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Ungeschriebene Geschichte(n)

Ungeschriebene Geschichte(n) Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Begleithet zur Ausstellung in der Geschätsstelle Überruhr der Sparkasse Essen vom 25. August bis 12. September 2014 Ungeschriebene Geschichte(n) Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Begleitheft zur Ausstellung in der Geschäftsstelle Überruhr der Sparkasse Essen vom 25. August bis 12. September 2014 Inhalt 1 2 Grußwort der Überruhrer Bürgerschat e.V. Grußwort des Oberbürgermeisters 27 3 Einführung 28 Spätrömische Terra Nigra aus Überruhr-Hinsel Clarissa Agricola Patrick Jung Knochenfunde aus Überruhr-Hinsel. Einblicke in Tierhaltung und Tiernutzung Christian Meyer 5 Überruhr-Hinsel. Naturräumliche Umgebung und Lage der Siedlung 30 Kala Drewniak 7 Die Grabungen in Überruhr-Hinsel in den Jahren 1966 bis 1971 Brukterer in Überruhr-Hinsel? Patrick Jung 33 Überruhr-Hinsel – Das Navalia des Ptolemaios? Hans-Jörg Nüsse Kala Drewniak 9 Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel 35 Zur römischen Kaiserzeit im Essener Stadtgebiet Detlef Hopp Kala Drewniak 17 Das Leben in einer germanischen Siedlung an der Ruhr. Der kommenierte Versuch einer zeichnerischen Annäherung Kala Drewniak/Christoph Heuer/Patrick Jung 21 (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich 38 Das Ruhrgebiet in römischer Zeit. Ein Überblick Manuela Mirschenz 43 45 45 Verzeichnis weiterführender Literatur Abbildungsnachweis Autorenverzeichnis Kala Drewniak Impressum Eine Ausstellung der Überruhrer Bürgerschat e.V. und des Ruhr Museums Druck Sparkasse Essen Druckservice Ausstellung und Begleitheft Realisierung, Koordinaion und Redakion: Patrick Jung und Kala Drewniak © Stiftung Ruhr Museum und Überruhrer Bürgerschaft e.V., Essen 2014 Erstauflage: 300 Zweite, leicht überarbeitete Auflage Satz Daniel Burger, Mainz Grußwort Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Überruhrer Bürgerschaft e.V. feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Hervorgegangen ist der Verein aus dem Heimat- und Pohlbürgerverein Essen-Überruhr 1964. Anlass für die Gründung eines Vereins war die damalige Großbebauung. So setzte sich die rege Bautätigkeit, die in den fünfziger Jahren mit Bergbauwohnungen begonnen hatte, fort. Der SchulteHinsel-Hof, der 1092 in den Urbaren (Grundbüchern) der Abtei Werden erstmals erwähnt wird, wurde abgerissen und das Land zur Bebauung frei gegeben. Hier steht heute das Einkaufszentrum mit der Sparkasse Essen. Ziel des Vereins war es, alte Schriftstücke, Bilder, liebgewordene Gewohnheiten und die plattdeutsche Sprache der Nachwelt zu erhalten. Es wurde ein „Pohlbürgerverein“ gegründet nach dem Motto: „Hier feul eck mir wohl, hier hall ick Pohl.“ Pohl beinhaltet Pfahl oder auch Anker, an dem etwas fest gemacht wird. Nach mehr als 40 Jahren Vereinsgeschichte nahm die Mitgliederzahl rapide ab. Der Vereinszweck war nicht mehr zeitgemäß. Im Frühjahr 2009 wurde der Verein daher neu aufgestellt und in Überruhrer Bürgerschaft e.V. umbenannt. Gleichzeitig öffnete sich der Verein für alle Bürger und versteht sich als Forum für alle, die in und für Überruhr etwas gestalten wollen. Der Verein fördert satzungsgemäß die allgemeinen Interessen und das kulturelle und soziale Leben des Stadtteils Überruhr. Zur Stärkung des Heimatgedankens unterhält der Verein ein Archiv und tritt mit Dokumentationen und Ausstellungen zur Heimatgeschichte an die Öffentlichkeit. Die Ausstatung des Überruhrer Denkmalpfades mit Geschichtstafeln ist derzeiig das ehrgeizigste Projekt. 20 Geschichtstafeln wurden bereits aufgestellt. Für das Jubiläumsjahr soll Überruhr nach den Vorstellungen des Vorstands in einem besonderen Licht erscheinen. Gab es doch in „Hinsel“ eine nachweislich frühgeschichtliche Siedlung im 2. Jahrhundert n. Chr. Diese germanische Siedlungsgeschichte zu belegen und Bürgern vor Augen zu führen war der Wunsch der Überruhrer Bürgerschaft e.V. Dieser Wunsch wurde nun Wirklichkeit. Dies verdanken wir dem tollen Zusammenspiel von Ruhr Museum, Stadtarchäologie, Sparkasse Essen und Überruhrer Bürgerschaft e.V. Mein besonderer Dank gilt Prof. Heinrich Theodor Grütter als Leiter des Ruhr Museums, der sich spontan für den Wunsch der Überruhrer Bürgerschaft offen zeigte, dem Stadtarchäologen Dr. Detlef Hopp, der uns Wege der Realisierung aufzeigte, der Sparkasse Essen, die räumlich und drucktechnisch die Ausstellung und diese Broschüre ermöglicht hat, der Doktorandin Kala Drewniak vom Institut für Archäologie und Kulturanthropologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für ihren Forschungsbeitrag und insbesondere dem Archäologen des Ruhr Museums, Dr. Patrick Jung, für seine wissenschaftlichen Beiträge, seine Kontakte, Hinweise und intensive Unterstützung zur Realisierung dieses Projekts. Vorsitzender Mitglied im: STADTVERBAND