcsch, Hugo Bergmann und
natürlich Max Brod ergeben, kann hier nicht detailliert eingegangen werden . Vgl. Ritchie
Robertson, ,,Antizionismus, Zionismus . Kafka's response to Jewish Nationalism", in:
Paths and Labyrinths, hrsg. Joseph Peter Stern, John James White, London 1975, 25 -42.
Vgl. zur ambivalenten Haltung Kafkas zu den kulturellen wie politischen Formen des Zionismus: Giuliano Baioni, Kafka . Literatur und Judentum, Stuttgart/ Weimar 1994, bes.
110; Ernst Pawel, ,,Der Prager Zionismus zu Franz Kafkas Zeit", in : Kafka und Prag, hrsg .
Kurt Krolop, Han s Dieter Zimmermann, Berlin/ New York 1994, 33-43 .
240 Die Mimikry im Bericht wird in unterschiedlichen Kontexten wie etwa in der westjüdischen Assimilationsdebatte (Gilman, Robercson) und im kolonialen Diskurs (Richter,
Zilcosky) verortet . Des Weiteren wird der Text als eine Kritik eines traditionellen Mimesis begriffs gelesen (Neumann, Taussig, Yogi). Hervorhebung verdienen unter den wissenschaftsgeschichrlichen Lesarten die Interpretationen von Margot Norris und Peter Sprengel.
Sander Gilman, Franz Kafka . The jewish Patient, New York 1995, 121; Gerhard N eumann,
,,,Ein Bericht für eine Ak ademie '. Erwägungen zum ,Mimesis'-Charakter Kafkascher Texte", DVjs 49 (1975), 166-183; Margot Norris, ,,Darwin, Nietzsche, Kafka, and ehe Problem
ofMimesis", MLA 5/ 95 (1980), 1232-1253; Virginia Richter, ,,Blurred copiesof himself Der
Affe als Grenzfigur zw ischen Mensch und Tier in der europäischen Literatur seit der frühen
Neuzeit', in: Topographien der Literatur . Deutsche Literatur im transnationalen Kontext .
DFG-Symposium 2004 , hrsg. Hartmut Böhme, Stuttgart/ Weimar 2005, 603-624, hier 622
f.; Ritchie Robercson, Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur, Frankfurt a.M. 1988, bes.
154; Sprengel, Darwin in der Poesie, 125-128; Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, bes. 30; John Zilcosky, ,,Wildes Reisen. Kolonialer Sadismus
und Masochismus", Weimarer Beiträge (112004), 33 -54 . Vgl. zuletzt zur Mimikry und
Kafkas Tiererzählungen: Gerhard Neumann, Barbara Vinken, ,,Kulcurelle Mimikr y. Zur
Affenf igur bei Flaubert und Kafka", ZfdPh 126 (20 07), 126-142; Cornelia Ortlieb, ,,Kafkas
Tiere", ebd ., 339-366.
241 Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, in : ders ., Schriften, Tagebücher, Briefe. KritischeAusgabe, hrsg. Jürgen Born, u.a., Frankfurt a.M . 1994, 299 -313, hier 311.
242 Die meisten Interpretatio nen ordnen den Bericht in die Darwinismusrezeption ein. Die
kryptotheologischen Aspekte von Kafkas ,Evolucionsmychologie ' sind dabei bislang eben so unbeachtet geblieben wie die Nähe zu einer lamarckiscischen Evolu tionsauffassung .
200
201
HUMAN MIMIKRY
LITERATUR
excellence. Das lateinische ,simia' für ,Affe' leitet sich von ,Ähnlichkeit' (similitudo)
ab. Er ist das Lebewesen, das am stärksten versucht, dem Menschen ähnlich zu
werden (,assimulö'). Es handelt sich bei der Mimikry im Text weniger um eine
Anpassung nach Darwin als vielmehr na ch Lamarck . Nach Lamarck bedingt die
Veränderung der Lebensbedingungen die Veränderung von Gewohnheiten, was
wied erum zu einem veränderten Gebrauch der Organe führt, die sodann einen
Transformationsprozess durchlaufen. Im Falle Rotpeters ist es sein Gebiss, das zu
einem menschlichen Gebiss evaluiert. 243 An den Zähnen beginnt also der Trans formationsprozess der ,An -Ähnlichung' (assimulö) an die M enschhe it.
Die Seelenwanderung wird im Text zunächst nur angedeutet. Rotpeter ist sein
vergangenes Leben an der Goldküste nicht mehr erinnerlich 244 , weshalb er auf
Zeugen - im Text heißt es ausdrücklich: ,,fremde Berichte" 245 - angewiesen ist. Zu
Beginn der Rede erklärt er dem versammelten Publikum, wie wenig ihm von seinem früheren Dasein als Affe noch bewußt ist. Seine Zuhörer, die hoffen mehr
darüber zu erfahren, ber eitet er vorsorglich auf eine Enttäuschung vor. Seine kon krete Erinnerung beginnt auf dem Dampfer, der ihn nach Deutschland bringt.
„Nach jenen Schüssen erwachte ich - und hier beginnt allmählich meine eigene
Erinnerung - in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers." 246
Der Moment des Erwachens ist das erste, woran er sich erinnert . Dieser Augen blick erscheint ihm wie der Eintritt in ein „neues Leben" 247 • Mit dieser Formulierung
wird ausdrücklich auf die Reinkarnationsvorstellung angespielt: Der Affe wird als
Mensch wiedergeboren. Die Fähigk eit sich zu erinnern, ist ein Ausweis seiner
Menschlichkeit . ,,Das Tier", so schreibt der Philologe und Philosoph Heymann
Sreinthal, ,,hat ein Gedächtnis, aber keine Erinnerung." 248 Rotpeters Erinnerungsschwäche ist im Text ein weiteres Indiz für die Seelenwanderungsvorstellung. Wiedergeborene glauben, sich nur noch vage an ihr vorheriges Leben erinnern zu kön nen. Was bleibt, sind oftmals verzerrte Bilder und die verstörende Empfindung , sich
in einem fremden Körper zu befinden. 249
Rotpeter wird in zweifacher Hinsicht als ein Außen seiter porträtiert. Der erste
Schuss hinterlässt eine Narbe auf seinem Gesicht, die ihn entste llt und die ihn
unter den anderen fortan deutlich heraushebt. Diese Entstellung schließt ihn aus
der Affenherde aus und markiert zugleich den Beginn von Rotpeters Geschichte
der Einsamkeit. Der zweite Schuss trifft ihn „unterhalb der Hüfte". 250 Letzteres
umschreibt seine Kastration, die ihn zeugungsu nfähi g macht. 251
Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die nicht nur Rotpeters Verhältnis zu seiner Geliebten bestimmt, sondern in gewisser Weise auch eine weitere
D imension seines neuen Menschseins offen legt, schließt ihn aus der Artgemein schaft aus . Die Kastration ist jene symbolische Handlung, die für den gewaltsa men Ausschluss Rotpeters aus dem Zusammenhang der Generationen steht. 252
Wohl auch aus diesem Grund kann er der Äffin in seinem Zimmer nicht lange in
die Augen schauen, ohne dem Wahnsinn zu verfallen. Rotpeter ist isoliert: Er steht
zwischen ein er Vergangenheit, an die er sich nur noch schwach erinnern kann,
und einer Zukunft, die keinerlei Hoffnung auf Nachkommen bereithält.
Es gibt bekannte Vorbild er, an die Kafkas literarische Bearbeitung des Seelenwanderungsmotivs unmittelbar anknüpft. So hat sich beispielsweise Heinrich Hei ne eingeh end mit der „Metempsychose" 253 befasst und sie in den Reisebildern und
243
244
245
246
Anders als die darwinistische Lesart des Berichts, die beispielsweise Norris vorschlägt, sollen hier die kryptolamarckistischen Elemente der Erzählung herausgearbeitet werden . Für
eine solche Deutung spricht unter anderem der Umstand, dass das Tempo der Anpassung
im Widerspruch zur Theorie Darwins steht, die von langsamen graduellen Veränderungen ausgeht . Die spontane Anpassung Rotpeters ist daher nur auf dem Boden des Lamar ckismus plausibel. Norris, ,,Darwin, Nietzsche, Kafka, and the Problem ofMimesis". Außerdem ist Norris' bewusste Entscheidung für eine darwinistische Lesart bezeichnend für
jene Interpretationen, die die religionsgeschichtliche Dimen sion des Texts weniger beachten. Die vorliegende Deutung trennt die theologischen, naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Bedeutungsebenen nicht voneinander, sondern möchte sie vielmehr in eine Beziehung zueinander setzen . Karl Erich Grözinger, Kafka und die Kabbala. Das Jüdi sche im Werk und Denken von Franz Kafka, Berlin/ Wien 22003,114 -116, hat als einer der
Wenigen den Bericht für eine Akademie sowie andere Tiererzählungen vor dem Hinter grund der lurianischen Kabbala gelesen. Vgl. zum Judentum : Hans -Gerd Koch, ,,Ein
Bericht für eine Akademie", in: Franz Kafka, Romane und Erzählungen, hrsg. Mi chael
Müller, Stuttgart 1994, 173-196, hier 179; Robertson, Kafka . Judentum, Gesellschaft,Literatur, 219; William C. Rubinstein, ,,,A Report to an Academy", in : Franz Kafka Today,
hrsg . Angel Flores, Swander Homer, Madison, Wisc. 1958, 55-60. Des Weiteren werden
Parallelen zum Jiddischen Theater gezogen, das Kafka im Cafe Savoy gesehen hat . Vgl. zu
dieser inzwischen umstrittenen Kontextualisierung: Evelyn Torton-Beck, Kafka and the
Yiddisch Theater, Madison, Wisc. 1971.
Kafka, Bericht, 306 f.
Robettson, Kafka . Judentum, Gesellschaft, Literatur, 221, schlägt eine andere Inte rpretation vor. Die Goldküste sei nicht die topografische Allegorie für ein Goldenes Zeitalter,
sondern ein Symbol für „die ursprüngliche, elementare Lebenskraft, die die westlichen
Zionisten den Ostjuden zuschrieben."
Kafka, Bericht, 301.
Ebd., 302.
247 Ebd.
248 Diese Aussage wird zitiert nach: Agamben, Das Offene, 54 .
249 Dieselbe Erfahrung wird bekanntlich in der Verwandlung, Kafkas anderem Me tempsychose-Text, beschrieben . Vgl. zur Seelenwanderung in Die Verwandlung : Michael P. Ryan,
,,Samsa and Samsara. Suffering, Death, and Rebirth in ,The Metamorphosis"', The German Quarterly 72 :2 (1999), 133-152, der nachzuweisen versucht, dass der Name ,Samsa'
mit ,Samsara' übereinstimmt, einem religiösen Begriff für die Wiedergeburt, welcher unter anderem bei Schopenhauer Erwähnung findet.
250 Kafka, Bericht, 301.
251 Vgl. Baioni, Kafka . Literatur und Judentum, 169.
252 Die Idee der Selbstschöpfung im kreativen Akt fußt im Gefühl der eigenen Ohnmacht
und dem Bedürfnis nach ästhetischer Kompensation. Vgl. für eine Interpretation Rotpeters als Künstler:Walcer Herbert Sake!, Franz Kafka -Tragik und Ironie. Zur Struk tur seiner Kunst, München 1964, bes. 330 -333 .
253 Heinrich Heine, Reisebilder, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. Klaus Briegleb, Frankfurt
a.M./ Berlin/ Wien 1981, III, 226 : ,,Mag es immerhin lächerlich klingen, ich kann es dennoch nicht verhehlen, das Mißverhältnis zwischen Körper und Seele quäle mich ein iger-
202
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HUMAN MIMIKRY
LITERATUR
den Memoiren literarisch fruchtbar gemacht, um das intergenerationelle Verhältnis
zu beschreiben.
nen Existenz gehört die Konstruktion der eigenen Vergangenheit, genauer: die
Selbstvergewisserung über Zeit und Ort der eigenen Geburt. Mit anderen Worten: Da er keine Zeugen für seine Geburt hat, muss er seinen eigenen biografi schen Ursprungsmythos erfinden.
Dieser Akt der Selbstbegründung artikuliert sich im Text in der pleonastischen
Formulierung „meine eigene Erinnerung". 260 Wessen Erinnerung sollte es sonst
auch sein, wenn nicht seine eigene? Die pleonastische Affirmation schürt unweigerlich einen Verdacht: Es scheint, als ob sich das Individuum einer Erinnerung
vergewissern will, weil es derer nicht habhaft werden kann . Wo die Grenze zwischen eigener und fremder Erinnerung verläuft, muss sich der Gewissheit letzt. endlich entziehen.
Seine Mimikry geht deshalb über die Imitation von Gesten hinaus. Sie ist die
Kopie eines fremden kulturellen Gedächtnisses. Rotpeters Erinnerung ist die
Mimikry der Erinnerung der anderen, der Zeugen, die mehr von seiner Herkunft
wissen als er selbst. Der Bericht vollzieht eine ,Text-Mimikry': Er ist die Mimikry
von, wie es ausdrücklich heißt, ,,fremde[n] Berichte[n]". 26 l Ob Rotpeter schreiben
gelernt hat, geht aus dem Text nicht hervor und darf zudem als fragwürdig gelten.
Assimilation birgt in sich die Gefahr, dass die Erinnerung an die eigene Vergangenheit verblasst. 262 Wenn sein Schicksal eine Allegorie der jüdischen
Geschichte ist, dann weist der Text auf ein grundlegendes Problem der Seelenwanderungsidee hin: die fehlende Evidenz des Faktums der Geburt. Dass man bereits
lebte und die Erinnerung aus diesem früheren Leben wahrhaftig ist, dafür kann
es keinen Beweis geben. Von allen Ereignissen, die unmittelbar mit dem eigenen
Leben zusammenhängen, ist die Geburt jener Augenblick, den man nicht mit
eigenen Augen bezeugen kann. Woher man kommt, das weiß man nicht . Dafür
braucht man die Familie . Aber schlussendlich kann niemand, auch sie nicht,
sagen, wie es einmal wirklich gewesen ist. Der Bericht übernimmt das Narrativ
und das Modell der Metempsychose, um zu zeigen, wie eine Erinnerung konstruiert wird - und kritisiert diesen Vorgang zugleich.
Vielleicht gab es nie die Heimat oder den paradiesischen Ursprungszustand, an
dem sich Rotpeter in seiner Erinnerung festhält. Darin steckt aber der metaphysische Kern, den die Seelenwanderung als Trost anbietet: die Idee einer Herkunft
und die Möglichkeit, dorthin wenigs tens in Gedanken oder im Schlaf, träumend,
zurückzureisen. Seelenwanderer sind nicht allein, weil sie die Anwesenheit der
Vorfahren im eigenen Leben spüren. Der Seelenwanderungsmythos wird aufgerufen, weil er das Begehren Rotpeters wiedergibt, die Sehnsucht nach Zeugen, das
heißt nach den Eltern, die ihn ,erzeugt' haben und die alleine die Möglichkeit hät ten, seine Abstammung zu bezeugen.
Es herrscht eine Solidarität der Generationen, die auf einander folgen , ja, die Völker
die hinter einander in die Arena treten, übernehmen eine·solche Solidarität und die
ganze Menschheit liquidiert am Ende die große Hinterlassenschaft der Vergangenheit. 254
Der Erzähler Harry berichtet in Heines Text von seinem deja-vu, bei dem es ihm
so vorkommt, als ob er „selbst mein seliger Großoheim [sei] und als lebte ich nur
eine Fortsetzung des Lebens jenes längst Verstorbenen." 255
Sigrid Weigel hat gezeigt, dass Heines Idee eines transgenerationellen Gefüges,
die mit der Vorstellung einer Seelenwanderung verbunden ist, dem „Modell einer
Phylogenese" entspricht. 256 Die Transmission von Gefühlen oder Erinnerungen
verläuft allerdings weder linear noch eindeutig. Vielmehr kommt es zu Verschiebungen, die dem Sender -Empfänger -Modell widersprechen und auf eine ,postali sche' dijferance im Text hinweisen. 257
In Hein es Texten ,wandert' die Seele innerhalb des jüdischen Volkes, wie es die
Kabbala ursprünglich vorsieht. 258 Die Seelenwanderung bei Heine steht in keinem
Bezug zum Problem der Assimilation, sondern bezieht sich auf die Frage nach dem
richtigen Umgang mit der memoria. Das Problem Harrys ist nicht, dass er einsam
ist wie Rotpeter, der seine Herkunft nicht kennt. Im Gegenteil. Fast ist es so, als
ob Harry sich vor der Idee eines Erbes fürchtet, weil sie ihm das Recht auf eine
selbst gewählte Identität streitig macht. Die Idee einer, mit Heine gesprochen,
„Solidaritä t der Generationen" ist Rotpeter fremd. 259
Harry flüchtet vor dem Ursprung, Rotpeter sucht nach ihm. Rotpeter muss
eine Gewissheit erlangen über das, worüber man keine Gewissheit erlangen kann,
und zwar über die eigene Geburt. Die existenzielle Einsamkeit, wie er sie verspürt,
wirft ihn unweigerlich auf sich selbst zurück. Zu der Selbstbegründung der eige-
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maßen, und hier am Meere, in großartiger Naturumgebung, wird es mir zuweilen recht
deutlich, und die Metempsychose ist oft der Gegenstand meines Nachdenkens . Wer kennt
die große Gottesironie, die allerlei Widersprüche zwischen Seele und Körper hervorzu bringen pflegt! Wer kann wissen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Platos, und in
welchem Schulmeister die Seele eines Cäsars wohnt!" Vgl. zur Seelenwanderung: Jutta
Müller-Tamm, ,,,. ..als habe die Natur ein Plagiat begangen'. Seelenwanderung als poeto logische Chiffre in Heines Reisebildern", DVJs 1.81 (2007) , 47-57.
Heinrich Heine, Memoiren, in: ders., Sämtliche Schriften, VI.l., 575.
Ebd., 573. Vgl. Sigrid Weigel, ,,Heinrich Heines orientalische und okzidentalische Wechsel. Postalische Poetologie als Korrespondenz mit der Vergangenheit und den Toten", in:
Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität, hrsg. Klaus Briegleb,
!tta Shedleczky, Hamburg 2001, 135-147.
Weigel, ,,Heinrich Heines orientalische und okzidentalische Wechsel", bes. 138-141.
Ebd., 135 f.
Idel, ,,The Secret ofimpregnacion as Mecempsychosis in Kabbalah ".
Heine, Memoiren , 575.
260 Kafka, Bericht, 302. [Hv. v. K. C.]
261 Ebd . 301.
262 Vgl. zum Problem der historischen Zeugenschaft: Carlo Ginzburg, The Judge and the Historian . Marginal Notes on a late-twentieth -century miscarriage ofjustice, London 1999.
204
HUMANMIMIKRY
BIOLOGIE
Der Glaube, der aus der Seelenwanderungsidee spricht , dass nämlich die jüdi sche Seele unangetastet bleibt in den Wirren der Geschichte und etwas weiterge geben wird, was die Assimilation übersteht, steht hier auf dem Spiel, denn aufgrund der Schwäche des identitätsstifrenden kulturellen Gedä chtnisse s ist verloren
gegangen, was es einst auszeichnet: das Kontinuum ·der Generationen und die
Überlieferung des Wissens . Metempsychose und Mimikry repräsentieren gegensätzliche Formen der Identitätsstiftung. Bei der Me tempsychose bleibt die Erinne rung erhalt en, bei der Mimikry wird sie von der Gegenwart überdeckt und schließ lich vergessen.
Im Bericht wird die Existenz einer jüdischen Id entität nicht per se in Frage
gestellt. Vielmehr wird konstatiert, dass es mit dem schwindenden Einfluss der
Tradition immer schwieriger wird, eine Gewissheit über die eigene Identität zu
erlangen. Um die Verbindung von Kollektiv und Individuum aufrecht zu erhalten,
treten daher Mythen wie die Metempsychose auf , mit denen sich eine Tradition
respektiv e eine Vergangenheit konstruieren lässt.
Kafka erzählt diese Mythen neu und dekonstruiert sie gleichzeitig. Der Bericht
hält den Mythos der Seelenwanderung in seinem letzten Stadium fest, als er keine
Macht mehr besitzt und als Illusion erkannt wird. In Kafkas Texten, die, wie es
Walter Benjamin ausdrückt, ,,Märch en für Dialektiker" 263 sind, wird der unzeitgemäße Charakter des Seelenwanderungsmythos offen gelegt. Die Leerstelle, die
er hinterlässt, kann jedo ch nicht gefüllt werden. Die Kritik schafft keine neue
Erklärun g, sondern stellt eine Leere und die Grenze des Wissens aus. ,,So kann
man verstehen, daß Kafka", so Benjamin, ,,nicht müde wurde, den Tieren das Vergessene abzulauschen. Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie gehe es nichr." 264
8.5. Biologie.
Forschen im Österreich -Ungarischen Vielvölk erstaat
(Paul Kammerer)
263 Benjamin, Gesammelte Schriften, II.2, 415
264 Ebd ., 430 .
205
Die neolamarckistische Mimikrycheorie ist eine Milieutheorie, die von chemischphysika lischen Agentien ausgehe, die auf die Organismen einwirken. Können
ähnliche Milieueinflüsse auch unter Menschen Ähnlichkeiten, seien sie nun phy sischer oder psychischer Art, hervorrufen? Um 1900 wird die körperliche Ähn lichkeit von Familienmitgliedern vornehmlich durch di e Gesetze der Vererbung
erklärt. Kann die Mimikrycheori e eine Erklärung für die Entstehung ähnlicher
·Merkmale bei Menschen liefern, die zusammenleben, aber nicht miteinander verwandt sind?
Der Biologe Paul Kammerer (1880 -1928, Abb. 13) arbeitet seit 1913 in der biologischen Versuchsanstalt Vivarium in Wien. 265 Seine Forschungsschwerpunkte
liegen auf den Gebieten der Herpetologieund Vererbungslehre . Kammerer ist N eolamar ckist. Neben seiner wissenschafclichen Arbeit setzt er sich für die Populari sierung der Lama rckschen Theori e ein.
Die historische Bedeutung des Vivariums beruhe zum einen auf seiner besonderen Stellung , die es als eines der österreichischen Zentren der experimentellen Biologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts inne hat. Zum anderen ist es eines der wenigen
westeuropäischen Institute mit einer dezidiert neolamarckistischen Forschungsausrichtung. 266 Der N eolamarckismus steht im Ruf, eine Theorie zu sein, die sich weniger auf Experimente stützt als vielmehr von Spekulat ionen lebt. Das Fehlen einer
entwickelten Experimentalkultur wird den Neolamarckisten häufig zum Vorwurf
gemacht. Vermuclich ist das Ende des (westeuropäis chen) Lamarckismus in den
1930er-Jahren auf dieses Manko zurückzuführen. 267 Daher ist die Existenz eines
265 Das Institut wird von Hans Leo Przibram geleitet. Przibram wird 1938 seines Postens
enthoben. Er und seine Frau flüchten in die Niederlande. Nach der Okkupation des Landes werden sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie 1944 ermorde t
werden.
266 Vgl. zur biologischen Forschungsansra!t und seiner Geschichte : Hans Przibram, ,,Die Biologische Versuchsans ra!t in Wien", Zeitschrift für biologische Technik und Meth ode, Bd. I,
H. 3-5. (1908/ 09), 249 -251, hier 250; Deborah R . Co en, ,,Living Precisely in Fin-de -Siecle Vienna ", Journal of the history of biology 39 (2006), 493-523; Wolfgang L. Reiter,
,,Zerstört und vergessen. Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen", Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4.10 (1999), 585-614.
267 Die Geschichte des N eolamarckismus zu Beginn des 20 . Jahrhunderts wäre ohne Kam merer undenkbar. Sein Selbstmord im Jahre 1928 - der Freitod ist wahrscheinlic h eine
Reaktion auf den von Gladwyn Kingsley Noble erhobenen Vorwurf der Fälschung, der
sich gegen seine Versuche mit der Geburtshelferk röte (Alytes) richtet - markiert das vorläufige Ende der biologischen Theorieströmung. Es gibt Bestrebungen, das historische
Urteil zu revidieren. In der Gegenwart ist das Interesse am Lamarckismus im Zuge der
Forschung auf dem Feld der Epigenetik wieder erstark t. Die lamarckistische Vererbung
erworbener Eigenschaften und die epigenet ische Vererbung sind allerdings nur bedingt
206
HUMAN MIMIKRY
Abb. 13: Paul Kammerer, PorträtPostkarte (an Richard Reich, Wien
8.2.1920). [Signatur: Slg Darmstadt.
L. c. 1900 (31)/ Paul Kammerer,
Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz]
BIOLOGIE
207
setzt fortan das Mens chenexperiment, die freie, assoziationsgesättigte Wahrneh mung die wissens chaftliche Beobachtung. So wird aus dem Tierbeobachter
schließlich ein Menschenbeobachter.
8.5.1. Mimikry. Laborexp eriment und Theorie
„Erklär mir nichts. Ich seh den Salam ander
durch jedes Feuer gehen./ Kein Schauer
jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts."
(Ingeborg Bachmann, Erklär mir, Liebe)
Neun Jahre, von 1904 bis 1912, erforscht Kammerer den Farbwechsel des mitteleuropäischen Feuersalamanders (Salamandra salamandra). 268 In den beiden letzten Jahren arbeitet Alma M ahler an seiner Seite. Nach dem Tod Gustav Mahlers
bietet ihr Kammerer eine Stelle als seine Laborassistentin an, die sie annimmt. Zu
ihren Aufgaben gehört die Durchführung der Experimente und ihre Protokollierung. In ihren späteren Aufzeichnungen erinnert sie sich, wie sie und Kammerer
die Salamander beobachteten:
Es handelte sich damals um die Mi mikrie [sie] der Eidechsen. Schwarze Erde - rote
Erde - Veraenderung der Koerperfarbe der Tiere .269
lamarckistischen Laboratoriums mit einem Schwerpunkt auf der experimentellen
Biologie umso bemerkenswerter. Unter den Mitarbeitern des Vivariums macht sich
Kammerer einen Namen als virtuoser Experimentator, der ein besonderes Geschick
im Umgang mit Modellorganismen wie Gottesanbeterinnen, Grottenolmen, Krö ten und Salamandern beweist.
Die Experimente mit Salamandern, deren Farbwechsel er untersucht, bilden
den Ausgangspunkt für Kammerers weitere Beschäftigung mit der Mimikry. Auf
seine Versuch e wird im Folgenden im Detail eingegangen, weil sie die Grundlage
für seine theoretischen Überlegungen zur Humanmimikry darstellen. Unter
Menschen beobachtet der Milieutheore tiker, was er bereits an den Salamandern
feststellt, und zwar dass identische Umweltverhältnisse zur Entwicklung organis mischer Ähnlichkeiten bei unterschiedlichen Lebewesen führen können.
Er tauscht das Herbarium mit dem urbanen Raum ein, wo er die Menschen
in ihrer Umgebung beobachtet. Durch die Fenster der Versuchsanstalt blickt
Kammerer auf das Treiben in der Hauptstadt des Vielvölk erstaats. Der Alltag ermiteinander vergleichbar, worauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann.
Eine (neue) intellektuelle respektive wissenschafrsgeschichdiche Biografie Kammerers
wäre ein inreressanres Forschungsprojekt. Vgl. zur Biografie die ältere Arbeit : Arthur
Koesder, Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer oder Für eine Vererbungslehre ohne Dogma, Reinbeck b. Hamburg, 1974. Vgl. zur wissenssoziologischen Darstellung Wiens: Sander Gliboff, ,,The case of Paul Kammerer. Evolution and experimenration
in ehe early 20th cenrury", in:journal ofthe history ofbiology 39 (2006), 525-563.
Der Farbwechsel der Tier e fasziniert den Biologen bereits seit seiner Kindheit. Als
12-jähriger Junge experimentiert er mit gefleckten Erdmolchen, die er abwechselnd auf gelber Lehmerde und schwarzer Gartenerde hält. Nachdem er im Jahre
1904 einen ersten größeren Artikel veröffentlicht hat 270 , vergehen weitere neun
Jahre, bis er schließlich 1913 die Ergebnisse seiner Versuche über die „Schutz- oder
Deckfärbung", wie er die Mimikry unter anderem nennt, im Archiv für Entwicklungsmechanik publiziert. 271
268 Kammerer wählt die ältere Bezeichnung Salamandra maculosa Laurenti. Der hormonell
verursachte Farbwechsel wird heute nicht mehr zu den Mimikryphänomenen gezählt.
269 Alma Mahler-Werfel, Der schimmernde Weg [Typoskript], 45, in: Klarmann - Weifel- Collection, University of Pennsylvania. Im Folgenden werden Dokumente aus Alma MahlerWerfels Nachlass mit der Sigle ,KWC' ausgewiesen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass
der Salamander keine Eidechse ist, wie sie schreibt, sondern eine zu den Amphibien zählende Schwanzlurche . Kammerer verliebt sich in Alma Mahler, ohne dass sie seine Gefüh le erwidert. Im Archiv der University of Pennsylvania liegen die Kopien von zwölf erhaltenen Briefen, die sie mir der Maschi ne abgeschrieben hat. Kammerer verfasse, wenn man
den Aussagen Alma Mahlers Glauben schenken darf, über hundert Briefe. Sie sind leider
nicht erhalten geblieben.
270 Paul Kammerer, ,,Beitrag zur Erkenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse von Salamandra atra u. maculosa", Archiv für Entwicklungsmechanik 17 (1904), 165-264.
271 Ders., ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen . 4. Mitteilung", Archiv für Entwicklungsmechanik 36 H. 1-2 (1913), 5-193. Vgl. zur Bezeichnung der Mimikry als einer „Schutz oder Deckfärbung " ebd. , 136.
208
HUMANMIMIKRY
BIOLOGIE
209
Abb. 15: Paul Kammerer, Neuvererbung oder Vererbung erworbener Eigenschaften.
Erbliche Belastung u . erbliche Entlastung , Stuttgart/ Heilbronn 1925, o.S.
Das Experiment besteht aus zwei Teilen. Zunächst werden die durch Umweltein flüsse induzierten organischen Transformationen untersucht und anschließend die
Vererbbarkeit der zuvor erworbenen Eigenschaften. 272 Auf der Abbildung 14 ist das
sogenannte „Kammerer-Terrarium" 273 zu sehen; die Abbildung 15 zeigt drei seiner
Ausführungen. Da s Terrarium besteht aus Eisen, das durch mehrmaligen Ölf arbanstrich vor Oxidation geschützt wird. Eine entscheidende Bedeutung m isst
Kammerer der Lage des Terrariums zu, denn der Lichteinfall und die Regulierung
der Beleuchtu ngsdauer werden für den Farbwechsel als ausschlaggebende Faktoren
angesehen. So werden die Tiere der direkten Sonneneinstrahlung , am besten in
einem hell beleuchteten Flur mit Oberlichtern, ausgesetzt. Di e seitlichen Glasfens ter sollen für eine ausreichende Lichtdurchflutung sorgen . Die Vorrichtung erlaubt
272 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den ersten Teil des Experiments, in dem
der Erwerb von Merkmalen qua Mimikry untersuche wird . Auf den zweiten Teil der Experimente zur Vererbung soll an dieser Steller nur kurz eingegangen werden, da sie keinen unmittelbaren Bezug zur Mimikry aufweisen: Gefleckte und gestreifte Salamander werden
miteinander gekreuzt. Gemäß den Mendelschen Gesetzen spalren sich die Merkmale auf:
Die Fleckung erweist sich als dominantes, die Streifung als rezessives Merkmal. Zu einem
den Mendelschen Gesetzen widersprechenden Ergebnis kommt Kammerer , als er frei lebende Fleckensalamander mit experimentell gezüchteten Streifensalamandern kreuzt. Hier wird
eine Mischvererbung vermutet. Die Individuen der Fl-Generarionen weisen eine Reihenfleckung auf, das heißt, dass eine Spalrung gemäß der Mendelschen Erbgesetze nicht stattfin det, da das veränderte Soma die neu erworbenen Eigenschaften an die Keimzellen weitergibt.
Kammerer führt nun Transplantationen durch, indem er das Ovarium gefleckter Weibchen
in (narur -)gestreifte Individuen einsetzt. Das Ergebnis lautet wie folge: Sämtliche Individuen
dieser Generation sind gefleckt. Bei Streifensalamandern, die in den Farbexperimenten aufgezüchtet wurden, kommt er zu einem ähnlichen Befund. Eine Kreuzung mit einem gefleckten Salamander hat reihenfleckige , eine Kreuzung mit einem gestreiften Salamander hat
ununterbrochen gestreifte Salamander zur Folge. Dies ist zunächst erstaunlich, weil die
Streifung das rezessive Merkma l darstellt . Der entscheidende Fakto r muss also im Salaman der gefunden werden, in den die Eierstöcke transplantiert wurden. Offensichtlich sin d der
Erwerb von Eigenschaften und die somatische Induktion nur dann möglich, wenn es sich
um neue Merkmale handelt . Paul Kammerer, ,,Mendelsche Regeln und Vererbung erworbe ner Eigenschaften" [ca. 1911], Verhandlungen des Naturforschenden Vereines in Brünn XLIX,
72-110. Kammerer greift auf Karl Dertos Theori e der somatischen Induktion und der Parallelinduktion zurück, um die Veränderung des Erbguts zu erklären : Bei der somati schen Induktion erfolge zunächst der Erwerb neuer Merkmale über das Soma, das morphogene Reize
aussendet, wodurch sich das Keimplasma verändere. Eine Parallelinduktion, bei der die Milieureize sowohl an das Soma als auch an die Keimzellen weitergeleitet werden, wird dagegen
von Kammerer ausgeschlossen. Karl Derto, Die Theorie der direkten Anpassung und ihre Bedeutu ngfür das Anp assungs-und Deszendenzproblem . Versuch einer methodologischen Kritik des
Erklärungsprinz ipes und der botanischen Tatsachen des Lam arckismus, Jena 1904. Vgl. zu historischen Theorien der somatische n Induktion: Cheryl A. Logan , ,,Overheared Rats, Race,
and ehe Double Gland . Paul Kammerer, Endocrinolog y and ehe Problem of Somacic Induction ",J ournal of the history of biology 40 (2007), 683-725.
273 Przibram, ,,D ie Biologische Versuchsanstalt in W ien", 250.
Abb. 14: Hans Przibram, ,,Die Biologische Versuch sanstalt in Wien",
Zeitschrift for biologische Technik und Methode , I, H. 1 (1908), 234 -264, 250.
210
BIOLOGIE
HUMANMIMIKRY
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Abb. 16: Paul Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen . 4. Mitteilung",
Archiv for Entwicklungsmechanik 36 (1913), 4-210, Tafel III, o.S.
den Austausch der Bodenfüllung; die Regulation der Feuchtigkeit ist durch ein
Drainagesystem gewährleistet. Die Experimentalanordnung
berücksichtigt vor
allem zwei Umweltfaktoren: die Beleuchtungsintensität und die Farbe des Untergrundes (gelbe Lehmerde oder schwarze Gartenerde) .
Der Feuersalamander besitzt die Grundfarben gelb und schwarz. Auf der
schwa rzen Oberseite sind gelbe oder orangerote Flecken oder Streifen zu sehen,
während die Unterseite grauschwarz bis braunschwarz ist .274
Kammerer beginnt mit 40 adulten Individuen, die er entlang einer Bahnstrecke
in den Buchenwäldern bei Tullnerbach und Purkersdorf in Niederösterreich einfängt. Im Verlauf des Experiments schenkt er jenen Musterungen seine besondere
Aufmerksamkeit, die entweder als Fleckung oder Streifung auf der schwarzen
Grundfarbe erscheinen. Neben den schwarzen und gelben Pigmenten wird zusätzlich zwischen einem abgestuften Rot und einer weiß-gelben Farbmischung unterschieden . Gemessen werden die Elementareigenschaften des Farbkleides , die gradu elle Abstufung von Gelb oder Schwarz und die als symmetrische oder unsymmetrische
Anordnung auftretenden Muster in Flecken- oder Streifenform .
Kammerer füllt das Terrarium mit weißer Erde , schwarzer Gartenerde und gelber Leh merde . Außerdem legt er den Untergrund mit schwarzem oder weißem
Papier aus. Andere Farben als schwarz und rot zeigen offenbar keine Wirkung. Da
die Salamander das direkte Sonnenlicht meiden , die Reizung des Sehnervs aber
aussch laggebend ist, erfordert die Lichtexposition das größte Geschick des Expe 274 Die schwarz-gelbe Musterung kann auf ein Giftdrüsen indizierendes Warnsignal hinweisen oder aber der optisch en Auflösung von Körperumrissen (Somatolyse) dienen.
Abb . 17: Paul Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen. 4. Mitteilung",
Archiv for Entw icklungsmechanik 36 (1913), 4-210 , Tafel IV, o.S.
rimentators. Vor allem die adulten Salamander gewöhnen sich nur langsam an ein
neues Milieu. Kammerer entscheidet sich aus diesem Grund dagegen , kleine „Versteckmittel[ )" 275 wie steinumrahmte Moosnester aus dem Terrarium zu entfernen.
Damit die Salamander dennoch dem Licht ausgesetzt werden können, werden
Wasserbecken und Futternapf in entgegengesetzten Ecken aufgestellt. Auf diese
Weise zwingt er die Tiere, aus dem Versteck zu kriechen und sich durch die unbe schatteten Bereiche zu bewegen. Kammerer weiß, dass sie ihrer Gewohnheit
gemäß oft stundenlang auf dem Weg liegen bleiben. Auf diese Weise wird ein
Höchstmaß an Lichtexposition erreicht.
Kammerer gelangt zu den folgenden Ergebn issen: Auf gelben Böden nehmen
die gelben Pigmente zu (Abb. 16)276 , während sie auf schwarzen Böden abnehmen
und in ihrer Vermehrung gehemmt werden. Das Gegenteil gilt für die schwarze
Grundfarbe: Auf schwarzem Grund nimmt die schwarze Grundfarbe vergleichsweise zu (Abb. 17)277 und verringert sich auf gelbem Grund . Die Inhibition wird
durch Transplantationen schwarzer und gelber Hautpartien nachgew iesen, deren
Wachstum gezielt unterdrückt wird.
275 Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen. 4. Mitteilung", 16.
276 Auf der Abbildung 16 sind die Farbveränderungen bei einem Exemplar zu sehen, das fünf
Jahre auf schwarzer Erde gehalten wird. ,A' zeigt die Veränderungen auf der Oberseite, ,b'
auf der Unterseite, ,c' auf der rechten Flanke. Das Tier stammt von einer unr egelmäßig
gefleckten Elterngeneration ab, die auf gelber Lehmerde sich stark gelb färbt.
277 Die Abbildung 17 zeigt ein Exemplar, das auf gelber Lehmerde gehalten wird. Es stammt
ebenfalls von Eltern ab, die sich auf gelber Lehmerde stark gelb färben.
212
HUMAN MIMIKRY
BIOLOGIE
Kammerer gerät in einen theoretischen Erklärungsnotstand. Zwar sind der
physio logische und morphologische Farbwechsel im neotenischen Larvenstadium
bekannt, aber bisher wird die Farbanpassung der adulten Salamander nicht darauf
zurückgeführt. Man ist vielmehr der Meinung, dass adulte Salamander und ältere
Larven die Farben ihrer Umwelt nicht mehr annehmen· können .
Wei l die schwarzen und gelben Chromatophoren ein e hohe Konzentration bei
adulten Salamandern aufweisen, kann die beim physiologischen Farbwechsel vorliegende Chromatophorenbewegung
ausgeschlossen werden . Deshalb schließt er,
dass ein morphologisches Wachstum bei den ausgewachsenen Tieren vorliegt und
die Neubildung von Chromatophorenzellen durch veränderte Umweltbedingun gen initiiert wird. Der Befund, dem zufolge ein morphologisches Wachstum noch
im adulten Stadium möglich ist, ist insofern wichtig, als hiermit der Beweis für die
Umweltinduktion erbracht wird. Die genetische Mutation oder die natural selection werden damit ausgeschlossen.
Kammerer unterscheidet zwei Rezeptions - und Induktionstypen von Umweltreizen. Zum einen die Fotorezeption, bei der die Reize direkt an das Nervensystem
weitergegeben werden. Auf diese Lösung kommt er nach der Verdunkelung des
Terrariums und der Schädigung der Sehnerven: Fällt zunächst die Fotorezeption
aus, so auch der Farbwechsel. Die Lichtintensität ist dagegen als Faktor zu vernach lässigen. Der andere, ebenfalls weniger ins Gewicht fallende Faktor ist die über die
Haut wahrgenommene Bodenfeuchtigkeit, die das Schwarzwachstum entweder
hemmt oder das Gelbwachstum fördert.
Wie Organismus und Umwelt miteinander kommunizieren, bleibt allerdings
noch immer unklar. Er sieht seine Stärke, wie er noch 1914 offen bekundet 278 , nicht
in der theoretischen Biologie. Kammerer entwirft ein theoretisches Modell, das sich
an der Physik orientiert. Seine Theorie liegt gebündelt in Das Gesetzder Serie und in
seinem Lehrbuch Allgemeine Biologievor. 279 Er nimmt an, dass das Milieu Reize in
Form von Wellen aussendet. Im Zusammenspiel von System und Umwelt wird
sodann der morphogenetische Prozess initiiert. Bereits Helmholtz stellt das für die
Biologie wirkungsmächtige Theorem auf, dass alle Gesetze Bewegungskräfte erfassen. 280 Zu der Gruppe der Physikalisten unter den Biologen, zu denen unter ande rem die Vererbungsforscher August Weismann und Francis Galton gehören 281 , ist
auch Kammerer hinzuzuzählen, der ebenfalls von der „Reduktion aller Energiearten
auf Bewegung"282 ausgeht. So ist es möglich, die morphogenen Reize als energetische
278 Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen", 135.
279 Wie schon ein Rezensent bemerke, bewege sich die Abhandlung Das Gesetz der Serie im
unsicheren Zwischenterrain von theoretischer Biologie und Populärwissenschafr. H . L.
Honigmann, ,,[Rezension] Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den 1,17,'ederholungen im Lebens- und im Weltgeschehen", Die Naturwissenschaften . Wochenschrift für
die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik, 7 Jg., H 44 (31.10.1919),
814.
280 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 559.
281 Vgl. ebd. 557.
2 13
Impulse zu begreifen.
Es wird von einem energetischen Ungleichgewicht ausgegangen, das einem ausgeglichenen Zustand entgegenstrebt . Eine Annäherung an dieses Endstadium
zeigt sich in der zunehmenden Anähnlichung von benachbarten Körpern. Zwei
Körper imitieren, das heißt, sie werden sich ähn lich, weil sie im Begriff sind , sich
energetisch anzugleichen. Aus diesem Grund ist Imitation gleich Anpassung.
Anpassung wiederum bedeutet die Aufhebung von Differenzen, wie sie zwischen
organismischem System und Umwelt herrschen.
Allerdings beeinflussen sich die Körper nicht direkt, verdankt sich ihre Ähn lichkeit doch dem Milieu, in dem sie leben. Die Lebewesen spiegeln also weniger
ihre gegenseitige Ähnlichkeit wider als vielmehr jene zur Umwelt, die sie nach
ihrem Bild formt, genauer: nicht die Organismen sind sich einander ähn lich , sondern sie ähneln ihrer gemeinsamen Umwelt. Derlei Konvergenzen, die sich an
analogen Merkmalen zeigen, erklärt der Darwinismus mithilfe der natürlichen
Selektion. Kammerer lehnt dies dezidiert ab:
Gleiche Gegenden bieten aber gleiche Lebensbedingungen: gleiches Klima, gleichen
Boden . Unaufhaltsam bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass es nicht die indirekten
Wirkungen der Zuchtwahl ·sind, die Tier - und Pflanzenarten schöpferisch umge stalten - sondern direkte Wirkungen der Umwelt. 283
D ie während der Lebensspanne eines Individuum s erworbenen Eigenschaften
können anschließend an die Nachkommen vererbt werden. Die Entstehung einer
neuen Art erfolgt nicht mehr graduell über lange Zeitstrecken; sie kann vielmehr
innerhalb der verhältnismäßig kurzen Lebensspanne des Individuums beobachtet
werden. Es entspricht Kammerers „unumstößliche[r] Überzeugung", die „Ma cht
des Milieus und die Bedeutung des Individuu ms für die Geschichte seines Stam mes" hervorzuheben. 284 Die Ähnlichkeit individueller Merkmale mit der Umwelt
- wie zum Beispiel die Ähnlichkeit der Farbe oder Morphologie - soll das zentrale
Indiz für die Richtigkeit seiner Theorie sein.
282 Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von d. Wiederholungen im Lebens- u{nd}
im Weltgeschehen, Stuttgart/ Berlin 1919, 409.
283 Ebd ., 214. [Hv. v. K. C.JDas Milieu, so Kammerer, gleiche einem energetischen Kraftfeld,
dem der Organismus ausgesetzt ist, und von dem die Ausbildung von Eigenschaften abhänge. Lamarcks ältere Lehre vom Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, die einen
direkten Einfluss noch ausschließt (vgl. Lamarck, Zoologische Philosophie, I, 177 f.), wird
also vom Neolamarckismus erweitere.
284 Kammerer, ,,Vererbung erzwungener Farbänderungen . 4 . Mitteilung", Archiv für Entwick lungsmechanik 36 H . 1-2 (1913), 8.
2 14
HUMAN MIMIKRY
8.5.2. Intuition und Begriffsbildung in der Biologie
Die Experimente werden kontrovers diskutiert. 285 1935, neun Jahre nach Kamme rers Suizid, ruft sich Ludwik Fleck die Salamanderexperimente wieder in Erinne rung. Obwohl er sich den negativen, oftmals sehr polemisch ausfallenden Ein schätzungen vieler Biologen nicht anschließt, führt er dessen Arbeiten als ein
,,krasses Beispiel "286 für die Wunschvorstellungen eines fanatischen Wissenschaft lers an. Aus Kammerers engstem Umfeld werden ähnliche Stimmen laut . Von
Alma Mahler, seiner Laborassist ent in, erfährt man ähnliches. ,,Auch dieser Versuch [d.i. das Salamanderexperiment] - den ich mit ueberpruefte, war zu schnell
publiciert und nicht genuegend beobachtet." 287
Aufschlussreicher sind ihre Aussagen zum „mnemotechnischen Versuch mit
Gottesanbeterinnen" 288 , das erste Experiment, an dem sie mitarbeitet. Wie später
bei den Salamanderexperiment en sollen sich auch hier einige Unstimmigkeiten
bemerkbar machen.
Sie waren nicht dazuzubringen, ihre schoene Gewohnheit, Kammerer zu Liebe, aufzugeben. Ich fuehrce Protokoll. Und zwar sehr genau . Doch war dies Kammerer
nicht reche! Ein ungenaues Protokoll mit einem positiven Ergebnis waere ihm lieber
gewesen. Und ich sage nicht, dass es schwindelhaft in ihm war, nein, er wuenschte
die Ergebnisse seiner Forschung so gluehend herbei, dass er unbewusst von der
Wahrheit abweichen konnte. 289
285 Vgl. Heinrich Ernst Ziegler, Die Vererbungslehre in der Biologie und in der Soziologie. Ein
Lehrbuch der naturwissenschaftlichen Vererbungslehre und ihrer Anwendungen auf den Gebieten der Medizin, der Genealogie und der Politik, zugleich zweite Auflage der Schrift über die
Vererbungslehre in der Biologie, Jena 1918, 205-209 ; Oscar und Günter Hertwig, Allgemeine
Biologie, 6. und 7. verbesserte und erweiterte Auflage, Jena 1923, 627; Siegfried Tietze, Die
Lösung des Evolutionsproblems, München 1913, 17; Sinai Tschulok, Deszendenz/ehre, Jena
286
287
288
289
1922, 227. Dürken zweifele das Ergebnis an, da die Auswahl der Modellorganismen keine
objektiven Ergebnisse erwarten ließen . Er nimmt an, dass mit Salamanderarten aus ande ren Regionen ein anderes Ergebnis erzielt worden wäre. Bernhard Dürken, ,,Der Einfluß
der Umgebun g auf die Zeichnung des Feuersalamanders", Die Naturwissenschaften . Wochenschriftfür die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik 7. Jg. H.
51 (19.12.1919) , 981-983. Andere wiederum verwerfen seine Experimente gänzlich und
denunzieren sie als Fälschungsversuche. O tto Naegeli, Allgemeine Konstitutions/ehre in naturwissenschaftlicher und medizinischer Betrachtung, Berlin 1927, 49 f.
Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 51.
Alma Mahler -Werfel, Der schimmernde Weg [Typoskript], 45, in: KWC.
Ebd., 44.
Ebd., 45. Entgegen der Gewohnheit der Gottesanbeterinnen, die Nahrung im Hellen zu
fressen, reicht Mahler ihnen das Futter in dem verdunkelten unteren Bereich des Käfigs.
Es soll damit bewiesen werden, dass das im neuronalen Gedächrnis gespeicherte Verhalten
in die Vererbungssubstan z aufgenommen und vererbt wird .
BIOLOGIE
2 15
Wenn nach Georges Canguilhem die Aufgabe der Biologie darin besteht, auf „experimentelle Weise biologisch authentische Begriffe zu bilden" 290 , so stellt diese Auffassung die Gegenposition zu Kammerers intuitivem Wissenschaftsverständnis dar.
Für Kammerer dient das Experiment dazu, die Intuition zu verifizieren .
Dieser Vorgang ist insofern aufschlussreich, als darin seine Haltung zur
Begriffsbildung zum Ausdruck kommt. Im Rahmen seiner Experimente wird er.
mit der Benennungsfunktion naturwissens chaft licher Begriffe konfrontiert. Entscheidend ist für ihn das Zusammenspiel von Gefühl und Verstand, von Alltagsbeoba chtung, Intuition und Inspiration. Die
Begriffsbildung hat ja den Zwiespalt verursache, den wir beseitigen wollen : überall
verführt ja die bloße Synthese zu Widersprüchen, wofern sie nicht immerwährend
von ergänzender Synthese begleitet wird . [. . .] Man mag darum immerhin selbst bei
nüchternster wissenschaftlicher Forschung das Gefühl, die Intuition und Inspirati on nicht unterschätzen; man darf nur nicht versäumen, Dinge, deren Anwesenheit
uns der Instinkt nur in verschwommenen Umrissen andeutet, alsbald in den Brenn punkt des Intellekts zu rücken .29 1
Tatsächlich fordert er di e Bildung ,irrationaler' Begr iffe. Maßgeblich geprägt
wird seine Auffassung von der Phänomenologie Henri Bergsons. 292 Die Vorherr schaft der Rationalität anfechtend, verortet Bergson in Materie und Gedächtnis
die Begriffsbildung im Erlebnis, das heißt im ständigen Vollzug des Lebens .
Bergson geht von einem Instinkt der Begriffsbildung aus , der in der anthropolo gischen Grundausstattung des Menschen angelegt ist. Ihm darin beipflichtend,
nimmt Kammerer Abstand von der Vorstellung, der Begriff sei eine „prägnant wissenschaftliche[ J Definit ion"; um mit ihn en arbeiten zu könn en, muss man
vielm ehr verstehen, ,,wie sie [d.s. die Begriffe] uns im täglichen Leben vertraut
wurden." 293 Seine Absicht, Bergsons Lebensphilosophie für die Wissenschafts theorie fruchtbar zu machen, zielt darauf ab, die Distanz zwischen Leben und
Wissenschaft zu verringern, um sie schließlich vollständig einziehen zu können.
In der Verschmelzung von Alltag und Wissenschaft bildet sich nach Kammerer
eine Zone des Unbewussten heraus, in der der M ensch seine verloren geglaubte
Instinktsicherh eit wiedererlangen kann. So wie die meisten Handlungen im Alltag unbewusst ablaufen, so darf und soll man sich den intuitiv gewählten Begriffen anvertrauen. Denn nirgends beweist sich die Funktionalität von Begriffen für
ihn so gut wie im Alltag, wenn die Angemessenheit von Begriffen im unmittelba 290 Georges Canguilhem, Das Experimentieren in der Tierbiologie, Berlin 2001, 5.
291 Paul Kammerer, Gefühl und Verstand. Monatsblätter des Deutschen Monistenbundes Ortsgruppe Hamburg e. V (Sonderdruck), 1918, o. S. (Kammerer Papers, B Kl28)
292 Ebd. Kammerer beruft sich hier auf die folgende, Bergsons Philosophie kritisierende Darstellung: Julius Schaxels, ,,Bergsons Philosophie und die biologische Forschung", Die Na turwissenschaften. Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medi z in und
der Technik, l. Jg, H. 33 (15.8.1913), 795 -796 . Schaxels Kritik teilt er allerdings nicht,
sondern er betont den Anteil der Intuition an der Begriffsbildung .
293 Kammerer, Gefühl und Verstand, o.S.
216
HUMANMIMIKRY
BIOLOGIE
ren und unbewussten Gebrauch überprüft werden kann. ,,Bergsons geistvolle[r]
Vergleich des Bewusstseins mit einem leuchtenden Kern [... ], der sich rings um
den Kreis einer dämmernden Strahlenzone ins nächtliche Dunkel verliert" 29 4, lädt
den Biologen zum Fortdichten ein.
und M enschen - Halt ."297 Auf Befunde der Anthropologie und Ethnologie sowie
auf eigene Beobachtungen zurückgre ifend, hält er es für erwiesen, dass Menschen
einander ähn lich werden, wenn sie nur lan ge genu g zusammen leben.
Vergleichen wir das Bewußtsein noch konkreter mit einem Scheinwerfer, dessen
Brennpunkt einen bestimmten Punkt der Landschaft taghell erleuchtet, während
eine kreisförmige Zone zunehmend schwä cheres Licht empfängt, bis sie in vollstän diger Finsternis aufhört. Die Region intensivster Beleuchtung wäre unser ,Verstand',
das Clair -obscur des umgebenden Hofes unser ,Gefüh!' .295
Die Einbildungskraft ist keine Quelle des Irrtums, sondern das Fundament der
Begriffe, die, bevor es zu einer terminologischen Fixierung kommt, vorgefühlt
werden.
Der Mythos der Humanmimikry ist in diesem Clair -obscur von Ahnungen zu
situieren. Nicht das Experiment, sondern die Intuition verleitet zu dem Gedan ken, dass eine Mimikry des Menschen existiert. In dem Schwellenbereich von
Analyse und Intuition erscheinen nun der Mensch und das Phantasma der
Humanmimikry.
8.5.3. Humanmimikry.
Das Ähnlichwerden der Menschen
„Am gewaltigsten war diese Verwandlung
ins Ähnliche [... ], denn nichts macht
Menschen einander ähnlicher als
miteinander in der Ehe leben".
(Walter Benjamin, Autobiographische
Schriften, Mai/ Juni 1931)
Ohne den zuvor behandelten wissenschaftstheoretischen Hintergrund sind Kam merers Verwendung des Mimikrybegriffs und seine Überlegungen zur Human mimikry nicht vollständig zu begreifen. Ein Beispiel für sein intuitives Verständ nis wissenschaftlicher Begriffe stellt die folgende Passage dar, in der die Mimikry
wie folgt erklärt wird :
Im englischen Terminus ,Mimikry' (,Nachäffung') gab sich denn auch frühzeitig,
seit Wallace und Darwin, der Imitationscharakter der ganzen Erscheinung unzwei deutig zu erkennen, obschon die genannten und alle späteren Autoren ihre Erklä rung auf anderen Wegen suchten .296
Wie die „durchwegs experimentell gestützten Beispiele vermuten lassen", macht
die Farbanpassung nämlich keineswegs bei den „höchsten Wirbeltieren - Säugern
294 Ebd.
295 Ebd.
296 Kammerer, Das Gesetz der Serie, 211.
217
Die Verähnlichung der energetischen, letzten Endes also der Gesamtbeschaffenheit
nennen wir Nachahmung (Imitation): der Ausdruck darf ja nicht dazu verleiten,
einen anthropozentrischen Begriff damit zu verbinden! Der Terminus ,Imitation'
möge also nicht dahin mißverstanden werden, als wollten wir im wechselseitigen
,Nachahmen' beliebiger, auch lebloser Dinge eine Willenshandlung erblicken. Eher
ist umgekehrt die willkürliche Nachahmung des Menschen und des Tieres nichrs
anderes als ein spezieller und besonders lebhafter Ausdruck des universellen imitatorischen Naturprinzipes, das sich überall Geltung verschafft - angefangen vom
mechanischen Energiestrom (aus einem Maximum in ein Minimum) durch alle
Grade bis zum organischen, unbewußten N achahmungstrieb und schließlich empor
zur höchsten Stufe wachbewußten Lernens und Nacheiferns. 298
Die Mimikry repräsentiert für ihn ein Beispiel par excellence für die Imitation
von „benachbarte[n] Dinge[n]".
Ich halte von der Macht des Milieus sehr viel: und auch darin wäre ja - wie bei
Besprechung des Mimikryproblemes (S. 214) eingehend erörtert - ein Imitations vorgang zu sehen, nur eben in seiner Wirkung an den einander ähnlich gewo rdenen
Lebewesen ein mittelbarer statt des unmittelbaren, wenn sie selber einander dank
ihrer Nachbarschaft nachahmen und dadurch ähnlich werden. 299
Durchgehend verwendet er der Begriff der ,Nachbarschaft' (,Benachbarung') als
ein Synonym für ,Milieu'. 300 ,Nachbar' und ,Nachbarschaft' sind in diesem Zitat
Begriffe an der Schnittstelle von Soziologie und Biologie. 301 Der ,Nachb ar' leitet
sich etymologisc h von ,Wohnen' ab; Nachbarschaft wiederum stellt eine nach Max
Weber vormoderne, nicht auf Blutsverwandtschaft basierende Sozia lstruktur
dar. 302 Kammerer benutzt ,Nachbarschaft' beziehungsweise ,Benachbarung', in
Bezug auf ein öko logisches Zusammenleben von einander ähn lichen , aber nicht
(eng) miteinander verwandten Individuen. Dass er ,Nachbar'/ ,Nachbarschaft'/
,Benachbarung' im Kontext der Mimikrytheorie verwendet, entspricht der dama -
297
298
299
300
301
Ebd., 219.
Ebd ., 448 .
Ebd ., 359. [Hv. v. K. C.J
Ebd., 448.
Art. ,,Nachbar ", in: Deutsches Wörterbuch, hrsg. Jacob und Wilh elm Grimm, XIII, Sp. 2224. Art. ,,Nachbarschaft", in: Religion, Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für
Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. Hans Dieter Betz, u.a ., 4., völlig neu bearbeitete
Auflage, Tübingen 2003, VI, Sp. 3 f.
302 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft", in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. Horst Baier u.a.,
Tübingen 2001, Abt . 1, Teilband l, XXII, 122: ,,Der Nachbar ist der typische Nothelfer,
und ,Nachbarschaft' daher Trägerin der ,Brüderlichkeit' in einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vorwiegend wirtschaftsethischen Sinne des Wortes."
218
HUMAN MIMIKRY
BIOLOGIE
ligen Vorstellung, der zufolge Mimikryschmetterling
und Vorbild dieselbe ökolo gische Nische besetzen.
In der folgenden Passage geht er auf die Phylogenese der Mimikry ein. Kamme rer schreibt, daß die menschliche Nachahmung - gleichgültig, ob es sich um
ästhetische, psychische, physische oder soziale Mimesis ·handelt - ,,den Mimikryphänomenen der niederen Tiere untergeordnet werden darf, mit ihnen wesenseins
ist sie mir zuwider, so berührt es mich unangenehm, wenn ich sie an mir wiedererkenne, und ich trachte mich dagegen zu wehren, was mit einiger Anstrengung
gelingt ; ist sie mir lieb, etwa gar eine von mir verehrte , geistig hervorra gende Indi vidualität, so fühle ich mich durch ihr Wiederkennen bei mir selber angeregt und in
meinem Ehrgeiz befriedigt. In einem Falle war der Einschluß letztbeschriebener Art
so stark, daß er nachhaltig blieb und mir, der ich das Bild der betreffenden Persönlichkeit immer in mir trug, im Laufe der Jahre tatsächlich eine gewissephysiognomi sche und mimische Ahnlichkeit mit ihr einbrachte, die wiederholt von unbefangenen
und unbeteiligten Leuten spontan herausgefunden und hervorgehoben wurde,
obwohl ursprünglich nicht die leiseste Spur hiervon gegeben sein konnte. 307
· "303
!St.
Wie lebhaft die Energien danach drängen, ihre Spannungen, ihre Potentialgefälle
auszugleichen, und wie selbst entfernterer , geringer oder kurzer Nachbarschaft ausgesetzte Objekte bzw. Subjekte davon erfaßt werden können, beweist der im Reiche
des Lebendigen so sehr verbreitete spontane Nachahmungstrieb . Die schon besprochenen schützenden Ahnlichkeiten der Form, Farbe, Bewegung und Stellung gehören
hierher; was man gewöhnlich darunter versteht, mehr oder minder bewußte Nach-
ahmung von Gebärden, Handlungen und Trachten, tritt erst im höheren Tierreich
auf. Sprichwörtlich ist sie beim Affin {daher der Ausdruck ,Nachäjfung'), auch bei vielen Vögeln ist sie unverkennbar: Nachplappern der Papageien, Dohlen, Elstern, Stare; Nachsingen von Melodien durch Stare, Gimpel, Drosseln; Nachlernen großer
Repertoires fremder Vogelgesänge durch Spötter, Würger, Jarzer, Kanaris; Nachmachen von Bewegungen durch Würger, Eulen, Wendehals. [.. .] Man darf sich aber
unter diesen Nachahmungen keinen Prozeß vorstellen, der stets oberbewußten oder
gar zwecktätigen Charakter trägt; der dafür gebrauchte Ausdruck ,Nachahmungs trieb' kennzeichnet sein Instinktives, Unwillkürliches, das nun allerdings vom völlig Unbewußten angefangen alle Gradsrufen bewußten Gewahrwerdens erklimmen
kann. 304
Die menschliche Mimikry
tionslehre". 305
ist eine der „biologische[n] Konsequenzen
der Imita -
Um so sicherer erkennt man, daß die psychische, motorische und physiognomische
Nachahmung höherer Tiere mit Einschluß des Menschen den Mimikryphänomenen
der niederen Tiere untergeordnet werden darf, mit ihnen wesenseins ist. Seinen Gip felpunkt erreicht der Nachahmungstrieb beim menschlichen Kinde und ändert
beim Erwachsenen zwar seinen Charakter, ohne aber eigentlich schwächer zu werden.306
Sein eigenes Leben liefert ihm einen reichen Fundus von Beobachtungen,
Existenz des Mimikrytriebs bestätigen.
Kammerer,Das Gesetz der Serie, 355.
Ebd., 355. [Hv. v. K.C.J
Ebd., 211.
Ebd., 355. [Hv. v. K.C.]
Nicht nur sein Äußeres, sondern auch sein Sprachvermögen untersteht den Umwelt einflüssen.
Am besten zeigt Selbstbeobachtung, wie der Nachahmungsvorgang nach seiner psychischen Seite hin beschaffen ist: bei mir genügt es, daß ich mich wenige Wochen in
einer fremdsprachigen oder fremddialektischen Gegend aufhalte, um mit gewissen,
wenn auch vorübergehend angenommenen Zügen, zumal Sprechgewohnheiten der
dortigen Bevölkerung in meine Vaterstadt heimzukehren - z.B. aus Berlin berlinerisch redend; aus Triest italienisch denkend und stets im Begriffe, was deutsch zu
sagen ist, zuerst auf italienisch auf die Zunge zu nehmen. 308
Warum ähneln sich Familienmitglieder? Anhand der Ähnlichkeit der Geschwister
will er das Verhältnis von Vererbung und Anpassung erklären. Es genügt ihm zufol ge nicht, die Gründe für deren „Familienähnlichkeit"
ausschließlich in der
,,gemeinsame[n] Abstammung" zu sehen .309 Stattdessen müsse von einer Familien ähnlichkeit ausgegangen werden, die aufgrund des gemeinsamen Milieus zustande
gekommen ist. Deshalb ist es angemessen, den Begriff der Familienähnlichkeit auf
die Ehepartner auszuweiten. 310 Anhand des Ehe - und Familienlebens lasse sich vorzüglich zeigen, wie Menschen, die zusammenleben, zwangsläufig ähnlich würden,
und zwar sowohl was ihren Habitus anbelangt als auch ihre äußere Gestalt.
Unter anderem geht dies noch daraus hervor, dass die Anähnlichung keineswegs
bloß zwischen Eheleuten stattfindet, wo man allenfalls die eheliche Substanzmischung, Einmengung männlicher Substanzen in die weibliche, zur Hand hätte, son-
die die
Nach ebenso kurzer Zeit eines regen, wohl gar täglichen Verkehres mit irgendeiner
Persönlichkeit - es braucht nicht einmal persönlicher Verkehr, sondern darf Bewun dern und Sehen, z.B. eines Kapellmeisters oder Schauspielers, von Ferne sein ertappe ich mich darauf, ihre Gesten und Redensarten, Tonfall und Gangart anzunehmen. Dies fast unabhängig davon, ob mir die Person sympathisch ist oder nicht:
303
304
305
306
219
307 Ebd., 357. [Hv. v. K.C] Diese Passage besitzt einen biografischen Hintergrund . Der be-
wunderte Kapellmeister, zu dem Kammerer eine „physiognomische und mimische Ähnlichkeit" erkennt, ist vermutlich Gustav Mahler.
308 Ebd., 357.
309 Ebd., 353.
310 Vgl. auch Hermann Friedmann, Die Konvergenz der Organismen. Eine empirisch begründete Theorie als Ersatz für die Abstammungslehre, Berlin 1904, 185: ,,Wir können die unendlich große Annäherung in den Organisationen der Gatten wohl als einen Ausfluß der in
überaus langer Zeit wirkenden direkten Konvergenz und ihrer Folgeerscheinungen ansehen. Für diese Annahme bietet auch die tägliche Beobachtung reiches Material, und das
Ähnlichwerden der Ehegatten, das ein jeder Mensch, der mit offnen Augen durchs Lebens
geht, bis auf viele Einzelheiten hinein beobachten und studieren kann, ist eine beredte
Warnung gegen die Überschätzung der Vererbung."
220
BIOLOGIE
dem in vielleicht beschränkterem, aber immerhin deutlichen Grad zwischen Haus genossenjeglicher Art. Selbst von Geschwistern sowie von Eltern und Kindern und
dass die eingeborene Bevölkerung in „manchen Fällen von Europäern gar nicht zu
unterscheiden" 315 ist, wenn beide Gruppen lange genug zusammenleben.
Nicht nur in der außereuropäischen
Feme, sondern auch in der ,Alten W elt '
entdeckt Kammerer vergleichbare Assimilationsprozesse. Das städtische Leben ist
ein einziges soziales Experiment. 316 Über die multikulturelle Gesellschaft Wiens
inmitten des österreichischen Vielvölkerstaates schreibt er:
anderen Nachverwandten iässt sich aussagen, dass sie, die ja Familienähnlichkeit
von Haus aus abstammungs- und vererbungsgemäß mitbringen, zwar nicht erst
ähnlicher zu werden brauchen, aber ähnlicher bleiben, wenn sie im Hause bleiben,
als wenn sie das Schicksal früh auseinandertreibt. 311
Die vererbte Familienähnlichkeit
wird also keineswegs abgelehnt, sond ern ledig lich hinsichtlich ihres Einflusses eingeschränkt. Ihm zufolge sind die Milieukräf te, die hinter der Familienähnlichkeit
stehen, dieselben, die die Mimikry hervorbringen.
Hier bleibt nur die Zuflucht zur Annahme eines reziproken Imitationsvorganges
offen, der gar keiner anderen Gelegenheit bedarf, als eben des langen Zusammenle bens und der davon herbeigeführten häufigen und dauernden Benachbarung, die
den energetischen Austauschprozessen die zu sichtbarem Ziele führende Intensität
verleiht. Am Grundsatze dieser Erklärung ändert sich nichts, wenn man über
Details, über Primäres und Sekundäres diskutieren könne: ob es etwa wie bei der
Nachäffung wehrhafter Tiere durch wehrlose (Mimikry s. str., vgl. S. 211) die
gemeinsame Umwelt ist, die Übereinstimmung der Lebenslage, die eine Konvergenz der anfänglich verschiedenen Physiognomien bewirkt; das wäre dann Imitati on nicht unmittelbar zwischen Gatte und Gattin, sondern mittelbar zwischen Gatte
und Milieu einerseits, Milieu und Gattin andererseits. 312
Er beruft sich auf Aussagen von Ethnologen wie Schweinfurch, der unter Mitglie dern eines afrikanischen Stammes beoba chtet haben will, dass die Haut die Farbe
der roten Erde annimmt. 313 Es bleibt aber nicht bei der Feststellung äußerer Ähn lichkeiten. Den Einfluss des Milieus macht Kammerer auch an Charaktereigen schaften fest, die wie morphologische Merkmale geprägt werden . Kammerer
stimmt Walter Bagehot zu, der die kulturelle Assimilation in Amerika auf eine
ähnliche Weise als einen kontinuierlichen Prozess beschreibt.
In den Vereinigten Staaten beobachtet man, dass die englische der einheimi schen Bevölkerung immer ähnlicher wird und europäische Einwanderer mit der
Zeit ihre kulturelle Identität verlieren. 314 Aus Asien sind vergleichbare Beobach tungen bekannt, die von Kammerer referiert werden. Während ihres längeren Auf enthaltes in Japan und China nehmen Europäer asiatische Züge an, liest er beim
japanischen Anatomen Buntaro Adachi. Auch außerhalb Europas wird beobachtet,
311
312
313
314
22 1
HUMAN MIMIKRY
Kammerer,Das Gesetz der Serie, 354.
Ebd., 126.
Ebd., 219.
Walter Bagehor, Ursprung der Nationen, Leipzig 1874, 44 : ,,Ein schwerfälligerEngländer
eignetsich oft in wenigen Jahren den lebhaften amerikanischen Blick an; ein Irländer oder
Deutscher erlernt ihn gleichfalls,selbst mit allen englischen Eigentümlichkeiten."
Daß dieser direkte Weg [d. i. der Umwelteinfluss] insbesondere bei durcheinander
gewürfelten Völkern gar keine Rolle spielen sollte, kann ich mir trotz hoch eingeschätzter Umweltmacht nicht denken. 317
Ein für ihn besonders interessanter Fall stellt die Anpassungsfähigkeit
der jüd ischen Bevölkerung dar. Im folgenden Zitat bezieht sich Kammerer, der jüdischer
Herkunft ist, auf die angeblich existierenden mimetischen Qualitäten des jüd ischen Volks.
Interessante Beobachtungen kann man an den Juden Österreichs machen . In manchen Städten existiert noch ein Judenviertel, dessen Insassen den bekannten Typus
in ausgeprägtester Weise zeigen. Die jüdischen Familien, die schon mehrere Generationen in der eigentlichen Stadt wohnen und den wohlhabenden Kreisen angehören, haben in vielen Beziehungen das Äußere der christlichen Bevölkerung ihres
Standes angenommen, während die eingesessenen jüdischen Gutsbesitzer z.B. Gal iziens in vielen Fällen von denen ihnen benachbarten polnischen Eheleuten gar nicht
zu unterscheidenden sind. [.. .] Bei gut drei Vierteln der gebildeten und wohlhabe nden Juden wird in Ländern wie Österreich, die überhaupt stark dunkel gemischt
sind, selbst ein guter Beobachter nicht mit voller Sicherheit die Abstammung aus
dem Äußeren feststellen können - das letzte Viertel fällt aber eben mehr auf als die
Majorität. 318
315 Kammerer bezieht sich hier auf die Untersuchungen von Buntaro Adachi und Theodor
Waitz. Vgl. Kammerer, Gesetz der Serie, 360.
316 In der Tat avanciert zu dieser Zeit der städtische Alltag Wiens zum wissenschaftlichen
Betätigungsfeld. Vgl. E. Hanslick, ,,Die Kulturpflichten Wiens und Österreich-Ungarns",
Schriften des Instituts für Kulturforschung in W'ien 2 (1916), 1-17.Vgl. Coen, ,,Living Precisely in Fin-de-SiecleVienna",519.
317 Kammerer, Das Gesetz der Serie, 359. [Hv. v. K. C.J
318 Ebd., 360. Seine wissenschaftlichen Gewährsmänner sind RudolfVirchow und Friedich
Hertz. Virchow vertritt die Auffassung, dass die körperlichen Auswirkungen von Assimilationsprozessenvor allem im Gesicht und an der Schädelform sichtbar werden. Kammerer
zitiert Friedrich Hertz, der sich seinerseits aufVirchow beruft. Friedrich Hertz, Rasse und
Kultur . Eine kritische Untersuchung der Rassentheorien, Leipzig 2 1915, 53: ,,Die Verschiedenheit der deutschen, der englischen, der spanischen, der polnischen Juden beruht sicherlich nicht allein auf einer fortschreitenden körperlichen Vermischung, obwohl eine
solche gewiß auch mitwirkt, sondern vielmehr auf der Nachahmung und Anpassung der
Muskelstellung und Muskelbewegung an volkstümliche Vorbilder."Vgl. Kammerer, Das
Gesetz der Serie, 359.
222
HUMANMIMIKRY
PSYCHIATRJE
223
Mit dem Soziologen und Historiker Friedrich Hertz teilt er die Überzeugung,
dass vor allem die Bewunderung die menschlichen Körper dazu bewegt, sich einander anzuähneln.
Es ist die Bewunderung, die die Veränderung des Körpers forciert . Hertz schreibt
weiter: ,Hervorragende Männer bewirken an zahlreichen Nachahmern eine auffällige Änderung des Gesichtstypus. Wir haben die Nietzsche -, Bismarck- , Lassalleköp fe sich vermehren sehen' .319
Alle Lebewesen scheinen bei Kammerer Teil eines Kosmos der Ähnlichkeiten zu
sein. Vermutlich würde er mit seinen Überlegungen bei jenen Wissenschaftlern
heftigen Widerspruch provozieren, die der Meinung sind, dass die Mimikry ein
Produkt der Einbildungskraft der Mimikryforscher ist, die Ähnlichkeiten in der
Natur sehen, wo in Wirklichkeit keine existieren. 320
In seiner offenen Ablehnung des darwinistischen Prinzips der natürlichen
Selektion und in seinen Aussagen zum mensch lichen Zusammenleben enthüllt
sich ein Verlangen, die Prinzipien der natürlichen Selektion und des Kampfs ums
Dasein zu überwinden. Nicht in der Konkurrenz oder gar Feindschaft, wie der
Sozialdarwinismus nicht müde wird zu propagieren, erfasst man das Wesen der
Natur, sondern in der Kooperation. Diese Haltung spiegelt Kammerers biologische Ethik wider: ,,,Leben' ist also in der Tat bereits in seiner elementarsten Form
gleichbedeutend mit ,zusammenleben'." 321
Abb. 18: Auguste Fore!, Le Monde socia! des Jourmis du g!obe compari lt
celui de !'homme, Geneve 1921-23, V, o. S.
8.6. Psychiatrie.
Der Insektenstaat als Gesellschaftsmodell in der Belle Epoque
(Auguste-Henri Fore[)
Der Psycholamarckismus erklärt die körperlichen Transformationen durch den
Willen oder starke Emotionen. 322 Was sind die psychischen Ursachen der Mimik ry? Welche psychologischen Rückschlüsse können aus dem Tarnverhalten einer
Person gezogen werden? Wenn Mimikry das Vermögen ist, die Umwelt zu täu schen , wie ist sie dann von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus zu beurteilen?
Geht von der Humanmimikry womöglich eine Gefahr für das Gemeinwohl aus?
Der Schweizer Auguste -Henri Fore! (1848 -1931, Abb. 18) ist Direktor der psychiatrischen Klinik Burghölzli und Professur für Psychiatrie an der Universität
Zürich. 323 Über die Grenzen seines Faches hinaus als engagierter Sozialreformer
319
320
321
322
323
Hertz, Rasse und Kultur, 55. Zic. nach: Kammerer, Das Gesetz der Serie, 358.
Vgl. Kapitel 4.2.
Kammerer, Das Gesetz der Serie, 202 .
Vgl. Kapitel 3.3 .
Zu seinen Schülern gehören unter anderem Eugen Bleuler, Wilhelm Speyr und Albert
Mahaim, die die Schweizer Psychiatrie entscheidend prägen. Fore! spiele eine wichtige
Rolle im sogenannten ,Grenzdisput', der zwischen Juristen und Psychologen ausgetragen
bekannt, setzt er sich vehement für ein Verbot alkoholischer Getränke ein, deren
degenerativen und erbgucschädigenden Einfluss er für erwiesen hält.
Forel ist außerdem einer der führenden Myrmekologen (Ameisenforscher) seiner
Zeit und Lamarckist. Eines seiner Untersuchungsobjekte, für das er sich sowoh l als
Biologe als auch Psychiater interessiert, ist die Ameisenmimikry. Für Forel repräsentiert die Mimikry ein pathologisches Verhalten, das er sowohl im Ameisenstaat
als auch in der Gesellschaft beobachtet. Beide, Mimikryinsekt und Hysteriker,
täuschen eine andere Identität vor und betrügen auf diese Weise ihre Umwelt.
wird. Bei dieser Auseinandersetzung geht es um die Entscheidungshoheit bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern . Vgl. Urs Germann, Psychiatrie und Straf
Justiz. Entstehung, Praxis und Ausdijferenzierung der forensischen Psychiatrie am Beispiel der
deutschsprachigen Schweiz 1850-1950, Zürich 2004, 119 f., 122, 128. Vgl. für eine biografische Darstellung: Rolf Meier, Auguste Fore! 1848 -1931. Arzt, Naturforscher, Sozialreformer. Eine Ausstellung an der Universität Bern (November 1988), Zürich 1988. Für eine Situierung Forels im Monismus vgl. Heiko Weber, ,,Der Monismus als Theorie einer einheitlichen Weltanschauung am Beispiel der Positionen von Ernst Haeckel und Auguste
Fore!", in: Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, hrsg. Paul Ziehe,
Berlin 2000, 81-127.
224
HUMAN MIMIKRY
8.6.1. Ameisenmimikry als Sozialparasitismus
In Le Monde social desJourmis du globe compare a celui de l 'homme, eine der großen
myrmekologischen Abhandlung en aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundens,
beschreibt Forel die Am eisenm imikry wie folgt:
Mimetisme . - Charles Darwin a explique par Ja selection naturelle la frappante imitation de Ja forme, de la couleur, et de l'allure de certains etres vivanrs pa r d'aucres .
On appelle depuis lui ce phenomene mimetisme. Ainsi cerrains insecres qui vivem
parmi !es feuilles sont du meme verc qu'elles . D 'autres imitent a s'y tromper un
rameau sec. Et d'aucres onr la meme couleur, taille et forme que d'aucres insecres
qu 'ils pourchassenr ou parmi lesquels ils vivem. [.. .] Or Je mimetisme joue un röle
immense chez beaucoup d'hötes des fourmis . Ici Wasmann a fair preuve de beau coup de perspicacire. II a prouve que Je mimerisme des höres des fourmis aveugles la
couleur ne joue en general aucun role [. . .]. Chez !es fourmis qui voient mal, le mimetisme de couleur de Ja parr de leur höre n'est qu'une ebauche, un a peu pres. Mais
alors le mimetisme devient d'autanr plus frappant pour la forme, pour Ja sculpture,
pour !es poils, pour l'odeur, de fai;:on a cromper Je coucher er l'odorat topochimique
des fourmis. II y ade plus un singulier mimetisme d'allures qui consiste dans Je jeu
des membres, dans Je langage anrennal mutuel de l'hore avec sa fourmi, dans !es
caresses des pattes, dans Ja fac;:onde manger et de se laisser ou de se faire rransporter,
etc. , un mimerisme d'allures qui n'esr pas un des moindres moyens de tromper aussi
hypocrirement qu 'inconsciemmenr l'insrinct social des fourmis. 324
Die Am eisenmi mikry repräsentiert eine besondere Form des Sozialparasitismus
unter den staatenbildenden Ameisen .325 Wenn Insekten und Spinnen im Am eisenstaat leben können 326 , ohne als Eindringlinge identifiziert und angegriffen zu
werden, müssen sie über bestimmte Schutzvorkehrungen verfügen.
324 August Fore!, Le Monde social desfourmis du globe compare a celui de l'homme, Geneve 192123, II, 77 f. Im folgenden werden Notizen aus dem Nachlass, die im Medizinhistorischen
Archiv der Universität Zürich liegen, mir der Sigle ,Nach!. Auguste Fore!, PN' ausgewiesen.
325 Aus der Forschungsliteratur sollen hier vor allem die Arbeiten Abigail Lustigs und Sarah
Jansens hervorgehoben werden. So hat Lustig auf die Grundzüge der Tierpsychologie bei
Fore! und seinem Kollegen Erich Wasmann hingewiesen . Im dem wohl aufschlussreichsten Aufsatz zu Fords entomologischer Forschung untersucht Jansen die Figur des Sozialparasitismus . Abigail J. Lust ig, ,,Ants and rhe Nature of Nature in Auguste Fore!, Erich
Wasmann , and William Morron Wheeler", in : The lvforal Authority of Nature, hrsg.
Lorraine Dasron , Fernando Vidal, Chicago 2004 , 282 -307; SarahJansen , ,,Ameisenhügel ,
Ir renhaus und Bordell. Insektenkunde und Degenerarionsdiskurs bei August Fore! (18481931), Psychiater , Entomologe und Sexualreformer", in : Kontamination , hrsg . Norbert
Haas, Rainer N ägele, Hans -Jörg Rheinbe rger, Eggingen 2001, 141-184. Vgl. zu einer Einordnung in den Diskurs über den ,Schädling': Jansen, ,Schädlinge', hier 261-271. Der In sektenstaat ist zuletzt als ein Medium der sozialen Selbstbeobachtung und hinsichtlich der
historischen Zuschreibung von gender in der Biologie untersucht worden . Vgl. Eva
Johach, ,,Termirodoxa . William M. Wheeler und die Aporien eugenischer Sexualpolitik ",
in : Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte4 (2008), 69-86.
326 Jene Formen der Ameisenmimikry außerhalb des Ameisenbaus spielen in Fords Ausfüh rungen keine Rolle .
PSYCH1ATR1E
225
Eine Möglichkeit besteht darin, sich als Ameis e auszugeben. Anders als der
Begriff ,Ameisenmimikry' zunächst suggerieren könnte, sind es also nich t die
Am eisen, sondern Parasiten wie zum Beispiel Käfer und Spinnen , welche di e
Mimikry betreiben. Ihr Schutz besteht in der Ähnlichkeit mit ihre n W insameisen
(Myrmecoidie), denen sie in Größ e, Färbung, Körperbau, Verhalten und Geruch
gleichen. (Abb . 19-21)327 Myrmekophile, was überse tzt ,Ameisenfreunde' bedeutet,
ist der Sammelbegriff für parasitäre Spinnen und Ins ekten, von denen die Käfer
die größte Gruppe stellen. 328
327 Die Abbildung 19 zeigt den Käfer Atemeies . Das aufgerollre Hinterteil ähnelt dem kugelförmigen Hinterteil von My rmica, die, weil sie blind ist, die Identität des Käfers takt il bestimmt. Auf den Fotografien (Abb. 20, 21) von Erich Wasmann ist der sechs bis sieben
Millimeter große Käfer Ecitophya simulans zu sehen, der bei der südamerikanischen Hee resameise Eciton Burchelli lebt. Ecitophya simulans, das größt e Insekt unter den Dorylinengästen, übt eine aktive und passive Mimikry aus. Ihre aktive Mimikry basiert auf der Simulation des Verhaltens, ihre passive auf der einer optischen Ähnlichkeit. Neben der Tastmimikr y simuliert ihre Gesichtsmimikr y eine gelbbraune bis gelbe Färbung , die
derjenigen der Wirtsameisen ähnlich ist. Hinzukommt die Ähnlichkeit der Fühl er, Behaarung und des Thorax .
328 Die Erforschung der Myrmekophilie ist eine Wissenschaft für sich. Fore! übernimmt Erich
Wasmanns Klassifikation der Myrmekophilen, an der dieser seit 1894 arbeitet . Wasmann
teilt die Ameisengäste in die folgenden Kategorien ein: die Symphilie oder auch ,Am eisenfreundschaft ' beziehungsweise ,echtes Gastverhältnis', bei dem die Arthropoden akzep tiert werden; die Synoekie, bei der die indifferent behandelten Gäste geduldet werden; die
Synechthrie, welches ein Feindschafrsverhälmis zwischen den Ameisen und den Gästen
darstellt, die nur aufgrund ihrer Wendigkeit oder besonderer Abwehrmechanismen überleben können; den Ekro- und Endoparas irismus, von dem die Ameisen prof itieren, weil sie
sich von Sekreten der Käfern ernähren; die Trophobiose, unter die das Zusammen leben
mir pflanzenfressenden Insekten wie zum Beispiel Blattläusen fällt, die nich t von den
Ameisen abhängen, aber von ihn en gehalten und beschützt werden. Wasmanns Klassifikation ist in den folgenden Jahren modifiziert worden. Anstelle seiner Typologie schlägt
Kismer ein moderneres ökologisches Konzept vor. Er unterscheidet zwischen jenen integ rierten Symbionten, die Teil des sozialen Lebens sind, und den nicht integrierten Symbionten, welche zwar nicht der Ameisengesellschaft angehören, aber dafür an das Leben in
der ökologischen Nische angepasst sind. Fore!, Le Monde social desfo urmis du globe compare a celui de l' homme, II , 76 f.; Erich Wasmann, Kritisches Verzeichnis der myrmecophi len
und termitophilen Arthropoden, Berlin 1894; ders., Die Ameisenmimikry. Ein exakter Beitrag z{um} Jvfimikryproblem, Berlin 1925; D. H. Kismer, ,,Social and evolut iona ry signi ficance of social insecc symbioms" , in: Social insects, hrsg. H . R. Hermann, New York 1979,
I, 339-413. Besonders zahlreich sind die Fälle der Ameisenmimikry in der ungefähr 28
0000 Arten umfassende Familie der Staphyliniden, die unter den räuberischen Treiberund Heeresameisen Dorylinae und Eciton leben . Sie sind Raubkäfer und ähneln (flüge llosen) Hymenoptera oder Coleoptera. Vgl. zu den Scaphyliniden: Lee H. Herman, ,,Cacalog of
ehe Sraphylin idae (Insecra : Coleopcera). 1785 to ehe end of ehe second Millennium ", Bul letin of the American Museum of Natural History 265 (2001), 1-4218.