DER BÜRGER- UND VERKEHRSVEREINE ESSEN E.V., VERBAND DER BÜRGER- UND HEIMATVEREINE IM RUHRGEBIET E.V. ARBEITSGEMEINSCHAFT ESSENER GESCHICHTSINITIATIVEN Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Grußwort Liebe Besucherinnen und Besucher, die Überruhrer Bürgerschaft e.V. eröffnet in ihrem 50. Jubiläumsjahr ein ganz besonderes Zeitfenster der Stadt Essen: Gemeinsam mit dem Ruhr Museum und in Abstimmung mit der Stadtarchäologie gewährt die Ausstellung der Überruhrer Bürgerschaft mit dem Titel: „Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel“, einen Blick in die frühgeschichtliche Siedlungszeit in Überruhr. Mit aufschlussreichen Fundstücken aus dem 2. bis 4./5. Jahrhundert n. Chr., die seit Beginn der Ausgrabungen im Jahr 1966 auf dem Sonderfeld am heutigen Bruktererhang in Überruhr-Hinsel gesammelt wurden, breitet sich das Leben der germanischen Siedler – die landläufig als Brukterer bezeichnet werden – vor den Augen der Besucherinnen und Besucher aus. Unter den Entdeckungen in Überruhr-Hinsel befinden sich zahlreiche einheimische und römische Artefakte. Keramikbruchstücke, Trachtenreste, Schleifsteine und Eisenwaffen ergeben zusammen mit der Kombinationsgabe der Archäologen ein genaueres Bild der Lebensweise unserer Vorfahren. Zum Beispiel bedeuten die Schlackefunde: Die Brukterer betrieben Eisenverhüttung und Werkzeugproduktion. Die Fundstücke römischer Herkunft – beispielsweise das Stück einer Venusstatuette – weisen den Handel mit den Römern nach. Das bedeutete damals wie auch heute: Mutig Kontakt aufzunehmen, zum Austausch bereit zu sein, Geschäftssinn zu haben und mobil zu sein. Diese Eigenschaften leben wir als Handels- und Dienstleistungsmetropole noch heute! Für die Lebendigkeit unserer Essener Geschichte setzt sich die Überruhrer Bürgerschaft e.V. mit dieser Ausstellung ein. Ich bedanke mich herzlich im Namen der Stadt Essen, beim Ruhr Museum und bei der Überruhrer Bürgerschaft e.V. für ihr außergewöhnliches bürgerschaftliches Engagement. Den Gästen der Ausstellung wünsche ich eine kurzweilige Zeitreise. Reinhard Paß Essen, Juli 2014 Reinhard Paß Oberbürgermeister Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Einführung Patrick Jung Ungeschriebene Geschichte(n) – dieser Titel passt aus mehreren Gründen gut zur Ausstellung über die kaiserzeitliche Siedlung von Überruhr-Hinsel und das begleitend dazu erscheinende Heft. Beide behandeln eine Zeit, die nur schlaglichtartig durch Schriftzeugnisse erhellt wird. Die Geschichte dieses Ortes und der dort lebenden Menschen wurde also nicht niedergeschrieben. Sie ist uns ausschließlich durch Bodenfunde bekannt, welche durch die Archäologie und verwandte Disziplinen erforscht werden. Im Fall von Hinsel ist die Bearbeitung noch nicht abgeschlossen – dieses Kapitel der Forschungsgeschichte ist also noch nicht zu Ende geschrieben. Derzeit wird an der Universität Bonn eine Dissertation verfasst, die neben der Untersuchung anderer Fundstellen auch die vollständige Aufarbeitung des Fundmaterials und der Grabungsdokumentation zum Ziel hat, die im LVR-LandesMuseum Bonn, dem Ruhr Museum und bei der Essener Stadtarchäologie aubewahrt werden. Zuletzt werden aufmerksame Leserinnen und Leser in den archäologischen Hinterlassenschaten zahlreiche Geschichten entdecken können, die uns trotz aller Unsicherheiten viel über das Leben vor fast 2000 Jahren im heuigen Ruhrgebiet verraten. Damals, in der von uns so bezeichneten römischen Kaiserzeit, erstreckte sich das Imperium Romanum bis an den Rhein. Das Land rechts des Stroms hingegen war unbesetzt geblieben. Dessen Bewohner, die in vielfäligen Beziehungen zur römischen Provinz standen, wurden von den Römern als Germanen bezeichnet. Teile einer Siedlung dieser einheimischen Bevölkerung aus dem 2. bis 4./5. Jahrhundert n. Chr. konnten in Überruhr-Hinsel ausgegraben werden. Von Anfang an zogen die Mite der 1960er Jahre beginnenden archäologischen Arbeiten viel Aufmerksamkeit auf sich. „Die Ausgrabungen in Überruhr beginnen“, itelte die NRZ am 4. März 1966 und fragte: „Welche archäologischen Kostbarkeiten mag der Hügel oberhalb der großen Ruhrschleife in Hinsel bergen?“ Auch Jahrzehnte später blieb und bleibt das Interesse an diesem Mosaikstein der weit zurückliegenden Vergangenheit auf Essener Boden groß. So fand im Jahr 1988 eine Projektwoche des Museums Altenessen mit der Gesamtschule Bockmühle stat, der im Folgejahr die Schüler-Ausstel- Abb. 1. Info-Blatt zur Ausstellung „Germanen in Essen-Hinsel“ in der Stadtbücherei vom 1. bis 17. August 1989. lung „Germanen in Essen-Hinsel“ in der örtlichen Stadtbücherei folgte (Abb. 1). Das 50-jährige Jubiläum der Überruhrer Bürgerschat und die derzeit in Arbeit beindliche Dissertaion sind zwei schöne Anlässe, auf die auch in Fachkreisen stets viel beachtete kaiserzeitliche Siedlung erneut aufmerksam zu machen. Was wir über sie wissen und was das Besondere an ihr ist, soll in diesem Begleithet vorgestellt werden. Nach einer Beschreibung des Naturraums und der Grabungs- Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel geschichte folgt in mehreren Beiträgen zunächst eine ausführliche Darstellung der archäologischen Ergebnisse, die durch ein Bild des Zeichners Christoph Heuer „zum Leben erweckt“ werden. Der Frage, wer die Menschen waren, die hier lebten, widmet sich ein eigener Text. Diskutiert wird auch die jüngst vertretene These, bei der Hinseler Siedlung habe es sich um den bei Ptolemaios genannten Ort Navalia gehandelt. Zwei Artikel zur Archäologie der römischen Kaiserzeit im Essener Stadtgebiet und dem Ruhrgebiet ordnen die lokalen Ergebnisse schließlich in die regionalen Zusammenhänge ein. te die Räumlichkeiten zur Verfügung, der Druckservice der Sparkasse Essen besorgte die Produktion der Ausstellungstexte sowie des Begleitheftes. Die Gesamtkoordination, Logistik und den größten Teil der Fotoarbeiten übernahm das Ruhr Museum. Weitere Unterstützung erhielt das Vorhaben durch die Stadtarchäologie Essen und das LVR-LandesMuseum Bonn. All diesen Einrichtungen und den dahinter stehenden Personen sei herzlicher Dank ausgesprochen. Wir freuen uns, dass durch ihre Mithilfe ein kleiner Teil der Essener Vergangenheit wieder in Erinnerung gerufen werden kann. Angestoßen wurde das Projekt durch die Überruhrer Bürgerschaft, die auch die Durchführung nach besten Kräften förderte. Die Sparkasse Essen stell- 4 Patrick Jung – Einführung Überruhr-Hinsel Naturräumliche Umgebung und Lage der Siedlung Kala Drewniak Die Siedlung des 2. bis 4./5. Jahrhunderts n. Chr. liegt im heuigen Stadteil Überruhr-Hinsel im südlichen Essener Stadtgebiet. Das in den 1960er Jahren erschlossene Baugelände beindet sich innerhalb einer Schleife der Ruhr, etwa 1 km Lutlinie vom heuigen Flusslauf enfernt. Der genaue Verlauf der Ruhr zur damaligen Zeit ist uns nicht bekannt. Die Flüsse haben in den Jahrhunderten ihren Verlauf mehrfach geändert, zudem wurden sie in der Neuzeit durch menschliches Eingreifen umgelenkt und begradigt. Die gewässernahe Lage ist typisch für die rechtsrheinischen Siedlungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte (vgl. den Beitrag von Manuela Mirschenz in diesem Band). Neben pragmaischen Gründen wird auch ein Zusammenhang zwischen Gewässern und den Glaubensvorstellungen der kaiserzeitlichen Bevölkerung in Erwägung gezogen. verhüttet. Im südlichen Essener Gebiet stehen außerdem Steinkohleflöze an, die an den Hängen zur Ruhr hin obertägig zutage treten. Reste dieser Steinkohle wurden in der Siedlung verwendet. Welche Rolle die Steinkohle in der römischen Kaiserzeit gespielt hat, werden die laufenden Untersuchungen ergeben. Steinkohle wurde auch in römischen Fundstellen geborgen, schriftliche Nachweise für die Verwendung von Steinkohle gibt es aber erst ab der frühen Neuzeit. Historische Erwähnung indet der Ort Hinsel auf einer Urkunde des Klosters Werden aus dem 12. Jahrhundert. Dort ist die curis Hinssele, eine Hofstelle, vermerkt, was eine mitelalterliche Nutzung des Gebietes bezeugt. Es ist davon auszugehen, dass der Bereich um den Hof im Mitelalter von den Bewoh- Die naturräumliche Bezeichnung für das Gebiet südlich der Westfälischen Bucht, auf welchem sich auch Überruhr-Hinsel befindet, ist Westernhellweg. Im Westen grenzt dieses Gebiet an die Niederrheinische Tiefebene, wobei Mülheim an der Ruhr die Schnittstelle zwischen diesen Naturräumen bildet. Landwirtschaftlich sind die fruchtbaren Börden des Westernhellwegs, die das Gebiet um die alten Hellwegstädte umfassen, von großer Bedeutung. Archäobotanische Untersuchungen, die an Bodenproben aus rezent gegrabenen, gleichzeitigen Siedlungen der Region stammen, haben gezeigt, dass Hirse und Gerste, aber auch Emmer, Einkorn und Weizen von der Bevölkerung der römischen Kaiserzeit angebaut wurden. Im Gegensatz zur Landschaft der vorrömischen Eisenzeit dominierten in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten lichte Wälder und waldfreie Siedlungsbereiche. Gründe für die Veränderungen im Naturraum während der Jahrhunderte um Christi Geburt waren der vermehrte Bedarf an Bau- und Feuerholz sowie an weiten Flächen, die landwirtschaftlich genutzt werden konnten. Überruhr-Hinsel liegt auf einer Anhöhe inmitten einer Ruhrschleife, die nach Nordwesten steil zur Ruhraue hin abfällt. Während der römischen Kaiserzeit wurden die in der Flussaue vorkommenden Raseneisenerze nachweislich in der Siedlung Abb. 2. Ausschnitt aus der Karte von Honigmann und Vogelsang, 1803 bis 1806. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel der Topographischen Karte zeigt das Gelände kurz vor Grabungsbeginn (Abb. 3). Die Möglichkeit, eine Fundstelle in unbebautem Gelände freilegen zu können, stellt somit für die archäologische Forschung einen Glücksfall dar. Nichtsdestotrotz konnte die Siedlung wegen der Bauvorhaben nicht flächendeckend untersucht werden. Einige Areale waren durch die schweren Baufahrzeuge zu stark zerstört, als dass die Bodenverfärbungen, die von der kaiserzeitlichen Siedlung herrührten, noch hätten erkannt werden können. Andere wiederum waren bereits von tiefen Baugruben erfasst; sie konnten allerdings noch im Profil gezeichnet werden, sodass noch Aussagen zu der Tiefe der Gruben und der Schichtenabfolge getroffen werden können. Abb. 3. Ausschnitt aus der Topographischen Karte 25 Nr. 4508, Blattname: Essen. nern bestellt wurde. Bei der Anlage der modernen Wohnsiedlung in den 1960er Jahren wurde zudem ein neuzeitlicher Bauernhof abgerissen, der sich ursprünglich zwischen Nockwinkel und Lehmannsbrink befand. Die Überreste dieses Hofes wurden bei den Abriss- und Bauarbeiten über das Grabungsgelände verstreut, was zu einem hohen Anteil an moderner Keramik führte, die aus den oberen Schichten der Grabung geborgen wurde. Da nicht immer die genaue Posiion der Funde dokumeniert wurde, erschwert die Vermischung von kaiserzeitlichen und jüngeren Funden otmals deren genaue Einordnung und letztendlich deren Interpretaion. Im Zeitraum vom Mittelalter bis zur Neuzeit war das Gelände vermutlich außer zu ackerbaulichen Zwecken nicht in Benutzung (Abb. 2). Der Kartenausschnitt zeigt die Umgebung von Hinsel zu Anfang des 19. Jahrhunderts. In der westlichen Hellwegzone, die sich seit der Industrialisierung zu einer dicht besiedelten und von der Kohleund Metallindustrie geprägten Region entwickelt hat, ergibt sich nur selten die Gelegenheit, einen Fundplatz zu untersuchen, der nicht von modernen Strukturen überbaut ist. Der Ausschnitt aus 6 Es wurden in Überruhr-Hinsel insgesamt zwei Flächen dokumentiert. Die erste Grabungsfläche ist begrenzt durch die Straßen Nockwinkel im Norden, Lehmannsbrink im Osten, Sonderfeld im Süden und Bruktererhang im Westen. Im Westen wurden große Teile des Geländes durch eine ehemalige Ziegelei stark abgetragen, was die Zerstörung der archäologischen Objekte zur Folge hatte. Die Untersuchungen wurden daher auf den Bereich beschränkt, auf dem das Fundmaterial nach dem Abtrag der Humusschicht durch den Bagger bereits zutage trat. Diese Fläche wurde in Quadranten unterteilt und innerhalb dieser bis auf maximal 0,60 m tiefer gelegt (vgl. den Beitrag zur Grabungsgeschichte in diesem Band). Um die Ausdehnung der Siedlung im östlichen Bereich zu überprüfen, wurden außerdem in etwa 150 m Entfernung östlich der ersten Grabungsfläche weitere Suchschnitte angelegt, die von Norden nach Süden und orthogonal dazu von Osten nach Westen verliefen. Da kein Bereich erkannt werden konnte, der keine Spuren kaiserzeitlicher Besiedlung aufwies, kann davon ausgegangen werden, dass die Grenzen der Siedlung nicht erreicht und somit nur ein Teilbereich bei den Ausgrabungen freigelegt werden konnte. Literatur Brink-Kloke/Meurers-Balke 2003, 111–126 (M. Doll); BrinkKloke u. a. 2006, 34–49; Mirschenz 2013, 43 f. Kala Drewniak Kala – Kala Drewniak Drewniak – Überruhr-Hinsel. – Überruhr-Hinsel. Naturräumliche NaturräumlicheUmgebung Umgebungund undLage Lageder der Siedlung Siedlung Die Grabungen in Überruhr-Hinsel in den Jahren 1966 bis 1971 Kala Drewniak Bei der Anlage des Neubaugebietes auf dem Sonderfeld wurden im Dezember des Jahres 1965 Reste von Keramik gefunden, die ins 2. bis 4./5. Jahrhundert n. Chr. datiert werden konnten. Durch die Menge der Keramik, die an der Oberfläche auftrat, konnte die Ausdehnung der Siedlung bereits vor den Bodeneingriffen geschätzt werden. In den sechziger Jahren war bisher noch keine Siedlung dieser Größe im Ruhrgebiet eingehend untersucht worden, was Überruhr-Hinsel ins Interesse der Archäologen rückte. Zudem fiel der Fundplatz durch einen hohen Anteil an Keramik auf, die in den römischen Provinzen angefertigt wurde. Diese Beobachtungen waren Anlass zur Durchführung einer Notgrabung durch das Rheinische Landesmuseum Bonn (jetzt LVR-LandesMuseum Bonn). In den Jahren 1968, 1969 und 1971 wurden außerdem Nachuntersuchungen in den Sondageschnitten östlich der ursprünglichen Grabungsfläche durchgeführt. Diese Arbeiten in versprachen neue Informationen zur Siedlungsstruktur jenseits des Limes und zum Kontakt zwischen der rechtsrheinischen, germanischen Bevölkerung und den linksrheinischen römischen Provinzen. (Abb. 5). Eine mitelalterliche bis neuzeitliche Hofanlage im Zwickel von Nockwinkel und Lehmannsbrink wurde im Zuge der Erschließung des Geländes für die Bauarbeiten im Vorfeld bereits abgerissen. Die Überreste dieses Hofes wurden durch die laufenden Arbeiten auf dem gesamten Gelände zwischen Sonderfeld und Nockwinkel verteilt, was in den oberen Schichten zu einer Vermischung neuzeitlicher und vorgeschichtlicher Funde führte, welche keinem Befund zugewiesen werden konn- Die Grabungen waren stark durch die Bauvorhaben