226
HUMANMIMIKRY
PSYCHIATRIE
227
Abb. 21: Erich Wasmann,
Die Ameisenmimikry .
Ein exakter Beitrag z[um}
Mimikryproblem, Berlin
1925 . o.S.
Abb . 19: Aug uste Fore!, Le Monde social desJourmis du globe
compare a celui de l'homme, Geneve 1921 -23, II, 81.
Abb. 20: Erich Wasmann, Die
Ameisenmimikry . Ein exakter Beitrag
z[um} Mimikryproblem, Berlin 1925, o.S.
schiedene Aspekte bei der Untersuchung des komplexen Phänomens der Mimikry
zu berücksichtigen. So ist zum einen zwischen den Adressaten der zoosemioti schen Signale zu differenzieren. Das sind beispielsweise die außerhalb des Ameisenbaus lebenden Prädatoren (Vögel) und die inmitten der Ameisen lebenden
Käfer. 330 Zum anderen kann die Mimikry entweder akt iv oder passiv sein . Unter
die passive Mimikry fällt die optische Ähnlichkeit. Da viele Ameisen nahezu blind
sind, kann die Kommunikation mit den Wirten auf einer anderen Ebene als der
visuellen verlaufen. Es entscheidet dann vornehmlich der Geruch. 331 Über die
Antennen, die die Körperform ertasten und die olfaktorischen Reize aufne hm en,
nehmen die Wirtsameisen die Ähnlichkeit wahr. Wenn die ,Gäste' mithilfe der
Fühl er von den Wirtsameisen identifiziert werden, spricht man von einer aktiven
Mimikry. Vor allem der taktilen Mimikry misst Wasmann eine große Bedeutung
zu.332
Die Ameisenmimikry wird nach Erich Wasmann, ihrem bedeutendsten Erfor scher, auch als ,Wasmannsche Mimikry' bezeichnet. 329Nach Wasmann sind ver329 Erich Wasmann, ,,Nachträgliche Bemerkungen zu Ecitochara und Ecitomorpha", Deutsche
Entomologische Zeitschrift 30 (1) (1889), 49-66; ders., ,,Zur näheren Kenntnis des echten
Gaseverhältnisses (Symphilie) bei den Ameisen - und Termitengästen", Biologisches Zent ralblatt 23 (1903), 63-72, 195-207, 232 -248, 261-276, 298 -310; ders., Die Ameisenmimikry. Der Begriff der ,Wasmanns chen Mimikry' stammt von Rettenmeyer. Kismer weitet
ihn auf alle Formen der sozialen Interaktion aus . Vgl. C. W. Rettenmeyer, ,,Insect mimic ry", Annual Review of Entomolgy 15 (1970), 43 -74; D. H . Kismer, H . R. Jacobson, ,,Are -
view of ehe myrmecophilous Scaphylinidae associated wich Aeniccus in Africa and ehe
Orient (Coleoptera; Hymenoptera, Formicidae) wich notes on cheir behavior and glands",
Sociobiology l (1) (1975), 21-73.
330 Wilson vertritt die Position, dass die Ähnlichkeit ausschließlich dem Schutz vor den Prädatoren dient, da einige Arthropoden nicht im Ameisenstaat integriert sind. Edward 0.
Wilson, The insect societies, Harvard 1971. Vgl. auch J. Reiskind, ,,Ant-mimic ry in Pana manian clubionid and salticid spiders (Araneae: Clubionidae, Salcicidae)", Biot ropica 91(1)
(1977), 1-8; J. D. Mciver, ,,On ehe myrmecomorph Coquillettia insignis Uhl er (Hemipt era: Miridae) : arthropod predarors as operators in an ant-mimetic syscem", Zoological Journal of the Linnean Society 90 (2) (1987), 133-144.
331 Heute werden diese der Erkennung dienenden Duftmerkmale bekanntlich als ,Pheromo ne' bezeichnet.
332 Hölldobler hat dem widersprochen . In seinen Experimenten mit Atemeles und Lomechusa
kann er zeigen, dass die Veränderung ihrer Farbe und Form keinen Einfluss auf d ie Kom munikation zwischen Käfern und Ameisen hat. Die Imit ation des Verhaltens und die
228
HUMAN MIMIKRY
PSYCHIATRIE
Jede Form der Koexistenz umfasst eine spezifische Art des Zusammenlebens
mit den Wirten, wobei zwischen nützlichen und schädlichen Koexistenzformen
zu unterscheid en ist. Ni ch t jede Myrmecoidie rechtfertigt die Bezeichnung ,Amei senmimikry', denn entscheidend na ch Wasmann ist, dass Ähnlichkeit dem Zweck
der Täuschung der Ameisen genügen muss. 333
de, sich zu bewegen, sondern auf List beruhe - allerdings auf einer instinktiv
automatisierten (organisierten) List, die, mir dem Selbsterhaltungstrieb assoziiert,
bei eintretender Gefahr ins Werk gesetzt wird. An die Listen der Säugetiere sei hier
noch erinnert .336
8.6.2. Die Sprache von Ameisen und Käfern
Ist die Am eisenmimi kry mit der Lüge der Menschen vergleichbar? Können Tiere
überhaupt lügen? 334 Fore! ist der Ansicht, dass sie dazu imstande sind. Diese Posi tion ist innerhalb der zeitgenössischen tierpsychologischen
Forschung jedoch
umstritten, denn von einer Lüge kann eigentlich nur dann gesprochen werden,
sobald ein Vorsatz und ein Bewusstsein ihrer Konsequenzen besteht. Im Gegen satz zu anderen Psychologen, die behaupten, dass es sich bei der Mimikry um eine
reflexhafte Angstreaktion handelt, betont Fore!, dass hier eine Absicht zur „List"
und zum Betrug vorliegt. Die Verstellung beim Tier ist, im 'Gegensatz zum Menschen, keine intentionale Willenshandlung,
sondern stellt einen Reflex dar. 335
Trotzdem liegt hier für Fore! kein Widerspruch vor, da die Mimikry sowohl Reflex
als auch List sein kann. Über das Totstellen, das zu den Mimikryphänomen
gezählt wird, schreibt er:
Die Tiere simulieren recht schön; sogar die Insekten wissen sich coczu stellen und
brauchen keineswegs vor Schrecken starr - nach Preyer kataleptisch - zu sein. Ich
habe die Lebensweise der Insekten sehr viel beobachtet und glaube mit voller
Bestimmtheit auf Grund zahlloser kleiner Indizien, deren Wert nur bei fortgesetzten, genauen biologischen Beobachtungen erkannt wird, daß die Starre der sich totstellenden Insekten niemals auf einer Schreckwirkung, die sie unfähig machen würÄhnlichkeit chemischer Signale ist dagegen ausschlaggebend für die Akzeptanz der Parasiten. Bernd Hölldobler, ,,Zur Physiologie der Gase-Wirt-Beziehungen (Myrmecophilie)
bei Ameisen, II: Das Gaseverhältnis des imaginalen Atemeies pubicollis Bris. (Co!. Staphylinidae) zu Myrmica und Formica (Hym. Formicidae)", Zeitschrift für vergleichende
Physiologie 66 (2) (1970), 215-250; ders., ,,Communicacion becweenams and their guescs",
Scientific American 224 (3) (1971), 86-93.
333 Vgl. zum Streit um die Bezeichnungen ,Mimikry' und ,Mimese' das Kapitel 4.1.
334 Aus soziobiologischer Perspektive stelle die Lüge das notwendige Bindemittel sozialer
Kommunikation dar. Edward 0. Wilson, Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge,
Mass. 1975, 553: ,,Decepcion and hypocrisy are neither absolute evils that virtuous men
suppress eo a minimum level nor residual animal craits waicing eo be erased by furcher social evolucion. They are very human devices for conduccing ehe complex daily business of
social life."
335 Der Monisc Fore! lehne die Vorstellung von der Existenz eines freien Willens ab. Er gehe
davon aus, dass die vermeincliche ,Seele' oder der Geist eines Organismus nichts anderes
als die Summe von Gehirntätigkeiten ist. Diese Überzeugung teile er mit Ernst Haeckel,
für den „klar und unzweideutig [feststehe],daß es keinen freien Willen' gibt". Haeckl,
Gott-Natur (Theophysis). Studien über monistische Religion, 28
229
Die Mimikry zu entlarven, ist ungleich schwerer als beim Menschen, weil der Psychologe sich in die fremdartig e Psyche und Sprache des Tieres hineindenken
beziehungsweise einfühlen muss.
Ich möchte sogar behaupten, daß es leichter ist, für den Psychologen wenigstens, die
Simulation der meisten Menschen zu entlarven als diejenige der Tiere, weil man
beim Menschen mittels der Sprache bei einiger Übung leicht dahinter komme, was
bei den Tieren nicht sein kann. 337
Die Vorstellung, der zufolge ein phylogenetisches Abstammungsverhältnis
zwischen der Humanmimikry
und der Insektenmimikry
besteht, teilt Forel mit dem
Soziobiologen Friedrich Alverdes. Im Jahre 1927 geben Otto Lipmann und Paul
Plaut den Band Die Lüge heraus. In „Täuschung und Lüge im Tierreich " 338 zählt
Alverdes die Mimikry „zu den phylogenetischen Wurzeln der menschlichen Lüge".339
Wie kann der Tierpsycholog e vom Seelenleben der Käfer und Ameis en wissen?
Die Psychologie Forels geht von einer grundlegenden
Übereinstimmung
von
Menschen - und Tierpsyche aus. 340 Dieser monistischer Panpsychismus spiegelt
sich in der Vorstellung eines Sprachuniversalismus wider. In seiner im Wimerse -
336 Auguste Fore!, Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie, 349.
337 Ebd.
338 Friedrich Alverdes, ,,Täuschung und Lüge im Tierreich", in: Die Lüge in psychologischer,
philosophischer, juristischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklun gsgeschichtlicher Betrachtung, hrsg. Otto Lipmann, Paul
Plaue, Leipzig 1927, 332-350, hier 338 -343. Vgl. auch Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992, 45. Sommer stelle eine Ana-
logie zwischen der Lüge bei Mensch und Tier auf. Die Vorstellung einer Phylogenesespiele
allerdings für ihn keine Rolle.
339 Alverdes, ,,Täuschung und Lüge", 332 . Jüngere Arbeiten zur Lüge sparen, mit Ausnahme
von Sommer, Lob der Lüge, den Themenkomplex ,Tier und Lüge' aus. Vgl. zur Lüge: Kulturen der Lüge, hrsg. Matthias Mayr, Köln/ u.a. 2003.
340 Fore!, Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1:22. Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschenund Thierseele, !-II, Leipzig 1863, I, 443, führe an, dass anhand beobachterer Reaktionen
kein Unterschied getroffen werden könne zwischen dem Bewusstsein der Tiere und dem
Unbewussten des Menschen. Grundlegende ethologische Arbeiten, die diese cierpsychologische Grundannahme teilen, sind: George John Romanes, Mental evolution in animals,
London 1883; dets., Mental evolution in man, origin of human faculty, London 1888; Ernst
Heinrich Philipp August Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1868, bes. 569;
Jean Charles Houzeau, Etudes sur les facultes mentales des animaux comparee a celles de
l'hommel par un voyageurs naturaliste, Mons 1872. Vgl. zum Anthropomorphismus und
der Rolle der Subjektivität in der Tierpsychologie des späten 19. Jahrhunderts: Lorraine
Dascon, ,,Intelligences: Angelic, Anima!, Human", in: Thinking with Anima!s . New Perspectives on anthropomorphism, hrsg. dies., Gregg Micman, New York2005 , 37-58.
230
231
HUMAN MIMIKRY
PSYCHIATRIE
mester 1886/8 7 gehaltenen Vorlesung Die Seelentätigkeiten der Thiere verglichen
mit denjenigen des Menschen wird die Sprache der Tier e mithilfe eines semiotischen
Modells analysiert, das auf der Annahme beruht, da ss das Sprachsystem der Amei sen aus konventionellen Zeichen best ehc.341
Die „Thiersprache" ist eine „Berührungssprache" , die ·vor allem über die Anten nen der Ameisen artikuliert wird. 342 Weil die Psychen von M ensch und Tier nur
graduelle Unt erschiede aufweisen - die Wahrnehmung der Ameisen ist im Vergleich zu derjenigen des Menschen lediglich „nebelhaft" 343 , aber nicht gänzlich
versch ieden - , ist es fü r Forel durchaus vorstellbar, dass Mens ch und Ti er mitein ander reden und einander verstehen könnten . Menschen und Tier verfügen also
über einen ähnlichen Sprachcode.
Mimikry bedient sich der Elemente des Sprach - und Kommunikationssystems,
das im Insekt enstaat verwendet wird . Die Käfer ,sprechen' dieselbe Sprache wie
die Ameisen. Mimikry ist eine non-verbale, pantomimische Sprache des Körpers.
Das linguistis che Paradi gma ist aus zwei Gründen so wichtig für die Vorstellung ,
dass die Mimikry eine Lüge ist. Zum einen ist die Id ee einer Sprache die notwen dige Vorausset zu ng für die Auffassung des Tieres als eines sozialen Lebewesens 34 4;
zum anderen beinhaltet sie die Auffassung, dass dieses Sprachsystem aus arbiträ ren Zeichen besteht. Letzteres bildet die notwendige Voraussetzung für die Hypo krisie .
Forel entwirft in seiner Theorie der Verstellung eine sprachtheoretische Perspektive auf das Phänom en der Lüge: Dort , wo Zeichen bewusst und zu einem
bestimmten Zweck paradigmatisch ausgetauscht werden können, sind Tier wie
Mensch imstande, zu lügen . Erst die Idee einer aus arbiträren Zeichen bestehenden „Thiersprache" 345 macht es nämlich möglich, die Lüge als einen interartlichen
Kommunikationsmodu s in Betracht zu ziehen. Kurz, die Lüge beruht auf der
Trennung von Signifikant und Signifikat. 346 Obwohl im Ins ektenstaat alle dieselbe Körpersprache ,sprechen', führt vom ,Sprechakt' kein Weg zur ,Identit ät' des
Sprechers. Die Untersch eidung von Ameise und Ni cht -Ameise wird subvertiert,
sobald die Am eisen von den Parasiten ,angelogen' werden.
Das durch die Lüge erworbene beziehungsweise vorgetäuschte und erlogene
Merkmal kann, so nimmt Forel an, vererbt werden. Die Lüge beinhaltet sowohl
den Prozess der Aneignung eines vorgetäuschten Merkmals als auch den daraus
resultierenden psychischen wie physischen Anpassungszustand.
Forel ist Lamarckist. In nerhalb des lamarckistischen Paradigmas der Vererbung
erworbener Eigenschaften stellt die Mimikry respektive die Lüge also den Prozess
des Erwerbs fremder Eigenschaften dar. Aber anders als die meisten Biologen vermuten, ist für Forel nicht das Keimplasma der genetische Hauptträger der Erbin formation, sondern das Gehirn. Im Gehirn sind die den sozialen Instinkten
zugrunde liegenden Erbeinheiten gespeichert. Dies e Erbeinh eiten werden von dem
Vererbungsforscher Richard Semon, auf den sich Forel in seinen Ausführungen
beruft, ,Mne me' genannt. 347 Die individuellen Modifikation en und „tricks" 348 werden dort akkumulierc. 349 Für Forel existiert kein Unter schied zwischen Natur und
Kultur, weil die kulturell e Entwicklung maß geblich von der evolutionären Weiter - entwicklung des Gehirns abhängt. Die neuronale und die soziale Vererbung gehen
damit Hand in Hand.
341
342
343
344
Fore!, ,,Psychologie der Tiere" [Manuskript], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1: 302.
Ders. , ,,Psychischer Wert der Sprache [Manuskript], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1: 22 14.
Ders., [Manu skript ], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1: 22 12•
Thomas A. Sebeok, ,,Zoosemiotics . An Approach ro the Study of Anima! Comm unication", in : Sign - Language - Culture, hrsg . Algirdas Julien Greimas, u.a., Hague/ Paris
1970, 311-320, 316; Thomas A. Sebeok, How animals communicate, Bloomington 1977.
345 Fore!, ,,Psychischer Wert der Sprache [Manuskript], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1: 22 14.
346 Die Lüge setzt einen kreativen Umgang mit sprachlichen Mitteln voraussetzt. Denn die
Instrumentalisierung der Wörter basiert wiederum auf der Vorstellung, dass die Sprache
kein natürliches, sondern ein konventionelles System ist.
Das Gehirn stellt dabei den Energieakkumulator dar, der zugleich die evolutive und
kulturelle Vervollkommnun g der Vorfahren, verbunden mit den eigenen jetzigen
guten und schlechten Zutaten, trägt. Der Mensch zehrt von der Arb eit hunderter
und tausender Generationen seiner Vorvordern. [... ] Zwischen ,Natur' und ,Kultur'
obwaltet kein Gegensatz . Unsere ganze Kultur hat sich auf Grund der Natur, der
höheren Entwicklung unseres Gehirns, gebildet. 350
347 Wie verläuft nun die Koevolution von (parasitärer) Sprache und sozialem Instinkt bei den
Wirtsameisen und Myrmekophilen' Codes regeln das Staatsgefüge. Im Gedächtnis, dem
Sitz des Sprachvermögens, ist das „Feindgedächtnis" (Fore!, [Manuskript], Nach!. Auguste
Fore!, PN 31.1: 22 10) , das die Freund -Feind-Unterscheidung vornimmt, zu verorten. Auf
der anderen Seite, und zwar der der Parasiten und ihrer Sprache, stellt jede Anpassung die
Summe der Anpassungen vorheriger Generationen dar. Nach Semon werden Reizreaktio nen individuell erlernt, im Gedächtnis gespeichert und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben . Anpassung beruht also auf der Assoziation von Reiz und Reaktion innerhalb eines wiederholbaren Musters, aus denen Resonanzeffekte hervorgehen . Dieser
Prozess wird von Semon ,homophone Ekphorie' genannt. Richard Semon, Das Problem
der Vererbung ,erworbener Eigenschaften', Leipzig 1912; ders., Die Mneme als erhaltendes
Prinzip in Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1911; ders., Die mnemischen Empfin dungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen. Erste Fortsetzung der Mneme,
Leipzig 1909. Die Koevolution der Mimikry, das Erlernen der Wirtssprache, ist also ein
kontinuierlicher Prozess des Erwerbs von Eigenschaften und Fähigkeiten, die an die nachfolgenden Generationen weitervererbt werden .
348 Fore!, Le Monde social, II, 77.: ,,Selon le developpement de son cerveau, chaque bestiole,
fourmi comme myrmecophile, ajoute a cet instinct !es petites modifications ou ruses indi viduelles que lui permet sa memoire. Nous l'avons deja explique plus haut; nous n'y revenons pas."
349 Den fließenden Übergang von Mensch und Tier garantiert ein universales neurologisches
Modell. Die Antwort beruft sich dabei auf das Nervensystem, genauer : auf das Gehirn.
Evolution stellt nach Fore! ausschließlich die Evolution des Gehirns von den niederen bis
zu den höheren Organismen dar. Im Gehirn beziehungsweise im gesamten Nervensystem
liegen die Erbinformationen vor.
350 Fore!, Der Weg zur Kultur, 13.
232
HUMANMIMIKRY
8.6.3. Evolutionäre Psychiatr ie
„Das Gehirn ist der Men sch." 351Dieser ,Gehirnzentrismus' ist das Fundament von
Forels evolutionärer Psychiatrie. Wenn die Evolution der Lebewesen sich mit der
Evolution des Gehirns deckt, dann zieht diese Annahme wesentliche Konsequenzen
für die Betrachtung psychischer Erkrankungen nach sich. Es deutet sich eine evolutionäre Psychiatrie an, die von der Evolution psychischer Krankheiten ausgeht.
Die evolutionäre Psychiatrie findet in der Gestalt Forels ihren idealen Vertreter,
vereinigt er doch in einer Person den Psychia ter und Biologen beziehungsweise
Myrmekologen. In der Tat beobachtet Fore! die Tiere und vergleicht sie mit den
Hysterikern aus seinem Klinikalltag. 352Inmi tten seiner myrmekologischen Ausführungen erzählt Fore! die folgende Anekdote aus dem klinischen Alltag. 353
11 n'y a pas plus de deux mois un pareil hysterique (hu main s'entend) nomme S.
m'ecrivait une si magnifique lettre, si pleine des sentiments les plus nobles et les plus
eleves, ne me demandant de la prison, ou il se disait detenu politique, que quelques
livres faire lire ses pauvres camarades pour idealiser leur mentalite. Moi, ancien
alieniste, je m'y laissai prendre ainsi que ma femme . Alors il me pria d'interceder pour
lui aupres du ministre de la justice de son pays, ce que je fis en toure innocence. Mais
ce dernier eut la bonte de m'ouvrir les yeux au meme instant qu'un des dits camarades
indignes, du prisonnier, camarade qui avait eu vent de la chose: S. etait un escroc hysterique qualifie. S' il n'eur pas cru lui-meme en ses propres mensonges, il n'eut pas
commis la bevue de m'adresser au ministre de la justice qu'il savait etre informe! 354
a
a
Der Psychiater zieht den Vorhang der Kultur weg und gibt den Blick auf ein Szenario frei, das einer der Karikaturen Grandvilles, in denen menschliche Laster und
Tugenden durch verkleidete Tiere dargestellt werden, entsprungen sein könnte.
Trotz der satirischen Note kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Fore! hier als
ein seriöser Wissenschaftler auftritt, der seinen Leser über die hysterische Mimikry
aufklären möchte.
Tu vois donc que la notion du mimensme est fort complexe. Le mimensme ne
s'adresse pas seulement directement a divers sens, vue, odorat, etc. mais encore a
l:l.me, aux sentiments par l'intermediaire des mouvements, des allures. Si !es ani-
351 Ders ., Verbrechen und konstitutionelle Seelenabnormitäten . Die soziale Plage der Gleichgewichtslosen im Verhältnis zu ihrer verminderten Verantwortlichkeit [1901], München 1907,
171. Die Gehirnzentrierung ist ein Markenzeichen des Monismus um 1900. Vgl. Haeckl,
Gott-Natur, 48: ,,Unsere monistische oder ,naturwissenschaftliche' Erkenntnistheorie betrachtet die Erkenntnis als einen physiologischen Natur-Prozeß, dessen anatomisches Or gan unser menschliches Gehirn ist."
352 Vgl. zum pathologischen Lügner, der eine besondere Disposition zur (Auto-) Suggestion
besitzt: Fore!, Soziale Frage, 267, 501.
353 Vgl. zur Behandlung der Hysterie: Karen Nolte, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn
und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt a.M. 2003.
354 Fore!, Le Monde social desfourmis, II, 78.
PSYCHIATRIE
maux pouvaient ecrire ils se tromperaient
!es hommes. 355
mutuellement
233
par lettres, comme le font
Der Hysteriker wird von dem krankhaften Zwang heimgesucht, seine Umwelt zu
imitieren. Von Gilles de La Tourette, dem Entdecker des gleichnamigen Tourette Syndroms, stammt der Satz: ,,Nichts kann die Hysterie nachahmen, weil Nachah men das Symptom der Hysterie selbst ist." 356Der Hypnotisierte ist ein „Nachahmungsautomat".357
Zwischen der hysterischen Disposition bei Mensch und Tier besteht ein gradu eller, aber kein kategorialer Unterschi ed. ,,Die Hypnose des Menschen", so zitiert
. Fore! Danilewsky zustimmend, ,,ist von der Hypnose der Tiere phylogenetisch
abzuleiten; es handelt sich um den gleichen, nur beim Menschen viel komplizier teren psycho -physiologischen M echanism us."358Hysterie und Mimikry bilden die
zwei Seiten der evolutionistischen Dublett e.
Di e Ameisenmimikry ist, wie man heute weiß, kein hysterisches Phänomen,
und die Käfer sind auch keine Hysteriker. Man kann die G enese dieser aus heuti ger Sicht verwunderli chen Annahme anhand einer buchstäblich en Fehllektüre
rekonstruieren. Offensichtlich liegt nämlich eine Verwechslung eines zoologischen mit einem psychiatrischen Terminus vor. So kann mimicry auch die hysterische Erkrankung bezeichnen , ohne sich jedoch auf die Mimikry der Tiere zu
beziehen.
Der englische Neurologe James Paget verwendet den Terminus nervous mimicry
für hysterische Erscheinungen. 359In Otto Dornblüths Klinischem Wörterbuch dient
,,Mimicry" 360beziehungsweise ,nervous mimicry' auch als Synonym für „Neurom i355 Ebd, 79.
356 Gilles de La Tour ette, Die Hysterie nach den Lehren der Salpetriere, mit einem Vorwort von
J .N . Charcot, autorisierte deutsche Ausgabe nach Dr. Karl Grube : Normale oder interparoxysmale Hysterie, Leipzig/ Wien 1894, !, 111.
357 Heidenhain, Der sogenannte thierische Magnetismus, 7: ,,Der Hypnotisierte verhält sich also wie ein Nachahmun gsautomat, der alle diejenigen meiner Bewegungen wiederholt,
welche für ihn mit einem optischen oder akustischen unbewußten Eindrucke verbunden
sind. Die materielle Veränderung, welche die Sinnesreizungen in den Centralorganen hervorruft, löst Bewegungen von dem Charakter der willkürlichen aus, welche trotzdem
nicht willkürliche sind."
358 Fore!, Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie, 356. Fore! steht mit
dieser Vorstellung nicht allein, wie an dem Mimikryfor scher Marinus Cornelis Piepers,
der die Evolurion der Mimikry ebenfalls als die der Hysterie auffasst, bereits gezeigt werden konnte . Vgl. Piep ers, Mimicry, Seleletion, Darwinismus, 157, 160 f. Vgl. Kapitel 3.3.
359 James Paget, ,,Nervous Mimicry of organic diseases", Lancet 2 (1873), 727-729; ders .,
„Nervous mimicry", in: ders., Clinical Lectures and Essays, hrsg . Howard Marsh, New York
1875, 45 -251,172-251. Vgl. zur damaligen Verwendung des psychologischen Terminus
,mimicry' : Edmund Gurney, ,,The Problem ofHypnotism", Mind . A Quarteryly Review of
Psychology and Philosophy, October (1884), 477-508 .
360 Im Vorläufer des ,Pschyrembel' ist Folgendes nachzulesen. Art . ,,Mimicry", in : Otto
Dornblüth, Klinisches Wo"rterbuch. Die Kunstausdrücke der Medizin, 5., wesentlich vermehrte Auflage, Leipzig 1914, 187: ,,Mimi cry. Nachahmung . Nerv. Nachahmung organi -
234
HUMAN MIMIKRY
mes1s . Die Begriffsverwechslung lässt sich etymologisch erklären. Im französischen mimetisme klinge im Wortstamm der Pantomime (mime) an. Hier ist es die
Vorstellung der Hysterie als einer Pantomime, die eine überraschende Qu erverbin dung zwischen dem Krankheitsbild der nervous mimicry und den ,Imitationen' der
Tiere, auch „pantomime of nature" genannt 361,schafft. Mimikry ist eine Pantomi me des Körp ers, durch die sich die kranke Psyche mitteilt. So schreibt Sigmund
Freud beispielsweise von den „Pantominen" der Hysceriker.362 Weil also die hysterische Na chahmung als eine Pantomim e aufgefasst wird, kann mimetisme als ein
Mittler zwischen Zoologie und Psychiatrie fungieren.
PSYCHIATRIE
235
8.6.4. Polymorphismus. Das konstruierte Geschlecht der Mimikry
„But be not afraid of greamess: some
are born greac, some achieve greamess, and
some have greamess thrust upon 'em. [.. .]
Ta inure thyself eo what thou art like eo be,
cast thy humble slough and appear fresh."
(Shakespeare, Twelfth Night)
Fore! erinnert seinen Leser an einen berühmten Fall von Humanmimikry , von
dem die Zeitungen vor einigen Jahren berichteten. Die Rede ist von der Hochstap lerin Therese Humbert, die Haup takteurin in einem der größten Justizskandale
der glamourösen Dritten Republik. (Abb. 22) 363
Souviens -toi bien, ami lecteur, que chez nous humains aussi le menceur inconscient,
l'hysterique, croit lui-meme a la realite des histoires invencees que son imagination
malade le pousse nous raconcer, p ar exemple feu la celebre Therese Humbert. C'est
pourquoi !es menteurs inconscients, a u escrocs pathologiques nous induisent cent
fois mieux en erreur que le menteur conscienc. Ce dernier se rend campte qu'il menc,
il a peur de se crahir et, pour cette raison, sa physionomie, sa voix et ses allures le
crahissent. Croyanc lui-meme a ses contes, l'escroc hysterique ai contraire joue au
nature!; il y va bon cceur bon argem, de taute son äme, de toure sa passion d'artiste.
Comme un vraiment bon acteur sur sa scene, il nous encraine avec lui jusqu'aux !armes
- taut comme le bon höre symphilen de nos braves fourmis les mene inconsciem menc par le baut du nez au plutöt par le baue des antennes. 364
a
scher Erkrankungen durch nervöse Zustände ." Vgl. Art . ,,Neuromimesis", in: ebd., 202 :
„Neuromimesis . Nachahmen, Nachahmung organischer Erkrankungen durch nervöse
Zustände. Vgl. Mimicry." In der 23. bis 26 . Auflage wird der Artikel „Mimicry" durch
„Neuromimesis" ersetze. Otto Dornblüth, Klinisches Wörterbuch. Die Kunstausdrücke der
Medizin, Berlin/ Leipzig 1936, 381: ,,Neuromimesis . Nachah . organ . Erkrank. Durch
nerv. Stör., Hysterie, s. Mimikry, Imitation ." Es sei noch hinzugefügt, dass der zoologische Begriff seine Aufnahme in anderen medizinischen Nachschlagewerken findet. Zum
Beispiel: Art. ,,Mimicry", in : Walcer Guccmann, Medizinische Terminologie. Ableitung und
Erklärung der gebräuchlichsten Fachausdrücke aller Zweige der Medizin und ihrer Hilfswissenschaften, 2., umgearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin/ Wien 1906, 726 : ,,Mimicry
(engl. Nachäffnung): Zoo!. Phänomen, dass einzelne Tierarten (bes. Insekten) im äusseren Aussehen die Beschaffenheit anderer Tierarten oder auch lebloser Gegenstände (Blätter, Zweige etc.) annehmen, um besser gegen ihre Feinde geschützt zu sein."
361 R . J. Broadbent, A History of Pantomime, London 1901. [Hv. v. K.C.] Vgl. Kapitel 7.
362 Sigmund Freud, ,,Das Interesse an der Psychoanalyse", in: ders., Gesammelte Werke, hrsg.
Anna Freud, u.a., Frankfurt a.M. 1943 ff., VIII, 389-420, hier 399. Freuds Symptomato logie der Hysterie übernimmt die von Charles Darwins in The Expression o/The Emotions
in Man and Anima ls (1872) entfalcete evolutionäre Leitthese, nach der sich der Ausdruck
des Menschen im Vergleich mit dem Verhalten der Tiere erklären lässt. Die „Darwinschen
Prinzipien" macht Freud sich zunutze, indem er in der Hysterie die Tendenz erkennt,
Spann ung durch die Ableitung von Erre gun gen abzubauen. Sigmund Freud, ,,Studien
über Hysterie", in: ders., Gesammelte Werke, I, 75-312, hier 147. Für den Beobachter der
Hysterie mögen die mit dem Krankheitsbild verbundenen Handlungen unsinnig erscheinen, doch ist auch dies mit Darwin zu erklären. Nach Darwin können einst zweckmäßige
Ausdrucksbewegungen im Laufe der Evolution ihre Funktion verlieren oder sich verän dern. Aus diesem Grund stellt sich ein Eindruck von Absurdität beim Anblick eines Hys terikers ein, was aber nur dem oben beschriebenen Umstand geschuldet ist, dass die einstige Zweckmäßigkeit der Hysterie nicht mehr ohne Weiteres erkennbar ist. Vgl. ebd ., 251.
Therese Humbert (1856 -1918), geborene Daurignac, wächst in ärmlichen Verhält nissen nahe bei Toulouse in der südfranzösischen Provinz Languedoc auf Später
zieht sie nach Paris, wo sie sich auf abenteuerliche Weise eine neue Existenz
erschwindelt. Mithilfe falscher Vermögensangaben - sie gibt vor, eine gewaltige
Geldsumme geerbt zu haben - erschleicht sie sich Kredite, die die Banken ihr zu
Wucherzinsen gewähren.
Im Zentrum ihrer fiktiven Biografie stehe der amerikanis che Millionär
Crawford, den sie angeblich im Jahre 1879 auf einer Zugfahrt kennenlernt. Sie
erzählt, wie sie Crawford zu Hilfe geeilt ist, als er im Nebenabteil einen Herzin farkt erleidet. Mir einer Prise Riechsalz rettet sie ihm das Leben. Aus Dankbarkeit
363 Anonym., ,,Das Präludium des großen Humbert -Prozesses in Paris", Illustrierte Zeitung
(1903), 302. Therese Humbert (Nr. 4) sitze rechts in der ersten Reihe. Neben ihr sitzen ihr
mitangeklagter Ehemann Frederic Humbert (Nr. 3) und ihre Tochter Marie Daurignac
(Nr. 2). Hinter ihnen sind ihr Anwalc, Maitre Robert (Nr. 5), und Caccaui (Nr. 6), der
Hauptankläger in diesem Prozess, zu sehen. Den Vorsitz hat Richter Puget (Nr. 1). Der
Fall ,Humberc ', der die Spalcen der europäischen Zeitungen seiner Zeit beherrschte, ist
heute in Vergessenheit geraten . Das Kapitel in Benjamin F. Martin, The Hypocrisy of justi ce in the Belle Epoque, Bacon Rouge/ London 1984, 23-56, bietet die bislang einzige wissenschafcliche Aufarbeitung des Skandals . Für eine biografische Darstellung vgl. Hilar y
Spurling, La Grande Therese. The Greatest Swindle of the Century, London 2000.
364 Fore!, Le Monde social desfourmis, II, 78 [Hv. K. C.] .
236
HUMAl'-JMIMIKRY
Abb. 22: Anonym., ,,Das Präludium des großen Humbert -Prozesses in Paris",
Illustrierte Zeitung, Nr. 3113 (26. Februar 1903), 302 .
ernennt er sie zu seiner Erbin. Nach seinem Tod im Jahre 1881 vermacht er ihr
eine Summe von 100 Millionen Francs .
Alles ist ein großer Schwindel. Weder das Testament noch die Erbschaft oder
die Familie Crawford existieren. 365 Bei ihr er Lebensgeschichte handelt es sich um
einen Familienroman
ganz im Sinne Freuds: die eigene, als beschämend ange -
365 Schon als Kind soll Humbert über eine besondere Erfindungsgabe verfugt haben. Sie erzählt
den Händlern ihrer Heimatstadt von einem Erbe, das sie eines Tages aus Schottland erreichen wird, um die Bezahlung von Waren hinauszuzögern. Das biografische Interesse an ihrer Kindheit seitens der Strafverfolger und Journalisten zeugt von der Veränderung, welche
die Wahrnehmung des Delinquenten im kriminologischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderrs betrifft. Die Kriminalistik vollzieht zu dieser Zeit eine Wende von einer Semiotik des
Verbrechens zu einer genealogischen Rekonstruktion des Verbrechers. Nicht mehr die kriminellen Handlungen des Delinquenten stehen länger im Mittelpunkt des kriminologischen Interesses, sondern dessen biografische Vorgeschichte, in der der Keim der späteren
Verfehlung bereits vermutet wird. Jedes Verbrechen erhält dadurch seine biografische Vorgeschichte. Vgl. Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Zur Geschichteder Kriminologie des
19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002. Vgl. zur Narration von Verbrechen: Jörg Schönert (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1910,
Tübingen 1990.
PSYCHIATRIE
237
sehene Herkunft wird durch eine erfundene Familie aufgewerter. 366 Madame
Humbert ist eine Aufsteigerin, deren Leben den Biografien aus Balzacs Romanen
gleicht. Wie die Protagonisten
in Illusions perdues oder Splendeurs et miseres des
courtisanes setzt sie ihren ganzen Ehrgeiz daran, die soziale Leiter Sprosse für
Sprosse zu erklimmen.
Humberts erschwindelter Reichtum gewährt ihr in der Tat den Eintritt in höhe re gesellschaftliche Kreise . Minister und Künstler gehen in ihrem Salon ein und
aus. Doch der Betrug fliegt schließli ch auf 1903 werden sie und ihr Mann Frederic
in einer spektakulären Gerichtsverhandlung
zu fünf Jahren Einzelhaft verurteilt;
ihre Brüder, die sich als die beiden Neffen Crawfords ausgaben, müssen Haftstrafen von zwei beziehungsweise drei Jahren verbüßen. Nach der Entlassung aus der
Haft emigriert sie in die Vereinigten Staaten, wo sie 1918 in Chicago stirbt.
Fast zwanzig Jahre lebt Therese Humbert mit ihrer Familie im großen Luxus.
Ihre Heirat in die angesehene und einflussreiche Familie Humberts schützt sie vor
kritischen Nachfragen . Ihr Mann Frederic ist der Sohn Gustav Humbert. Ihr
Schwiegervater ist Professor für Römisches Recht an der Universität Toulouse und
Parlamentsabgeordneter.
1875 wird er zum Senator der Dritten Republik ernannt
und 1882 zum Justizminister.
Bei der Verurteilung hält man fest, dass sogar er der ehemalige Justizminister - von ihr überlistet wurde .
Therese Humberts Erfolg basiert zweifelsohne auf ihrer außergewöhnlichen
schauspielerischen Begabung. Die Journalisten verleihen ihr, nicht ohne Spott, einen
Ehrentitel, der sonst nur großen Tragödinnen vorbehalten ist: La Grande Therese.
Dieses schauspielerische Talent wirkt angesichts der großen Zahl der Getäuschten unheimlich, wie schon ihre Zeitgenossen bemerken. Ihre besondere Bega bung weckt den Verdacht, dass hier eine abnormale Fähigkeit zur Lüge vorliegt.
Maximilian von Harden ist der Meinung, dass sich ihre Geschichte vorzüglich in
psychiatrischen
Lehrbüchern machen würde, wo sie das hervorragende Beispiel
eines pathologischen
Lügners abgibt. Jedoch bezweifelt Hard en di e Objektivität
der Berichterstattung;
er vermutet, dass hinter der großen Aufmerksamkeit,
die
diesem abstrusen Fall geschenkt wird, andere Motive stecken.
Die Große Therese, das den skeptischen Parisern durch weiterwirkende Autosugges tion aufgezwungene Wahngebilde, hat nie gelebt. Die psychisch abnorme Schwind lerin Therese Humbert wird, als ein Musterschulfali, aus den Lehrbüchern der Psychiater, die muthig aus Erlebtem zu lernen erachten, nie wieder verschwinden. 367
366 Sigmund Freud, ,,Der Familienroman der Neurotiker", in: ders., Gesammelte Werke, VII,
225-231. Das Erbe beziehungsweise die Erbfantasie spielt in diesem Text keine Rolle,
doch würden sie sich nahtlos wie ergänzend in Freuds Theorie einfügen .
367 Maximilian Harden, Köpfe, Berlin 141913, III (,,Prozesse"), 29-51, hier 51. Fore! ist mit
solchen und ähnlichen Schicksalen wohl vertraut. Zu seinen vielen Patienten gehört beispielsweise ein österreichisches Dienstmädchen, das fest davon überzeugt ist, eine spanische Prinzessin zu sein. Ein anderes Mal gibt sie sich als uneheliche Tochter des Rumäni schen Königs aus. Diese Patientengeschichte ist von Forels Schüler Anton Delbrueck überliefert: Anton Delbrueck, Die pathologische Lüge und die psychisch-abnormen Schwindler.
238
239
HUMANMIMIKRY
PSYCHIATRIE
Harden vermerkt, dass „kein psychiatrischer Sachverständiger [... ] vernommen
[wurde]" 368 , ein Ums tand, der nachdenklich stimmt. Er bezichtigt die Richter
und das Publikum der Misogynie.
Vorbereitet wird diese gender-Zuschreibung durch die Geschichte des Hyste riephänomens selbst. Hippokrates, der den Begriff der hystera zum ersten Mal verwendet, vermutet, dass es sich bei der Gebärmutter (gr.: hystera), dem Entstehungs herd der Hysterie, um ein im Inneren der Frau lebendes Ti er handelt. 372 Daher soll
eine natürliche Verwand tschaft zwischen der ,Frau' und dem ,Tier' bestehen. Das
Ideologem einer vornehmlich ,weiblichen' Humanmimikry steht damit in der
misogynen Tradition ,animalisierter' Frauenbilder seit der Antike.
Vielleicht saß Misogynie zu Gericht; vielleicht dachten Juristen und Laien: So sind
alle Weibsen. Sie könnten sich aufSchopenhauer berufen, der gesagt hat: ,Di e Natur
hat dem Weibe nur ein Mittel gegeben, sich zu vertheidigen und zu schützen: die
Verstellung; es ist für eine Frau so selbstverständlich , zu lügen, wie für ein !hier, sich
seiner natürlichen Waffen zu bedienen.' 369
Die Meinung, dass vor allem Frauen eine Mimikry betrieben, die Mimikry also ein
Verhaltensmerkmal vor allem des weiblichen Geschlechts wäre, ist unter den Sexualforschern und misogynen Kulturkritikern der damaligen Zeit weit verbreitet. Der
Mediziner und Sexualforscher Havelock Ellis (1859-1939) vertritt die Auffassung,
dass der Mimikrytrieb unter Frauen weiter verbreitet ist als unter Männern. Er orientiert sich an der Biologie, in der der sexuelle Dimorphismus unter polymorphen
Schmetterlingen seit längerer Zeit bekannt ist. Die Weibchen einiger Schmetter lingsarten zeichnen sich durch eine größere Variabilität aus als die Männchen. Ellis
begründet dies mit der höheren nervlichen Erregbarkeit von weiblichen Lebewesen.
Er nimmt eine enge Beziehung (,,probably a real deep -lying nervous connection")
zwischen der Suggestibilität (,,suggestibility") der weiblichen Natur und der Mimi kry an . Mimikry ist für ihn die Fähigkeit, die Farbe der Umwelt anzunehmen
(,,special liability of female birds and many mammals to be mimetic in coloration ,
etc."): ,,Mimicry, or suggestibility is an adaptation to the environment, ensuring the
protection of the sex that is less able to flee or to fight." 370 Der berühmt -berüchtigte
Philosoph Otto Weininger (1880-1903) zitiert Ellis' ,,interessante Vermutung, daß
auch die Erscheinung der Mimikry mit der Suggestibilität in einem Zusammen hange stehe." 371
368
369
370
371
Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs
in ein pathologisches Symptom für Arzte und Juristen, Stuttgart 1891, 14-33. Richard von
Krafft -Ebing verfasst das forensisch -psychiatrische der Patientin. Vgl. Richard von KrafftEbing, ,,Ein Fall von originärer Paranoia vor Gericht. (Betrug, Paranoia, Hysterismus,
Contraere Sexualempfindung, Hypnotismus.) Gerichtsärztliches Gutachten mitgetheilt
von Prof. Dr. v. Krafft-Ebing in Graz", Friedreichs Blätter für gerichtliche Medizin und Sanitätspolizei l (1886), 36-58.
Harden, Köpfe, III, 42.
Ebd. [Hv. v. K.C.J
Havelock Ellis, Man and Woman. A Study of Human Secondary Sexual Characters, London
1894, 285, 324.
Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München
1980, 569. Wie die erhaltenen Notizen und gesammelten Rezensionen aus dem Nachlass
belegen, ist Fore! mit den Schriften Ellis' und Weiningers vertraut gewesen . In Forels
Nac hlass findet sich eine Rezension zu Weiningers Geschlecht und Charakter . Reustätter,
,,Der Fall Weininger", Münchner Neueste Nachrichten, 20.10 .1907, Nach!. Auguste Fore!, PN 31.3: 6.
8.6.5. Kriminologie. Der Mimikrym ensch als homo delinquens
Die Inkrimini erung der weiblichen Natur im juridisch -kriminologischen Dis kurs tritt wahrscheinlich bei keinem anderen so deutlich hervor wie bei Cesare
Lombroso . In seiner pseudo -evolutionsbiologischen Abhandlung über die Trieb struktur des Verbrechers rangiert die ,Frau' auf einer Stufe mit dem Kind und dem
,primitiven Wilden'. 373 Seine Engführung von (Sozial-) Darwinismus und Krimi nalanthropologie zielt auf die Ins zenierung der vermeintlichen Animalität des
Verbrech ers ab. Die Anfän ge des Verbrechens lassen sich nämlich ihm zufolge
bereits im Tierreich nachweisen. 374
372 Das Organ als Tier : Diese Vorstellung ist Jahrhunderte später in Francoi s Rabelais'
Gargantua und Pantagruel nachzulesen, der die Gebärmutter gleichfalls ein „Tier" nennt .
Francois Rabelais, Gargantua und Pantagruel, hrsg. Horst und Edith Heintze, Frankfurt
a.M./ Leipzig 1994, 3. Buch, 430 f.: ,,Ich nenne es [d.i. Gebärmutter] Tier, wobei ich sowohl der Lehre der Akad emiker als der Peripatetiker folge. Denn wenn, wie Aristoteles
sagt, selbstständige Bewegung das untrügliche Merkmal eines belebten Wesens ist und alles, was sich bewegt, Tier genannt wird, so nennt es Platon mit vollem Recht ein Tier, insofern er an ihm die willkürlichen Bewegungen der Beklemmung, Überstürzung, Faltenrun zelung und Empörung erkennt, welche oft so heftig sind, daß das Weib Bewußtsein und
jede andere Bewegung darüber verliert, gleich als wäre es all seiner Kraft beraubt, ohnmächtig, im Starrkrampf, vom Schlage getroffen oder scheintot." Ob die hysterische Dis position der Frau allein zugeschrieben werden darf, ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts
umstritten. Jean Martin Charcot vertritt die Position, dass nur Frauen hypnotisiert werden
können. Die Schule von Nancy um Hippolyte Bernheim, Ambroise Liebeault, Henri
Beaunis, Jules Liegeois weichen von dieser Auffassung ab. Sie nehmen an, dass auch untern
Männern hysterische Anfälle auftreten. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur
Hysterie sei an dieser Stelle nur verwiesen auf: Georges Didi -Huberman, Erfindung der
Hysterie. Die photographische Klinik von Jean -Martin Charcot, München 1997.
373 Cesare Lombroso, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien,
gegründet auf einer Darstellung der Biologie und Psychologiedes normalen Weibes von C(esare)
Lombroso und G. Ferrero, Hamburg 1894.
374 Im ersten Teil von L'Uomo delinquente lässt Lombroso die Genealogie des Verbrechens bei
Tieren und Pflanzen beginnen . Lombroso schätzt die Arbeiten Forels. Er zitiere unter anderem dessen Schilderung der Vorliebe der Ameisen für das Körpersekret der Blattläuse,
um das Phänomen der Abhängigkeit und der Habsucht unter Menschen zu erklären. Nach
Forei entsprich t dem Körpersekret der Alkohol, dessen Genuss eine vergleichbare psychi-
240
HUMAN MIMIKRY
PSYCHIATRIE
Hier liegt eine Parall ele zu Fore! vor, der den Patienten qua Pathologisi erung
kriminalisiert und das animal delinquens zum evolutionären Urahn des homo
delinquens erklärt. Multifaktoriell e Erk lärungsmuster zur Entstehung von Verbre chen und Verbr echern zu berücks ichtigen , wozu die zeitgenössische Kriminalistik
tendiert 375 , ist Forels Sache hing egen nicht, vertritt er ·doch einen kompromisslo sen (pseudo -)evolutionsbiologischen Determinismus . Erneut muss die Evolution
für pseudowiss enschaftli che Annahmen hinhalten: Der Verbrecher ist kein ,Pro dukt ' der G esellschaft, sondern der Evolution .376
Mimikry offenbart die ,monströse' Seite des Mens chen. Die mit der Idee der
Humanmimikry forcierte Animalisierung des Menschen entspricht einer Di skurs strategie, die auch die Figur der ,Frau' sowohl inkriminiert als auch pathologi siert
wie animalisiert. ,,Die Psychiatrie des Verbrechens nimmt ihren Anfang im 19. Jahr hundert mit einer Patholog ie des Monströsen." 377 Mi t Giorgio Agamben kann die
Diskursstrategie des Aus - und Einschlusses als eine „anthropologische Maschine" 378
bezeichnet werden. In ihrem Kern steht ein biopolitischer Ausschlussmechanismus,
der das ,Tier' beziehungsweise die animalischen Atavi smen im Mensch en identifi -
ziert: der „menschliche[ ] Körper selbst [wird zum] abgesonderten Tier". 379 Das
Nicht -Humane ist in diesem Falle die hysterische Mimikry.
375
376
377
378
sehe wie physische Abh ängigkeit unter Menschen hervorruft. Cesare Lombroso, Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1887-1890, !, 7.
Vgl. Karsten Uhl, Das ,verbrecherische Weib'. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im krimi nologischen Diskurs 1800 -1945, Münster 2003; Richard F. Wetzell, lnventing the crimina!.
A history of German criminology 1880 -1945, Chapel Hili 2000; Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat . Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform 18111933, Gö ttingen 2004; Silviana Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte
einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland
1880 bis 1980, Göttingen 2006 .
Auch als Psychiater verfolgt Fore! eine kompromisslose bio politische Agenda und als Sozialreformer tritt er für eine radikale Kriminalpolitik ein . Vgl. Jansen, ,,Ameisenhügel, Irrenhaus und Bordell" . Die ersten Zwangskastrationen in Europa werden von ihm in den
1890er-Jahren in Burghölzli durchgeführt, und zwar an, wie er schreibt, ,,zwei schwer
erblich belasteten Ungeheuern unter med izinischen Vorwänden" . Fore!, Der Weg zur Kultur, 13. Fore! bezeichnete sich selbst als Neomalthusianer. Das Bevölkerungswachstum
führt zur Verknappung von Ressourcen, weshalb die selektive Züchtung als Möglichkeit
zur Verbesserung von Kultur verstanden wird. Vgl. Auguste Fore!, Mein eugenischer Standpunkt (o.D ., 1908-1912), [Typoskript] Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1.265 .
Foucault, ,,Die Entwicklung des Begriffs des ,gefährlichen Menschen' in der forensischen
Psychiatrie des 19. Jahrhunderts", in : ders., Schriften in vier Bänden, III, 574. Vgl. zum
Begriffswandel von ,Monster' zur ,Monsrrösität ' als Bezeichnung des Verbrechers : Peter
Becker, ,,Der Verbrecher als ,monstruoser Typus'. Zur kriminologischen Semiotik der
Jahrhundertwende", in : Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monströsitäten,
hrsg. Michael Hagner, Göttingen 1995, 147-173.
Agamben, Das Offene, 47: ,,Nehmen wir die anthropologische Maschine der Modemen .
Sie funktioniert, wie wir gesehen haben, indem sie ein Schon -Humanes als (noch) Nicht Humanes aus sich ausschließt, das heißt sie animalisiert den Mens chen, indem sie das
Nicht -Humane im Menschen absondert."
24 1
8.6.6. Fabula docet.
Die Literatur und die Analyse des Fremdp sychischen
Dass Forels wissenschafdiche Schriften ein literarischer Charakter zu eigen ist, ist
vermutlich kein Zufall. D er Ameisenstaat ist ein beliebtes Sujet der Literatur zu
Beginn des 20. Jahrhunderts 380 , und womöglich schließt sich Fore! dem literari schen Trend an, um auf diese Weise dem Geschmack einer breiten Leserscha ft zu
entsprechen. Aber dies ist nicht der einzige Grund für die Literariz ität seiner wissenschaftlichen Texte.
Auffallend ist vor allem die Nähe zu einer bestimmt en Gattung: der Fabel. 381
Wie in den klassischen Fabeln verbinden sich in Forels wissenschafdichen Texten
skeptische Persp ektive und aufklärerischer Gestus . Aber anders als seine Vorläufer
glaubt der Biologe nicht mehr an den moralischen Charakter der Natur, an der
sich der Men sch bloß zu orientieren braucht, will er ein glückliches Leben füh ren. 382
Seine Vorliebe für die Fabel drückt sich exemplarisch in der Schilderung eines
Traums aus, die sich in Der Weg zur Kultur findet. Fore! berichtet von einer Exkur -
379 Ebd. Vgl. zu sozialdarwinistischen Menschenbildern: Peter Weingart, ,,Biologie als Ge sellschaftstheorie", in : Menschenbilder . Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850 -1914), hrsg . Achim Barsch, Peter M. Hejl, Frankfurt a. M . 2000, 146 166. Vgl. zum deutschen Sozialdarwinismus: Eve-Marie Engels, ,,Darwins Popularität im
Deutschland des 19. Jahrhunderts . Die Herausbildung der Biologie als Leitwissenschaft",
in : ebd ., 91-145.
380 Vgl. Maurice Maeterlinck, Das Leben der Ameisen, Stut tgart o.J.; Han Ryner, L' homme faurmi, Paris 1901. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Le Monde social desfaurmis erscheinen Theodor Lessings Meine Tiere (1925) und Hans Ewers über 500 Seiten starke
Abhandlung Ameisen . Theodor Lessing, Meine Tiere [1925], Berlin 2004; Hans Ewers,
Ameisen, München 1925, 308 . Christopher Hollingworth vertri tt die These, dass die Faszination für die Insekten und ihr massenweises Auftreten vor allem auf einem visuellen
Eindruck beruht. Die visuelle Grammat ik der Insektenwahrnehmung strukturiert den
Raum entlang einer vertikalen Achse, an deren Spitze der (menschliche) Beobachter stehe.
Damit wird das Verhältnis von Mensch und Tier hierarchisiert. Christopher Hollingworrh, Poetics ofthe Hive . The Insect Metaphor in Literature, Iowa City 2001.
381 Daneben verfasst er Gedichte naturwissenschaftlichen, sozialen wie religionsw issenschaftlichen Inhalts . Auguste -Henri Fore!, ,,L'ideal moderne. Chanson sur l'air de La
Femme que je veux", La Sentiene!le (26 .8.1915), Nach!. Au guste Fore!, PN 31.1: 980 2 ;
,,Rätsel" [Typoskript], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1:981; ,,Morale de la Creation", La liber pensee internationale (22 .7.1911), Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1:985; ,,A Dieu", La liber pensee internationale, Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1: 991 3 ; [ohne Titel; G edicht auf
Schopenhauer] [Typoskript], Nach!. Auguste Fore!, PN 31.1:994 1-3 .
382 Vgl. zur moralischen Autorität der Natur: The moral authority of nature, hrsg. Daston, Vidal.
242
HUMANMIMIKRY
sion in der Nähe von Yvorne, wo er sich auf die Suche nach neuen Ameisenarten
begibt. Er macht Rast unter einem Baum, wo er kurze Zeit später in einen tiefen
Schlaf fällt. In seinem Traum hört er die Tiere sprechen: Ameise, Amsel, Biene,
Blattlaus, Hund und Katze klagen über den grausamen Kampf ums überleben.
Jedes Tier ist dabei um die moralische Rechtfertigung seiner Handlungen bemüht.
Nachdem er aus dem Traum erwacht, lässt ihn die Frage nach der Möglichkeit
einer biologischen Ethik nicht mehr los.
Diese ganze Schar überall hergekommener, sprechender Tiere und Pflanzen, von
welchen jedes für sich oder für seine Sippe nacheinander die Moral und die Welt in
Anspruch nahm , hatte mich hochgradig aufgeregt. 383
Folgt die Natur moralisch~n Gesetzen oder ist die Moral nichts weiter als die Erfin dung des Menschen und damit eine bloße Illusion? Angesichts der Grausamkeit
der Natur lassen sich Zweifel an ihrem moralischen Charakter nicht von der Hand
weisen. Offensichtlich hält Fore! an der Möglichkeit einer verbindlichen Moral
fest, doch ist er weder .der Meinung, dass Natur per se moralisch ist, noch dass man
ihr hilRos ausgeliefert ist. Wenn nach Fore! das Gehirn, der Speicher für die „evolutive und kulturelle Vervollkommnung der Vorfahren" 384 ist, also die Evolution
des Gehirns mit der Evolution des Sozialen verbunden ist 385 , dann ergibt sich daraus eine denkbare pädagogische Lösung des Problems. Die Aufgabe von Kultur ist
es, die Natur zu erziehen, sie, wo nötig, moralisch zu disziplinieren. Kultur kann
die plastische Struktur des Gehirns beeinflussen und damit sich selbst, denn von
der Entwicklung des Gehirns hängen ja Fore! zufolge die sozio-kulturellen Verän derungen maßgeblich ab.386
Die literarische Form ist von entscheidender Bedeutung für seine wissenschaftliche und kulturphilosophische Argumentation. Fore! bedient sich der literari schen Gattung der Fabel, in der die Tiere sprechen. Die Passage erinnert an das
Vorwort, das Gotthold Ephraim Lessing seinen Fabeln voranstellt.
In der einsamsten Tiefe jenes Waldes, wo ich schon manches redende Tier belauscht,
lag ich an einem sanften Wasserfalle und war bemüht, einem meiner Märchen den
leichten poetischen Schmuck zu geben, in welchem am liebsten zu erscheinen, la
Fontaine die Fabel fast verwöhnt har. 387
383
384
385
386
Fore!, Der Weg zur Kultur, 47.
Ebd., 13.
Das ist die Grundannahme von: Tarde, Gesetze der Nachahmung .
Eine solche Erziehungsmaßnahme repräsentiert das bereits erwähnte Alkoholverbot, für
das Fore! eintritt. Denn wenn das Gehirn der Träger der Erbinformation ist, isc der Genuss von Alkohol einz uschränken, da er das neuronale Erbgut schädige.
387 Gotthold Ephraim Lessing, Fabeln in Prosa, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. Herbert
G. Göpfert, München/ Wien 1982, !, 9-120, hier 11. Vgl. zum Topos des sprechenden
Tiers in der literarischen Gattung der Fabel: Matthew Senior, ,,,When ehe Beasts Spoke':
Anima! Speech and Classical Reason in Descartes and La Fontaine", in : Anima!Acts: Configuring the Human in Western History, hrsg. Jennifer Harn, Matthew Senior, New York
1997, 61-84 .
PSYCHOAl'\/ALYSE
243
Das Motto fabula docet gilt auch für Forels ,Fabeln'. Aber seine Texte lehren noch
etwas Anderes. Während es in der Fabel des Aufklärers um die Moral geht, hin terfragt der Psychiater die biologischen Motive der Handlungen von Tier und
Mensch. Nicht mehr in der Literatur oder der Philosophie findet die ethische
Reflexion statt, sondern in der Psychologie, genauer: in der Evolutionspsychologie,
welche als die neue moralische Autorität auftritt.
Die Literatur verleiht den Tieren eine Sprache; in ihr kommen sie zu Wort.
Forels Traum liegt damit eine wissenschaftliche Wunschvorstellung zugrunde: die
bereits erwähnte Einheit von Menschen - und Tiersprache. Es sei daran erinnert,
dass er nur graduelle Unterschiede zwischen den Sprachen von Tier und Mensch
annimmt. Er beabsichtigt, das Seelenleben der Tiere über das Studium ihrer Sprache zu verstehen. Zugespitzt formuliert: Der Erzähler in Lessings Fabeln gibt seinen Platz an den Psychiater ab; die Tierpsychologie beerbt die Moralistik 388 ; die
Aufgabe der Aufklärung fällt nun der Biologie zu.
Die Fabel im wissenschaftlichen Text erfüllt also nicht die Funktion eines bloßen Ornats. Ihr kommt eine wesentliche Funktion fü r die Wissensproduktion
und die monistische Imagination einer universalen Psyche zu. Die Vorstellung,
dass Tiere die Menschensprache sprechen können, ist in den literarischen Fabeln
eine Fiktion; in den tierpsychologischen Schriften Forels wird sie zur Wirklich keit. Die epistemische Funktion der literarischen Gattung besteht also darin, die
Möglichkeits - und Rahmenbedingungen für eine monistische Tierpsychologie
zur Verfügung zu stellen.
Nur wer das Tier versteht, begreift auch den Menschen - und vice versa. In der
literarischen Gattung fallen die Grenzen zwischen den biologischen ,Gattungen'
weg. Es verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Tier. In der Fabel sprechen sie dieselbe Sprache. Alles fremdartige löst sich im Wohlklang der Literatur
auf.
8.7. Psychoanalyse.
Die „Lamarck -Arbeit"
(Sigmund Freud)
Ist sich der Mensch seiner Mimikry bewusst oder verläuft sie unbewusst? Die
Spontanität, mit der die psychischen und physischen Veränderungen erfolgen, legt
zumindest den Schluss nahe, dass sie sich der Kontrolle des Verstandes entzieht.
Ein Beispiel hierfür liefert die ,Scheintodmim ikry ' beziehungsweise das Totstel len, welches durch ein Gefühl der Angst hervorgerufen wird und bei der das
Unbewusste die Verfügungsgewalt über den Körper an sich reißt. Dieses Phäno 388 Mit dieser Deutung wird nicht nahegelegt, sämtliche myrmekologischen oder psychiatrischen Schriften Forels als Fabeln zu begreifen. Vielmehr gehe es um jene Schnittstellen,
wo ein Transfer von der Tier- zur Humanpsychologie stattfindet, um bestehende Wissenslücken auszufüllen.
244
HUMANMIMIKRY
PSYCHOANALYSE
men zeigt, was die Vorauss etzung für ein e erfolgreiche Täuschung der Umwelt ist:
Der Täuschung Dritter geht die Selbsttäuschung voraus; das Unbewusste überlis tet das Bew ussts ein .
Sandor Ferenczi und Jacques Lacan übernehmen den biologischen Mimikrybe griff und führen ihn in die Psychoanalyse ein. 389 Im Hintergrund der Ausweitung
auf den Menschen steht die Auseinandersetzung mit dem Lamarckismus, den sie
auf unterschiedliche Weise rezipieren . Mithilfe des Mimikrykonzepts
soll eine
wissenschaftliche Erklärung für die Plastizität des Organismus gefunden werden .
Die Anpassungsfähigkeit an die Umwelt bildet das Pen dant zu den Mechanismen
der Vererbung, welche seit geraumer Zeit im Zentrum des psychoanalytischen
Interesses stehen.
Ferenczi und Lacan führen die Arbeit Sigmund Freuds fort, der den Wissen stransfer zwischen lamarckistischer Biologie und Psychoanalyse initiiert. In einem
Brief aus dem Jahre 1917, in dem er die sogenannte „Lamarck -Arbeit" 390 gegen über Karl Abraham erstmals erwähnt, schreibt Freud, dass die Psyche den Körper
umformen kann. Um dies beweisen zu können, wendet er sich Lamarcks Theorie
zu :
herausstellen, die durch Anpassung des eigenen Körpers und die spätere durch
Umbildung der Außenweh (autoplastisch und heteroplastisch) usw.391
Ich habe Ihnen also wirkl ich nicht von der Lamarck-Idee geschrieben? Das ist zwischen Ferenczi und mir entstanden, aber keiner von uns hat jetzt Zeit und Stimmung, sie anzurühren . Die Absicht ist, L. [d.i. Lamarck] ganz auf unseren Boden zu
stellen und zu zeigen, daß sein ,Bedürfnis', welches die Organe schafft und umschajft,
nichts anderes ist als die Macht der unbewußten Vorstellungen über den eigenen Körper,
wovon wir Reste bei der Hysterie sehen, kurz die ,Allmacht der Gedanken' . Die Zweckmäßigkeit wäre dann wirklich psychoanalytisch erkläre; es wäre die Vollendung der
Psychoanalyse. Zwei große Prinzipien der Veränderung des Fortschrittes würden sich
389 Sigmund Freud verwendet den Begriff „Mimikry" in einem losen, metaphorische Sinne
ohne einen unmittelbaren Bezug zur Biologie. Er bezeichnet damit die Imitation beziehungsweiseVortäuschung psychoanalytischerBehandlungsmethoden durch eine Gruppe
von Psychologen, die sich zwar gerne als Psychoanalytiker ausgeben möchten, es aber
doch nicht sind, weil sie ohne die für die Psychoanalyse elementaren Konzepte der ,Übertragung' und des ,Widerstandes'arbeiten. Sigmund Freud, Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. Anna Freud, u.a., London/ Frankfurt
a.M. 1940 ff., X, 43-113, hier 54. Heute wird der Mimikry -Begriff in der Psychoanalyse
zur Bezeichnung von Krankheitssimulationen verwendet. Imitiert werden Krankheiten,
um sich mit den Eltern zu identifizieren. Anders als bei der Hysterie handelt es sich dabei
um einen bewussten Akt der Selbstschädigung. Vgl. Reinhard Plassmann, ,,Der Arzt, der
Artefakt-Patient und der Körper. Psychoanalysedes Mimikry-Phänomens", Psyche41, H .
10 (1987) , 883-899.
390 Sigmund Freund, Brief an Karl Abraham (Wien, 5.10.1917), in: Sigmund Freud, Karl
Abraham . Briefe 1907-1926, hrsg. Hilde C. Abraham, Ernst L. Freud, 2 . korrigierte Auflage, Frankfurt a.M. 1980, 244. 1917 beginnt Freud mit der Lektüre von Lamarcks Philosophischer Zoologie. Vgl. zuletzt zur Bedeutung des Lamarckismus: Eliza Slavet, ,,Freud's
,Lamarckism' and the politics of racial science",Journal of the history of biology 41 (2008 ),
37-80 .
245
Die in das Projekt gesetzten Hoffnungen sind hoch. Es ist gar von der „Vollendung
der Psychoanalyse" die Rede. 392 Die „konsequente Fortsetzung des Lamarckschen
Entwicklungsgedankens
[soll] zu einer Konsequenz der psychoanalytischen
Anschauung werden". 393
Der Beginn klingt verheißungsvoll, doch Freud bringt das Lamarck- Projekt
nicht zu einem Abschluss. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren . Möglicher weise räumt er der Vererbung einen größeren Stellenwert ein als der Anpassung.
Dieser Schluss deckt sich zumindest mit dem Umstand, dass sich Freuds Interesse
in den folgenden Jahren stärker auf den Aspekt der Vererbung psychischer Inhalte
(wie zum Beispiel Neurosen, Schuldgefühle etc. ) konzentriert. 394 Die Aufgabe, die
Anpassung zu untersuchen, übernimmt an seiner Stelle Ferenczi.
Innerhalb des Lamarck-Projekts misst Freud August Pauly, dem Begründer
und wichtigsten Vertreter des Psycholamarckismus, eine besonders wichtige Rolle
bei. In einem BriefFreuds an Ferenczi heißt es:
Mein Eindruck ist, daß wir uns voll den Psycholamarckisten, etwa Pauly, anschließen und wenig ganz Neu es zu sagen haben. Immerhin hat dann die PsA ihre Visitkarte bei der Biologie abgegeben.395
Die Nähe zum Psycholamarckismus resultiert aus einer psychologisierenden Lesart der Lamarckschen Biologie. Psychoanalyse und Psycholamarckismus gehen
dabei von denselben Prämissen aus: Der Wille beziehungsweise das Unb ewusste
kann eine morphologische Anpassung bewirken, um den Mangel und das daraus
hervorgehende Bedürfnis zu stillen. Die Psychoanalyse ist eine Kompensations -
391 Freud, Brief an Abraham (Wien, 11.11.1917), in: Sigmund Freud, Karl Abraham. Briefe
1907-1926 , 246 -248, hier 247. (Hv. v. K.C.] Ferenczi bleibt Freuds wichtigster Gesprächs-
partner. Freimütig räumt Freud ihm das „Urheberrecht" des Lamarck-Projekts ein. Freud,
Brief an Sandor Ferenczi (12. Juli 1915), in: Sigmund Freud, Übersicht der Übertragungsneurosen. Ein bisher unbekanntes Manuskript, hrsg. Ilse Gumbrich-Simitis, Frankfurt a.M.
1985, 90.
392 Freud, Brief an Abraham (Wien, 11.11.1917), in: Freud, Sigmund Freud, Karl Abraham.
Briefe 1907 -1926, 246-247. (Hv.v. K.C.]
393 Sigmund Freud, Brief an Georg Groddeck (Wien, 5.6.1917) , in: ders., Briefe 1873-1939,
hrsg. Ernst und Lucie Freud, Frankfurt a. M. 2 1960, 332 -334, hier 332.
394 Zu nennen ist vor allem Freuds Interesse an der „archaischen Erbschaft" beziehungsweise
am „archaischen Erbe". Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders., Gesammelte Werke, XVI, 101-248, hier 204 f.; ders., ,Ein Kind wird geschlagen', in: ders., Gesammelte Werke, XII, 195-226, hier 214.
395 Freud, Brief an Sandor Ferenczi (28 . Januar 1917), Zit. nach: Grubrich-Simitis, ,,Metapsychologie und Metabiologie", in: Freud, Übersicht der Übertragungsneurosen, 105 f. Freud
beruft sich unter anderem auf den Neolamarckisten Paul Kammerer, auf dessen Gesetz der
Serie er in Das Unheimliche verweist.Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: ders., Gesammelte Werke, XII, 227-268, hier 251 (Anmerk. 1).
246
HUMANMIMIKRY
theorie des Mangels. Denn über den Mangel, der erlitten, verdrängt und subli miert werden kann und muss, definiert sich das Subjekt der Psychoanalyse. Wenn
Freud davon ausgeht, dass die „Not des Lebens" 396 die treibende Kraft der mensch lichen Evolution ist, dann wird einsichti g, warum Lamarcks Theorie des Bedürf nisses sein Int eresse so stark anzieht. Freud, der das griechische Wort ,ananke', das
von ihm als ,Bedürfnis' übersetzt wird, verwendet, schlägt vor, den Triebreiz ein
„Bedürfnis" zu nennen. 397 Auch für Lamar ck steht das ,Bedürfnis' (besoin) am
Anfang des evolutionären Transformationsprozesses. Sowohl in der Psychoanalyse
als auch in der lamarckistischen Biologie steht die Erfahrung eines Mangels im
Mittelpunkt der psychischen wie physischen Realität. Kurz, der Mangel stellt die
notwendige Bedingung von Veränderung dar. 398
Die Übernahme biologischer Begriffe geht Hand in Hand mit ihrer Erweite rung und Anpa ssung an die psychoanalytische Theorie. Aus dem biologischen Instinkt wird der Trieb, der über das Ziel des bloßen Üb erlebens hinausgeht, wie das
Beispiel des Todestriebs zeigt; aus dem Bedürfnis wird das Begehren, das, nicht
saturierbar, in einer ständigen Bewegung um unerreichbare Objekte kreist. 399
In diesem Kapitel soll anhand der Mimikry eine Perspektive auf die LamarckArbeit vorgestellt werden, die sich auf das Verhältnis der Psychoanalyse zum Psycholamarckismus konz entriert. Es wird deutlich werden, dass die Psychoanalyse die im
Psycholamarckismus beginn ende Psychologisierung des Mimikryparadigmas konsequent fortführt . Die Psychoanalyse ist damit das Pendant des Psycholamarckismus.
Denn während der Psycholamarck ismus die Mimikryphänomene in der Ti erwelt
beschreibt, untersucht die Psychoanalyse die Formen der Mimikry unter Menschen.
Eine besondere Bedeutung kommt dabei der die Assoziierung der M imikry mit dem
Hystery-Paradigma zu. 400 So schreibt beispielsweise Ferenczi, dass die Hysterie ihre
„Analogie" unter den „Anpassungsart[en] in der Ti erwelt" findet. 401 Er sucht nach
der verloren gegangenen Anpassungsfunktion der Hyst erie, die diese in Gestalt der
Mimikry einst inne hatte. Bezüglich der Suche nach evolutionären Urformen von
396 Ders., 22. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders ., Gesammelte Werke,
XI, 351-371, hier 368 .
397 Ders ., Trieb und Triebschicksal, in : ders ., Gesammelte Werke, X, 209 -232, hier 212: ,,Wir
heißen den Triebreiz besser ,Bedürfnis'; was dieses Bedürfnis aufhebt, ist die ,Befriedi gung'. Sie kann nur durch eine zielgerechte (adäquate) Veränd erung der inneren Reizquelle gewonnen werden."
398 Trotzdem ist auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen. Der Mangel wird bei Lamarck durch externe Reize, das heißt durch Veränderungen der Lebensbedingungen hervorgerufen. In der Psychoanalyse kann aber auch dann von einem ,Mangel' die Rede sein,
wenn ein innerpsychischer Reiz vorliegt. Lamarck geht von einem äußeren Reiz aus, wäh rend die Psychoanalyse die Bedürfnissrrukturen ins Unbewusste verlegr.
399 Instinkt und Trieb, Bedürfnis und Begehren sind aus diesem Grund nicht miteinander
gleichzusetzen.
400 Vgl. Kapitel 3.3.
401 Sandor Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M . 1970/72, II, 172.
PSYCHOAL'\fALYSE
247
Neurosen und Psychosen spricht Freud selbst von phylogenetischen „Phantasien'"' 02 ,
die in ihrer Gesamtheit eine Brücke zwischen Evolutionsbiologie und Psychoanalyse
bilden .
8.7.1. Vzta minima.
Humanmimikry als Totstell en und traumatische Schockstarre
(Sandor Ferenczi)
„Ihr habt den Weg vom Wurme zum Mens chen gemacht und vieles ist in euch
· noch Wurm.'"' 03 Di esen Satz aus Nietzsches Zarathustra stellt Ferenczi an den
Beginn seiner Abhandlung „Hysterische Materialisationsphänomene". Darin verfolgt er die Genealogie psychischer Störungen zurück bis zu den Anfangen der
evolutionären Urg eschichte . Seine Grundthese ist, dass der Hysterie vormals eine
Anpassungsfunktion innewohnt, die es dem Tier erlaubt, auf eine unmittelbare
Lebensgefahr zu reagieren.
Zur Mimikry zählt Ferenczi vor allem die thanatosis, welche von Biologen auch
als „Scheintot -Mimicry'"' 04 bezeichnet wird . Unt er den „Mimikry genannten An passungsmodus" fällt, in Ferenczis eigenen Worten, das „Sichtotstellen gewisser
Tiere bei drohender Gefahr" .405 Ihr entspricht die unter Hysterikern beobachtete
kataleptische Lähmung von Körperbereichen. 406
Ferenczis Reflexionen kreisen um die Frage, welche physiologis chen Reaktio nen die Todesangst auslösen. Im Rahmen einer Ätiologie von Angstphänomenen
stößt er auf das besagte Verhalten der sich tot stellenden Tiere. Sie erinnern ihn an
jene traumatisierten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, di e die Kontrolle über
ihren Körper verlieren.
Die Symptome des Schrecks : das Festwu rzeln der Beine, das Zittern, das Stocken
der Sprache, scheinen nützliche Automatismen zu sein; man wird durch sie an das
Sich-Totstellen gewisser Tiere bei Gefahr erinnen. 407
402 Freud, Brief an Sandor Ferenczi (12. Juli 1915), in: ders., Übersicht der Übertragungsneuro sen, 89.
403 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Leipzig 1909, 13. Zit . nach Sandor Ferenczi,
„Hysterische Marerialisationsphänomene. Gedanken zur Auffassung der hysterischen
Konversion und Symbolik" (1919), in : ders., Bausteine z ur Psychoanalyse. Arbeiten aus den
Jahren 1908 -1933, Bern 1984, III, 129-147, hier 129.
404 Piepers, Noch einmal. lvlimicry, Selektion, Darwinismus, 107. Vgl. auch Radl, Geschichte der
biologischen Theorien, 259; Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft, 545.
405 Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse, II, 172.
406 Die hysterische Lähmung gleicht einem Reflex und ist daher die schnellstmögliche Antwort
des Körpers auf eine unmittelbare Gefahr. Sigmund Freud, Über den psychischen Mechanismus
hysterischerPhänomene (1893), ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, 181-195, hier 195.
407 Ferenczi, ,,Die Psychoanalyse der Kriegsneurosen (1918)", in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, III, 95-118, hier 110. [Hv. v. K.C.J
248
249
HUMAN MIMIKRY
PSYCHOANALYSE
Nach Ferenczi liegt eine Verhaltensähnlichkeit mit einem „atavistische[n} Vorbild
08
[ ]'"'
beziehungsweise eine Analogie mit einer „Protopsyche'"+ 09 vor, die aus einer
frühen phylogenetischen Entwicklungsstufe stammt.
Bei der Reaktivierung „jene[r] primitiven Lebensvorgänge" werden die physio logischen Körperfunktionen
reguliert wie etwa die „Bewegung der glatten Mus kelfasern der Gefäßwände", die „Tätigkeit der Drüsen", die „formale und chemi sche Zusammensetzung d es Blutes" sowie die gesamte „Gewebsernährung". 410 Der
vorübergehende Ausfall der Organfunktionen
dient der Reduzierung der Vital funktionen auf ein Minimum, wodurch ein Zustand hergestellt wird, der der
Totenstarre täuschend ähnlich ist.
Im Gegensatz zur allo - oder heteroplastischen Anpassung, die auf die Veränderung der Umwelt abzielen, unterzieht sich der Organismus bei der autoplastischen
Adaptation einer zielgerichteten Veränderung. 411 Letztere kann sowohl die psychi sche als auch die physische Modifikation umfassen. ,,[E]in rein psychischer Vorgang [kann] in einer physiologischen Körperveränderung
seinen Ausdruck
finden". 412
In „Hysterische Materialisationsphänomene.
Gedanken zur Auffassung der
hysterischen Konversion und Symbolik" (1919) macht Ferenczi konkrete Vorschläge zur Erklärung der Plastizität des menschlichen Körpers. Die autoplasti sche Transformation nennt er ein „Materialisationsphänomen",
dessen
breitung findet. 414 Freud selbst hat die weitreichenden Konsequenzen einer autoplastischenMöglichkeitangedacht,
ohne sie jedoch theoretisch weiterzuverfolgen. 415
Auto - und Alloplastie entsprechen dem, was in der zeitgenössischen Suggesti onstheorie als Auto - und Heterosuggestion bezeichnet wird. Ein Körper verwan delt sich, weil entweder ein bestimmtes Bild ,suggeriert' wird oder weil das Indivi duum sich eine Vorstellung so lange einredet, bis es an ihre Existenz glaubt. Gemäß
einer damals populären Darstellung der Suggestionslehre ist die Suggestion „eine
Idee, die sich im Unterbewußten in die entsprechende Wirklichkeit verwandelt." 416
Die Psychoanalyse erwe itert diese Auffassung insofern, als die Verwandlung nicht
auf den Bereich des Un - beziehungsweise Unterbewussten beschränkt bleibt. Das
· Vorstellungsbild kann morphologisch nämlich realisiert werden.
Das Interesse an der vita minima trägt einen historischen Index. Unter die
Scheintodmimikry fallen jene, auch unter der Bezeichnung ,shell shock' bekannten
pathologischen Körperreaktion von Soldaten, die traumatisiert von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zurückkehren. 417 Es ist daher kein Zufall, dass
Mimikry in dem 1918 verfassten Aufsatz „Die Psychoanalys e der Kriegsneurosen"
Erwähnung findet. In der kriegerischen Situation wird der Körper in einen psycho-physischen Ausnahmezustand versetzt. Zieht man, wie Freud und Ferenczi
dies vorschlagen 418 , Darwins Vors tellung von dem evolutionären Funktionswan -
Wesen darin [besteht], dass sich in ihm ein Wunsch, gleichsam magisch, aus der im
Körper verfügbaren Materie realisiert und - wenn auch in primitiver Weise - plastisch dargestellt wird. 413
Mit dem Wort ,Materialisationsphänomen'
belehnt Ferenczi das zeitgenössische
Vokabular der Parapsychologie und des Okkultismus, modische Geistesströmun gen <;ierZeit, in denen die Vorstellung einer physiologischen Plastizität weite Ver-
408 Damit entspräche die Hysterie einem psychologischenAtavismus, was im Einklang steht
mit der allgemeinenVorstellung,der zufolgeviele „pathologischeReaktionen" die „Wiederholungen überwundener Anpassungsarten" darstellen. Ferenczi, ,,Die Psychoanalyseder
Kriegsneurosen(1918)",117.
409 Ders., ,,HysterischeMaterialisationsphänomene", 138.
410 Ebd.
411 „In Gesprächen über die Entwicklungsfrage pflegen wir mit Freud dieses ursprüngliche
Stadium das autoplastische zu nennen, im Gegensatz zum späteren at!oplastischen". Ferenczi, ,,HysterischeMaterialisationsphänomene", 138. Vgl. auch die Beschreibungvon Jean
Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, die davon ausgehen, dass sich der „unbewußte
Wunsch" weniger „in einem visuellen Bild" niederschlägt als in „körperlichen Befindlichkeiten und Vorgängen." Vgl. Art. ,,Autoplastisch - alloplatisch", in: Jean Laplanche, JeanBertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1999, 83.
412 Ferenczi, ,,HysterischeMaterialisationsphänomene", 139.
413 Ebd., 137.
414 Vgl. zum Materialisationsphänomen: Albert von Schrenck-Notzing, Materialisationsphae nomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie, München, 1914.Vgl.
zu Freuds und Ferenczis durchaus kritischer Beschäftigung mit der Telepathie: Pamela
Thurschwell, Literature, technology and magical thinking, 1880-1920, Cambridge, u.a.
2001, 115-151.
415 Bereits in Das Unbewußte befasst Freud sich mit diesem Thema. In einem Brief an Georg
Groddek nimmt er auf eine vermeintlich „unscheinbare Note" im Text Bezug, die im Zusammenhang mit dem Lamarck-Projekt steht und auf die er in seinem Brief erstmals näher eingeht. Nach Freud kann das Unbewusste auf die somatischen Vorgänge einwirken,
wozu das Bewusstseinnicht imstande ist. In Freuds eigenen Worten: Die „intensiveplastische Einwirkung auf die somatischen Vorgänge" ist das „Vorrecht[] des Ubw". Weiter
heißt es: ,,,Die Erwähnung eines andern bedeutsamen Vorrechts des Ubw sparen wir für
einen andern Zusammenhang auf.' Ich will Ihnen verraten, was hier zurückgehalten worden ist: Die Behauptung, dass der unbewußte Akt eine intensive plastische Einwirkung
auf die somatischen Vorgänge hat, wie sie dem bewussten Akt niemals zukommt."
Sigmund Freud, Brief an Georg Groddeck (Wien, 5.6.1917), in: ders., Briefe 1873-1939,
hrsg. Ernst und Lucie Freud, Frankfurt a.M. 2 1960, 332-334, hier 332 f.
416 Charles Baudouin, Suggestion und Autosuggestion. Psychologisch-Pädagogische Untersuchung auf Grund der Erfolge der neuen Schule von Nancy, Dresden 1924, 60.
417 Vgl. zum ,shell shock': Inka Mülder-Bach, ,,Einleitung", in: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, hrsg. dies., Wien 2000, 7-18; Paul Lerner,
„An Econorny of Memory. Psychiatrists, Veterans and Narratives of Trauma in Weimar
Germany", in: Modernität und Trauma, hrsg. Mülder-Bach, 79-103.
418 Freud macht sich die „Darwinschen Prinzipien" zu Nutze, um beispielsweisedie Phylogenese psychischer Erkrankungen zu rekonstruieren. Dabei stützt er sich auf Charles
Darwins The Expression of The Emotions in Man and Animals (1872),um das Verhaltenvon
Menschen und Tieren miteinander zu vergleichen.Nach Darwin kann das, was früher ei-
250
25 1
HUMAl'\fMIMIKRY
PSYCHOANALYSE
del des Verhaltens heran, so lässt sich die Mimikry als ein einst durchaus
„nützliche[r] Automatism[us]" verstehen. 419 Die Soldaten reaktivieren auf offenem
Feld im Augenblick der höchsten Gefahr den Schutzmechanismus des Sich-Totstellens.
Ferenczis beabsichtigt, die Kriegsneurosen einerseits und die Überlebensstrategi en der Insekten im Kampf ums Dasein and ererseits aufeinanderzubeziehen . Damit wird der Krieg als ein ,,,Naturereignis""' 20 in die menschliche Evolution integriert. In der kriegerischen Extremsituation wird der Mensch zum Tier respektive
zum ,Mimikrytier', das auf dem Schlachtfeld um sein Überleben kämpft. Der trau matisierte Körper ist stumm und drückt mit lautlosen Zeichen aus, was sich der Verbalisierung entzieht. Mimikry ist vorsprachlich, weil der stumme Körper der Pantomime jenseits und vor der Sprache ,spricht'. Zu erinnern ist hier an Freuds Bezeichnung der vom Nachahmungstrieb besessenen Hysteriker als „Pantomimen". 421
Von Adorno, der an die psychoanalytis che Vorstellung der Mimikry unmittel bar anschließt, stammt eine pointierte Beschreibung des Totstellens, das er in eine
Nähe zum Todestrieb rückt. In der Mimikry sucht die vita minima die Nähe zum
Tod.
kind. 423 Unter die Mimikry fällt die ,,Identifikation" beziehungsweise die „beim
424
Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung".
In seinen
im Jahre 1964 gehaltenen Seminaren hebt er diese Funktion der Mimikr y erneut
hervor. 425
Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen am
Menschen sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll
für seinen Fortbestand durch Angleichung ans Tote. 422
Das eigentliche Problem ist die Frage, ob wir die Mimikry einer form bildenden Kraft
eben des Organismus zuschreiben müssen, der ihre Manifestationen aufweist.