beeinflusst. Letztere sollten durch die archäologischen Arbeiten nicht verzögert oder anderweitig behindert werden. So wurden viele Befunde zerstört, bevor sie dokumentiert werden konnten. Des Weiteren waren Teile des Geländes bereits abgetragen, unzugänglich oder durch die Fahrspuren der Baufahrzeuge stark in Mitleidenschaft gezogen, was eine archäologische Dokumentation unmöglich machte. Insgesamt wurden im Jahr 1966 im Zeitraum von März bis Mai zwei Flächen zur archäologischen Bearbeitung freigegeben (Abb. 4). Bei der Fläche westlich der Straße Lehmannsbrink (Fläche 1) handelte es sich um einen Teil des Baugeländes für die Neubausiedlung, der noch nicht von den Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen worden war. Das Grabungsareal umfasste einen Bereich von etwa 65 m × 85 m, wovon jedoch bereits ein Großteil nicht mehr archäologisch untersucht werden konnte. So wurden von der gesamten Fläche 1 nur etwa 2500 m² genauer betrachtet und dokumeniert Abb. 4. Luftaufnahme des Bereichs zwischen Nockwinkel, Sonderfeld und Bruktererhang aus dem Jahr 2012 mit eingezeichneten Grabungsflächen. Diese wurden als Fläche 1 (westlich der Straße Lehmannsbrink) und Fläche 2 (die Sondageschnitte östlich der Straße Lehmannsbrink) bezeichnet. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel ten. Das Areal wurde in Quadranten von 5,0 m × 5,0 m eingeteilt, die jeweils durch einen Steg von 0,5 m voneinander getrennt waren. Diese Methode entsprach dem damaligen Vorgehen bei archäologischen Grabungen, heute ist eine solche Einteilung in Quadranten nicht mehr üblich. Die zweite Fläche wurde mithilfe von Nord-Süd und Ost-West verlaufenden orthogonalen Suchschniten von 40 m bis 80 m Länge und einer Breite von 3 m während der ersten archäologischen Maßnahme 1966 geöfnet. In diesem Bereich wurden in mehreren Kampagnen von wenigen Wochen in den Jahren 1968, 1969 und 1971 nochmals Feldarbeiten durchgeführt, bei denen nicht nur weitere kaiserzeitliche Gruben erkannt, sondern auch frühmittelalterliche Funde geborgen wurden. Während der ersten Kampagne wurden auf dieser Fläche Verfärbungen dokumentiert, welche vom ersten Grabungsleiter Walter Janssen als Umfassungsgraben mit Palisade gedeutet wurden. Weitere Schnitte während der folgenden Kampagnen, die von Erich Schumacher durchgeführt wurden, erbrachten keinen Anschluss an den vermeintlichen Graben. Der ursprüngliche Befund wurde von Schumacher später als Grubenhaus mit Dachstützen gedeutet. Eine endgültige Interpretation wird die laufende Auswertung ergeben, eine kaiserzeitliche Umwehrung muss jedoch als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden. a b Abb. 5. Die Aufnahmen zeigen den Zustand von Fläche 1 während der Grabungen 1966. a: Sicht auf Fläche 1 nach Nordosten. – b: Sicht auf Fläche 1 nach Nordwesten mit Blick ins Ruhrtal. Bei den Grabungen konnte nur ein Teil der Siedlung freigelegt werden, sodass Aussagen zu ihrer tatsächlichen Größe nicht getrofen werden können. Da sich die kaiserzeitlichen Besiedlungsspuren in Fläche 2 fortsetzen, ist von einer Ausdehnung der Siedlung auf einer Fläche von mindestens 100 m × 200 m auszugehen. Während der letzten Untersuchungen im Jahr 1971 wurde zudem eine weitere kleine Fläche nördlich der Sondageschnite geöfnet, die eine Ausdehnung der Siedlung nach Norden bestäigte. Pläne wurden jedoch hierzu nicht angeferigt, eine erneute Sichtung der Originaldokumentaion verspricht daher neue Informaionen über die nördliche Fortsetzung des besiedelten Gebietes. Literatur Bechthold 1966, 1; Janssen 1968, 31–33; Schumacher 2005, 95–99; Eggenstein 2008, 31. 8 Kala Drewniak – Kala Drewniak – Überruhr-Hinsel. Naturräumliche Umgebung undJahren Lage der Kala Drewniak – Die Grabungen in Überruhr-Hinsel in den 1966Siedlung bis 1971 Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Kala Drewniak Aussagen über die Bevölkerung der kaiserzeitlichen Siedlung lassen sich aus den Bodenverfärbungen ableiten, die auf den beiden Grabungsflächen dokumentiert wurden (Abb. 6 und 7). Zu den Objekten, die das Bild einer Siedlung wiedergeben, gehören die Überreste von Pfosten und Gruben, die zu Hausgrundrissen rekonstruiert werden können. Eine Besonderheit ist ein in unmittelbarer Umgebung der Siedlungsspuren gelegenes Grab. Etwa 100 m nordöstlich der Sondageschnitte wurde zudem bei der Kampagne des Jahres 1971 ein Brunnen freigelegt, der anhand der aufgefundenen Keramik in die römische Kaiserzeit datiert, allerdings nicht zeichnerisch dokumentiert wurde. Die Siedlungen im mitteleuropäischen Barbaricum in den ersten Jahrhunderten n. Chr. sind am ehesten mit Weilern zu vergleichen. Es handelte sich um Ansammlungen weniger Wohngebäude mit Stallungen und Handwerkshäusern. Städte, wie sie aus den römischen Provinzen bekannt sind, gab es jenseits des Limes nicht. Auch Steingebäude wurden in dieser Zeit rechtsrheinisch nicht