Wenn dem so wäre, müssten wir erfassen können, über welchen Umlauf jene Kraft
in der Lage sein könnte, nicht nur der Gestalt des per Mimikry nachgeahmten Körpers, sondern auch des Verhältnisses desselben zum Milieu Herr zu werden, in dem
er sich bewegt, sei's dass er sich unterscheidet, oder, im Gegenteil, mit ihm eins
wird .426
Mimikry ist ein formbildender Prozess, bei dem sich ein Körper in das Vor-Bild
verwandelt. Diese Verwandlung kommt einer Transformation im Sinne Lamarcks
gleich; In einem nächsten Schritt wird die Nachahmung als eine teleologische
Anpassung gedacht.
Immer dann, wenn es um Nachahmung geht, müssen wir uns davor hüten, sofort
an einen andern zu denken, der nachgeahmt werden soll. Nachahmen heißt ganz
gewiss: ein Bild reproduzieren. Aber im Grunde heißt es, dass das Subjekt sich in
427
eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfasst wird.
Auch an niederen Organismen lässt sich nach Lacan diese Grundtendenz des Lebens
wiedererkennen, sich der Welt zu zeigen.428 Sich zeigen wollen bedeutet, und dafür
8.7.2. Das fotografierte Subjekt.
Zum Verhältnis von körperlicher Plastizität und Bildlichkeit
(Jacques Lacan)
Die durch die Mimikry hervorgerufenen körperlichen Veränderungen, für die
sich Jacques Lacan ungefähr drei Jahrzehnte später interessiert, unterscheiden sich
wesentlich von jenen körperlichen Symptomen, die Ferenczi beschreibt. In Le stade du miroir comme formateur de la fonction du je teile qu'elle nous est revelee dans
!'experience psychanalytique verwendet Lacan den Begriff „mimetisme" für die
Insektenmimikry wie für die Nachahmung des Spiegelbildes durch das Klein -
419
420
421
422
ner bestimmten Aufgabe dient, seine Funktion im Laufe der Evolution verändern oder verlieren. Ursprünglich dient die Hysterie dazu, Spannung durch die Ableitung von Erregungen abzubauen. Sigmund Freud, ,,Studien über Hysterie", in: ders., Gesammelte Werke, I,
75-312, hier 147.
Ferenczi, ,,Die Psychoanalyse der Kriegsneurosen (1918)", 110.
Benjamin, Gesammelte Werke, IV 462 .
Sigmund Freud, ,,Das Interesse an der Psychoanalyse", in : ders., Gesammelte Werke, VIII,
389-420, hier 399 .
Adorno, Gesammelte Schriften, III, 205.
423 Jacques Lacan, Le stade du miroir comme formateur de Lafonction du Je telle qu'elle nous est
revefee dans l'experience psychanalytique, in: ders., Ecrits, Paris 1966, 93-100, hier 96.
424 Ders., ,,Das Spiegelsradium als Bildner der Ichfunkrion, wie sie uns in der psychoanalyti schen Erfahrung erscheint . Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17.Juli 1949", in : ders., Schriften l, hrsg. Norbert Haas, Olten/ Freiburg i.
Br. 1973, 63-70, hier 64.
425 Im Unterschied zum früheren Spiegelsradiumsaufsarz stellt in den Seminaren des Jahres
1964 die Phänomenologie der Wahrnehmung den beherrschenden theoretischen Problemkreis der Untersuchung dar. Lacans Reflexionen zur Mimikry sind bislang von der Forschung vorwiegend unter bildwissenschafdichen Gesichtspunkten erörtert worden. Vgl.
zuletzt Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. Claudia
Blümle, Anne von der Heiden, Berlin 2005; Bernhard Siegen, ,,Der Blick als Bild-Störung.
Zwischen Mimesis und Mimikry", in: ebd., 103-126; Berz, ,,Die vier Verschiebungen des
Blicks", in : ebd., 183-216. Berz verortet Lacans Reflexionen aus dem Jahre 1964 im wissenschafrshisrorischen Kontext der Mimikryfotschung der 1930er-Jahre, sich vornehmlich auf
die wahrnehmungstheorerische Dimension konzentrierend . Im Unterschied dazu liegt der
Schwerpunkt der vorliegenden Überlegungen auf dem frühen Text zum Spiegelsradium, in
dem die formbildende Funktion der Mimikry im Vordergrund steht.
426 Jacques Lacan, ,,Die Spaltung von Auge und Blick" (19. Februar 1964]", in: ders., Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI, Olren/ Freiburg i. Br. 1978, 73-84, 80 . (Hv. v. K.C.J
427 Ders., ,,Linie und Licht", 106.
428 Es sei an dieser Stelle auf die Arbeiten Henri Bergsons hingewiesen, in denen fotografische
Analogien und Metaphern auf eine ähnliche Weise verwendet werden. In L' evolution crea-
252
253
HUMAN MIMIKRY
PSYCHOANALYSE
ist die Mimikry das beste Beispiel, ein Selbstbild zu reproduzieren, das heißt, sich
selbst auszustellen und sich so dem Blick des Anderen preiszugeben . In dieser exhi bitionistischen Dimension besteht die Besonderheit des Schautriebs. 429Um diese
Annahme zu belegen, wählt Lacan ein Beispiel aus der Tierwelt. Das farblich
gefleckte Krustentierchen caprella acanthifera passt sich an die zwischen Tier und
Pflanze stehenden Briozoaren an. ,,[E]s schreibt sich in das Tableau ein. Hier kann
dann im eigentlichen und ursprünglichen Sinne von Mimikry die Rede sein."430
In seinen späteren Reflexionen zur Mimikry aus dem Jahr 1964dominieren wahr nehmungstheoretische Aspekte. Der Unterschied zu dem früheren Mimikrykonzept
im Aufsatz zum Spiegelstadium fällt deutlich aus. Dass ein Körper sich tatsächlich
verwandeln kann, wenn er ein Bild imitiert, diese Idee tritt in den späteren Schriften
in den Hintergrund. Es scheint, als ob sich der Schwerpunkt seines Interesses nach
der Fertigstellung des Spiegelstadiumsaufsatzes von einer Theorie der körperlichen
Verwandlung zu einer Theorie des Blicks verschiebt. Diese Verschiebung wird zweifelsohne durch den theatralischen Charakter der Mimikry vorbereitet und begüns tigt . So ist im Spiegelstadiumsaufsatz vom „Drama" der Ichbildung die Rede; die
Mimikry ereignet sich im „Speculum mundi" beziehungsweise im „Schauspiel der
Welt", in dem die Lebewesen im Grunde immer „angeschaute Wesen" sind. 431
Im Zentrum des Spiegelstadiums steht eine theatralische Szene par excellence:
In ihr ist das Subjekt sowohl Akteur als auch Zuschauer. In Le stade du miroir wird
eine Theorie der Entwicklung des Kleinkindes entworfen, das im Alter von sechs
bis achtzehn Monaten noch keine ausreichende motorische Kontrolle über den
eigenen Körper erlangt hat. Sich auf das Retardationsprinzip des Anatomen Lode wijk Bolk berufend, geht Lacan aufgrund der „anatomische[n] Unvollendetheit des
Pyramidalsystem[s]" von der „spezifischen Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt"
432
aus. Der Mangel löst das Bedürfnis aus, das motorische D efizit auszugleichen.
Diese Kompensationsfunktion übernimmt die Imagination. In dieser Zeit lernt
das Kleinkind sein Spiegelbild zu er- und verkennen. Im jubilatorischen Moment
erblickt es die „totale Form" seines Körpers, ,,kraft derer das Subjekt in einer Fata
Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt". 433Diese Selbsttäuschung resultiert in eine Spaltung des Subjekts in ein imaginäres Ich- Ideal (moi) und ein Ich
(je). Das Subjek t verkennt sich selbst und seine Situation. Die Skotomisation
erlaubt jedoch nicht, das Ohnmachtsempfinden vollständig vergessen zu machen.
Die Erinnerung erhält sich im Unbewussten und kehrt später in Träumen und
Wahnvorstellungen in der bedrohlichen Gestalt eines zerstückelten Körpers wieder.434
429
430
431
432
trice greift er zu einer technischen Analogie und vergleicht den Pigmentf!eck und das Auge mit der focografischen Platte und dem focografischen Apparat. Henri Bergsan, L'evolution creatrice, Paris 1909, 77 : ,,La photographie s'est inflechie sans doute, peu apeu, dans Je
sens d'un appareil photog raphique; mais est-ce la lumiere seule, force physique, qui aurait
pu provoquer cet inflechissement et convertir une impression laissee par eile en une machine capable de l'utiliser?"
Jacques Lacan, ,,Linie und Liehe", 102. Der Schautrieb der Mimikry ist der innere Impuls,
das Begehren danach, sehen und gesehen zu werden, das heiße, sich selbst in ein tableau zu
setzen. ,,Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau." Daher erklärt
sich Lacan Interesse an der Anagenese des Auges und den Ozellen, lichtempfindlichen
Hautpartien, aus denen sich bei einigen Arten Augen entwickelt haben . Ebd . 97.
Ebd., 105. [Hv. v. K.C.] Dieses Phänomen wird für gewöhnlich nicht als ,Mimikry' bezeichnet.
Lacan, ,,Das Spiegelstadium", 67, 81. Vgl. zuletzt zur Theatralitär der Psychoanalyse:
Patrick Primavesi, ,,Theater, Szene und Spiel", in: Freud -Handbuch . Leben - Werk- Wi'rkung, hrsg. Hans -Martin Lohmann, Joachim Pfeiffer, Stungart/ Weimar 2006, 271-276.
Lacan, ,,Spiegelstadium", 66.
Lacans Theorie des Blicks reaktiviert ältere Paradigmen, die aus epigenetischen
Theorien seit der Antike bekannt sind . Zu nennen ist zum Beispiel das sogenannte
,Versehen' der Mutter, in dem der Grund für embryonale Missbildungen gesucht
wird. Wenn ein Kind mit tierähnlichen Zügen geboren wird, so pflegt man früher
diese Kuriosität damit zu erklären, dass die Mutter ein solches Tier während der
Schwangerschaft angeblickt und sich dieses Bild auf den Embryo übertragen hat.
,Bild' und ,Bildung' werden damit unmittelbar aufeinander bezogen. 435
Es ist also nicht das Subjekt, sondern das Bild, dem eine aktive Rolle bei diesem
Prozess zugeschrieben wird. Die Kraft, die den Körper formt, liegt nicht ausschließlich im, sondern auch außerhalb des Subjekts. 436Das heißt, Ich-Bildung ist
ein sowohl aktiver als auch passiver Prozess. Noch in seinen späteren Sch rift en
vergleicht Lacan diesen Vorgang mit der Herstellung einer Fotografie .
433 Ebd ., 64 .
434 Man hat es dabei mit „hysterischen Sympcomen" zu tun, die sich physisch auch in „Spaltungs- und Krampfsympcomen" ausdrücken können. Ebd., 67.
435 Im Unterschied zur hiscorischen Epigenesis -Theorie wird jedoch die Rolle der Mutter bei
Lacan deutlich abgeschwächt. Denn die Wahrnehmung des Bildes verläuft zum einen
nach der Geburt und zum anderen nicht über die Mutter. Die Mutter übernimmt stattdessen die Rolle eines Zeugen, der dem Kind die Existenz des Gesehen bestätigt . Dies gehe
aus einem späteren Kommentar Lacans aus dem Jahre 1958 hervor, der von Daniel
Lagaches festgehalten wird. Jacques Lacan, ,,Remarque sur le rapport de Daniel Lagache:
,Psychoanalyse er scructure de la personnalire"' [1960], in : Lacan, Ecrits, 647-684, hier:
678 . Vgl. Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent -stellung der Psychoanalyse,
Wien 2000, 147 f. Im Unterschied zu der früheren Fassung des Spiegelsradiumsaufsarzes
schreibt Lacan hier der Mutter eine neue wie entscheidende Funktion innerhalb der Mut ter-Kind -Dyade zu. In seinen Nachträgen hält Lacan fest, dass sich das Kind nicht allein
vor dem Spiegel befindet, sondern von der Mutter gehalten wird. Das Kind dreht sich zu
ihr um und erhält von ihr die anerkennende Bestätigung über die Richtigkeit des Gesehenen. Erst nach der Anerkennung durch einen Dritten, durch den Anderen, der scho n immer in der Reaktion enthalten ist, bricht der Jubel aus . Dazu schreibt Weber, Rückkehr zu
Freud, 148: ,,[D]ie Anerkennung [geht] vom Ort des Anderen aus und nicht vom identi schen Subjekt, vom Ich." Im Spiegelstadium ,versiehe' sich also nicht die Mutter, sondern
das Kind, das sich unter ihrer Anleitung einer Selbsttäuschung hingibt.
436 Mikkel Borch-Jacobsen führe diese Vorstellung auf die Idee der paideia bei Flacon zurück,
dessen Einfluss er im Hintergrund des Aufsatzes zum Spiegelstadium vermutet. Vgl Mikkel
Borch-Jacobsen , lacan . Der absolute Herr und J\!Ieister,München 1999, 75 -79.
254
HUMANMIMIKRY
Auf eine ähnliche Weise wie die neolamarckistische Mimikrytheorie, die die
organismische Oberflä che der Insekten mit einer fotografischen Platte gleichsetzt437,stellt er eine Analogie zwischen dem menschli chen Körper und der Foto grafie her.
Die ganze Oberfläche der Haut kann - aus den verschiedensten Gründen , die
durchaus nicht immer visueller Art sind - lichtempfindlich sein. [... ] Durch den
Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument darstellt, mit dessen Hilfe
das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich - wenn Sie mir
erlauben, daß ich mich, wie so oft, eines Wortes bediene, indem ich es in seine Kom ponenten zerlege - photo -graphiert .438
Hie r verarbeitet er die Thesen aus dem Artikel „Mimetisme et psychasthenie
legendaire", in dem Caillois Ja cques Lo ebs Begriff der telephotographie in teleplastie umbenennt. 439 Lacan setzt damit Caillois' Idee eines Wissenstransfer zwischen
Biologie und Psychoanalyse in die Tat um. 440
437 Vgl. Kapitel 3.2.
438 Lacan, ,,Linie und Licht", 109. Dass Anpassung als eine Nachahmung und Nachahmung
als eine fotografische Reproduktion verstanden werden kann, ist eine Vorstellung, die bereits um 1900 zirkuliert. In der Soziologie zieht sich die ,Fotografie-Analogie' durch die
Texte . Im Vorwort der zweiten Auflage der im Jahre 1890 erschienen Les lois de i'imitation
schreibt Gabriel de Tarde über die Nachahmung, sie sei die „Fernwirkung eines Geistes
auf einen anderen, die in der quasi fotografischen Reproduktion eines zerebralen Nega tivs
durch die fotografische Reproduktion eines anderen Gehirns besteht . - Wenn die fotografische Platte sich nun plötzlich dessen bewusst würde, was in ihr vor sich geht, würde sich
die Natur des Phänomens dann wesentlich ändern? - Ich verstehe unter Nachahmung jeden Abdruck zwischengeistiger Fotografie, sei sie nun gleichsam gewollt oder nicht, passiv
oder aktiv ." Tarde, Gesetze der Nachahmung, 10.
439 Loeb, ,,Die Bedeutung der Anpassung der Fische", 1015 f. Lacan, ,,Die Spaltung von Auge
und Blick", 79 f.: ,,Ich will Sie, unter anderem, nur auf ein Büchlein hinweisen, das viele
von Ihnen gewiß kennen : l\!feduse et compagnie von Caillois, in dem die Anpassungsthese
einer besonders scharfsichtigen Kritik umerzogen wird. Zum einen kann die entscheidende Mutation bei der Mimikry, wenn sie wirksam sein soll, bei Insekten zum Beispiel, nur
auf einen Schlag und sofort erfolgen . Zum andern werden ihre angeblichen Selekrionswir kungen zunichte durch die Feststellung, dass im Magen von Vögeln, insbesondere Raub vögeln, genauso viele durch Mimikry angeblich geschürzte Insekten gefunden werden wie
solche, die nicht geschützt sind." In der Schlussfassung des Spiegelsradiumsaufsarzes wird
der von Caillois gemachte Einwand gegenüber der darwinistischen Mimikryrheorie übernommen. Später, in seinen 1964 gehaltenen Seminaren „Linie und Liehe" und „Die Spaltung von Auge und Blick" würdige er Caillois' wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt
mit ihm die vom Darwinismus vertretene „Bedeutung der Anpassungsfunktion bei der
Mimikry" in Frage. Lacan, ,,Linie und Lichr",105 . In seinem Rückblick aus dem Jahre
1960 erinnert er an seine frühe Untersuchung und den „Widerhall im surrealistischen
Milieu", den sie auslöste, ,,wo sich", wie es poetisch heißt, ,,ein altes Band in einer neuen
Schleife wiederknüpfte" . Jacques Lacan, ,,Von dem, was uns vorausging", in: ders ., Schrif
ten 3, hrsg . Norbert Haas, Freiburg i.Br. 1980, 7-14, hier 9.
440 Roger Caillois, ,,La M ante Religieuse", Le Minotaure 5 (1934), 23 -26, hier 23.
PSYCHOANALYSE
255
Die Wahrnehmung des Kleinkindes und die des Insekts miteinander zu vergleichen, erscheint zunächst als ein kühner Gedanke. Nach Lacan beginnt das Klein kind erst im Spiegelstadium , zwischen Selbst und Umwelt zu unterscheiden. So wie
das Insekt gemäß Caillois' Mimikrytheorie psychotisch ist, weil es zwischen dem
eigenen Körper und dem Blatt nicht zu differenzieren weiß, so nimmt das Kleinkind das Spiegelbild als illusorische Darstellung des eigenen Körpers wahr . Weil
also das Insekt glaubt, oder besser: halluziniert, dass das Blatt zu seinem Körper
gehört, kann es ihn kraft seines Willens formen. Nach Caillois liegt hier eine „depersonnalisationpar assimilation a l'espace"441 vor, eine ,An-Ähnlichung' an den Raum
respektive eine Auflösung der Körpergrenze zwischen Subjekt und Umwelr. 442
Dem Übergang von Caillois' surrealistischer Zoologie zu Lacans Psychoanalyse
liegt die Dial ektik von Erkennen und Verkennen zugrunde. Was Insekt und Klein kind auf der unteren kognitiven Stufe gemeinsam haben, ist, dass die Bildung organischer und psychischer Strukturen auf einer Selbsttäuschung beruhr. 443 Diese
Umdeutung des Täuschungs cha rakt ers der Mimikry markiert die Differenz, die
die Mimikryth eorien Lacans und Caillois' von den biologischen Mimikrytheorien
absetzt. Für die Psychoanalyse gilt, dass bei der Mimikry keine dritte Partei - der
Prädator - getäuscht wird, sondern das Subjekt sich selbst täuscht. In Lacans Psychoanalyse vollzieht die Mimikry die Transformation von der Täuschung zur
444
Selbsttäuschung beziehungsweise Verkennung (meconnaissance).
Erst indem sich
das Subjekt verkennt , kann es wachs en.
441 Caillois, ,,Mimetisme et psychaschenie legendaire", 9.
442 Das Subjekt entäußert sich, überschreitet seine Grenzen im Akt der Identifizierung mit
dem Ande ren. Henri Wallon, auf dessen kinderpsychologische Tests sich Lacan stützt, hat
in diesem Sinne und in Absetzung von der zentrifugalen Identifizierung von einer zentri petalen Identifizierung gesprochen. Bei der zentripetalen Identifizierung ähnelt sich das
Subjekt dem Anderen an, während bei der zentrifugalen Identifizierung der Andere dem
Selbst entsprechen soll. Are. ,,Identifizierung", in : Laplan che , Pomalis, Das Vokabular der
Psychoanalyse, 219-223, hier 220.
443 Die Evolutionspsychologie weist darauf hin, dass die Selbsttäuschung eine Voraussetzung
und ein zuverlässiger Garant für die erfolgreiche Täuschung ande rer ist. Robert Trivers,
„The elements of a scientific rheory of self-deception", Annals of the New York Academy of
Sciences 907 (2000), 114-131. Vgl. zu einer Kritik, die davon ausgeht, dass die Selbsttäuschung eher Beiprodukt als notwendige Bedingung der Täuschung ist: D . S. Neil van
Leeuwen, ,,The spandrels of self-deceprion. Prospects for a biological theory of a mental
phenomenon", Philosophical Psychology 3. 20 (2007), 329 -348.
444 Lacan, Le stade du miroir, 99. In einer aufschlussreichen Passage im Seminar XI rekurriert
Lacan auf das Täuschungsmotiv im Spiegelstadiumsaufsatz, indem er auf die Funktion
des Schautriebs abhebt, den erlittenen Mangel und die Angst vor der Kastrationen zu skotomisieren. Lacan, ,,Linie und Liehe", 111: ,,Generell ist das Verhältnis des Blicks zu dem,
was man sehen möchte, ein Verhältnis des Trugs . Das Subjekt stellt sich als etwas anderes
dar, als es ist, und was man ihm zu sehen gibt, ist nicht, was man zu sehen wünscht; deswegen kann das Auge als Objekt a, dass heißt auf der Ebene des Fehlens (-phi), fungieren."
256
HUMANMIMIKRY
PSYCHO ANALYSE
8.7.3. Looking-glassseif.Narzissmus und soziale Integration
„Er sagte sich, daß man sein
Unglück nicht kennt und niemals
so glücklich ist, wie man glaubt."
(Marcel Proust, Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit)
Der Rahmen, in dem das Spiegelstadium stattfindet, ist ein familiärer. Lacans
Überlegungen scheinen einen eindeutigen Schwerpunkt auf das Individuum und
seine Entwicklung in der Familie aufzuweisen. Das Spiegelstadium ist aber keine
in sich abgeschlossene Phase der Kindh eit. Es taucht unter veränderten äußeren
Bedingun gen im späteren Leben des Erwachsenen auf, wo es die Grundlage des
gesellschaftlichen Miteinanders bildet.
Ursprünglich ist das Konzept des Spiegelstadiums soziologischer Provenienz,
wie aus einem früheren Textentwurf ersichtlich wird. Der ursprüngliche Titel lau tet „Tue Looking -Glass -Phase", was eine direkte Referenz auf Charles Horton
Cooleys Abhandlung Human Nature and the SociaL Order darstellc. 445 In dieser
Abhandlung entwickelt der amerikanische Soziologe ein sozio -psychologisches
Konzept von Intersubjektivität, das sich auf die Vorstellung vom Subjekt als ein
,,look ing-glass self<446 beziehungsweise „looking -glass I'<447 stützt .
Das Individuum, das looking-glass seif, erlernt die Wahrnehmung seiner selbst
durch die Annahme einer fremden Perspektive. Indem es sich den Vorstellungen
der Umwelt anpasst, bild et es seine Id entität aus. Der Interaktion von Kind und
Mutter wird, wie bei Lacan, eine besondere Bedeutung beigemessen, wird doch in
ihr eine ursprüngliche Form der Einfühlung eingeübt, auf der im Erwachsenenal ter das Vermögen zur emphatischen Interaktion aufbaut.
445 Vgl. zur Rekonstruktion des ursprünglichen Vortragstextes:Eric Porge, Se compter trois Le temps logique de Lacan, Toulouse 1989,43-48; Elisabeth Roudinesco, ,,The mirror stage. An obliterated archive", in: The Cambridge Companion to Lacan, hrsg. Jean-Michel
Rabate, Cambridge 2003, 25-43.
446 Charles Horton Cooley,Human Nature and the Social Order, 2., erweiterterAuflage, New
York/ Chicago/ Boston 1922, 182: ,,In a very !arge and interesting dass of cases the social
referenceeakesehe form of a somewhat definite imagination ofhow one's self- chat is any
idea he appropriaees- appears in a particular mind, and ehe kind of self-feelingone has is
determined by ehe attitude roward this attributed eo chacoeher mind. A social seif of ehis
sort might be called ehe ref1ectedor looking glass seif: ,Each eo each a looking-glassref1eces
ehe ocher ehaedoch pass.' As we see our face, figure, and dress in ehe glass, and are imereseedin ehernbecause they are ours, and pleased or oeherwisewich ehernaccording as chey
do or do not answer eo whac we should like ehern to be; so in imaginaeionwe perceivein
another's mind some ehought of our appearance, manners, aims, deeds, character, friends,
and so on, and are variously affected by it." Vgl. zu Cooley: Lisa Mdmyre , The Practicle
Skeptic Core Concepts in Sociology, New York 3 2006; Hans-Joachim Schubert, Demokratische Identität. Der soziologische Pragmatismus von Charles Horton Cooley, Frankfurt a.M.
1995,245-323, bes. 299-313.
447 Cooley,Human Nature 168.
257
Als „mimicry'<448 bezeichnet Cooley jene Nachahmung, die sich unter Kleinkin dern in ihrer unverstellten Natürlichkeit beobachten lässt . Sich auf die Arbeiten der
Psychologen Stanley und Preyer zur frühkindlichen Entwicklung berufend , folgert
Cooley, dass die biologische Fähigkeit im Prozess der sozialen Integratio n verfeinert wird, bis sie schließlich das Feld symbolischer Interaktionen umfasst. Die
Erwerbung von kulturellen Werten und Fertigkeiten kann auf zwei Wegen erfolgen: durch „heredity or experience". 449 Letztere wird durch Imitation erlangt.
Das Fundament seiner Soziologie bildet die Evolutionstheorie . Obwohl Cooley
sich auf Darwin beruft, besitzt seine evolutionistische Soziologie Elemente , d ie
eher lamarckistischer Provenienz sein könnten. Zwar wird das Verhältnis von
·natürlicher und kultureller Evolution von ihm nicht im Detail erörtert, doch liegt
die Vermutung nahe, dass er sie als zwei parallel ablaufende Prozesse betrachtet.
Die natürliche Evolution verläuft darwinistisch, das heißt nach den Gesetzen der
natürlichen Selektion, während die kulturelle Evolution insofern lamarckistisch
zu sein scheint, als die soziale Vererbung im Wes entlichen einer sozialen Vererbung erworbener (kultureller) Eigenschaften entspricht. So unterscheidet er zwischen zwei Formen der Übertragung von Eigenschaften und Werten (,,two lines of
transm ission"), ein er biologischen und einer kulturellen.
Tue stream is herediey or animal transmission; the road is communication or social
cransmission. One flows chrough ehe germ-plasm; ehe ocher comes by way of language, intercourse, and education. 450
Cooley gibt das folgende Beispiel, das sich auf die chinesische Immigration bezieht.
Es handelt von der Assimilation eines chinesischen Kindes an seine Umwelt, das von
amerikanischen Eltern adoptiert und in den Vereinigten Staaten aufgezogen wird .
Suppose, for example, chat an American family in China adopts a Chinese baby and
brings it harne co grow up in America. Tue animal life-history of that baby's past will
lie in China . Ie will have ehe straight black hair, ehe yellowish skin and ocher physical traits of ehe Chinese people, and also any mental tendencies chat may be part of
cheir heredity. Bur his social past will lie in America, because he will get from ehe
people about him ehe English speech and ehe cuscoms, manners, and ideas chat have
been developed in chis coumry. He will fall heir co ehe American political, religious,
educacional, and economic institutions; his whole mind will be an American mind,
excepting only for ehe difference (if ehere is any) between his inherieed apticude co
learn such chings and thae of other American children . Tue Chinese srream and ehe
American road have come cogether in his life.451
Lacan verknüpft das psychologische Nachahmungskonzept
Cooleys mit Caillois'
Mimikrykonzept. Gleichzeitig liest sich der Spiegelstadiumsaufsatz wie eine K ritik der soziologischen Theorie. Wenn nach Cooley die erfolgreiche Sozialisation
448
449
450
451
Ebd., 63.
Ebd., 62.
Ebd., 4.
Ebd., 6.
258
HUMANMIMIKRY
mit einem reibungslos ablaufenden Assimilationsprozess vergleichbar ist, bei dem
sich ein Subjekt qua eines in ihm biologisch angelegten Nachahmungsuiebs ausbildet, so destruiert Lacan diese harmonische Auffassung.
Eine intersubjektive Einfühlung in eine andere Person ist nach Lacan eine Illusion. Denn das Szenario vor dem Spiegel ist ein narzisstisches Schauspiel, bei dem das
Kind den Anderen nicht als Anderen, sondern als das Idealbild seiner selbst wahr nimmt. Die Annahme einer fremden Perspektive muss nach Lacan deshalb auf der
Verkennung (meconnaissance) der Wirklichkeit beruhen . Das Subjekt täuscht sich
über den eigenen Zustand des Mangels hinweg, indem es in der gesellschaftlichen
Sphäre das Ideal vorfindet, mit dem es den eigenen Mangel kompensieren will.
Wenn die Gesellschaft im späteren Lebensabschnitt des Erwachsenen die Rolle des
Vorbildes einnimmt und dem Subjekt Bilder zur Imitation vorstellt, so handelt es
sich in Wirklichkeit um eine Unterwerfung des Subjekts, das einer Illusion anhängt.
Einer Illusion, die es verführt, zu glauben, dass es Teil einer Gemeinschaft ist, die
als das vergrößerte Bild seiner Selbst erscheint.
Die Assimilation oder Anähnlichung an die soziale Umwelt wird von einer
Fremd- und Selbstwahrnehmung begleitet, die dem psychotischen Zustand des
Kindes vor dem Spiegel gleicht. Die Gesellschaft gibt falsche Versprechungen ab,
die geglaubt werden: Über der Vorstellung, dass die „Freiheit" innerhalb der Gren zen einer Gesellschaft zu erreichen ist, über der „voyeurhaft-sadistische[n] Ideali sierung der sexuellen Beziehung" und der Bereitschaft zum Märtyreropfer für die
Gemeinschaft, kurz, über all den verzweifelten Erhöhungen eines Selbst, das mit
dem Mangel nicht leben will, schwebt die „Illusion einer Autonomie" des Sub jekts.452Das Subjekt wähnt sich frei, doch in Wirklichkeit ist es zum Götzendie ner der vermeintlichen „Philanthropen, ,,Idealisten", ,,Pädagogen" und „Reforma toren" geworden. 453
Die Aufgabe der Psychoanalyse sieht Lacan in der Aufdeckung jener gesellschaftlichen Illusionen, die nicht auf das „Wahrnehmungs - und Bewusstseinssystem
zentriert'"' 54sind. Das chinesische Kind, um zu Cooleys Beispiel zurückzukehren,
gibt sich der Illusion der Freiheit hin, die zu ihm von einer gläsernen Decke herunterglänzt, zu der es in seinem Bestreben, Teil der Gesellschaft zu werden, aufblickt . 455
452
453
454
455
Lacan, Spiegelstadium, 69 .
Ebd., 70 .
Ebd ., 69.
Der Psychoanalytiker Francz Fanon entwickele eine Theorie der Assimilation, die auf
Lacans Spiegelstadiumsaufsacz basiert. In Peau noire, masques blancs (1952), einem der
Gründungstexte des Postkolonialismus, wird das Thema der Anpassung im Sinne einer
Imitation der ,weißen' Kultur durch eine schwarze Minorität behandelt. Fanon berichtet
von einem Antillaner, an dem nach seiner Rückkehr aus Frankreich eine deutliche Veränderung zu bemerken ist. Francz Fanon, ,,Schwarze Haut, weiße Masken", in: ders., Das
kolonisierte Ding wird Mensch, Leipzig 1986, 5-99, hier 7: ,,Der Schwarze, der eine Zeit lang in Frankreich gelebt hat, kehrt völlig verändert zurück. Genetisch ausgedrückt: sein
PSYCHOANALYSE
259
8.7.4 . Was ist eine „psychoanalytische Erfahrung"?
Zum Selbstverständnis der Psychoanalyse als
einer speku lativen Wissenschaft vom Menschen
Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je teile quelle nous est revelee
dans l'experience psychanalytique: Hervorhebung verdient vor allem der Zusatz:
„teile qu'elle nous est revelee dans l'experience psychanalytique". Der Unt ertitel gibt
einen deutlichen Hinweis auf das wissenschaftliche Selbstverständnis der Lacanschen Psychoanalyse. In der Formulierung „dans l'experience psychanalytique" artikuliert sich der szientistische Gestus, mit der sich die Psychoanalyse das Ansehen
einer empirischen Wissenschaft gibt.
Wenn man liest, mit welcher Emphase Lacan im Spiegelstadiumsaufsatz auf die
„Tatsachen der Mimikry" [,,les faits de mimetisme"] abhebt 456, sie als biologisches
Beweismittel ins Felde führend, so stellt sich unmittelbar die Frage, weshalb seine
psychoanalytische Theorie die Nähe der Naturwissenschaften begehrt. Was ist
also damit gemeint, wenn die Psychoanalyse von der Mimikry als einer ,Tatsache'
spricht? Die Bezeichnung als ,Tatsache' ist zudem insofern problematisch, als die
Mimikry in ihrer Geschichte alles andere als eine wissenschaftliche Tatsache
gewesen ist. Hinzukommt, dass die lamarckistische Mimikrytheorie bereits als
wissenschaftlich widerlegt gilt, als Lacan seine Gedanken zum Spiegelstadium in
den 1930er- und 1940er -Jahren entwickelt, wie in den zurückliegenden Kapiteln
gezeigt wurde. 457Was kann aber dann mit der „psychoanalytischen Erfahrung"
(l'experience psychanalytique) gemeint sein, von der im Untertitel des Spiegelstadi ums die Rede ist? In welchem Verhältnis stehen also bei Lacan die wissenschaftli che Tatsache und die psychoanalytische Erfahrung zueinander?
Die Frage nach dem Stellenwert der psychoanalytischen Erfahrung (l'experience
psychanalytique) betrifft den Anspruch der Psychoanalyse, eine empirische Wissen schaft zu sein. Ist die Psychoanalyse also eine Wissenschaft, genauer: eine empirische Wissenschaft? Was sind ihre Begriffe, Konzepte und Methoden, die die Garan ten einer empirischen Psychoanalyse sein könnten?
Anhand der Mimikry lässt sich Lacans Einschätzung bezüglich des wissenschaftlichen Charakters der Psychoanalyse und ihres Verhältnisses zur Biologie paradig matisch rekonstruieren . Was offenbart der Spiegelstadiumsaufsatz? Zunächst die
Nähe zu Freud und dessen Lamarck -Projekt. Lacans szientistischer Gestus, der die
Mimikry als wissenschaftliche Tatsache inszeniert, ist eine Imitation von Freuds
Szientismus .458Was Lacan ab 1955 unter der ,Rückkehr zu Freud' versteht, kündigt
Phänotypus erfährt eine endgültige Wandlung. Schon vor seiner Abreise spürt er an seinem
fast schwebenden Gang, dass neue Kräfte in Bewegung geraten sind ."'(Hv. v. K.C.)
456 Lacan, Spiegelstadium, 66 .
457 Vgl. Kapitel 3 und 4.
458 Damit ist keine Historisierung intendiert, die Lacan dezidiert ablehne. Anstatt „Freud aus
den Einf1üssen zu erklären, wie zum Beispiel die mehr oder minder große Verwandtschaft
bestimmter seiner Formeln mit Formeln, die ein Denker vor ihm verwendet hat in einem
260
HUMAN MIMIKRY
PSYCHOANALYSE
sich bereits früher an. Sich in eine Linie zum ,Stammvater' der Psychoanalyse setzend und sich auf diese Weise als sein Nachfolger stilisierend, legt er mit dem Spiegelstadiumsaufsatz seine eigene Lamarck -Arbeit vor.
Lacans Sichtweise auf den wissenschaftlichen Charakter der Psychoanalyse
ändert sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis zu.diesem Zeitpunkt begreift Lacan
die Psychoanalyse zweifelsohne als eine positivistische Wissenschaft. Der Spiegelstadiumsaufsatz trägt dem Rechnung. Die Bezeichnung als ,Erfahrung' (experience) ist ein eindeutiger Indikator für den Wunsch, die Psychoanalyse als eine
empirische Wissenschaft zu präsentieren und zu etablieren. Seit den 1950er-Jahren
vertritt er diesen Anspruch nicht mehr. In seinen Texten verliert der amerikanische
Behaviourismus jene Bedeutung, die er zur Zeit der Niederschrift des Spiegelstadiumsaufsatzes noch hat. Diese psychologische Theorie macht fortan einer
skeptischen Wissenschaftstheorie Platz, die unter dem Einfluss von Bachelard,
Canguilhem und Koyre steht. 459 Der Spiegelstadiumsaufsatz ist vermutlich das
letzte Zeugnis seines positivistischen Anspruchs.
Lacan beginnt, wissenschaftsphilosophische und -historische Überlegungen
über das Wesen der Wissenschaften und der Psychoanalyse anzustellen. In seiner
im Jahre 1965 gehaltenen Eröffnungsvorlesung an der Ecole Normale Superieure,
die später unter dem Titel La science et la verite veröffentlicht wird, art ikuliert er
seine Kritik an der Idee einer „Wissenschaft des Menschen" 460 (science de l' homme).
Um den Terminus der Humanwissenschaften (sciences humaines) zu ersetzen,
schlägt er die Bezeichnung „spekulative Wissenschaften" (sciences conjecturales)
vor, deren Pendant die „exakten Wissenschaften" (sciences exactes) sein sollen. 461
Damit betont Lacan die epistemische Unschärfe des Wissensobjekts ,Mensch', an
das sich die Wissenschaft nur annähern kann, ohne es gänzlich zu erfassen. Lacans
Wissenschaftsideal geht zu diesem Zeitpunkt in die Richtung einer idealen Syn-
these von spekulativen und exakten Wissenschaften. 462 Verwirklicht werden soll
dieses Ideal durch die Linguistik beziehungsweise im Strukturalismus. Der wissenschaftliche Status der Psychoanalyse bleibt jedoch in der Schwebe . In einigen
Äußerungen wird der empirische Anspruch sogar fallen gelassen und die Psychoanalyse selbst sogar als ein Wahn bezeichnet.
anderen Kontext", verdient die Eigenständigkeit von Freuds Szientismus hervorgehoben
zu werden. ,,Wir behaupten, entgegen den Auslassungen über einen vorgeblichen Bruch
Freuds mit dem Szientismus seiner Zeit, daß gerade dieser Szientismus ihn dazu geführt
hat - das zeigen uns seine Schriften - , den Weg zu erschließen, der auf immer seinen Namen trägt[ .] [... ] Wir behaupten, daß dieser Weg niema ls abgewichen ist von den Idealen
des nun einmal genannten Szientismus, und daß die Markierung, die er durch sie erfahren
hat, nicht zufällig ist, sondern ihm wesentlich bleibt." Jacques Lacan, ,,Die Wissenschaft
und die Wahrheit" , in: ders., Das Werk von Jacques Lacan, hrsg. Norbert Haas, Weinheim/
Berlin 1991, 231-258, hier 235.
459 Jacques Lacan, ,,Vom Barock. Da wo es spricht, genießt es, und es weiß nichts", in: ders.,
Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972-1973 ), 2. Auflage, Weinheim/ Berlin
1991, 95-126, hier 114.
460 Ders., ,,Die Wissenschaft und die Wahrheit", 231-258. La science et la verite, in : ders.,
Ecrits, Paris 1966, 855-878. In einem späteren Text wird dieser Punkt präzisiert : Lacan
zufolge kann der Mensch nicht das Objekt einer empirischen Wissenschaft sein, weil das
Bild des Menschen selbst einen Prozess der Symbolisierung durchlaufen muss. Die traditionelle Wissenschaft begeht den Fehler, das Bild und das Sein miteinander zu identifizie ren . Vgl. ders., ,,Vom Barock", bes. 114 f.
461 Ders., La science et la verite, 863.
26 1
Die Psychoanalyse ist keine Wissenschaft. Sie hat keinen Wiss enschaftsstatus - sie
wartet und hofft nur darauf. Die Psychoanalyse ist ein Wahn - ein Wahn, der Wis senschaft hervorbringen soll. [. .. ] Es ist ein wissenschaftlicher Wahn, was aber nicht
heißt, daß die analytische Praxis je eine Wissenschaft produzieren wird. 463
Einige Jahre vor Lacans ersten Überlegungen zum Spiegelstadium veröffentlicht
Karl Popper seine im Dezember 1934 erschienene Logik der Forschung. Popper
bezweifelt die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse und spricht ihr den Status
einer empirischen Wissenschaft ab. Die Psychoanalyse ist ihm ein ausgezeichnetes
Beispiel für eine nicht falsifizierbare Theorie, die sich durch eine flexible Anpas sung ihrer theoretischen Grundlagen an die sich verändernden empirischen
Befunde gegen den notwendigen methodischen Zweifel immunisiert.
Ist aber die psychoanalytische Erfahrung womöglich keine ,empirische Erfah rung' und geht daher Poppers Vorwurf ins Leere? Eine alternative Deutung des
Erfahrungsbegriffs schlägt Samuel Weber vor. L'experience psychanalytique könnte
ihm zufolge auch als ein „psychoanalytisches Experiment" verstanden werden, ein
Experiment, ,,das nie ganz kontrolliert werden kann. Denn die Mauern des analytischen Laboratoriums sind wie die Ränder eines Textes: nie ganz dicht zu
machen. "464 In diesem Sinne wäre das Missverständnis nicht das Resultat, sondern vielmehr der Ausgangspunkt für ein Gedankenexperiment, genauer: für eine
Suche nach einer empirischen Erfahrung, die sich mit der psychoanalytischen
Erfahrung deckt. Die Humanmimikry ist ein Beispiel für eine Vorstellung, mit
der die Psychoanalyse auf eine spekulative Art und Weise das Wesen des Men schen zu begreifen versucht.
462 Ders., ,,Die Wissenschaft und die Wahrheit", 241: ,,Die Entgegensetzungvon exakten und
spekulativen Wissenschaften ist in dem Moment nicht mehr aufrechtzuerhalten, wo die
Konjektur einer exakten Berechnung (Wahrscheinlichkeit) zugänglich wird und wo die
Exaktheit sich ausschließli ch auf einen Axiome und Symbolgruppierungsgesetze trennen den Formalismus gründet."
463 Ders., ,,Seminar vom 11. Januar 1977", in: ders., Le Seminaire. Livre XXIV L'insu que sait
de l'une bevue s'aile a mourre (1976 -1977) . Zit. nach: Dylan Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002 , 349.
464 Weber, Rückkehr zu Freud, 13.
262
HUMANMIMIKRY
LITERARISCHE ZOOLOGIE
8.8. Literarische Zoologie.
Masse und Verwandlung
(Elias Canetti)
Die sich im Nachlass befindenden Exzerpte, Notizen, Entwürfe und Bücher
dokumentieren eindrücklich die Intensität von Canettis Lektür en . Sie gestatten,
den Prozess der Ideenfindung, -ausarbeitung und -verwerfung im Detail nachzu vollziehen. In der folgenden Notiz aus dem Jahre 1944 tritt die Ameisenmimikry
zusammen mit einem anderen Konzept auf, das später eine zentrale Position in
seiner Theorie der Masse einnimmt: die Verwandlung.
Die Auffassungen zur Verwandlungsfähigkeit der Lebewesen hängen zweifellos von
den kulturellen Kontexten ab, denen sie entspringen. Kulturelle Normvorstellungen
und wissenschaftliche Klassifikationen, wie sie in westlichen Denksystemen üblich
sind, beruhen auf der Vorstellung, dass sich die Identität eines Lebewesens anhand
bestimmter Merkmale ermitteln lässt. Eine besondere Schwierigkeit besteht allerdings darin, den Wandel zu denken. Im Vergleich schein en orientalische Wissens systeme für den Gedanken der Verwandlung offener zu sein, wie im Folgenden zu
zeigen sein wird. Mimikry bietet nun die Möglichkeit, neue Sichtweisen zu entwickeln, in denen die Fluidität der Lebensprozesse in den Mittelpunkt gerückt wird .
Dies zieht unmittelbare Konsequenzen für Identitätskonstruktionen nach sich,
deren normativer Charakter in Zweifel gezogen wird.
Elias Canetti faszinier en die Verwandlungs - und Verstellungsp hänomene unter
Menschen wie Tieren. 465 Zu ihnen gehört die Ameisenmimikry 466 , auf die er sich
im Rahmen seiner Recherchen für sein Hauptwerk Masse und Macht stößt. 467
465 Im Folgenden werden die Werke und Notizen aus dem Nachlass in der Zentralbibliothek
Zürich mit der Sigle ,Z B Nach!. E. Canecti' unter Angabe der jeweiligen Schachtel ausgezeichnet. Leseexemplare aus seiner Nachlassbibliothek tragen die Sigle EC•_In den meisten
Fällen liegen die Manuskripte und Typoskripte als lose Blattsammlungen ohne einheicliche Paginierung vor. Datumsangaben in eckigen Klammern stellen ungefähre Orientierungshilfen dar. Eine erste Untersuchung des Nachlasses liegt vor in: Sven Hanuschek,
Elias Canetti. Biografie, München/ Wien 2005.
466 Canetti besitzt Forels Le Monde social desfourmis du globe compare a celui de l'homme in
englischer Übersetzung und hat es, wie die Anstreichungen belegen, gelesen . EC•Augusce
Fore!, The social world of the ants compared with that of man, London 1928 .
467 In Canettis Nachlass befinden sich die folgenden zoologischen Abhandlungen zur Mimi kry, von denen er einige gründlich studiert hat, was die zahlreichen handschrifclichen
Anmer kungen belegen: EC•Roger Caillois, Le Mythe et l'homme, Paris 1938; EC*Adolf
Portmann, Tarnung im Tierreich, Berlin 1956; EC•Ellen Marry Scephenson, Cha rles Stewart, Anima! camoujlage, Harmondsworth 1946; EC•Wolfgang Wickler, Mimikry . Nach ahmung und Täuschung in der Natur, Frankfurt a.M. 1968 . EC*Th[eodor] Zell, Tiere als
Schauspieler in ihren Verstellungskünsten und Listen, Dresden 1922. In Zells Abhandlung
wird die Mimikry anhand des Gleichnisses vom Esel mit der Löwenhaut veranscha ulicht .
Über die „Truczfarb en", das ist die Baressehe Mimikry, heißt es: ,,Den Esel, der sich mit
einer Löwenhaut bedeckte, hat es in Wirklichkeit niemals gegeben. Aber in der Insekten welt erblicken wir Dinge, die der Sache nach auf dasselbe hinauskommen ." (Zell, Tiere,
109) Diese Fabel vom Esel im Tigerfell verarbeitet Canetti in Masse und Macht. Elias
Canetti, Masse und Mach t, in: ders., Werke in zehn Bänden, Wien 1992-2005, III, 439441. Zu nennen ist außerdem das sogenannte Totstellen. Zwar verwende t Ca netti den
Begriff der Mimikry nicht ausdrücklich, doch liege dasselbe Phänomen vor. In dem Kapi tel zu den „Fluchtverwandlungen" in Masse und Macht beschreibe Canetti jenes Phäno men, das auch unter Scheintot -Mimicry beka nnt ist. Canetti, Masse und Macht, 408 . ,,Eine der häufigsten ist die Verwandlung in Tote; sie ist altbewährt und schon von vielen
263
Das Problem der Ameisen-Mimikry ist von zentraler Bedeutung für meine Theorie
der Verwandlung. Es ist ein Glück ohnegleichen, für die Forschung in dieser Richtung, dass man bei den Ameisen mit experimenteller Deutlichkeit beobachten
kann, was bei uns nur verwischt in Erscheinung tritt. 468
Das Verhältnis der Lebewesen zu ihrer Umwelt steht im Mittelpunkt von Canettis
Überlegungen zur Plastizität der Organismen, die eine grundlegende Überein stimmung mit einem vit alistisch verstandenen Lamarckismus aufweisen. 469 KönTieren her bekannt. Man hofft, daß man als Toter losgelassen wird. Man bleibt liegen,
und der Feind geht weg. Diese Verwandlung ist die zentralste von allen: man wird so sehr
zum Zentrum , daß man sich nicht mehr rege. Man verzichtet auf jede Bewegung, als wäre
man tot, und das andere entferne sich."
468 ZB Nach!. E. Canetti 44.l. In EC•Scephenson, Scewart,Animal camoujlage, 12, streiche er
die folgende Beschreibung der Ameisenmim ikr y an: ,,A spider chat ,mimics' an ant always
zigzags from side to side in its walk, afrer ehe manner of an ant, and holds up its second
pair of legs in front of ics head keeping ehern in constant vibration like ehe ant's antennae
on ehe ocher hand, perfecc scillness may be ehe cue, as in ehe case of inseccs resembling
sticks and scones." [Ran danstreichung E. C.]
469 Er orientiert sich unter anderem an der vitalistischen Philosophie des Physikers und Wissenschaftsphilosophen Alfred North Whitehead. Dessen Annahme eines gegenseitigen
Wechselspiels von Organismus und Umwelc steht den lamarckistischen Positionen sehr
nahe . Canetti hat EC•AJfredNorth Whitehead, Science and the modern world. Lowell lectures 1925, Cambridge 1926, intensiv studiert. Wann und von wem er dieses Exemplar
zum Geschenk erhielt, lässt sich nicht leider nicht mehr ermitteln. Die zahlreichen An streichungen und Randglossen sowie ein beidseitiges, mit Bleistift beschriebenes Manu skript, das dem Buch beigelegt ist, belegen das eingehende Studium dieser Abhandlung .
Whicehead vertritt eine kreacionistische Evolutionslehre, nach der Organismen nicht passiv auf ihre Umwelt reagieren, sondern selbst aktiv sind. Das in englische r Sprache verfasste Manuskript, dessen Autor mit großer Wahrscheinlichkeit Elias Canecci ist, ist mit dem
Titel „Organism" überschrieben und behandele das kreacionistische Evolutionskonzept
Whiceheads : ,,On ehe organic cheory ehe only endurances are scructures of activicy, and
ehe scructures are evolved. Nature is a scructure of evolving process [.] The whole point of
modern doctrine is ehe evolucion of ehe complex organisms from antecedent staces of less
complex organisms. [... ] It also requires an indulging accivicy, expressing icself in individ ual embodimencs, evolving in achievements of organism [sie]. The problem of evolucion is
ehe developmenc of enduring harmonies of enduring shapes of va!ue, which merge imo
higher accainments of chings beyond themselves . The concept of an organism includes ehe
concepc of ehe imeraction of organ isms. There are not only basic organisms whose ingrediems are merely aspeccs of ecernal aspeccs. There are organisms of organisms. Thus what
entities are in themselves is liable to modification by their environments". (Elias Canetti,
Manuskript, lose Beilage in : EC*Whicehead, Science and the modern world. Hv. v. K.C) Die
セ@
264
HUMAN MIMIKRY
LITERARISCHE ZOOLOGIE
265
nen Mimikryinsekten sich in ihre Vorbilder verwandeln? Lässt sich an der vermeintlich spontanen Anpassung eines Käfers an die Ameise sogar die Entstehung
einer (neuen) Art beobachten? Es sind diese Frage, von denen aus Canetti schließ lich zu dem Konzept der Verwandlung gelangt.
8.8.1. Ameisenmimikry. Massenpsychologie und Nationalismus
In England, wo sich Canetti seit 1939 im Exil aufhä lt, beschäftigt er sich mit dem
Ameisenstaat. Hinter seinem Interesse steht die Suche nach einer universalen
Massenpsychologie, die Elemente sowohl der Human - als auch der Tierpsycholo gie in sich vereinigt.
Der Insektenstaat gilt von jeher als ein Massenphänomen par excellence. Wie
Gabriel de Tarde, Sigmund Freud und andere (Tier -)Soziologen vor ihm erkennt
Canetti den großen Vorzug, den die Insektenstaaten für die Untersuchung psychologischer Massenphänomene besitzen. 470 Auch Canetti erhofft sich vom Studi um des Insektenstaats tiefere Einsichten in die psychologische Dimension von
Massenvorgängen: ,,Eine echte experiment elle Massenpsychologie lässt sich nur an
den Ameisen betreiben.''4 71 Auf ein em anderen Notizzettel hält er fest:
Grössere Übersichtlichkeit der Massenvorgänge bei den Ameisen als bei den Men schen; viel Detail fällt weg; der Gegensatz zwischen dem einzelnem Tier, da s man
Evolution ist nach Whitehead ein energetisches Ereignis . Canetti unterstreicht den folgenden Satz: ,,But energy is merely ehe name for ehe quantitative aspect of structure of
happenings . (EC*Whitehead, Science and the modern world, 144.) Whiteheads Kritik an
mechanistischen und materialistischen Modellen, die ausschließlich von einer einseitigen
Prägung des Organismus durch die Umwelt ausgehen, basiert auf einer grundlegend an deren Vorstellung von Plastizität .: ,,For ehe environment automatically develops wich ehe
species, and ehe species wich ehe environment . [. . .] The other side of ehe evolucionary machinery, ehe neglected side, is expressed by ehe word creativeness. The organisms can create
cheir own environment . For this purpose, ehe single organism is almost helpless. The adequate forces require societies of cooperating organisms. But wich such cooperation andin
proportion of ehe effort put forward, ehe environment has a plasticity which alters ehe
whole ethical aspect of evolution." (Ebd., 156, 158. Hv. v. K.C.) Whiteheads Weiterfüh rung der kreacionistischen Naturphilosophie, die mit den modernen Erkenntnissen in
Einklang gebracht werden soll, sind für Canetti nur insofern von Belang, als die Kreativität als ein natürlicher Vorgang begriffen wird . Kreativität ergibt sich aus der Int eraktion
eines Organismus mit seiner Umwelt. Canetti hält die Beziehung von Organismus und
Umwelt in einem Diagramm fest: ,,Creativeness セ@ Environment" (Manuskript, lose ein gelegt in EC*Whitehead, Science and the modern world)
470 Vgl. zu Theorien der Masse : Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskursund lm aginationsgeschichte der Menschenmenge 1765 -1930, München 2007.
471 Handschriftliche Notiz in : EC*Maurice Maeterlinck, Das Leben der Ameisen, Stuttgart
o.J., 19.
Abb. 23: Julian Huxley, Ants, London 1935, o.S.
auf seinen Arbeitswegen sieht, und den Massen eines Staats ist enorm, die Beobachtung ist nicht in Gefahr, selbst ein Teil dieser Mas se zu werden. 472
Di e wichtigste Quelle in Bezug auf die Am eisen mimikry ist das im Sommer 1941
erworbene und mit zahlreichen Eintragungen und Randanmerkungen versehene
Buch Ants (1935) von Julian Huxley. 473 Zu dem Kapitel Guest and Parasites gehört
eine Abbildung, die oben links den parasitischen Mimikrykäfer Mimeciton zeigt ,
der die Treiberameise Doryfinae imitiert . Darunter ist der Käfer Atemefes abgebildet, der von einer Myrmica gestreichelt wird . Auf diese Weise will die Am eise die
Ausscheidung eines nahrhaften Sekrets erreichen . (Abb. 23)
Der Ameisenstaat ist ein großer Familienverband, denn alle In dividuen stam men von der Königin ,Mutter' ab. Für Huxley stellt er damit die perfekte Verkörperung des Nationalstaats dar 474,weil die gemeinsame Abstammung der Mit glieder den Grundstein für die kollektive Id entität legt. Auf die Frage, wie sich die
Individu en als Angehörige desselben Staates identifizieren können, gibt er eine
472 Nach!. E. Canetti 35.8 [S. 4] .
473 EC*JulianHuxley, Ants, London 1935. Nach den Infor mation en auf der Buchinnenseite zu
schließen, erwirbt Cane tti das Buch in Amersham im Sommer 1941.
474 Man vergleiche diese Annahme etwa mit der folgenden Aussage des Ame isenforschers
Erich Wasmanns: ,,In den M enschenstaaten sind die Bürger intelligente, freie Wesen, die
durch die Bande der Autorität zusammengehalten werden auf rechtlicher (juridischer)
Grundlage; in den Insektenstaaten sind sie Sinneswesen, die nur den Gesetzen ihres Instinktlebens gehorchen und durch den Geselligkeitstrieb zu gemeinschaftlichem Leben und
gemeinschaftlichen H andeln verbunden werden. Bei ihnen ist die politische Zugehörigkeit
ersetzt durch den ,Staatsgeruch'/ Familiengeruch, an dem sie sich gegenseitig erkennen als
Bürger des nämlichen Staates." Erich Wasmann, Die Ameisen, die Termiten und ihre Gäste.
Vergleichende Bilder aus d(em} Seelenleben v(on} Mensch u[nd} Tier, Regensburg 1934, 1.
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267
HUMANMIMIKRY
LITERARISCHE ZOOLOGIE
einfache Antwort: über den Geruch . ,,Smell is thus to the ant what national traditions are to us - the basis of patriotism". 475 Am Ende des besagten Kapitels zur
Ameisenmimikry schreibt Huxley: ,,Where the Jeast is, there shall the vultures be
gathered together'; and the very success of ants has led to their being exploited by
these hordes of other creatures." 476 Huxley zitiert den ·Myrm ekolo gen William
Morton Wheeler, der das symbiotische Zusammenleben von Wirtsameisen und
Parasiten als ein phantastisches Szenario beschreibt:
oder Larven. Selbst wir, deren Dasein noch um so Vieles freier ist, können ohne
bestimmte Lieblinge, Tiere, die keinerlei ersichclichen Nutzen haben, kaum auskommen. Einige der rohen Funktion des Theaters bei uns fallen sicher bei den
Ameisen machen ihrer Gäste zu. 478
,Any insect possessed of ehe glandular attractions can induce the ants eo adopt, feed,
and care for it, and thus become a member of the colony [... ] Were we eo behave in
an analogous manner we should live in a cruly Alice-in-Wonderland society. We
should delight in keeping Porcupines, Alligators, Lobsters, etc. in our homes, insist
on cheir sitting down eo table wich us, and (in some cases) feed ehern so solicitously
chac our children would eicher perish of neglect or grow up as hopeless rhachitics."' 77
Dass die Ameisen und ihre Parasit en ein Fest zusammen feiern, ist nicht mehr als
eine humoristische Schilderung, die mit dem Phänomen an sich nichts zu tun hat.
Denn für Huxley steht außer Zweifel, dass durch die Ameisenmimikry die Idee
des staatlichen Familienverbands subveniert wird, da die Käfer die auf eine Verwandtschaft hindeutende Ähnlichkeit bloß vortäuschen.
Gegen die Beurteilung der Ameisenmimikry als Sozialparasitismus opponiert
Canetti. Er geht davon aus, dass es sich in der Tat um einen feierlichen Anlass
handelt . Mit Bleistift schreibt er die folgende Notiz in das Buch (Abb. 24a -b):
Die Gäste der Ameisen haben, abgesehen von allen praktischen und nützlichen Einzelerwägungen, den tieferen Sinn, Anlässe zu häufigen und ungefährlichen Verwandlungen zu geben. Die Starrheit des einzelnen Ameisen -Geschöpfes, aber noch
viel mehr die Starrheit ihrer Staaten macht die Verwandlungsanlässe umso notwen diger. Es müssen viele und sehr verschiedene Geschöpfe sein, die sich da herumtreiben. Sie müssen in nächster Nähe sein, greifbar , zu riechen, am besten schleppt man
sie gleich mit sich herum. Dieser bunter [sie] Teil des Daseins ist für die Ameisen um
so notwendiger, als ihnen selbst die geringen Verwandlun gen der Liebe versagt sind.
Das Versorgen von Eiern und Larven ist ein Vorgang ganz andrer Natur. Von allen
Formen der Liebe enthält die Mutterliebe am wenigsten Elemente der Verwand lung; um wieviel auch gilt das von der Wartung einer Menge gleichgearteter Eier
475 Huxley, Ants, 32. [Randanstreichung v. E.C.] Vgl. EC*Alverdes,Social life in the animal
world, 109 f.: ,,Insect states are closed sociecies. As we saw in ehe section which dealt wich
ehern, inmates of ehe same nesc or hive recognize one anocher by a separate and discinct
nest ordour, even when ehe state eo which chey belang contains millions of inhabitants, for
inmates of ehe same nest bear ehe same ,uniform of smell '. Mutual colerance, therefore,
does not depend upon recognition of one another by ehe individual concerned. Member ship of ehe same community, and not membership of ehe same species, decides whether
cwo animals shall colerace or shall fight each other; chis is parcicularly clear in ehe mixed
colonies of ants, where different species may be citizens of one and the same state, and
hold cogecher through thick and thin." [Unter - und Randanstreichung v. E. C.]
476 EC•Huxley, Ants, 89. [Hv. v. K.C.]
477 Zit . nach: EC•Huxley, Ants, 104.
Der Mimikry kommt eine kompensatorische Funktion zu. Sie erlaubt den Ameic
sen jene Formen der Verwandlung an den fremden Insekten wahrzun ehmen, zu
der sie aufgrund der starren, verwandlungsfeindlichen sozialen Ordnung nicht
fähig sind. Dazu muss man wissen, dass nach Canetti im hierarc hischen Kasten system mit den Arbeitern an seinem unteren und der Königin an seinem oberen
Ende eine Verwandlung der Ameisen nach Mögli ch keit unterbunden wird, weil
sonst die G efah r bestünde, dass die starre gesellschaftliche Ordnung aus den
Fugen gerät. 479 Hier stößt man inmitten des streng organisierten Ameisenstaats
478 Ebd., 113 f. [Unterstreichungen v. E. C.] In der handschriftlichen Kopie des Gedanken notats werden zwei Unterstreichungen hinzugefügt. ZB Nach!. E . Canetti 35.11 [S. 10]:
,,Die Gäste der Ameisen haben, abgesehen von allen praktischen und nützlichen Einzelerwägungen, den tieferen Sinn, Anlässe zu häufigen und ungefährlichen Verwandlungen zu
geben. Die Starrheit des einzelnen Ameisen-Geschöpfes, aber noch viel mehr die Starrheit
ihrer Staaten macht die Verwandlungsanlässe umso notwendiger. Es müssen viele und
sehr verschiedene Geschöpfe sein, die sich da herumtreiben. Sie müssen in nächster Nähe
sein, greifbar, zu riechen, am besten schleppt man sie gleich mit sich herum. Dieser buntere Teil des Daseins ist für die Ameisen um so notwendiger, als ihnen selbst die geringen
Verwandlungen der Liebe versagt sind. Das Versorgen von Eiern und Larven ist ein Vorgang ganz andrer Natur. Von allen Formen der Liebe enthält die Mutterliebe am wenigsten Elemente der Verwandlung; um wieviel auch gilt das von der Wartung einer Menge
gleichgearteter Eier oder Larven. Selbst wir, deren Dasein noch um so Vieles freier ist,
können ohne bestimmte Lieblinge, Tiere, die keinerlei ersichtlichen Nutzen haben, kaum
ausk9mmen. Einige der rohen Funktion des Thearers bei uns fallen sicher bei den Ameisen machen ihrer Gäste zu ."
479 Hier zeichnet sich eine Erkenntnis ab, die Canetti später weiter ausführen wird . Der Zugewinn an Macht vermindert die Fähigkeit zur Verwandlung . Vgl. Canetti, Masse und Macht,
449-454. Aus diesem Grund steht das Theater der Ameisen unter institutionalisierter Kontrolle und wird lediglich geduldet. Die Verwandlung ist gefährlich, weil sie die soziale Hierarchie aus den Fugen zu heben droht, weshalb sie von den herrschenden Kräften sanktioniert
wird . Ebd ., 450 f.: ,,Vielleicht die wichtigsten aller Verwandlun gsverbote sind die sozialen.
Jede Hierarchie ist nur möglich unter Voraussetzung von solchen Verboten, die es den Angehörigen einer Klasse unmöglich machen, sich einer höheren Klasse verwandt oder gleich zu
fühlen. [. .. ]Am starrsten ist die Trennung der Klassen im Kastensystem durchgeführt. Hier
schließt die Zugehörigkeit zu einer Kaste jede soziale Verwandlung absolute aus. Man sondert sich auf das genaueste nach unten und oben hin ab. [... ] Die Konsequenz dieses Systems
ist erstaunlich; seine genaue Untersuchung allein müßte es ermöglichen, alle Ansätze zu
sozialen Verwandlungen zu erkennen. Da sie alle zu vermeiden sind, werden sie sorgfältig
registriert, beschrieben und erforscht." Im Nachlass befinden sich Notizen, die unmissverständlich nahe legen, dass das Modell der ,Kaste' dem Insektenstaat entlehnt ist. Im Ameisenstaat isr die „Kastenbildung bei den sozialen Insekten" bereits in der Entwicklung vom Ei
zur Puppe vorbestimmt. (Vgl. ZB Nach!. E. C. 35) Canetti streicht die folgende Passage aus
Huxleys Abhandlung an, die sich explizit mit dem Kastensystem der Ameisen auseinander-
268
HUMANM IMIKRY
269
LITERARISCHE ZOOLO G IE
セ@
GUESTSAND p ARASITES
...
we might to pleasant pets; this may, of course, bc
so, but seems on general grounds rather unlikel y.
These instances constitute but a sample .
Already more than 2,000 separ at e species of
ant-guests are known, somewhere about half the
num ber of known species of ants; and these include representatives of mites, spiders , crusta cea,
and most of the orders of insects-in deed an
amazing menagerie ! " Wh ere the feast is, there
shall the vultures be gathered together" ; and the
very success of ants has led to their being exploited
by these hordes of other creatures .
Abb . 24a: EC*Julian Huxley, Ants, London 1935 , 113 f.
Abb. 24b : EC*JulianHuxley, Ants, London 1935, 113 f.
auf eine Zone des Ludischen, in der die soziale Ordnung außer Kraft gesetzt wird
bezieh u ngsweise we rd en darf Später wird in Mass; und Macht die Aufhebung von
Unterschieden als ein charakteristisches M erkma l sogenannter Festmass en vorge stellt:
Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht , Leben und Genuß während
des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz
ungewohnte Annäherun gen werden erlaubt und begünst igt. Die Atmosphäre für
den einzelnen ist eine der Lockerung und nicht der Entladung . Es gibt kein Ziel, das
für alle dasselbe ist und das alle zusammen zu erlangen hätten . Das Fest ist das Ziel ,
und man hat es erreicht .480
setzt. EC•Huxley,Ants, 15: ,,All cheir [d. s. die Ameisen] more chan 3,000 species are social,
and show caste-differences, although their societies vary enormously both in size and complexity. Same species boast no more than a few dozen individuals to a nesr, whereas in forms
like Atta a single colony may muster half a million." [blaue Randansueichung ]
480 Canetti , Masse und Macht , 70.
270
271
HUMAN MIMIKRY
LITERARISCHE ZOOLOGIE
Für die Ameisengäste ergibt sich im Gegenzug die Möglichkeit, Teil der Gemein schaft zu werden und die quasi -staatsbürgerlichen Grenzen von Ameise und
Nicht -Ameise zu überwinden. Wer zusammen feiert, kann auch zusammenleben.
Auf dem Theater äußert sich das Grundbedürfnis eines jeden Individuums, das
darin besteht, einer kollektiven Masse anzugehören. ·In einer Masse sind alle
gleich: Ameisen wie Käfer.
Anhand der Ameisenmimikry wird deutlich, worin der Zusammenhang zwischen Verwandlung und Masse nach Canetti besteht. Die Unterschiede zwischen
den Lebewesen hören auf, zu existieren. In der Verwandlung löst sich das Indivi duum auf und geht in die Masse ein.
sehen der Erstpos itio nen: oben/ unten, Herr/ Sklave, und das Gefühl der Universalität des Seins."483 Im Karneval ereignet sich „das Familiäre als Berührung auf der
Horizontalen" 484 von sonst voneinander geschiedenen Dingen und Lebewesen . Di e
horizontale Verwandlung der Ameisengäste entspricht der besagten karnevalesken
Grenzüberschreitung: Die Gäste werden zu Wirten, aber nicht, und hier läge die
Differenz zu Bachtins Modell, die Wirte zu Gästen.
Ein Staat, ein Gemeinschaftskörper, eine Masse: Ameisenmimikry ist also kein
parasitärer Täuschungsakt, wie die Ameisenforscher behaupten, sondern dient
nach Canetti dem Vergnügen der ,Arbeiter', die so ihren Mangel an Verwand lungsfähigkeit kompensieren. Das Leben ist ein Karneval. Und die ,Fremden' wer. den - zumindest auf Zeit - Mitglieder des Ameisenstaats.
Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung
nicht mehr. In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt,
nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie
man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selbst spürt. Es geht dann alles plötzlich
wie innerhalb eines Körpers vor sich. [. ..]Je heftiger die Menschen sich aneinanderpressen, um so sicherer fühlen sie, daß sie keine Angst voreinander haben. 481
Es empfiehlt sich an dieser Stelle, Michael Bachtins Theorie des Karnevals hinzu zuziehen, um zu veranschaulichen, wie nach Canetti im Karneval die klassifikatorischen Grenzen außer Kraft gesetzt werden. Über die Geschichte des Grotesken
schreibt Bachtin, dass, als die Wandornamente in den römischen Thermen aus
Titus Zeiten entdeckt wurden, ihre Betrachter
durch einen ungewohnten, merkwürdigen, spielerischen Umgang mit Pflanzen-,
Tier- und menschlichen Formen, die ineinander übergingen und quasi auseinander
entstanden, in Erstaunen [versetzt wurden]. Nichts war zu spüren von jenen scharfen und stabilen Grenzen, die im herrschenden Verständnis diese ,Reiche der Natur'
voneinander trennten: hier, in der Groteske, wurden sie kühn übertreten. Ebenso
vermißte man die gewohnte Statik in der Darstellung der Wirklichkeit: es gibt keine
Bewegung einer festen, pflanzlichen oder tierischen Form in einer ebenso festen und
dauerhaften Welt; vielmehr wandelt sie sich zur inneren Bewegung des Lebens selbst,
die sich ausdrückt im Übergang von einer Form zu anderen, in der ewigen Unfertigkeit
des Lebens.
482
Das Karnevaleske ist ein Prinzip des Lebens: Es steht für das ewige Werden der
Lebewesen. Im karnevalesken Festtreiben entäußern sich „fröhliche Relativität,
Instabilität, Offenheit und Unabgeschlossenheit, das Metamorphotische, die Ambi valenz, das Exzentrische, die Materialität -Leiblichkeit, der Überfluß, das Austau-
481 Ebd. 14. Entlastung durch Verwandlung, Selbstbefreiungdurch Auflösung der Individu-
alität - in diesem Verschmelzungsbedürfnisbesteht nach Canetti die ursprüngliche Funktion der aristotelischen Karthasis: ,,Die Tricks der Verwandlung sind Tricks der Selbstbefreiung. Nichts Andres kann Aristoteles mit seiner Karthasis gemeint haben." ZB Nach!.
E. Canetti 8 (19.9.1944).
482 Michael Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.
1987, S. 82 f. [Hv. v. K.C.]
8.8.2. Die Verwandlungen des Menschen
Phänomene der Mimikry sind nicht auf den Insektenstaat begrenzt, sondern finden sich auch unter Menschen wieder. Canettis Aussage, dass man bei der Amei senmimikry „mit experimenteller Deutlichkeit beobachten kann, was bei uns nur
verwischt in Erscheinung tritt" 485 , spricht deutlich für die Annahme, dass die
Ameisenmimikry und die Verwandlung des Menschen für dasselbe Lebensphänomen stehen. Wie wichtig das Studium der Ameisenmimikry für seine Auffassung
von der Verwandlung ist, davon zeugt die folgende Notiz. Die Beschreibung erinnert stark an die Verwandlungen der Käfer im Ameisenstaat:
Ein Mensch, den man nie gesehen hat oder gehört hat, geht vorüber. Seine Stimme
oder sein Gang oder seine Maske beeindrucken einen; denn er ist unerwartet anders.
Nun ist er zwar vorüber; aber er verfolgt und bedrückt einen, es ist einem unbehaglich zumut [sie]; man wird ihn innerlich nicht los, bevor man nicht er selber wird.
Damit das gelingt, damit man sich annähernd in ihn verwandelt, muß man nun
keineswegs sich ihn beschreiben, bedenken, zerlegen. Sobald man nur will, ebenso
plötzlich wie er kam, nimmt man sein Gesicht, seinen Gang, seine Stimme an. Es
ist rätselhaft, wie gut und ohne alle Zwischenhilfe das gelingt. Man fühlt sich sehr
erleichtert, und zwar auf doppelte Weise. Man ist erleichtert, sobald man der Andre
ist. Denn wenn man selber nicht mehr da ist, - und man verschwindet ja, solange
man der Andre ist - , kann er einem nichts run . Man wird zum Andern, damit er
einem nichts rut, die Andersartigkeit, der Unterschied wird durch die Verwandlung
aus der Welt geschaffen, aus Zweien wird Eins.486
1958, zwei Jahre vor dem Abschluss von Masse und Macht, hält er fest:
Folgendes kann ich hier bereits als eine Art Errungenschaft betrachten. In der Verwandlung wird ein Körper dem anderen gleichgesetzt. Ein kleiner Mensch kann zu
einem riesigen Elefanten werden; oder ein grosser Mensch zu einem kleinen Käfer.
483
484
485
486
Renate Lachmann, ,,Vorwort",in: Bachtin, Rabelais und seine Welt, 7-46, hier 26 .
Ebd., 31.
ZB Nach!. E. Canetti 44.
ZB Nach!. E. Canetti 40. 1. [S. 35 f.] [1941-1943]
272
HUMAN MIMIKRY
LITERARISCHE ZOOLOGIE
Es können aber auch und dass ist vielleicht am häufigsten, Körper ungefähr gleicher
Größenordnung für einander einstehen: Leopard und Mensch, Mensch und Känguruh [sie] u.s.w. Es ist, als ob die beiden Körper sich durchdringen würden . Man
kann auf jeder Stufe der Durchdringung stehen bleiben: die Fixierung zur Figur ist
überall möglich. Die Figur die einmal besteht und ihre Gültigkeit hat, kann dann
als solche nachgeahmt werden. 487
·
der Formen setzt Canetti das ewige Werden von Organismus und Umwelt entgegen, die sich wechselseitig beeinflussen.
8.8.3 . Darwinismuskritik.
Verwandlung als Gegenkonzept zur Adaptation
Can ettis Beschäftigung mit der Ameisenmimikry steht im größeren Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Darwinismus. So anregend die Lektüre evolutions - und soziobiologischer Abhandlungen für ihn sein mag, Canetti geht es nie mals um eine bloße Übernahme von Theorien oder die Anreicherung des eigenen
Wissens. Stets will er zeigen, wie es - seiner Meinung nach - wirklich um die
natürlichen Phänomene bestellt ist. Ein besonderes Ärgernis stellt für ihn die Theo rie der Anpas sung dar. Über den Darwinismus macht er sich in der folgenden
Analogie lustig, in der die Adaptation mit der ,An -Passung' von Schuhen vergli chen wird.
Die Lehre von der ,Anpassun g' ist eines der dümmsten und flachsten Erzeugnisse
des 19. Jahrhunderts. Man kommt sich vor wie in einem Schuhgeschäft und glatte
unerträgliche Verkäufer holen aus weissglänzenden kantigen Schachteln Füße heraus, die sie bereitstehenden Schuhe anzupassen haben[.]488
Der Schuhladen steht für die Natur und die Verkäu fer für das Prinzip der natürli chen Selektion. Wenn es nun heißt, dass in diesem Lad en keine Schuhe, sondern
Füße angeboten werden, dann soll die Unsinnigkeit des Anpassungskonzepts auf
eine polemische Weise vor geführt werden. In der Vorstellung, dass jedem Organis mus ein idealer Anpassungstypus zugeo rdnet werden kann, identifiziert Canetti
ein typologisches D enken . Letzteres erinnert ihn an jene naturtheologischen Leh ren, die davon ausgehen, dass jedem Lebewesen sein spezifischer Platz in der Ord nung der Natur vorbestimmt ist. ,,Die Anpassung für den [Herrn] der Schöpfung
ist ein Rest von Theologi e in der Naturwissenschaft.'"' 89 Der oktroyierten Starrheit
487 ZB Nach!. E. Canetti 42.4. [S. 10] (24. 1.1958).
488 ZB Nach!. E. Canetti Canetti 5.a.14. [S. 41] [1942]. Vgl. Hanuschek, Canetti, 773 (Anmerk. 124) Den Hintergrund der Analogie bildet im Übrigen eine idiomatische Wendung
im Englischen: ff the shoeJits, wear it. Diese Redewendung besagt, dass in Bezug auf die
Angemessenheitvon Behauptungen nicht ihre Überprüfbarkeit ausschlaggebendsei, sondern ihre erfolgreichepragmatischeAnwendbarkeit.
489 ZB Nach!. E. Canetti 44.l. [1944] Ausgerechtet der Biologie, die die Säkularisierung
maßgeblich beschleunigte, hält Canetti vor, dass sie an der Statik der Schöpfung festhalte.
Gemäß der christlichen Schöpfungsgeschichteist jedes Geschöpf mit einer perfekten Anpassung ausgestattet, sodass eine Evolution schlechthin undenkbar ist.
273
Die Vorstellung einer ,Umgebung' des Tieres, als etwas Bleibendem, dem es sich
anpaßt, hat, wie ich glaube, in der Naturlehre die größte Verwirrung angerichtet.
Sicher lassen sich manche überzeugende Beispiele dafür anführen. Aber was da
wirklich geschehen ist, ist Ausdruck einer viel umfassenderen Tendenz, der zur Verwandlung nämlich, die sich in tausend flüssigen Beziehungen gewahren läßt. Die
,Anpassung' ist das [tote] Ende eines sehr reichen und vollen Lebens, in Verwandlungen.490
Ein Organismus pa sst sich nicht an seine Umwelt an, sondern verwandelt sich in
dieselbe. Und bei diesem Vor gang verwandelt sich auch die Umwelt in den Orga nismus. Verwandlung ist also ein reziproker Prozess der De - und Re terr itorialisie rung491, in dem die Grenzen zwischen Selbst und Umwelt ineinander verschwim men. Wo andere Anpassung en sehen, beobachtet Canetti Verwand lungen.
Seine Darwin -Kritik beruht auf Übertreibungen und Mi ssverständn issen, die
seiner Lust an der Polemik und der Unterschätzung
der Evolutionsbiologie
geschuldet sind. Wie ungerechtfertigt die kritischen Äußerungen sind, zeigt sich
unter anderem darin, dass Darwin keineswegs behauptet, das s Anpassung perfekt
ist . Zumindest teilen Darwin und Canetti eine gemeinsame Rhetorik. Für beide
ist die Evolution das „Geheimnis aller Geheimnisse" (,,mystery of all mysteries") 492
beziehungsweise das „grösste Rätsel des Lebens überhaupt". 493
Der Begriff der ,Anpassun g' in der modernen Naturwissenschaft ist viel zu allgemein. Man wird etwas ganz Bestimmtes - oft um sich ,anzupassen' - und das was
man wird, läßt Spuren in einem zurück. Wie man es wird, also die Verwandlung
selbst, ist das grösste Rätsel des Lebens überhaupt, es ist ein immer junges Rätsel,
ein immer jüngeres, möchte man sagen, denn wenn es eine Entwicklung gibt, so
wäre als ihr eigentliches Kennzeichen festzuhalten, dass die höheren Arten reicher
an Verwandlungen sind .494
490 ZB Nach!. E. Canetti 44.l. [1944]. [Hv. v. K.C.] Vgl. auch: ,,Man muss ihn [d.i. der Begriff der ,Umgebung'] in seine wahren Komponenten auflösen müssen, bis man an eine
ernsthafte Tier-Soziologieherangehen kann ." Handschriftliche Notiz auf Seite 16 in EC•
Alverdes,Socia! !ife, 16.
491 Zu den hier von mir belehnten Begriffender De- und Reterritorialisierungvgl. GillesDeleuze FelixGuattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 2002, bes. 20-22.
492 Darwin, Origin o/Species [1859], l.
493 ZB Nach!. E. Canetti 40. l. [S. 34] [1941-1943]
494 Ebd.
274
HUMAN MIMIKRY
8.8.4. Orientalisti sch e Wissenschaftskritik und
puritanis che Evolu tionsbiologie
Canettis Kritik stützt sich auf eine Rekonstruktion des kulturhistorischen und
wissenschaftssoziologischen Kontextes des Darwinismus . Vermutlich lässt sich
der kulturhistorische Hintergrund des Darwinismus nirgendwo besser studieren
als in seinem Heimatland England, wo sich Canetti während seines Exils aufhält.
Für ihn ist der Darwinismus eine bürgerliche Theorie.
Der Begriff der ,adaptation', die ,Anpassung' als der verwundbarste Punkt der Entwicklungslehre. Darwin hat etwas Bürgerliches in die Biologie hineingetragen .495
Was Canetti unter einer bürgerlichen Kultur versteht, bedarf der Erklärun g.
Wenn er sich bemüht, die Entstehung der wissenschaftlichen Theorie des Darwi nismus aus der englischen Kultur und Gesellschaft abzuleiten, so zielen seine Aus führungen auf keine Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems ab, wie man
zunächst vermuten möchte. England ist für ihn weniger der Ur spru ngsort des
Kapitalismus wie etwa für Karl Marx, als vielmehr das Herkunftsland der ein flussreichen religiösen Strömung des Puritanismus. Der Darwinismus besitzt für
Canetti einen puritanischen Charakter. Was das puritanische D enken auszeich net, ist eine spezifische Antitheatralität .
Canetti vertritt die These, dass das puritanische Theaterverbot dem Darwinis mus den Boden bereitet hat. Mehr noch: Darwinismus ist für ihn versteckter Puri tanismus. In einer Notiz, die mit „Das Gemässigte der Verwandlung in England
überschrieben ist, heißt es:
Die Geschichte der englischen Zivilisation ließe sich geradezu definieren als eine
allmählich[e] Mäßigung aller Verwandlungen. Puritanismus ist im Grunde nichts
Anderes als Verwandlungs-Hass. Sein scharfer Angriff auf Theater und Drama, die
er in England recht eigentlich zugrunde gerichtet hat, hat eine tiefere Moral als er
selbst weiss. In allem geht es dem Puritanismus um die Starre und Eins: Ein Gott,
Ein Geld, Eine Ehe. Vielleicht der sonderbarste Ausdruck des englischen Puritanismus, und zwar dort, wo man ihn am wenigsten erwartet, ist der Darwinismus. Er
ist die am meisten gemäßigte Verwandlungslehre, die in der Geschichte der Menschen seit je aufgestellt wurde. [. ..] Der Darwinismus ist eine Konzession an die
Heftigkeit der natürlichen Verwandlungen, in denen das Leben tobt. Die Arten und
Gattungen der Geschöpfe sind zwar nicht ewig, aber Tausende [von]Jahren bleiben
sie sich ungefähr gleich. Fast ist es, als ob ihre Konstanz durch diese Konzession an
ihre Veränderlichkeit noch ernster und schwerer würde. 496
LITERARISCHE ZOOLOGIE
275
then hervor, aber die englische Kultur bildet die Ausnahme, weil sie di e Verwand lun g bek ämpft. Die Natur ist theatralisch, aber der Darwini smus streitet dies ab.
Der im Gewand des Darwini smus wandelnde Puritanismus, dem das doppel bödige Spiel von Sein und Schein von jeher zuwider ist, verhängt das Theaterver bot über die Natur. Davon sind auch die „tricks of the stage" 497, wie die Mimikry
in den Origin metaphorisch umschrieben wird, betroffen. Dass es sich in der Tat
um ein theatrales Schauspiel handelt, diese Auffassung wird von den Darwinisten
abgelehnt. 498 Was den gesellschaftlichen Gesetzen nicht entspricht, wird in der
Natur mithilfe eines biolo gischen Gesetzes verleugnet, ja verboten. Fortan wird
Anpassun g genannt, was eigentlich Verwandlun g ist . Demzufolge ist die Lehre
der Anpassung der Endpunkt einer kulturhistorischen Entwicklung, in der die
Verwandlung me hr und mehr domestiziert und aus dem öffentlichen Bewusstsein
verdrängt wird.
Im Vergleich mit den Ordnungssystemen der indi schen Kultur, wo die Auffas sung von der Vielfältigkeit des Lebens noch ganz im Zeichen der Verwan dlung
steht, zeigt sich die Starrheit der puritanischen Wissenschaft.
Man vergleiche diese etwas knausrige Angelegenheit mit der überschwänglich verschwenderischen Verwandlungslehre der Inder, von der Seelenwanderung. Dort
geht jedes Leben auf zweierlei Weise weiter, einmal in Sohn, Tochter, Kind, und
dann in einem ganz anderen Geschöpf, dass die Seele nach dem Tod betritt. Auch
hier wird die eigentliche, natürliche Verwandlung in ein System geordnet und niemand würde die Behauptung wagen, dass diesem System mehr Wahrheit zukomme
als jenem peinlich sparsamen Darwin. 499
Darwins puritanisch -k apitalistisches Empire hier, Indi ens bunte Götterwelt dort
- Canettis eindeutige, auf dem Antagonismus von Ori ent und Okzident aufbauende Sympathiebekundung für Ind ien verleiht seiner wissenschaftssoziologischen
Darwinismuskritik eine postkoloniale Wendung: Nur im theaterfeind lichen Eng land konnte Darwin seine puritanische Theorie entwickeln. Mit seiner Umdeu tung der Ameisenmimikry beabsichtigt Canetti, die Idee hinsichtlich einer imma nenten Theatralität des Lebens, die seines Erachtens von Darwin übersehen wurde,
in die westliche Biologie einzuführen.
Der Puritanismus markiert einen historischen Niedergang in der (europäischen)
Kulturgeschi chte der Verwandlung . Jede Kultur bringt eigene Verwandlungsmy -
495 ZB Nach!. E. Canetti 5.a.13. [o.S.] [Juli-August 1941]
496 ZB Nach!. E. Canetti 40. 1. [S. 37 f.] (,,Masse1941-1943").
497 Darwin, On the Origin ofSpecies,1866, 506.
498 Vgl. Kapitel6.1.1.
499 ZB Nach!. E. Canetti 40. 1. [S. 38] (,,Masse 1941-1943").Auch hier schießt Canetti mit
seiner Darwin-Kritik weit über das eigentliche Ziel hinaus. Die Konstanz der Arten in
Fragezu stellen, ist bekanntlich das Hauptverdienst Darwins gewesen.
276
HUMAN MIMIKRY
8.8 .5. Die Befreiung der Tiere aus dem Buch der Natur
Wenn man liest, mit welch er Lust Canetti den Naturwissenschaftlern seine Sotti sen an den Kopf wirft, könnte der Eindruck entstehen, dass hier ein Feind der
Wissenschaften spricht. 500 Dem ist aber nicht so.