errichtet. Die Wohngebäude waren in der Regel ein bis zwei Generationen lang in Benutzung und bestanden aus vergänglichen Materialien. Die Wände wurden mithilfe von Pfosten und Staklehmverbindungen errichtet, die Dächer wahrscheinlich mit Stroh gedeckt. Funde von Kalkbrocken in den Siedlungsgruben lassen vermuten, dass die Wände verputzt waren. Das Aussehen der Bauten kann anhand von Pfostenspuren rekonstruiert werden, in der Regel unterscheidet man zwischen ein- bis dreischiffigen ebenerdigen Pfostenhäusern, Grubenhäusern und Speichern. Die Pfosten, die in Überruhr-Hinsel dokumentiert wurden, können anhand des alten Grabungsplans nur schwer zu Grundrissen rekonstruiert werden. Es wurden Spuren von Pfosten in unterschiedlichen Tiefen freigelegt, sodass teilweise Überschneidungen festgestellt werden konnten, was auf zeitlich aufeinander folgende Phasen hindeutet. Dies gibt uns Informationen zur zeitlichen Nutzung der Bauten. Die Menge der im Plan eingetragenen Pfosten ist jedoch irreführend, da anhand des Planes nicht abzulesen ist, welche Pfosten einer gemeinsamen Phase angehören. Nur in wenigen Fällen stam- men datierbare Funde direkt aus den Pfostengruben, sodass nicht immer genau bestimmt werden kann, zu welchem Zeitpunkt die Häuser errichtet wurden. Da die Grabungsfläche am Hang liegt, ist außerdem davon auszugehen, dass Befunde in bestimmten Arealen zur Zeit der Grabung bereits erodiert waren und uns die Hinweise auf weitere Grundrisse fehlen. Die Funde, die ursprünglich in diesen Befunden gelegen haben, sind unter Umständen mit dem Erdreich verlagert worden. Anhand von anderen zeitgleichen Siedlungen aus der Region kann man jedoch davon ausgehen, dass auch in Überruhr-Hinsel ebenerdige Langhäuser als Wohngebäude genutzt wurden (vgl. den Beitrag von Drewniak/Heuer/Jung in diesem Band). Solche ein- bis dreischiffigen Bauten werden auch als Wohnstallhäuser bezeichnet; sie wurden bewohnt und als Stallungen verwendet, wobei das Vieh in einem separierten Abschnitt des Hauses gehalten wurde. Noch gut als dunkle Verfärbung erkennbar waren die in den Boden eingetieften Grubenhäuser. Diese kleinen Gebäude waren während der gesamten römischen Kaiserzeit verbreitet und können auch noch auf mittelalterlichen Fundplätzen festgestellt werden, wobei ihre Bauweise über die Jahrhunderte keinerlei Veränderung erfuhr. Diese Nebengebäude von 2 m × 2,5 m bis 4 m × 4,5 m wurden meist für handwerkliche Zwecke benutzt, was die Funde aus den Grubenhäusern widerspiegeln. Auch eine Funktion als Lager oder Vorratsraum ist denkbar, da innerhalb der Häuser Temperaturen herrschten, die das Lagern von Lebensmitteln auch bei warmen Außentemperaturen ermöglichten. Das Lebensbild auf S. 18 (Abb. 17) soll helfen, die nur in geringen Resten erhaltenen Baubefunde zu verdeutlichen. Das dort gezeigte Grubenhaus ist einem Befund aus der Fläche 1 nachempfunden (Abb. 8). Es handelt sich um eine rechteckige Grube von etwa 2 m × 2,5 m. Die Grube war noch etwa 0,40 m tief erhalten. Im Profil war der Stampflehmboden als unterste Schicht der Hausgrube deutlich zu erkennen. Grubenhäuser waren bis zu 1 m in den Boden eingetieft; der Erhaltungszustand der Gruben variiert je nach Nutzung des Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Abb. 6. Plan von Fläche 1, westlich der Straße Lehmannsbrink. Abb. 7. Plan von Fläche 2, östlich der Straße Lehmannsbrink. 10 Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Abb. 8. Grundriss des Grubenhauses aus Fläche 1; L. 2,5 m, Br. 2,0 m; Planum 1 in 0,34 m unter Oberfläche und Profile AB (NNO-SSW) und CD (SSW-NNO). Bodens und Grad der Erosion. Grubenhäuser verfügten in der Regel nicht über aufgezogene Wände. Die mit Stroh gedeckten Dächer reichten bis zum Boden (siehe Abb. 17). In einigen Fällen lassen längliche Verfärbungen im Boden auch Schwellbalken vermuten. Auch in Überruhr-Hinsel lassen sich solche Verfärbungen in der Nähe von vermuteten Gebäuden finden. Schwellbalken sind allerdings nur schwer nachzuweisen, da sie nicht tief in den Boden eingegraben waren und somit nur selten deutliche Spuren im Boden hinterlassen. Das Grubenhaus enthielt einen Spinnwirtel (Abb. 18), einheimische und römische Keramik sowie einige Eisenfunde. Der Spinnwirtel indet sich ebenfalls auf dem Lebensbild wieder: Er fungierte als Teil einer Handspindel zur Verarbeitung von Flachs, Leinen oder Wolle. Dabei wurde er auf einen Stab aufgesteckt und diente am unteren Ende als Gewicht. Wirtel konnten von flach tonnenartiger, konischer oder doppelkonischer Form sein und treten regelhaft in vor- und frühgeschichtlichen Siedlungen auf. Sie bestanden aus keramischem Material oder aus Stein und waren immer zentrisch gelocht. Als Nachweis für Textilverarbeitung in dieser Hütte kann der einzelne Spinnwirtel jedoch nicht herhalten. Die Menge an einheimischer und rauwandiger römischer Keramik lässt eher an eine