·
Canetti ist selbst promovierter Naturwissenschaftler. Er studiert in Wien vom
Frühjahr 1924 bis zum Sommer 1928 Chemie. Von 1924 bis 1926 besucht er bio logische und mathematische Vorlesungen und Seminare: im ersten Semester ein
Seminar zur Ti erpsyc holo gie, im zweiten zur Systematischen Botanik, im dritten
zur Pflanz enphysiolog ie und im vierten zur Philosophie der Mathematik sowie zur
„Mathematischen Behandlung der Naturwissenschaften." 501 Am 14. Juni 1929
promoviert er mit einer Arbeit mit dem Titel Über die Darstellung des Tertiärbuty karbinols. Im Nachlass stieß Sven Hanuschek auf die Notizen, init denen sich
Canetti an seine Zeit im Labor vor einem halben Jahrhund ert zu vergegenwärti gen versucht. Canetti erinnert sich an die Analyse-Hefte mit den Formeln, auf
denen „vorn als Erstes ,Mi t Gott!' stand." 502
Ich hatte nie ans Laboratorium gedacht, es war eine Zeit, die beschämend für mich
endete, ohne jede wirkliche Leistung, mit jämmerlicher Dissertation, gut bestande -
500 Vgl. zu Canettis Wissens - und Lebensbegriff: Susanne Lüdemann, ,,Vorwort", in: dies.
(Hrsg.), Der Überlebende und sein Doppel Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias
Canettis, Freiburg i. Br. 2008, 9-15; Benjamin Bühler, ,,,Er denkt in Tieren, wie andere in
Begriffen"', in: Der Überlebende und sein Doppel, hrsg. Lüdemann, 349 -365. Die in der
Forschung häufig vertretene Ansicht, der zufolge sein Hauptwerk Masse und Macht eine
,Gegenwissenschaft' dar stellt, die eine Distanz zu den Nar urwissenschaften unterhält, ist
im Lichte von Canettis wissenschaftlichem Lebenslauf und in Anbetracht seines anhaltenden Intere sses an den Naturwissenschaften zu überprüfen . Es liegt vielmehr der
Schluss nahe, dass es sich - ungeachtet seiner negativen Äußerungen - um eine immanente Wissenschaftskritik handelt, die den Geltungsradius der Human- und Naturwissenschaften ausweiten möchte, statt ihn zu verkleinern. Vgl. Peter Friedrich, Die Rebellion der
Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaftin Elias Canettis ,Masse und Macht',
München 1999. Canettis eingehende Beschäftigung mit dem biologischen Phänomen widerlegt jene Interpretationsversuche seines Werkes, die ihm eine gewisse Wissenschaftsferne oder gar Wissenschaftsfeindlichkeit nahelegen wollen . Vgl. Friedrike Eigler, Das autographische Werk von Elias Canetti . Verwandlung, Identität, Machtausübung , Tübingen
1988, bes. 92 f. Seine Lekt üre naturwissenschaftlicher Texte ist wenig beachtet oder falsch
eingeschätzt worden . Vgl. dagegen Petra Kuhnau, Masse und Macht in der Geschichte. Zur
Konzeption anthropologischer Konstanten in Elias Canettis Werk Masse und Macht, Würzburg 1996, bes. 33-36, die Canettis Interesse an chemischen und physikalischen Begriffen
wie der ,Gravitation' hervorhebt. Penka Angelova, Elias Canetti. Spuren zum mythischen
Denken, München 2005, 139, stellt fest, dass für Masse und Macht ein Begehren zu einer
,,unio mystica der getrennten Wissenschaften" zu konstatieren sei.
501 Meldebuch des Studierenden Elias Canetti gebürtig aus Rusrschuk, Bulgarien. Inskribiert
in der Philosophischen Fakultät der Universität zu Wien, den 19. April 1924. ZB Zürich
Nach!. E. Canetti 227c.
502 Canetti, 7.11.1978. ZB Zürich Nach!. E. Canetti 59. Vgl. Hanuschek, Canetti, 118.
LITERARISCHE ZOOLOG [E
277
nen Prüfungen, und alles so rasch wie möglich vergessen. Kann man die besten
Stunden des Tages aus 5 Jahren so verdrängen? Hier gilt der Terminus, es ist übri gens einer der wenigen Freudschen Termini, die ich anerke n ne. Danach erst began n
das wirklich Leben und es harte mit keinem Inhalt des Laboratoriums das Geri ngste zu tun. 503
Wenn Canetti den Wert eines Freuds ch en Konzepts wie der Verdrängung anerkennt, so bedeutet dies angesichts seiner offenen Abneigung gegenüber der Psychoanalyse sehr viel. Und in der Tat liegt die Vermutung nah, dass die spätere
Auseinanders etzu ng mit der Darwinschen Evolutionsbiologie kein Zufall, sondern die Wiederkehr des Verdrän gten ist.
Das Verdrängte besitzt die Eigenschaft, aus einem Zustand der Latenz heraus
weiterzuw irken. Und viell eicht ist der spätere Literat der Chemie in einem gewissen Sinne tatsächlich treu geblieben. Darauf lässt zumindest die folgende aucopoecologische Beschreibung des eigenen Schaffens schließen, in der er den Chemiker
mit dem Schriftsteller vergleicht .
Ohne Struktur kann ich nichts Grösseres schreiben. Aber ich wünsche mir nicht
immer dieselbe, ich brauche ihrer viele, die Monotonie klassischer Formprinzipien
beengt und irritiert mich, ein klassisches Drama zieht mich nur an , wenn ich einen
geheimen Bau darin entdecke. [.. .] Ich brauche sehr viele und sehr verschiedenart ige
Strukturen und sie müssen bis ins Innerste der Dinge gehen, bis in ihre Substanz.
Das aber erscheint mir, entspricht der Natur der Chemie . Kein Ende möglicher Verbindungen ist in ihr abzusehen; und doch sind es Gebilde, die einmal gewonnen
ihre Festigkeit haben, bestehen bleiben, nicht gleich wieder zerfallen. Die Offenheit
aller Zusammensetzungen wünsche ich mir auch für die Kunsr. 504
Canetti führt seine Laborstudien von einst weiter, nun aber mit Wörtern. Seine
Literatur ist ein ,Labor des Wiss ens', in dem disziplinäre Grenzen übers ch ritten
werden. Stets geht es um das ,Ganze' des Lebens. Die Klassifikation, die Canetti
vorschwebt, will das Leb en nicht intellektuell disziplinieren, sondern es in seiner
Intensität darstellen.
Eine Art von Universalitä tsanspruch macht sich bemerkbar, die mir neu ist . [... ]
Von den Ameisen bis hinauf zu den Hunden; vom Dienstmädchen bis hinab zu der
Herrschaft [... ] Es ist, als wäre mir die Aufgabe gestellt, ein ganz privates Inventar
der Welt aufzunehmen. Die Gegenstände sind aber nicht bloß durch Form und
Namen da. Sie haben alle Eigenschaften eines lebenden Wesens in ihrer vollen
Intensität. Der Gegenstand maasr [sie] sich die Rechte eines Geschöpfes an; fast
kommt mir das vor wie eine Rache für die Naturwissenschaft, in der die Geschöpfe
zu Gegenständen mißhandelt werden .505
503 Ebd .
504 Aus dem verworfenen Kapitel „Verdrängung der Chemie". Canetti, ZB 226 . Zit. nach
Hanuschek, Canetti, 117.
505 ZB Nach!. E. Canetti 5.a.5. [S. 11] (] 5. April 1936) [Hv. v. K. C.]
278
279
HUMANMIMIKRY
ANTHROPOLOGIE
Ordnen und, noch viel schlimmer, Zählen, mortifiziert das Leben. Pflanzen und
Tiere drohen tote Dinge zu werden. 506 Die Wissenschaft spielt „gerne m it der Zahl
der Tier - und Pflanzenarten, soll heiß en mit der Zahl der Briefmarken, die [ihr]
selber ausgehen." 507 Canetti spart nicht mit Polemik: ,,Gibt es eine Statistik der
Tiere, die nicht Haustiere sind?" 508
·
Die Sehnsucht nach einer Auflösung starrer taxonomischer Grenzen teilt
Canetti mit Michel Foucault. Der Begründer der Diskursanaly se schenkt er seine
Les mots et !es choses. In seiner Widmung ernennt er sich zu Canettis bescheidenem
Zwillingsbruder (,,humble jumeau"). 509 Das Leben, so Foucault, ist größer und
reicher als jedes Buch, als jeder Diskurs. ,,Der Diskurs ist nicht das Leben: seine
Zeit ist nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch nicht mit dem Tode". 510 Dieser
Aussage würde Canetti womöglich zustimmen können. 51 i
Canetti befreit die Tiere aus dem Buch der Natur. Die Wörter und Klassifika tionen fallen von ihnen ab. In allem spiegelt sich die große Gleichgültigkeit einer
Welt, in der der Mensch nicht im Mittelpunkt steht. In der Literatur, wie er sie
sich erträumt, ist alles im Fluss. In ihr lösen sich die Ordnun gssysteme der Wis senschaften auf.
506 Die Abneigung gegenüber der Statistik entspricht einem Erkenntnisideal, die Christoph
Menke in der Idee der Verwandlung verwirklicht findet. Die Verwandlung sei die Allego rie des Erkenntnisprozesses. Christoph Menke, ,,Die Kunst des Fallens. Canettis Politik
der Erkenntnis", in: Einladung zur Verwandlung, hrsg. Michael Krüger, München 1995,
38-68, hier 45, 47.
507 ZB Nach!. E . Canetti 39.1. [S. 235 f.) (Mat. 1937-1941). Diese Überzeugung teilt er mit
Ernst Haeckel, der sich ähnlich abschätzig über die seelenlose Sammelleidenschaft äußert
und vehement gegen die Trennung von Naturwissenschaft und Kunst ausspricht . Ernst
Haeckel, Generelle Morphologie. Allgemeine Grundzüge der organischen Fonnenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie,
Berlin 1866, 32: ,,Systematisch geordnete Sammlungen von Wappen zum Beispiel von alten Meubles, Waffen, Kostümen, von den neuerdings so beliebten Briefmarken und anderen derartigen Kunstproducten können mit eben so viel Specifications -Sinn, mit eben so
viel Freude und Interesse an den verschiedenen Formen und ihrer systematischen Gruppirungen gepflegt werden und sind sehr häufig mit mehr logischem Sinn geordnet und classificiert, als die Sammlungen von Schneckenschale, Muschelschalen , Vogelbälgen u .s.w.,
deren Liebhaber ,Zoologen' zu sein glauben."
508 ZB Na ch!. E. Canetti 39.1. [S. 235]
509 EC*Michel Foucau!t, Les mots et !es choses. Une archaeologie des sciences humaines, Paris
1966, o.S.
510 Vgl. Foucau!t, Archäologie der Dinge, 301.
511 Wie wenig er allerdings von den Arbeiten seines vermeintlichen französischen ,Zwillings bruder' hält, wird in der folgenden Polemik zum Diskursbegriff deutlich . Elias Canetti,
Postum veröffentlichte Aufzeichnungen, in : ders ., Werke, IV, 399 : ,,Warum hasse ich das
Wort ,Diskurs') Bloß so, wie ich ,Text' gehasst habe, weil jeder es annimmt, um gut gekleidet zu gehen? Darf denn keiner wie andere reden? Ist er darum allein schon ein eitler Idiot?
[. ..] Geht man nicht immer von Wörtern aus, die tausend und abertausend Male gebraucht wurden?" Vgl. auch ebd ., 392: ,,Diskurs, sagt er und meint Mono log. Dialog, sagt
er und meint Monolog ." Natürlich wäre kritisch anzumerken, ob dem Bedürfnis nach
Absetzung nicht eine falsche Vorstellung vom Diskurs zugrunde liegt und Foucau!t hier
schlichtweg missverstanden wird, da dieser von einem monologischen Prinzip ja gerade
nicht ausgeht.
Viel mehr Plage aber machen mir die Geschöpfe selbst . Sie bedeuten mehr; sie spre chen mehr; sie haben mehr Charakter - und auch sie führen sich einzeln auf Sie
nehmen keine Rücksicht auf ihre Gattungen; das Buch, in das sie sich eintragen lassen, müßte man vergeblich suchen, Rubriken sprengen sie; wo sie einen Rubikon
finden, überschreiten sie ihn . Ihrer Gattungen ledig stehen sie für sich da, jedes ein
Moment, jed es seinem Tode abhold. D er Kosmos ist mir in alle seine Einzelheiten
zugefallen, ohne dass eigentlich ein Chaos daraus geworden wäre. In einem schwe benden Zustand trag ich in mir, wie in einer Suspension, die Atome der Zeit. 512
8.9. Anthropologie.
Der homo adaptivus als homo ludens
zwischen biologis chem und mythologischem Denken
(Roger Caillois)
Welchen Stellenwert besitzt die Humanmimikry in der modernen Gesellschaft?
Mimikry ist ein körperlicher Vorgang, der sich unter anderem durch eine unmit telbare Spontanität auszeichnet. Dies scheinen zumindest die außereuropäischen
Kulturen nahe zu legen, wo noch ein Glaube an die Kraft der Verwandlung existiert und das Spiel mit Masken gepflegt wird, was für einige europäische Augen
vormodern oder sogar archaisch und ,primitiv' wirken muss. Besaß der europäische Mens ch einst auch die Fähigkeit zur Mimikry und ist sie ihm erst auf dem
langen Weg in die modern e Zivilisation ausgetrieben word en? Oder finden sich
noch i!).der Gegenwart Reste dieses einst so mächtigen Verlangens?
Nach der Veröffent lichung von „Mimetisme et psychastenie legendaire"
(1935) 513 vergehen mehr als 20 Jahre, bis Roger Caillois das Thema der Mimikry
in seinen beiden Abhandlungen Les jeux et !es hommes (1958) und Meduse et C'
(1960) wieder aufgreift. 514 Seine Sichtweise auf das Naturphänomen hat sich in
dieser Zeit merklich geändert. So distanziert er sich in Les jeux et !es hommes ausdrücklich von seinen früheren Überlegungen , da ihm die Engführung von Zoolo gie und Psychopathologie in „Mimetisme et psychastenie legendaire" in ihrer radikalen Form nicht mehr plausibel erscheint. 515
512 ZB Nach!. E . Canetti 5. a.5. [S. 11] (5. April [1936)) Lust und Leid des enzyklopädischen
Wissens ist bekanntlich eines der Themen seines Romans Die Blendung, an dessen Ende
die Bibliothek im Autodafe vergeht .
513 Caillois, ,,Mimetisme et psychasthenie legenda ire". Vgl. das Kapitel 5.
514 Ders ., Lesjeux et !es hommes. Le masque et le vertige, Paris 1958; ders., Meduse & C', Paris
1960.
515 Vgl. ders ., Die Spiele und die Menschen . Maske und Rausch, Wien 1982, 30.
280
HUMANMIMIKRY
Caillois' Denken vollzieht eine Wende von der Entomologie zur Anthropologie.
Sein universaler Versuch einer die Grenze von menschlicher Kultur un d animali scher Natur überschreitenden Ethologie hat seinen Ausgangspunkt in der Annah me, dass ein natürlicher Trieb der Ma skerade existiert. Ein bekanntes Beispiel ist
die Mode, die „sich auf die Mimikry gründet". 516 Welche Formen nimmt die
Mimikry des Menschen in der Geschichte an und welche sozial-anthropologischen Auswirkungen besaß oder besitzt sie?
Es ist, so Caillois, dieselbe Lust an der Maskerade, die den Menschen zum
Schauspieler macht und die unter den niederen Lebewesen als Insekte nmimikry
in Erscheinung tritt. Di e Geschi chte der Mimikry ist die Stammesgeschichte der
(natürlichen wie künstlichen) Markierung.
Sobald man diese Hypothese zuläßt, deren Kühnheit ich durchaus ermesse, liefert
die unerklärliche Mimikry der Insekten plötzlich ein außerordentliches Gegenstück
zu dem Hang des Mens chen, sich zu verstellen, zu verkleiden, eine Maske zu tragen,
eine Persönlichkeit darzustellen. Bei den Insekten allerdings bilden Maske und Verkleidung einen Teil des Körpers, sie sind kein hergestelltes Zubehör. In beiden Fällen jedoch dient die Verkl eidung genau den gleichen Zwecken. Sie soll die äußere
Erscheinung des Trägers verwandeln und dem anderen Furcht einflößen. 517
518 an: Travestie',
,Tarnung', ,Einschüchterung'. Seine Anordnung repräsentiert den ersten Versuch
einer einheitlichen Klassifikation von Insekten - und Humanmimikry. Mit dem
Auftauchen des Menschen inmitten der Mimikrytiere ergibt sich die Möglichkeit,
das Feld des Wissens neu zu strukturieren. 519
Der Travestie entsprechen die Verwandlungsmythen des Menschen und seine
Neigung, sich zu verkleiden. Es handelt sich um die „Nachahmung eines bestimm ten Äußeren und eines bekannten Verhaltens". 52 Cailloi s, die Mimikryinsekten zu
In Meduse et C' führt Caillois „drei Funktionen der Mimikry"
°
516 Ders., Meduse & C', 2007, 97. Des Weiteren ist die militärische Tarnung zu berücksichti gen. Ebd ., 106: ,,Sie [d.i. die Unsichtbarkeit] kann, wie in Kriegszeiten, von Nutzen sein.
Um sich selbst, seine Geräte und Einrichtungen zu verbergen, hat der Mensch keine besseren Tarnmethoden erfunden als bereits die Schlangen und die Blattschrecken : die somarolytische Färbung und die Verwendung von dichtem Laub ." Nach dem Ersten Weltkrieg,
mit der Einführung von Tarnvorrichtungen und Tarnanzügen, welche die alten, auf Sichtbarkeit angelegten Unifo rmen ablösten, interessiert sich die militärische Forschung im zunehmenden Maße für die Mimikry. Vgl. Art. ,,camouf1age", in: The Oxford Companion to
Military History, hrsg. Richard Holmes, Oxford, 169-170; Herbert Friedmann, The Natural-History Background of Camouflage, Washington, D.C. 1942; Charles Cruickshank, Deception in World War II, Oxford 1979; Seymour Reit, Masquerade, London 1979; Von Payer, ,,Mimikry im Gebir gskrieg", Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 46 (18. November 1917),
26.
517 Caillois, Die Spiele und die Menschen, 28 .
518 Ders., Meduse & Cie, 81. [Übersetzung von ,mimetisme' als ,Mimikry' von K. C.J
519 Ders., Meduse & Cie, 1960, 78 f.
520 Ders ., Meduse & Cie, 2007, 87.
28 1
ANTHROPOLOGIE
Description
Designation
Exemples
Verrebres
a l'interieur
Endophratrique
Danaides
entre eux
Endogenique
Danaides et
nymphalides
Exogenique
Sesies et guepes
de lameme
famille.
Travesti
a ]'interieur
du meme ordre .
en dehors de
!'ordre du
mime.
Correspondances
dans l'imagination
humaine
Mythes de
metamorphose;
tendance au
deguisement
Inv erteb res
Procede
Imitation d'une
apparence definie et
d'un comportement
reconnaissabie
Bur
Ressemblance:
Passer pour un
autre
Sexe specialement
-interesse
Feminin
Schauspielern anthropomorphisierend, schreibt über die Müllersche Mimikry des
Schmetterlings Aegeria apiformis, welcher der Hornisse (Vespa crabro) ähnelt: ,,Die
falsche Wespe schauspielerr." 521 Wie vor allem an der Kategorie der ,Travestie' deut lich wird, zahlt Caillois für die anthropologische Ausweitung des zoologischen
Begriffs einen hohen Preis: Die Grenzen des Mimikrykonzepts drohen nämlich im
Zuge der Neuanordnung zu verwischen. So wird die Baressehe Mimikry der Dana iden und Nymphaliden der Travestie zugeordnet, obwohl ihre aposematische n Farben und Must er der Eins chüc hterung ihrer Prädatoren dienen. 522
Die Kategorie der Tarnung umfasst Phänomene 523 , bei denen das Tier von seiner
Umwelt nicht zu unterscheiden ist. Beispiele hi erfür sind der Schneehase, der Salamander und das Chamäleon, die sich farblich an die Umgebung anpassen, oder die
Gespenstschrecke und der Blattschmetterling, die PBanzenformen ähneln. Bei der
Einschüchterung treten auffällige aposematische Signale in Aktion, die beim (tierischen) Beobachter Angst gefü hle auslösen sollen. Abgeschreckt von den augenähn lichen Ozellen einer Raupe oder den optischen Signalen der Leuchtzirpe wird der
521 Ebd., 98 .
522 Der Grund für Caillois' Entscheidung ist offensichtlich : Als Ancidarwinist kann er der
darwinistischen These von der Ungenießbarkeit der Danaiden nicht zustimmen.
523 In Bezug auf Tarnphänomene verwendet Caillois den aus der deutschsprachigen Biologie
stammenden Begriff der ,Mimese' nicht.
282
HUMANMIMIKRY
Betrachter zum Rückzug gezwungen. Einen ähnlichen Effekt erzielen andere Tiere
mit dem sogenannten ,bösen Blick', der eine ähnliche Wirkung besitzt.
Die unter Insekten auftretenden Phänomene der Tarnung und Einschüchte rung sind in das Wissen der Menschn einge gangen oder finden ihre Entsprechungen in der Kultur. Caillois führt als Beispiele für die Tar.nung zahlreiche ,primitive' Mythen an, welche von numinosen Erscheinungen erzählen oder von Wundern
beri chten, bei denen etwas unsichtbar geworden ist. Die aposematischen Abschre ckungstechniken erkennt Caillois in den Tätowierungen, kriegerischen Bemalun gen und Karnevalsmasken wieder, die unter Menschen denselben Zweck erfüllen.
Eine andere Dimension der Mimikry wird in Les jeux et les hommes (1958)
behandelt. Hier umfasse der Mimikrybegriff den Spieltrieb bei Mensch wie Tier.
Von der Annahme eines solchen ludischen Instinkts gelange Caillois zu weiteren
Fragen, die sich mit der Beziehung von Illusion und Einbildungskraft
befassen.
Im Spiel, so Caillois, wird eine fiktive Gegenwelt zur Wirklichkeit aufgebaut. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, in die Illusion einzutauchen (,,in -lusio"):
Man kann ihr [d.i. der Welt] auch entfliehen, wenn man sich selbst zu einem anderen mache. Dem entspricht dann die mimicry. [. .. ] Der Mensch vergißt, verstelle
sich, er entäußere sich vorübergehend seiner Persönlichkeit, um dafür eine andere
vorzucäuschen.524
In Les jeux et les hommes schlägt sich Caillois Neigung für Klassifikationen in einer
Typologie von Spielformen nieder. In der Tabelle werden vier anthropologische
Kategorien des Spiels voneinander unterschieden: agon, alea, mimicry525 und ilinx. 526
In der Mimikry drückt sich ein ludischer Instinkt zum Rollenspiel aus, der als ein
untrennbarer Teil der menschlichen Natur präsentiert wird.
Um die elementare und gleichsam organische Natur dieser Bekundungen zu charakterisieren, wähle ich den Ausdruck mimicry, was im Englischen den Mimecismus
umschreibe, insbesondere die Wandlungs - und Anpassungsfähigkeiten der Insekcen.527
Humanmimikry
tritt in diversen kulturellen, historischen und religiösen Kontex ten und Variationen auf, sei es als Nachahmung im Kind esalter, im Theat er, im
Film, im Alltag oder in totemistischen Ritualen. Im folgenden Zitat über den
Schamanenkult der sibirischen Tungusen trifft man erneue auf das buchstäbliche
Verständnis der Mimikry als einer Pantomime.
524 Caillois, Die Spiele und die Menschen, 27 f.
525 Caillois verwendet als Begriff nicht das französische mimetisme, sondern ausdrücklich das
englische mimicry .
526 Caillois, Lesjeux et /es hommes, 92.
527 Ders., Die Spiele und die J\1enschen, 28.
283
ANTHROPOLOGIE
Formes culcurelles
demeuranc en marge
du mecanisme social
Agon
(Chance)
Mimicry
(Simulacre)
llinx
(Vercige)
Corrupcion
sporcs
concurrence
commerciale,
examens et concours
loceries, casinos,
hippodromes ,
paris mucuels
speculation
boursiere
gie , etc.
carnaval, cheacre,
cinema, culce de la
vedecre
uniforme, etiquecce
ceremonial , meciers
de represencacion
alienacion,
dedoublemenc de
la personnalite
alpinisme, ski-hauce
volrige, griserie de
la vicesse
professions donc
l'exercice implique la
domination du vercige
alcoolisme et
drogues
(Compecicion)
Alea
Formes institutionnelles incegrees a la
vie sociale
violence, volonce
de puissance, ruse
supersticion, ascrolo-
Die mimicry erscheine dagegen in der Pantomime, der sich der Besessene hingibt. Er
ahme Laue und Haltung übernatürlicher Tiere nach, die sich in ihm inkarnieren: Er
krieche auf der Erde wie eine Schlange brülle, läuft auf allen Vieren wie der Tiger,
ahmt das Tauchen der Ente nach oder bewege die Arme wie der Vogel seine Flügel.
Sein Gewand zeige seine Verwandlung an .528
528 Ebd., 101. Ein anderes Beispiel,das Caillois hierfür angibt, ist das rituelle Maskenspiel in
Tocemkulcen,das er in Analogie zur Gottesanbeterin setzt. In den Totemkulren ereignet
sich der Zusammenbruch der Unterscheidung von Realem und Imaginärem im Einswerden mit der Maske. Caillois, Meduse et C', 119: ,,Pantomime, plötzliches Hochschnellen,
Berücken, Ausstoßen fremdartiger und beunruhigender Laute, all dies gehört zum Gebaren des Magiers. Grellbunt oder weiß bemale, aufgeputzt, maskiert, auf Stelzen gestikulierend, die ihn überhöhen (wie die Mantis sich überhöhe, indem sie sich auf die Hinterbeine
stelle)oder als konvulsivischer Tänzer, der Rassel oder Klapper erschallen läßt, zelebriere
er eine panische Liturgie." In Bezug auf sein Mim ikrykonzepc in Les jeux et /es hommes
fallen gewisse Unstimmigkeiten auf. Mitunter behauptet er einerseits, dass die Mimikry
ein volles Kontrollbewusstsein erfordert, um den ästhetischen Schein im Als-ob-Modus
zu halcen - ist dies nicht der Fall, spricht Caillois auch von einer „Korruption" des Konzepts, sobald die vollkommene Identifikation eine Selbstentfremdung forciere und das
Spiel seinen Illusionscharakter einbüße - , andererseits liege aber eine solche Intensivierung, die mit dem Verlust des Kontrollgefühls einhergeht, just bei der schamanistischen
Tierverwandlung vor, die et als eine Mimikry auffasst. Die Spiele und die jvfenschen, 58:
„Die Korruption der mimicry folgt einem parallelen Weg. Sie entsteht, wenn der Schein
nicht mehr als solcher genommen wird, wenn derjenige, der sich verkleidet, an die Realität
der Rolle, der Travestie oder der Maske glaubt. Dann spielt er nicht mehr diesen anderen,
den er darstellt. Er ist überzeugt, der andere zu sein und verhälc sich in der Folge so, als
vergäße er, wer er ist. Der Verlust seiner eigentlichen profunden Identität wird die Strafe
für den, der unfähig ist, seine Neigung, eine fremde Persönlichkeit anzunehmen, auf das
Spiel zu beschränken. Hier spricht man mit Fug und Recht von Entfremdung. "
284
HUMAN MIMIKRY
Diese Assoziation mit dem totemistischen Ritual ist älteren Datums und geht
zurück in die Zeit, als die Mimikry im südamerikanischen Tropenwald entdeckt
wurde. Erinnert sei dar an, wie der Anblick der Totemtänze einst Henry Walter
Bates dazu inspiriert, das Wort ,mimicry', welches er ursprünglich für die Nachah mungen der Indianer verwendete, für die Bezeichnung d er Ähnlichkeit zwischen
artfremden Schmetterlingen zu benutzen, weil in beiden Fällen ein Tier das imi tierte Vorbild ist.
Caillois' Theorie des Ludischen hat einen Vorläufer, auf den unmittelbar Bezug
genommen wird. Es handelt sich um Karl Groos' Die Spiele der Thiere (1896).
Groos, in dessen Auflistung von Spielformen sich unter anderem das zu den
Mimikryphänomenen zählend e „sich-Todtstellen" 529 findet, unternimmt als einer
der ersten den Versuch, ein e Ethologie des Spieltriebs zu schreiben.
Endlich muss noch erwähnt werden, dass es - beim lhier und beim Menschen immerhin auch viele Spiele gibt, wo der Nachahmungscr ieb ziemlich frei über die
besonderen instinctiven Analgen hinaus greifr, also anscheinend allein wirkt, so z.B.
wenn Affen allerlei Thätigkeiten der Menschen nachmachen, wenn Papageien von
selbst sprechen lernen oder wenn Kinder ,Pferdebahn', ,Eisenbahn' (ein mir bekannter kleiner Junge spielte sogar als unterrichteter junger Mann nur ,Orient-Express'),
,Schutzmann', ,Lehrer' u. dgl. spielen.530
Caillois Spieltheorie stellt zugleich eine Zivilisationskritik dar. Die Geschichte der
Zivilisation ist die Geschichte der Domestizierung und Disziplinierung von Ins tinkten wie der Mimikry, di e verbannt werden, weil sie rauschhafte Zustände
befördern. ,,In der Verbindung von Maske und Rausch "531 entfaltet die Mimikry
aber erst ihr schöpferisch es Pot enzial, wenn sich die Verstellungsspiele mit den
sogenannten Ilinx -Spielen vermis chen, Spielen also, in denen die Beteiligten in
einen Rausch versetzt werden. Rausch aber hat von jeher einen subversiven Cha rakter besessen, vorausges etzt, er wird nicht durch Regeln eingedämmt.
Nach Caillois treten Körper und Kultur in der Modeme als Gegensätze in Erschei nung. Vor allem die Institution des Theaters „diszipliniert die Mimikry." 532 In seinen
Augen erlauben die Rollen in modernen europäis chen Dramen es nicht, den Spieltrieb auszuleben, weil sie den kulturellen Normvorstellungen einer Gesellschaft entsprechen müssen. Figuren wie der Harlekin oder der Hanswurst sind deshalb längst
von der Bühne verschwunden. In der Ges chichte der westlichen Kunstformen werden mit der Domestikation des Mimikrytriebs auch die rauschhaften Kunstformen
der Verwandlung marginalisiert. ,,In dieser neuen Rolle ist die mimicry nicht die
Auslösung des Rausches, sondern eine Vorkehrung gegen ihn." 533
529
530
531
532
533
Karl Groos, Die Spiele der Thiere, Jena 1896, 213.
Ebd, 75.
Caillois, Die Spiele und die Menschen, 89.
Ebd., 41.
Ebd., 160.
ANTHROPOLOGIE
285
Diese Tendenz setzt sich in der Modeme fort. Das Kino und die moderne Spek takelkultur repräsentieren die charakteristischen Zeugnisse einer Kultur, in der im
zunehmenden Maße di e Techniken des Rausches in Vergessenheit gera ten. Die
Mimikry des modernen Menschen, der das Spiel mit den Masken verlernt hat, ist
in seinen Augen „entartet".
Eine verschwommene und gutartige mimicry liefert eine harmlose Kompensation
für eine resignierte Menge, die ohne Hoffnung und ohne festen Vorsatz ist, in die
Welt des Luxus und des Ruhmes zu gelangen. Die mimicry ist diffus und entartet.
Ohne Maske gelangt sie nicht mehr bis zur Besessenheit und Hypnose, sondern nur
bis zu der nutzlosesten aller Träumereien. Der Traum entsteht in der Verzauberung
des dunklen Kinos oder in dem glänzenden sonnenbeschienenen Stadion, wenn alle
Blicke starr auf die Gesten eines leuchten Helden gerichtet sind. [...] Während also
die Maske nur noch bei seltenen Gelegenheiten getragen wird und fast ganz außer
Gebrauch gekommen ist, dient die mimicry den neuen Normen, die die Gesellschaft
regieren, als Träger oder Gegengewichr.534
Caillois' Theorie ist von einem Ganzheitsd enken getragen, das die Nivellierung
der anthropologischen Differenz anstrebt. Die „Gegenüberstellung der Welt der
Insekten und der Welt des Menschen" 535 tritt gegen den Glauben an eine „bloß e
Koinzidenz" an. 536 Über seine in La Mante religieuse537 (1935) aufgestellte Hypo these bezüglich der ethologischen und psychologischen Korrespondenzen zwischen Insekt und Mensch schreibt Caillois im Jahre 1960:
Ich ging vielmehr von einer Korrespondenz zwischen dem Verhalten des Insekts
und dem Glauben des Menschen aus. [.. .] In diesem präzisen Fall [d.i. die Mantis]
schien mir beim Menschen die Einbildungskraft den Instinkt zu ersetzen, die Fiktion ein Verhalten und der von einer düsteren Fantasie hervorgerufene Schrecken die
automatische, verhängnisvolle Auslösung eines gnadenlosen Reflexes.538
Obwohl Caillois gewisse Skrupel einholen, die vor allem die pyhlogenetische
Hypothese betreffen, nach der Insekt und Mensch unmittelbar miteinander verwandt sind, vertritt er die Ansicht, dass im Leben der In sekten die Urformen des
menschlichen Lebens auszumachen sind. Im Unbewussten des Menschen ruhen
ältere Schichten der evolutionären Vorges chichte, zu denen die Verhaltensweisen
des Insekts gehören . In der Welt der Mythen, die für ihn ein Spiegel der inneren
Seelenlandschaften des Menschen ist, liegen die archaischen Sinnstrukturen, die
für das gesamte Leben Gültigkeit besitzen, und zwar sowohl für das Leben der
Insekten als auch der Menschen. Mythen repräsentieren für Caillois universale
Wahrheiten, die die Verbindung zwischen dem Menschen und den anderen Lebe -
Ebd., 143.
Caillois,Meduse et C', 59.
Ebd., 55.
Roger Caillois, ,,La Mame religieuse",Minotaure, Nr. 5 (1934), 23 -26; ders., ,,Die Gottesanbeterin",in: ders., Meduse & Cie, Berlin 2007, 7-24.
538 Ders., Meduse et C', 55.
534
535
536
537
286
HUMAN MIMI KRY
wesen der Natur herstellen. Die Mimikry stellt ein archetypisches Denk- und Verhalten smuster par excellence dar.
Um es zu wiederholen: Das Verhalten des Insekts erklärt - mir den übliche n Abwei chu nge n und über den U mweg der Fabularion - die Mythologie des Menschen .539
Cailloi s gehört zu jener Gruppe europäischer Denker, die eine primitivistische
Faszination für das außereuropäische Ausland hegen , wo sie noch ursprüngliche
Denk - und Lebensformen vermuten, die von den Einflüssen der als fantasiefeindlich angesehenen Zivilisation unversehrt geblieben sind. Was ihn besonders anzu ziehen scheint, ist der Umstand, dass die T iere noch inmitten der Lebenswelt der
sogenannten ,primitiver' Völker stehen, wohingegen sie in westlichen Gesellschaf ten bereits seit geraumer Zeit ausgeschlossen sind.
In Caillois' Primitivismus verbinden sich evolutionsbiologische und mythologi sche Elemente. Die Kritik, dass er die Ins ekten für seine Zwecke anthropomorphi siert, weist er von sich . Er beabsichtigt vielmehr das Gegenteil. Der „Vorwurf des
Anthropomorphismus [läuft] im Grunde drauf hinaus, den Mensch en im Univer sum zu isolieren und jede nähere Verwandtschaft zwischen ihm und den anderen
Wesen in Abrede zu stellen." 54 Caillois fordert stattdessen, die These von der „Kon tinuität" zwischen Tier und Mensch zur unabdingbaren Voraussetzung für die biologische wie nicht -biologische Erforschung des Menschen zu machen.
°
Der M ensch ist ein Tier wie alle anderen, seine Biologie ist die gleiche, er ist allen
Gesetzen des Universums unterworfen , denen der Schwerkraft , der Chem ie, der
Symmetrie und tausend anderen. Warum also wird dem Versuch , die Eigenschaften
seiner Natur anderswo wiederzufi nden, bzw. umgekehrt die in der Tierw elt regierenden Gesetze bei ihm wiederzufinden a priori unterstellt, er sei notwendigerweise
M an ie, Illusion oder Einbildung? Alles spricht doch für Kontinuität. 541
539 Ebd ., 113.
540 Ebd. , 53.
541 Ebd.
E.
SCHLUSS UND AUSBLICK
9. Das Ende des Mythos und die Wied erkehr
der Humanmimikry
„Tue most important part of my
environment is my fellow -man."
(William James, ,,What is an Emotion?")
Die Theorien, Spekulationen, Gedankenexperimente und literarischen Texte im
letzten Abschnitt analysieren und beschreiben die soziale Anpassung des Men schen an seine Umwelt . Der in ihnen verwende te Begriff der ,Mimikry' ist inzwi schen aus dem Gebrauch gekommen. Nur noch selten find et er heute Verwen dung, wenn ethnische oder sozio-kulturelle Anpassungsproz esse verhandelt
werden. Im alltäglichen und wissen schaftlichen Sprachgebrauch hat sich an seiner
Stelle der Begriff der ,Assimilation' durchgesetzt.
,Assimilation' leitet sich von den lateinischen Wörtern ,assimulare' und ,assim ilare' ab, die ,ähnlich machen' bedeut en. Das Kompositum setzt sich aus dem Präfix
,as-' beziehungsweise ,ad' (,an', ,zu') und ,simulare' (,ähnlich machen') beziehungs weise ,similis' (,ähnlich') zusammen. Wie ,Mimikry ' bezeichnet auch sie einen
mimetischen Prozess, an dessen Ende eine zwischenmenschliche, unterschiedliche
Lebensbereiche umfassende Ähnli chkeit stehr. 1
In der Soziologie, in der der Terminus seit geraumer Zeit fest etabliert ist, versteht
man unter ,Assimilation' einen Zustand und Prozess der Ähnlichk eit beziehungsweise ,An-Ähnlichung'. Eine Gruppe übernimmt inn erhalb eines längeren Zeitraums die Werte, Orientierungs - und Verhaltensmuster einer anderen, dominieren den Gruppe. 2 Die assimilierenden Nachahmer und das Vorbild unte rscheiden sich
ethnisch oder sozio-kulturell voneinander; häufig gehen jedoch beide Kategorien
ineinander über, wie die folgenden Definitionen nahe legen. 3
Die gegenwärtige Kritik an der Assimilation resultiert aus dem Umstand, dass sie häufig
eine Unterdrückung der Herkunftsidentität impliziert, die nicht gelebt werden darf beziehungsweise soll. Was Assimilation ist und wie weit sie geht, darüber herrscht jedoch kein
Konsens .
2 Assimilation wird häufig in Verbindung mir der religiösen Akkommodation und der Akkulturation, die das Hineinwachsen eines Kindes in eine andere Kultur umfasst, genannt .
Die Grenze zwischen diesen häufig synonym behandelten Begriffen ist fließend .
3 Auf die Diskussion zum Begriff der ,Erhnie', der von einigen Soziologen als eine gesellschaftliche Konstruktion angesehen wird, mir dem sozio-kulturelle Unterscheidung en vorgenommen werden, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. Roger
Brubakers , Ethnicity Without Groups, Boston 2004 .
290
SCHLUSS UND AUSBLICK
DAS ENDE DES MYTHOS UND DIE WIEDERKEHR DER HUMANM IMIKRY
Assimilation (von lat .: assimulatio = Gleichstellung), ,Angleichung', ,Ähnlichma chung', in der ethnolog. und polir. -soziol. Literatur häufig benutze Bezeichnung für
Prozesse der Angleichung einer ethnischen oder sozialen Gruppe an eine andere. 4
avanciert. 8 Während das wissenschaftliche Objekt mehr oder weniger unverändert
geblieben ist, haben sich die Begriffe, die es bezeichnen, verändert. Der szientistische
Mythos der Humanmimikry entsteht just zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als erste
Theorien der Assimilation in der Soziologie entwickelt werden. Zuvor ist das soziale
Anpassungsvermögen des Menschen nicht untersucht worden. Die hier versammel ten Autoren teilen mit den Soziologen gemeinsame Interessen und Fragestellung,
ohne deshalb selbst Soziologen zu sein. So lange unklar ist, was Assimilation bedeu tet, denn das Phänomen ist zum besagten Zeitpunkt neu, können noch eine Vielzahl
von Erklärungsmöglichkeiten koexistieren.
Der szientistische Mythos überbrückt somit die dama ls existierenden Wissens lücken. Neben einer Soziologie der Assimilation gibt es also eine Anthropologie,
Literatur, Philosophie und Psychologie der Mimikry. Außerhalb der empirischen
Wissenschaft entsteht so ein proto - und parasoziologisches Wissen der Assimilati on, die noch unter einem anderen Begriff - dem der ,Mimik ry' - verhan delt wird.
Zur Vorstellung der Humanmimikry gehören eine Reihe von wissens chaftlichen
Fiktionen und kulturellen Fantasien, die ungehindert entstehen können, so lange
es keine institutionalisierte soziologische Wissenschaft der Assimilation gibt. Die
Entstehung des szientistis chen Mythos der Humanmimikry liegt vor der soziologischen Erforschung der Anpassun g und markiert den Übe rgang von einem prä wissenschaftlichen zu einem wissenscha ftlichen Stadium . Mit anderen Worten:
Humanmimikr y ist Assimila tion avant La lettre .
Um dies zu belegen, sei auf die nahezu identischen Vorstellungen verwiesen, die
im Hintergrund der synonymen Begriffe stehen . Assimilation ist ein ursprü nglich
physiologischer Begriff, der den Stoff- und Energiewechsel meint, bei dem fremde
in körpereigene Stoffe umgewand elt werd en. Auf diese Weise wird der Organis mus gestärkt. Ein Kollektiv, das also neue Mitgli eder assimiliert, profitiert dabei
ebenso wie das Individuum, das Teil einer größeren Gruppe wird . Mit diese r Idee
ist die lamarckistische Auffassung der Mimikry des Mens chen nahezu identisch:
Di e mimetische Erwerbung von Eigenschaften entspricht der Assimilation von
Stoffen aus der Umwelt, die im Falle der Mimikry sogar vererbbar sein sollen . Beide stellen Prozesse der Inko rporierung von fremden Merkmal en dar 9, die in eigene
Assimilation, [l] allgemeine Bezeichnung für ein Ähnl ichwerden aufgrund eines
Anglei chungs- oder Anpassungsprozesses . [2] Soziale A .: Angleichung eine s Indivi duums oder einer Gruppe an die soziale Umgebung durch Übernahme ähnlicher
Verhaltensweis en und Einste!lungen .5
Assimilation refers ro the process by which individuals or groups cake on ehe culrure
of the dominant sociecy, including language, values, and behavior , as well as ehe process by which groups are incorporaced. 6
Wie der amerikanische Soziologe Rogers Brubaker betont, ist Assimilation sowohl
ein aktiver Prozess, bei dem ein Individuum oder eine Gruppe die Eigeninitiative
ergreift, als auch ein passiver Vorgang.
To assimilate means ro become similar (when the word is used incransitively) or co
make similar or co treat as similar (when it is used cransicively). Assimilation is thus
ehe process ofbecoming similar, or making similar or creating as similar. 7
Geht man nun von dieser weiten Definition von Assimilation im Sinne eines akti ven wie passiven Ähnlichwerdens mit der sozialen Umwelt aus, so hat man eine
allgemeine Definition für die historischen Vorstellungen der Humanmimikr y
gefunden. Denn die Mimikry des Menschen, wie sie in den Texten zuvor behan delt wurde, ist genau dies: ein Vorgang, bei dem Personen sich einander ähnlich
werden. Diese Ähnlichkeit betrifft im Falle der Humanmimikry die Angl eichung
des Körpers ebenso wie diejenige des Verhaltens oder der Gefühls- und Denkwei sen. Wenn hier zwei Begriffe, ,Assimilation' und ,Mimikry', aufeinander abgebil det werden, dann wird damit weder eine Rückprojektion einer aktuellen Definiti on auf einen älteren Diskurs, die aufgrund ihres Anachronismus abzulehnen wäre,
noch die Konstruktion einer genetischen Herleitung intendiert,
Die These lautet, dass ,Mimikry' und ,Assimilation' historische Synonyme repräsentieren, deren Begriffsgeschichten - bis auf einen entscheidenden Punkt - miteinander vergleichbar sind . Wie im Folgenden gezeigt werden soll, werden beide unab hängig voneinander in einer Epoche aus der Biologie in das Wissen vom Menschen
eingeführt, als das heute unter der Bezeichnung ,Assimilation ' bekannte Phänomen
noch kein wissenschaftlicher Gegenstand ist beziehungsweise erst zu einem solchen
4 Art. Assimilation, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. Karl-Heinz Hillmann, 5., vollstän dig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2007, 53.
5 Rolf Klima, ,,Art. Assimilation", in : Lexikon zur Soziologie, hrsg. Werner Fuchs-Heinritz,
u.a., W iesbaden 2007, 61.
6 Art. ,,Assimilation: The United Stares", in: International Enyclopedia ofSociology, London/
Chicago 1995, 96-100, hier: 96.
7 Brubaker, Ethnicity Without Groups, 119. Vgl. auch den wichtigen Artikel desselben Autors: ,,The Return of Assimilat ion? Changi ng Perspectives on Immigration and Ics Sequels
in France, Germany, and ehe United Stares", Ethnic and Racial Studies 24 (200 1), 531-548.
291
8 Das Phänomen der sozialen Assimilation existiert natürlich bereits schon früher . Hier ist
der Status der Assimilation als wissenschaftliches Forschungsobjekt gemeint, zu dem sie
erst in der Soziologie des 19. Jahrhu nderts avanciert.
9 Dieser Inkorporationsgedanke ist seinerseits wiederum Teil einer älteren politischen Tradition, in der die Gesellschaft als ein kollektiver Körper gedacht wird. Aus der umfangrei chen Literatur sei hier nur verweisen auf : Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann , Tho mas Frank, Echel Matala de Mazza , Der fiktive Staat. Konstruktionen des politisch en Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M . 2007. ,M imikr y' und ,Assimilation ' werden
in einer Zeit auf den Menschen bezogen , als sich der Vergleich zwischen menschlichen
und tierischen Gesellschaften einer besonderen Beliebtheit erfreut. Insektenstaate n und
Schwärme sind populäre Modelle um 1900. Es sei daran erinnert, dass die Mimikry insofern ein Sehwarmphänomen ist, als die Mimikryschmetterlinge in den großen Schwär-
292
293
SCHLUSS UND AUSBLICK
DAS ENDE DES MYTHOS UND DIE WIEDERKEHR DER HUMAN MIMIKRY
umgewandelt werden und zu einer Veränderung des Körpers führen können. ro
Durch die Anähnlichung im Sinne von Assimilation oder Mimikry wird ein Indi viduum oder eine Minderheit Teil des Kollektivs.
Das Interesse an biologischen Anpassungsprozessen erklärt sich aus dem
Umstand, dass es um 1900, der Hochzeit der Milieutheorien, zum ersten Mal
möglich wird, Anpassung als einen zwischen Menschen ablaufenden Prozess zu
denken. Dass Menschen sich an ihre natürliche Umwelt anpassen können, ist
bereits aus älteren Klimatheorien bekannt. Dass aber die soziale Umwelt einen
ähnlichen Einfluss ausüben kann wie die natürliche, ist ein in der damaligen Zeit
neuer Gedanke, zu dessen Entstehung die evolutionsbiologischen Anpassungskonzepte auf eine entscheidende Weise beitragen.
,Mimikry' und ,Assimil ation ' werden auf unterschiedliche Weise rezipiert. Dies
betrifft vor allem die wissenschaftlichen Disziplinen, in die sie zuerst Eingang finden. Im Falle von ,Assimilation' ist es die Soziologie. Die erste Definition der Assimilation stammt aus dem Jahre 1921. Sie wird von den amerikanischen Soziologen Robert E. Park und Ernest W. Burgess, die beide der sogenannten Chicago
School angehören, aufgestellt.
Burgess stammen die ersten Darstellungen von Assimilationsphänomenen aus der
europäischen Rassenbiologie. 13 Ais Gründungsdokument dieses Diskurses führen
sie Arthur de Gobineaus Essai sur l'inigaliti des races humaines (1853-1855) an.
Assimilation is a process of interpenetration and fusion in which persons and groups
acquire the memories , sentiments, and attiudes of other persons or groups, and, by
sharing their experience and history, are incorporated with them in a common cul tural life. 11
Park und Burgess gehen davon aus, dass die ,Assimilation' ein Vorgang in der
Gesellschaft ist, der auf einem natürlichen Prozess beruht. ,,Assimilation, as thus
conceived, is a natural and unassisted process, and practise". 12 Nach Park und
men ihrer Vorbilder mirfliegen und, indem sie nicht auffallen, zu Pseudomirgliedern des
Kollektivs werden.
10 Wie gesellschaftliche Verhältnisse körperliche Veränderungen und sogar Krankheiten
hervorrufen können, wird in der amerikanischen Sozialwissenschaft wieder im verstärk ten Maße diskutiert . Sie orientiert sich dabei an den neuen Erkenntnissen aus dem Feld
der Epigenerik . Die Nähe zu den Milieurheorien und der Debatte um ,nature versus nurture' um 1900 wird von den Wissenschaftlern eigens hervo rgehobe n . Vgl. Christopher
Kuzawa, Elizaberh Sweet, ,,Epigenetics and ehe Embodiment of Race. Developmental
Origins of US Racial Disparities in Cardiovascular Health ", American Journal of Human
Biology (2008), 1-14. Zur Überprüfung des sozialwissenschaftlichen Nutzens epigeneti scher Modelle bedarf es noch weiterer Untersuchungen .
11 Robert E. Park, Ernest W. Burgess, lntroduc tion to the Science of Sociology, Chicago 1921,
735 . Parks race-relations-cycle-theory beruht auf der Idee des melting pot, der zufolge die
ethnischen und kulturellen Unterschiede im Laufe der Zeit verschwinden werden. Gor don Milron verwirft in Assimilation in American Lift (1964) die Idee des melting pot und
plädiere für die ,Anglo -conformir y', die der Situation in den 60er-Jahren eher entspricht.
Das Modell der ,Anglo -con form iry' beschreibt eine Anpassung an die anglo-amerikanische Kultur als Voraussetzung der Assimilation. Gordon M. Milron, Assimilation in American Lift. The Role of Race, Religion and National Origins, New York 1964
12 Park, Burgess, lntroduction to the Science of Sociology, 735.
Literatur on assimilarion is very largely a by-product of the controversy in regard eo
the relative superiority and inferiority of races. This controversy owes its existence,
in ehe present cencury, t0 the publication in 1854 of Gobineau's The Inequality of
Human Races. 14
Di e Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Diskurs
der Assimilation werden von Park und Burgess nicht erwähnt, obwohl sie offensichtlich sind. Im Gegensa tz zu seinem europäischen Pendant ist das amerikani sche Konzept der Assimilation nämlich (noch) positiv besetzt. Die mit ihr verbun dene Hoffnung zielt auf die Überwindung sozialer Ungleichheiten ab, von denen
vor allem die Einwanderer betroffen sind. Im Bild des meltingpot erhält dieses Ideal seinen bekannten symbolischen Ausdruck. 15
Mimikry hat nicht die Laufbahn eines soziologischen Begriffs eingeschlagen .
In einer Geschichte der siegreichen und erfolglosen wissenschaftlichen Begriffe,
gehört Mimikry mit Sicherheit zu den Letzteren. Während nämlich der Begriff
der ,Assimilation' in der amerikanischen Soziologie den Prozess der Verwissen schaftlichung durchläuft und sich infolge dessen als Terminus etabliert, verbleibt
13 Vorbereitet wird die soziologische Studie durch die einflussreiche Analyse von Franz Boas,
der die körperlichen Veränderungen unter Immigranten untersuche. Franz Boas, ,,Changes
in ehe Bodily Form of Descendants of Immigrants", American Anthropologist, New Series
3.14 (1912), 530-562. Boas kennt im Übrigen die Experimente der Mimikryforscher mit
Schmetterlingspuppen (vgl. das Kapitel 3.2.), bei denen die Farbanpassung an unter schiedliche Hintergründe beobachtet wird . Vgl. ders ., Art. ,,Biological Premises", in : GeneralAnthropology, hrsg. ders., New York 1938, 16-23.
14 Ebd .
15 Der Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Konzept der Assimilation und dem
szientistischen Mythos der Humanmimikry ist nicht zuletzt einer der Wissenschaftstradi tionen. Das amerikanische Konzept der Assimilation ist interkulturell auf das Leben der
Einwanderer bezogen. Das Thema ,Immigration und Amerikanisierung' ist eines von drei
Aspekten, die im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Park, Burgess, lntroduction to the
Science o/Sociology, 769: ,,The literature upon assimilation falls natura!ly under rhree main
heads : (1) assimilarion and amal gamation ; (2) ehe conflict and fusion of culrures; and (3)
immigracion and Americanizac ion." Auf der ethnischen Assimilation liegt damals wie
heure der Schwerpunkt der Forschung. Vgl. beispielsweise: Richard Alba, Victor Nee,
,,Art. assimilacion", in: The BlackwelL Encyclopedia of Sociology, hrsg. George Riczer, Oxford 2007 , 191-198, hier: 191: Assimilation is reemerging as a core concept for comprehending ehe long-run consequences of immigracion, borh for ehe immigrants and cheir
descendants and for ehe sociery chac receives ehern." Dagegen zeichnet sich die europäische
Vorstellung der Mimikry durch ihre innerkulrurelle Ausrichtung aus. In dieser Hinsicht
sind Mimikry und Assimilation spiegelbildlich angeordnet: Assimilation beschreibt die
vertika le Anpassung der Immigranten, Mimikry vor allem die der Nicht -Migranten.
294
295
SCHLUSS UND AUSBLICK
DAS ENDE DES MYTHOS UND DIE WIEDERKEHR DER HUMANMIMIKRY
,Mimikry' vor der epistemischen Schwelle und geht nicht in die empirischen Wissenschaften ein.
Über die Gründe für die ausgebliebene Rezeption in der europäischen Soziolo gie kann im Rückblick natürlich nur spekuliert werden. Versuche, die in diese
Richtung gehen, hat es um 1900 jedoch durchaus gegeberi. 16 Gabriel de Tarde geht
in seiner Soziologie der Nachahmung auf die Mimikry ein und nennt sie ein
,,unlösbares Geheimnis". 17 Er schildert den historischen Fall des Herrschergeschlechts der Stuarts, welche die französischen Hofsitten annehmen. ,,Dieses Phä nomen einer im gewissen Sinne moralischen Mimikry [... ] ist in der Ges chichte
nicht selten." 18 Auf eine ähnliche Weise äußert sich der deutsche Soziologe Leopold
von Wiese. Er konstatiert im Jahre 1924, dass die Mimikry eine „Fülle von Proble men für die Soziologie" 19 beinhaltet. Do ch löst er dieses Problem nicht, sondern
umschreibt es lediglich. Zu einer eigenständigen soziologisch en Definition von
Mimikry gelangt auch von Wiese nicht.
eine besondere Form von Ähnlichkeit dar, und zwar eine solche, die ihren Beobach ter täusch en soll. Deshalb verbindet man mit ihr den Betrug und die Lüge. Human mimikry ist in einem historischen Diskurs zu verorten, in dem es darum geht, jene
biologischen und sozio-kulturellen Ähnlichkeitsm erkma le zu bestimmen, mit denen ein Anspruch auf eine Identität und eine soziale Zugehörigkeit legitimiert werden soll. Die historische Kritik der Mimikry mündet daher nicht zufällig in eine
Ablehnung des homo adaptivus. Der Grund hierfür ist der Verdacht, dieser verberge
vorsätzlich seine wahre Identität und Herkunft vor seinen Mitmenschen und täu sche damit eine fremde Identität vor, um einen persönlichen Vorteil zu erlangen .22
Diese pejorative Konnotationen, die nicht zuletzt einem Feind -Freund -Denken
Vorschub leisten , laufen Gefahr, subjektive Meinung en und Vorurteile zu transportieren, die einer wissenschaftli chen, dem Kriterium der Obj ekt ivität verpflichteten
Auseinandersetzung mit dem Phänomen abträglich sind. 23
Noch weniger fälle Mimikry mit dem Begriff der Nachahmung zusammen. Das gilt
en gedacht wird, das heißt als die ,Natur' noch die Rolle einer Diskursmacht im Feld des
kulturellen Wissens innehat . Heute besteht eine Spannung zwischen der poststrukturalistischen Kritik an deterministischen Identitätskonstruktionen und den von ihr verwende ten Begriffen wie ,Hybridität', deren biologische Konnotationen die Existenz einer natürli chen Identität zumindest suggerieren. Bai spricht in Bezug auf diesen Widerspruch von einer „Verlegenheit" der Theorie . Mieke Bai, Kulturanalyse, Frankfurt a.M . 2002, 11: ,,Wenn
Begriffe von einer Periode zur anderen wandern, reisen ihre Kontexte mit und bringen spätere Verwender mitunter in Verlegenheit . Ein Beispiel hierfür ist der Terminus ,Hybriditäc'
- für kurze Zeit ein Lieblingsbegriff eines Multikulturalism us, der sich der Wurzeln dieses
Ausdrucks in der puristischen Biologie nicht mehr erinnerte." Einer der ersten, der den
Begriff der ,Hybridität' in Bezug auf kulturelle Austauschprozesse verwendet, ist Marcel
Mauss. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen
Gesellschaften, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien 1978,
II, 10-144, 131. Eine Historisierung der Begriffe und Metaphern des Poststrukturalismus,
wie sie Bai fordert, ist noch nicht unternommen worden. Ein Grund für die Vernachlässi gung der biologischen Herkunft der eigenen Begriffe mag das angespannte Verhältnis sein,
das zwischen den Naturwissenschaften und dem Poststrukturalismus bestehe. Es sei hier
nur an den unerquicklichen science war erinnert, in dem Naturwissenschaftler gegen den
Gebrauch mathematischer und physikalischer Modelle durch Vertreter der Postmoderne
polemisieren, denen sie Dilettantismus vorwerfen. Notorische Bekanntheit erlangte die
Abhandlung von Sokal und Bricmont: Alan D . Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn.
Wze die Denker der Postmoderne die Wzssenschaften mißbrauchen, München 1999.
22 Diese Ablehnung und Denunzierun g der Mimikry gibt den entscheidenden Hinweis auf
die um 1900 getroffene Differenzierung zwischen einer ,positiven' und einer ,negativen'
Ähnlichkeit. Eine ,authentische' Ähnlichkeit ist zugleich eine ererbte; eine ,falsche' Ähnlichkeit ist dagegen eine durch mimetische Anpassung erworbene, die nur vorgibt, eine
vererbte zu sein. Letztere ist eine gefälschte ,Erbschaft'. Es sei daran erinnert, dass es just
diese Verwirrung ist, die für die Entdeckung der Insektenmimikry eine so große Rolle
spiele. Die Mimikryschmetterlinge, die unerkannt in den großen Schwärmen ihrer ,Vorbilder' mitfliegen, sind ihnen ähnlicher als ihrer eigenen (biologischen) Familie.
23 Vgl. von Wiese, Allgemeine Soziologie, 149 f.: ,,Jene Mimikry, die wir[ ... J Simulation nen nen, gibt Identität mit einem Menschentypus vor, der soziale Billigung genießt, um sich
dadurch Einfluß zu erschleichen . Das ist besonders das Vorgehen der Schmarotzer. [... ]
Zahllos sind die Beispiele, wo sich im sozialen Leben das unechte oder halbechce Element
gerade für die Menschensoziologie; es muß daran liegen, neben Nachahmung
selbstständigen Begriff Mimikry zu besitzen. 20
einen
Ein entscheidendes Hindernis, das der Verwissenschaftlichung von Mimikry im
Weg steht, mag ihre bereits erwähnte negative Mitbedeutung als Täuschung beziehungsweise Fälschung sein. 21 Denn im Unterschied zur Assimilation stellt Mimikry
16 Vgl. für einen Überblick über soziologische Milieutheorien: Richard Grathoff, Milieu und
Lebenswelt . Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a.M. 1989.
17 Tarde, Gesetze der Nachahmung, 64 (Anmerk. 13).
18 Ebd., 379.
19 Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen, Mün chen/ Leipzig 1924, I, 281, 149.
20 Ebd., 149 f.
21 In den gender, performance und postcolonial studies (vgl. Kapitel 1.3.) erfahren ihre vormals
negativen Konnotationen wie ,Täuschung' und ,Simulation' eine ,postmoderne' Umwertung ins Positive . Die Assimilation beziehungsweise Anähnlichung an normative Vorstellungen von gender oder Ethnie werden kritisch hinterfrage und sogar ironisiert. Mimikry
meint hier allerdings weni ger die Assimilation über einen langen Zeitraum als vielmehr die
situative Übernahme von Verhaltenswe isen (zum Beispiel bei der first contact scene). Das
,Falsche', die ,Kopie' und die ,Täuschu ng' erhalten somit eine neue Wertschätzung, wäh rend das ,Wahre', das ,Original' und das ,Authentische' nicht länger als gegebene Fakten
akzeptiere, sondern hinsichtli ch ihres Konstruktionscharakters hinterfrage werden . Die
Arbeiten Caillois' und Lacans bereiten die postmoderne Rezeption der Mimikry in den
1980er-Jahren vor. Mimikry avanciert zu einem theoretischen Instrument, das die Darstellung, Reflexion und Kritik von Identitätskonzepten ermögliche. Auf das Manko, die biologische Herkunft und Konnotationen einiger poststrukturalistischer Begriffe nicht zu reflektieren, weist zuletzt Mieke Bai hin. Auch der Poststrukturalismus besitzt eine Vorgeschichte, die zu einer Geschichte des Wissens vom Menschen gehört. ,Hybridität',
,Mimikry' und ,Assimilation' stammen aus einer Zeit, als Kultur in biologischen Kacegori-
-.~
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SCHLUSS UND AUSBLICK
DAS ENDE DES MYTHOS UND DIE WIEDERKEHR DER HUMANM!M!KRY
In dieser geschichdichen Lücke einer nicht stattgefundenen soziologischen
Rezeption sind die historischen Aussagen zur Humanmimikry zu verorten. Wo
die Verwissenschaftlichung der Mimikry in der Soziologie ausbleibt, übernehmen
Anthropologen, Biologen, Literaten, Philosophen, Psychiater, Psychoanalytiker
diese Aufgabe. Außerhalb der Soziologie experimentieren sie in ihren Texten mit
der Idee einer Humanmimikry. Neben einer soziologischen existieren also anthro pologische, literarische, philosophische und psychologische Perspektiven auf die
ethnische und sozio-kulturelle Assimilation.
Auffällig ist die Heterogenität der Beschreibungen und Analysen der menschli chen Mimikry. Ein literarischer Text, der von der sozio-kulturellen Assimilation
handelt, stammt von Thomas Mann: Ausgehend von Nietzsches Fragment Vom
Probleme des Schauspielers verfasst Mann mit den Bekenntnissen des Hochstaplers
Felix Krull einen Roman, in der eine ironische Auseinandersetzung mit ihr stattfindet. Mann erfindet das Schicksal eines verarmten Deutschen, der gegen Ende
des 19. Jahrhunderts nach Paris auswandert, wo er dank seiner besonderen Anpassungsfähigkeiten sogar bis zum Grafen ,aufsteigt'. 24 Franz Kafkas Erzählung Ein
Bericht für eine Akademie ist eine Parabel der jüdischen Assimilation, die aus einer
fiktiven Innenansicht geschildert wird.
Andere Autoren entwickeln Überlegungen und Theorien, die entweder Assimi lationsphänomene untersuchen, auf einer soziologischen Theorie aufbauen oder
ihrerseits die Grundlage für ein Konzept der Assimilation bilden. In diesem Sinne
behandelt Friedrich Nietzsche in seinen Reflexionen zur Humanmimikry die
Assimilation als ein Gegenstand der philosophischen Erörterung. In den Proze ssen der Mimikry, die er historisch dem Sklaven und dem subalternen Individuum
zuschreibt, vermutet er einen Willen zur Macht. Die Unterdrückten und Benachteiligten wollen so mächtig werden wie ihre Herren, deren Eigenschaften sie aus
diesem Grund annehmen. Der Begriff ,Mimikry' wird in den kulturtheoretischen
Texten jüdischer Autoren verwendet, um die Assimilation zu umschreiben und
vor ihren Gefahren zu warnen. Gefährlich ist die Assimilation, weil sie den Fort bestand kulture ller Traditionen und die mit ihnen verbundenen Identitätsvorstel lungen bedroht. Der Biologe Paul Kammerer beobachtet Prozesse, bei denen sich
Menschen im Laufe ihres Zusammenlebens ähnlicher werden. Assimilatio n stellt
deshalb keinen Sonderfall, sondern einen natürlichen, automatisch ablaufenden
Vorgang dar.
Einen großen Raum nahmen in der vorliegenden Untersu chung die psychologischen Überlegungen ein, die die Motive der Assimilation und deren Auswirkungen
auf den Körper betreffen. Für den Psychiater und Ameisenforscher Auguste -Henri
Fore! ist die Mimikry eine bei Mensch wie Tier evolutionär angelegte Fähigkeit zur
Lüge und Verstellung. Beide, Lüge und Verstellung, sind die Basis der sozio-kulcurellen Anpassung. Nach dem Psychoanalytiker Jacques Lacan werden im Spiegelstadium, das der Mensch im Kleinkindalter durchläuft, die Grundlagen für jene
Nachahmungsprozesse gelegt, die für die spätere gesellschaftliche Integration des
erwachsenen Individuums notwendig sind. Kritisch hinterfragt er diesen Prozess
und die Ziele, die durch eine Mimikry erreicht werden sollen.25 Lacans Überlegungen
sind wiederum von maßgeblicher Bedeutung für die postcolonial studies, die in der
kolonialen Mimikry eine Form der (subversiven) Assimilation sehen. 26 In der (literarischen) Anthropologie wird hingegen der ludische Charakter der Mimikry hervorgehoben. Elias Canetti vertritt die Ansicht, dass Individuen in einer Menschenmen ge dazu tendieren, sich in eine andere Person zu verwandeln beziehungsweise
anzuähneln. Nach Roger Caillois ' Auffassung, der zufolge die Mimikry eine Assimilation an das Milieu (,,l'assimilation au milieu") 27 ist, bildet sie die biologische Basis
des natürlichen Triebs zur Maskerade, der auch im Menschen zu finden ist.
Mimikry spielt sich immer in einer Gruppe ab. Von Bruno Latour soll nun der
Vorschlag übernommen werden, die Gesellschaft selbst als ein großes kollektives
Experiment anzusehen. 28 Das Ziel dieser Experimente ist es, herauszufinden, ob
sich ein Individuum in ein Kollektiv integrieren lässt oder nicht .
mir dem Anschein der Echtheit gibt, sich bisweilen durch Übertreibung verrät, oder
Leichtgläubige findet, die darauf hineinfallen." Von Wiese hebt den Unterschied zwischen
der Mimikry und der ,Angleichung', das ist die Assimilation, hervor. Angleichung umfasst die gesamte Persönlichkeit, Mimikry nur einen Teil von ihr. ,,Mimikry ist jener Anpassungsprozeß an die Umgebung, bei dem ein feindliches Element über die wahre Natur
des sich anpassenden getäuscht werden soll; der Gegner wird ihn so für ein Ding halten,
das nicht verfolgt werden kann oder soll. Dieser (zunächst) von den Biologen untersuchte
und beschriebene Vorgang (z.B. Schutzfärbung von Tieren) enthält eine Fülle von Problemen für die Soziologie. Er ist sehr komplex; aber uns will scheinen, als ob auch wir nach
dem Vorbilde des Biologen den Prozeß der Anpassung hervorzuheben hätten, während
das Verhältnis zum Gegner in zweiter Linie steht. [... ] Sie geradezu als Angleichung zu
bezeichnen, nehmen wir Anstoß, weil sich das in Betracht kommende Geschöpf ja nur in
einer oder wenigen Hinsichten, nicht als Ganzes, ,angleiche'." [Hv . K.C.]
24 Die Forschung nimmt die Bekenntnisse weniger als einen Migrationsroman als vielmehr
ein literarisches Zeugnis wahr, das aus Manns Exilerfahrung erwachsen ist. Vgl. Koopmann, ,,Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", in: Thomas-Mann-Handbuch, 524 f.
25 Die soziologische Dimension seines psychoanalytischen Konzepts ist der soziologischen
Theorie Charles Cooleys geschuldet, an dessen intersubjektive Vorstellung eines lookingglass-self er anschließe.
26 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Paris 1952; Bhabha, ,,OfMimicry and Man" .
27 Caillois, ,,Mimecisme er psychaschenie legendaire", 8.
28 In seiner Wissenschaftssoziologie überträgt Latour das Modell des ,Labors' auf das soziale
Leben. Vgl. Bruno Latour, ,,Von ,Tatsachen' zu ,Sachverhalten'. Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden?" in: Kultur im Experiment, hrsg. Schmidgen,
Geimer, Dierig, 20: ,,Die scharfe Trennung zwischen wissenschaftlichen Laboratorien, die
innerhalb ihrer Mauern mir Theorien und Phänomenen experimentieren, und einer politischen Situation außerhalb, in der Nichtexperten mit Wertungen, Meinungen und Leidenschaften auskommen, verschwimme vor unseren Augen." Vgl. zum Labor als Abbild der
sozialen Wirklichkeit: Karin Knorr Cecina, Wissenskulturen . Ein Vergleich naturwissen schaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M. 2002, 56: ,,Ähnlich wie eine Bühne, auf der
von Zeit zu Zeit ein Schauspiel gegeben wird, stellt das Labor einen Abstellraum für die
Kulissen dar, die benötigt werden, wenn die soziale Welt in Experimenten nachgestellt
wird . Auf der Bühne bewegen sich Darsteller der sozialen Welt. Ihre Konfiguration be-
'~
298
.
299
SCHLUSS UND AUSBLICK
DAS ENDE DES MYTHOS UND DIE WIEDERKEHR DER HUMANMIMIKRY
W'zr werden also sagen, daß sich künftig das Kollektiv insgesamt als kollektives Experiment definiert . Experiment womit? Mit den Verwicklungen und Ablösungen, durch
zoologischen Klassifikationssysteme für das Studium des sozialen Verhaltens
fruchtbar zu machen. 32 Er vermeidet es, Human - und Insekt enmimi kry miteinan der gleichzusetzen . Sein Vergleich operiert ausschließlich auf der Ebene von Ana logien und Mod ellen .
Der Täuschungscharakter der Mimikry, der einst die Basis für ein pejoratives
Menschenbild bildet, stellt nun kein Hindernis mehr dar. Im Gegenteil. Vielmehr
ist es just ihre (vermeintliche) Täuschungsfunktion, die die menschliche Mimikry
als ein besonders interessantes Forschungsobjekt zu qualifizieren scheint. Es fällt
auf, dass Gambettas soziologische Typen einigen historisch en Figuren gleichen,
denen bereits um 1900 eine besondere Fähigkeit zur Mimikry zugeschrieben wird.
Zu nennen sind vor allem der Hochstapler und der Schwindler.
Gambetta erkennt in der Hum anmimikry ein wichtiges Desiderat der Forschung .
die es zu einem gegebenen Zeitpunkt in die Lage versetzt wird, die Kandidaten für
die gemeinsame Existenz aufzuspüren und zu entscheiden, ob diese innerhalb des
Kollektivs vorübergehend zu Feinden werden. Das Kollektiv in seiner Gesamtheit
wird sich die Frage stellen, ob es mit diesem oder jenem zusammenleben kann und
um welchen Preis.29
Auf dem Prüfst ein steht auch das Erkennungs - und Wahrnehmungsvermögen
der
sozialen Umwelt, die eine soziale Selektion vornimmt. Fällt di e Umwelt auf die
Verstellung herein oder durchschaut sie die Anpassung?
Latours Vorschlag bezüglich einer ,Experimentalisierung' des sozialen Lebens
soll auf die untersuchten Texte ausgeweitet werden .30 Die Unterscheidung zwischen Experten und Nicht -Experten, letztere sind die Literaten und Nicht -Sozio logen, wird auf diese Weise abgeschwächt . Die literarischen Beschreibungen und
theoretischen Reflexionen sind zwar nicht soziologisch, dennoch sind sie Teil der
Logik des Sozialen. In den hier versammelten Texten findet man ein virtuelles
Gesellschaftslabor vor, das den Raum des Sozialen einschließlich der in ihm ent haltenen Fiktio nen simuliert. Das Versuchsobjekt ist der Mimikrymensch, der
homo adaptivus, dessen Anpassungsleistung erprobt wird.
Die hier versammelten Aussagen stellen in ihrer Gesamtheit ein Wissen dar, das
vor und neben der Soziologie der Assimilation zu verorten ist. Sie können als Alter nativen zu soziologischen Deutungen angesehen werden, welche sie ergänzen und
erweitern. Zusammen bilden sie einen Möglichkeitsraum ab, in dem unterschied liche Facetten der ,An -Ähnlichung' beziehungsweise Assimilation identifiziert werden können. Hervorhebung verdienen vor allem die imaginären Vorstellungen, die
sowohl auf der Seite derjenigen, die sich assimilieren, als auch auf der Seite jener,
die sie beobachten, zu finden sind. Assimilation, das zeigt die Mimikry sehr deut lich, ist ein polymorpher Untersuchungsgegenstand. Sie ist keine bloße empiris che
Tatsache, sondern ein kulturell es Ereignis an der Grenze von Fakt und Fiktion.
Still, despite its ubiquity, human mimicry has not been scudied very much at all.
Description of countless acts of mimicry are narrated in studies of crime, espionage,
business, war, dass, policical conflict, gender, religious conversion, and echnic assimilacion.33
Die Erforschung der Humanmimikry besitzt seines Erachtens das Potenzial, ein
neues interdisziplinäres Forschun gsfeld zu eröffnen.
As was ehe case for ehe recent past for ehe study of trust, which was also an undertheorized and underresearched notion until ehe 1980s, ehe study of mimicry has ehe
capacity eo develop into a proper interdisciplinary field, and my prediction is that
it will. 34
Denkbar wäre es nun, diese interdisziplinäre Perspektive um eine hi storische Sicht
zu ergänzen, um die aktuell erörterten Formen der Humanmimikry mit jenen aus
der Vergangenheit zu vergleichen. Assimilation besitzt in der Geschichte viele
Namen: Einer von ihnen lautet ,Mimikry'. 35
***
II, 221-241. Zu den wichtigen Forschungsgebietendes Soziologenaus Oxford gehören
In der Soziologie der Gegenwart gibt es neue Bemühungen, Mimikry in di e Sozio logie einzuführen . Die Überlegungen Diego Gambettas stellen den zurzeit wich tigsten Versuch in diese Richtung dar. 31 Gambetta konzentriert sich darauf, die
zieht sich auf die Darstellungen des alltäglichen Lebens, die sie in kompetenter, realzeiclichen Prozessengetreuer Weisewiedergebensollen."
29 Bruno Lacour,Das Parlament der Dinge . Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M. 2001,
246.
30 Auf vergleichbareWeisewurden die Literatur und der pädagogischeDiskurs des 18.Jahrhunderts als Kultur des Experiments untersucht. Vgl. Nicolas Peches,Zöglinge der Natur.
Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göccingen2007.
31 Diego Gambetta, ,,Deceptive Mimicry in Humans", in: Perspectives on Imitation. From
Neuroscience to Social Science, hrsg. Nick Chater, Susan Hurley, Cambridge, Mass. 2005,
32
33
34
35
neben der Täuschung das Phänomen des Vertrauens, die Semiotik sozialer Kommunikation sowie das organisierte Verbrechen. Es konnte nicht ermittelt werden, inwiefern
Gambetta mit den Mimikrykonzepten der gender und postcolonial studies vertraut ist. Vgl.
Diego Gambetta, Streetwise. How Taxi Drivers Establish Customers' Trustworthiness. New
York 2005; Crimes and Signs. Cracking the Codes of the Underworld, Princeron 2004; The
Sicilian Mafia. The Business of Private Protection, London 1993; Trust. Making and brea!eing cooperative relations, New York 1988.
Gambenas Überlegungen basierenauf: Pasteur, ,,A classificatory review of mimicry systems".
Pasceurerwähnt die Humanmimikry nur beiläufig.
Gambetta, ,,DecepciveMimicry in Humans", 239 f. [Hv. v. K.C.]
Ebd., 240.
Eine Wissensgeschichteder Assimilacionstheorienstehe noch aus. Eine interdisziplinäre
Wissensgeschichteder Assimilation, die sich ihrer nicht nur als soziologischesObjekt,
sondern auch als eines der Literatur, Psychologieund Kulturtheorie annimmt, und diese
Disziplinen aufeinander beziehe,stelleein Desiderat der Forschung dar. Vgl. zur Darscel-
セ@
300
SCHLUSS UND AUSBLICK
Die Soziologie steht heute zweifelsohne an erster Stelle, wenn es um die wissen schaftliche Untersuchung des empirischen und kulturell en Phänomens der Assimilation geht. Die hier vorgestellten proto - und parasoziologischen Annahmen,
Gedankenexperimente, Hypothesen, Konzepte, Mod elle, Spekulationen und
Theorien zur Humanmimikry dürften für sie insofern interessant sein, als in
ihnen di e Assimilation in einer historischen Tiefenansicht erscheint .
Im Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit wird deutlich, dass Assimila tion kein neutrales wissenschaftliches Objekt sein kann. Mehr noch: Die affektive
Aufladung macht gerade ihren besonderen Charakter aus. Kein Wissens chaftler
oder Literat, der sich mit ihr auseinandersetzt, kann für sich in Anspruch nehmen,
frei zu sein von kulturellen Vorprägungen, womöglich persönlichen Vorannah men oder gar Fantasien, die die sozio -kulturelle Anpassung betreffen. Nimmt
man diesen Befund ernst, dann ergibt sich die Chance zum Perspektivwechsel.
Anstelle des Menschen, der sich anpasst, treten nun seine Beobachter, die sein
Leben konstruieren, sowie ihre Theorien, die Dokumente ihrer Zeit sind, in den
Mittelpunkt der Betrachtung. In dieser historischen Perspektive werd en die Ängs te, Hoffnungen und Illu sionen sichtbar, die auf beiden Seiten bestehen. Eini ge von
ihnen sind längst vergangen, andere existieren noch heute.
lung historischer Assimilationstheorien : Victor Nee, Richard Alba, ,,Rethinking Assimilation Theorie for a New Era ofimmigration", International Migration Review 4.31 (1997),
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ZB Nach!. E. Canetti
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Leseexemplare aus der Nachlassbibliorhek Elias
Canettis, Zentralbibliothek der Universität
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UZ Nach!. Auguste Fore!
Medizinhistoris ches Archiv der Universität
Zürich, Nach!. Auguste Fore! (1848 -1931)
AF*
Materialien aus UZ Nach!. Auguste Fore!
Kammerer Papers, B Kl28
American Philosophical Society, Philadelphia
Nach!. Hirsch
Nachlass Hirsch, Staaatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz
KC
Klarmann-Werfel Collecrion, Annenberg Rare
Book & Manuscript Library, University of
Pennsylvania
TMA
Thomas-Mann-Archiv
TM*
Nachlassbibliorhek, Thomas-Mann -Archiv ETH
Zürich
Nietzsche -Archiv
Zentralbibliothek
Weimar
FN*
Nachlassbibliothek, Zentralbibliothek
Deutschen Klassik Weimar
der Universität Zürich
ETH Zürich
der Deutschen Klassik
der
,..-
Verzeichnis der Abbildungen
Abb . l : Art. ,,Mimikry", in: Meyers Großes Konversations =Lexikon.
Ein Nachschlagewerk des allgemeinen W'issens,6 ., gänzlich neubearbeite und
vermehrte Auflage, Leipzig/ Wien 1906, XIII, 854. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Abb . 2: Carus Sterne (alias Ernst Krause), Werden und Vergehen.
Eine Entwicklungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung, 4.,
verbesserte und vermehrte Auflage, Berlin 1901, o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
Abb . 3, 5.: Henry Walter Bares, The natura/ist on the River Amazons, a record
of adventures, habits of animals, sketches of Brazilian and Indian life and aspects of
nature under the Equator during eleven years of travel, London, 1863.
(Frontispiz der Bände I und II) .. . . .. ......
.......
. .............
. ... . .. 30/34
Abb. 4: Henry Walter Bates, ,,Conrributions to an Insecr Fauna of ehe
Amazon Valley. Lepidoprera: Heliconidae" , Transactions of the Linnean Society
London 23 (1862), 495-566, plate LVI, o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Abb. 6: August Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie gehalten an der
Universität zu Freiburg im Breisgau, 3., umgearbeitete Auflage, Jena 1913, 66.. . . . .
51
Abb . 7: William Henry Fox Talbor, Thepencil of nature,
London 1844, plare VII , o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
Abb. 8: Hans Przibram, Experimentelle Zoologie. Eine Zusammenfassung der
durch Versuche ermittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Formen und Verrichtungen ,
Leipzig/ Wien 1914, V, o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
Abb. 9: Edward Bagnall Poulron, ,,An Inquiry into ehe Colour and Exrent of
a special colour-relarion between certain exposed Lepidopterous Pupae and rhe
surfaces which immediarely surrounds ehern", in: Philosophical Transaction of
the Royal Society 178 (1887), 311-442, 373 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Abb. 10: Arhanasius Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amsterdam 1671, 112. . . .
69
Abb. 11: Roger Caillois, ,,Mimerisme et psychasthenie legendaire ",
Le Minotaure 7 (1935), 4-10, 5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Abb. 12: Adolf Portmann, Falterschönheit. Exotische Schmetterlinge in farbigen
Naturaufnahmen , Leipzig 1935, o:S..............
........................
173
304
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Abb. 13: Paul Kammerer, Porträt -Postkarte (an Richard Reich, Wien 8.2.1920).
[Signatur: Slg Darmstadt . L. c. 1900 (31)/ Paul Kammerer , Staatsbibliothek
zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
Abb. 14: Hans Przibram, ,,Die Biologische Versuchsanstalt in Wien",
Zeitsch rift für biologische Technik und Methode, I, H . 1 (1908), 234 -264, 250 . . . . . . 208
Abb. 15: Paul Kammerer, Neuvererbung oder Vererbung erworbener Eigenschaften .
Erbliche Belastung u. erbliche Entlastung, Stuttgart/ Heilbronn 1925, o.S. . . . . . . . . 209
Abb. 16, 17: Paul Kammerer, ,,Vererbun g erzwungener Farbänderungen.
4. M itteilung", Archiv Jü.r Entwicklungsmechanik 36 (1913), 4-210,
Tafeln III/IV, o.S. . . . . .. ... ... ......
.....
.....
.. . .. .... .. . ......
. 210, 211
Abb. 18, 19: Auguste Fore], Le Monde social desJourmis du globe compare a celui
de l'homme, Geneve 1921-23, V, o.S.; II, 81.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223, 226
Abb . 20, 21: Erich Wasmann, Die Ameisenmimikry. Ein exakter Beitrag z[um}
Mimikryproblem, Berlin 1925, o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226, 227
Abb. 22 : Anonym ., ,,Das Präludium des großen Humbert -Prozesses in Paris",
Illustrierte Zeitung, Nr. 3113 (26. Februar 1903), 302 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
Abb. 23: Julian Huxley, Ants, London 1935, o.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Abb . 24a-b: EC*Julian Huxley, Ants, London 1935, 113 f. ... . . .. .. .. .. .. . . 269, 270
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich allen von Herzen danken, die die Entstehung der vorliegenden
Studie auf unterschiedliche Weise begleitet und unterstützt haben, sei es durch Beratung,
Diskussion, Widerspruch oder Wohlwollen. Namentlich sei Professorin Sigrid Weigel
(Berlin) und Professor Christoph Wulf (Berlin) für ihre großzügige Förderung und vielfäl -eigen Anregungen gedankt. Die Arbeit entstand im Rahmen des Graduiercenkollegs
„Körper -Inszenierungen" an der Freien Universität Berlin . Professorin Erika Fischer-Lichte
(Berlin), der Sprecherin des Kollegs, danke ich für die idealen Forschungsbedingungen.
Für die Gewährung eines Promotionsstipendiums bin ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Dank verpflichtet, für den Druckkostenzuschuss der Andrea von Braun Stif
tung. D ie folgenden Bibliotheken und Forschungseinrichtungen waren bei der Beschaffun g von Archivmaterialien eine große Hilfe : Annenberg Rare Book & Manuscript Library
der University of Pennsylvania, American Philosophical Society Philadelphia, Institute of the
History of Medicine der Johns Hopkins University Baltimore, Medizinhistorisches Archiv der
Universität Zürich, Natural History Museum London, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer
Kulturbesitz, lhomas -Mann -Archiv der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich, Zentralbibliothek der Deutschen Klassik Weimar. Der Staatsbibliothek zu Berlin und der Zentral bibliothek der Universität Zürich danke ich für die Erlaubnis , Dokumente aus ihren Archiven veröffentlichen zu dürfen . Barbara Wermann besorgte das Korrektorat; Michael
Lorber und Melanie Piva gestalteten den Buchumschlag . Besonderer Dank gebührt den
Mitgliedern des Graduiercenkollegs und des Forschungsprojekts „Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel" am
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung sowie den Teilnehmern des Studientags „Literatur und Wissenschaftsgeschichte" am Max -Planck -Institut für Wissenschaftsgeschichte,
mit denen ich meine Arbeit diskutieren konnte. Die Ungenügsamkeiten verbleiben selbstverständlich in meiner eigenen Verantwortung. Viele Freunde und Kollegen haben glück licherweise die Arbeit an diesem Buch begleitet. Mein herzlicher Dank gilt schließlich
meinen Geschwistern und Eltern.