Funktion als Speicher denken. Einen weiteren Hinweis auf das Leben in der kaiserzeitlichen Siedlung geben die zahlreichen Gruben. Diese unscheinbaren Objekte enthielten einen Großteil der geborgenen Funde. Sie sind nach Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Abtrag des humosen Oberbodens als ovale oder unregelmäßige dunkle Verfärbungen gut zu erkennen. Die Gruben konnten mehrere Funkionen aufweisen: Als Teil eines Gebäudes dienten sie als Vorratsgruben für Lebensmitel. Des Weiteren wurde häuig an unterschiedlichen Stellen, meist etwas abseits der Gebäude, Material entnommen wie z. B. Ton, Lehm oder Sand. Die Gruben konnten zu einem späteren Zeitpunkt erweitert werden, oder sie wurden im Lauf der Zeit mit diversen Materialien und Siedlungsabfall wieder verfüllt. Eine eindeutige Abfallgrube kann in Überruhr-Hinsel jedoch nicht festgestellt werden. Oft zeichnen sich solche durch eine Häufung von tierischem Knochenmaterial ab, der deutlich als Speiseabfall zu erkennen ist. Die Fundgattung der Knochen ist nur sehr gering vertreten. Da das Fehlen von Knochen nicht auf die Erhaltungsbedingungen im Boden zurückzuführen sein kann, muss man davon ausgehen, dass Tierknochen bei den Grabungsarbeiten in den sechziger Jahren keine Berücksichtigung fanden und die Funde weder geborgen noch in den Zeichnungen vermerkt wurden. Die Gruben enthielten in erster Linie einheimische und römische Keramik, außerdem Brandlehm, Kalk, Basalt, Steingeräte, Eisen und Bronze. In einer Grube am südwestlichen Rand der Fläche 1 fand sich sogar eine Münze, die in die späte römische Kaiserzeit datiert werden kann (vgl. den Beitrag zu den Beziehungen zum Römischen Reich in diesem Band). 11 Abb. 9. Auswahl an einheimischer Keramik mit Fingerkniffverzierung, Eindrücken, Spiralmuster und unverzierte Scherben. Abb. 10. Auswahl an römischer rauwandiger Gebrauchskeramik. Randscherben, u. a. mit Deckelfalz, ein Gefäßboden mit sichtbaren Drehrillen und ein Deckel. Abb. 11. Auswahl an Wetzsteinen mit Schleifspuren. 12 Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Die häufigste Fundgruppe in Überruhr-Hinsel stellen Scherben von keramischen Gefäßen dar, die deshalb etwas eingehender vorgestellt werden sollen. Es kommt sowohl einheimische als auch römische Keramik vor. Diese beiden Waren unterscheiden sich deutlich voneinander. Im Gegensatz zu den scheibengedrehten Gefäßen aus den römischen Provinzen ist die Keramik, die rechtsrheinisch gefertigt wurde, ausschließlich handaufgebaut. Bei römischen Gefäßen sind deutlich Drehrillen zu erkennen, die von der Fertigung auf der Töpferscheibe herrühren. Auf der Gefäßinnenseite erkennt man sie als spiralförmige Spuren (Abb. 10). Einheimische Gefäße sind in der Regel reduzierend gebrannt, was zu einer dunkleren Färbung des Scherbens führt. Sie variiert mitunter von hellbraun bis tiefschwarz auf ein und demselben Gefäß. Die Oberfläche ist gut geglättet, die helle Quarzmagerung tritt im Bruch jedoch gut sichtbar hervor (Abb. 9 und 10). Die einheimische Keramik aus Überruhr-Hinsel kann dem sogenannten rhein-weser-germanischen Formenkreis zugewiesen werden. Am häuigsten verwendete man weitmündige Gefäße mit lachem Boden, welche während des 2. bis 4. Jahrhunderts n. Chr. benutzt wurden. Diese Gefäße wurden manchmal auf der Oberfläche durch Muster verziert. Verzierungen kommen häufig in Form von Fingernageleindrücken vor, wie sie auf der abgebildeten Keramik zu sehen sind. Aber auch Scherben mit Schlickungen, Kammstrich, Linien, Schlingen, Tupfen und Warzen sind vorhanden. Allerdings können diese Verzierungsarten nicht als Mittel zur Datierung hinzugezogen werden, da sie regelhaft in allen Zeitstufen vorkommen. Keramikgefäße, die archäologisch in das 1. und 2. Jahrhundert datiert werden können, fehlen in Überruhr-Hinsel völlig. Insgesamt ist die Keramik nur bedingt zur Datierung geeignet, da sie in der gesamten Nutzungszeit der Siedlung durchweg sehr homogen gestaltet ist. Zwar unterscheiden sich die frühen Formen der älteren Kaiserzeit sehr deutlich von den späteren Formen der mittleren und jüngeren Kaiserzeit, jedoch ist eine genauere, feinchronologische Einteilung nicht möglich. Außer keramischen Objekten wie Gefäßen und Spinnwirteln fand man – abgesehen von den Baumaterialien wie Brandlehm und Kalkbrocken – auch Steingeräte in großer Menge. Sie stammen aus den Siedlungsgruben, wurden jedoch auch bereits vor Grabungsbeginn von der Oberfläche Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel aufgesammelt. Es handelt sich um flache und längliche Kiesel, die deutliche Schleifspuren aufweisen (Abb. 11). Das Auftreten solcher Schleifsteine in größeren Stückzahlen ist uns auch aus anderen kaiserzeitlichen Siedlungen wie Leverkusen-Schlebusch bekannt. In den Flussauen der Ruhr stand Raseneisenerz an, das von den Bewohnern der Siedlung abgebaut und verhüttet wurde. Es wurden sowohl Reste von Raseneisenerz gefunden, wie auch große Mengen Schlacke in den Gruben, die bei der Verhüttung von Eisenerz entsteht (Abb. 12). An den Hängen zur Ruhraue hin, also in direkter Umgebung der Siedlung, treten außerdem Steinkohleflöze zutage, sodass die Steinkohle an der Oberfläche aufgesammelt werden kann. Die Proben der in Überruhr-Hinsel geborgenen Steinkohle wurden in den 1980er Jahren untersucht. Die Analysen haben ergeben, dass es sich um Fettkohle handelt, deren Inkohlungsgrad mit dem der anstehenden Kohleflöze übereinstimmt. Es liegt also nahe, dass die anstehende Steinkohle in der römischen Kaiserzeit verwendet wurde. Ob sie eine besondere Rolle bei der Eisenverhüttung gespielt haben kann, werden weitere Untersuchungen ergeben. Außerdem wurden diverse Eisenobjekte gefunden, darunter Werkzeuge, Nägel, Riegel und Waffen (Abb. 13 und 15). Problematisch bei der Bestimmung der Eisenfunde ist die bereits im Beitrag zur Grabungsgeschichte erwähnte Durchmischung von antiken und modernen Funden auf der Grabungsfläche: Durch den Abriss des neuzeitlichen Hofes zwischen Sonderfeld und Lehmannsbrink wurden Objekte, die aus den Überresten des Bauernhofes stammten, unter die Funde der oberen Grabungsschichten gemischt, die keinem konkreten Befund zugewiesen werden konnten. Die Formen einiger Objekte haben seit der Kaiserzeit keine Veränderung erfahren, wie es beispielsweise bei geschmiedeten Nägeln der Fall ist. Der Erhaltungszustand der eisernen Objekte, die nicht im Bonner Landesmuseum restauriert wurden, lässt außerdem deren ursprüngliche Form nicht mehr erkennen. Die abgebildeten Trensen sind zeitlich schwer einzuordnen, da diese Form bereits in der römischen Kaiserzeit auftritt, dieselbe Form jedoch auch in der Neuzeit hergestellt wurde. Es wurden aber auch eindeutig kaiserzeitliche Teile von Pferdegeschirr in Überruhr-Hinsel gefunden. So befindet sich unter den wenigen Bronzeobjekten, die aus der Siedlung stammen, u. a. ein Beschlag mit kon- 13 Abb. 12. Schlackestücke aus Überruhr-Hinsel. Abb. 13. Eisenfunde, darunter das Fragment eines Riegels, Lanzenschuhe, vermutlich die Spitze einer Sense, evtl. ein Ledermesser (Kopie), zwei geschmiedete Nägel, ein Messer und Fragmente von Pferdetrensen. Abb. 14. Buckelartiger Beschlag eines römischen Pferdegeschirrs, Bronze, Dm. 4,0 cm. 14 Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Abb. 15. Lanzenspitzen und Fragmente eines Schildbuckels aus Eisen. zentrischen Kreisen, welcher von einem römischen Pferdegeschirr stammt (Abb. 14). Mit Sicherheit gehören die eisernen Waffen zu den kaiserzeitlichen Funden (Abb. 15). Vorhanden sind Lanzenspitzen, Lanzenschuhe und Schildbuckel, welche zur regulären einheimischen Bewaffnung zählen. Der Werkstoff Eisen weist darauf hin, dass sie rechtsrheinischen Ursprungs sind. Im rheinweser-germanischen Kreis kommen, im Gegensatz zu den benachbarten Kulturgruppen, Waffen nicht regelhaft in Gräbern vor, was die Anzahl von Funden in diesem Gebiet stark dezimiert. Zwar wurden im größten bekannten rhein-weser-germanischen Gräberfeld von Leverkusen-Rheindorf vereinzelt Bestandteile von Schilden und auch Lanzenspitzen gefunden, von Waffengräbern – also Gräbern, die mit einer vollständigen Ausstattung an Waffenbeigaben versehen sind, wie sie in elbgermanischen Kontexten vorkommen – ist jedoch nicht zu sprechen. Die Waffen aus dem rhein-weser-germanischen Kreis stammen aus den gleichzeitigen Siedlungen, sie treten dort jedoch nur sporadisch und oft in schlechter Erhaltung auf. Eine Ausrüstung an Waffen wird im westlichen Hellwegraum also zur Ausstattung gehört haben – auch, wenn sie in geringerer Anzahl vorkommen. Bei der Beisetzung werden die Verstorbenen wahrscheinlich, wie auch in benachbarten Kulturgruppen, in voller Tracht, inklusive ihrer Waffen, verbrannt worden sein. Welche Teile des Leichenbrandes und der Beigaben aus den Resten des Scheiterhaufens ausgelesen und ins Grab gegeben wurden, scheint sich Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel im Gebiet der Rhein-Weser-Germanen und damit auch in Überruhr-Hinsel von anderen benachbarten Gruppierungen jedoch zu unterscheiden. Ein bemerkenswerter Fund aus Überruhr-Hinsel ist das Fragment eines keltischen Armrings aus blauem Glas mit gelber Fadenauflage (Abb. 16). In der vorrömischen Eisenzeit waren sie Bestandteil der Frauentracht und lassen sich in Siedlungen und Gräbern finden. Dieser Armring-Typ wurde im Zeitraum von 125 bis 15 v. Chr. produziert und kommt besonders häufig im Rheinland und den Niederlanden vor, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit hergestellt wurde. Im Bereich des westlichen Hellwegs und Westfalens lassen sich in den Jahrhunderten nach Christus oft Fragmente solcher Armreifen in Siedlungen finden und selbst in fränkischer Zeit gelangten sie noch als Beigabe in Gräber. In der vorrömischen Eisenzeit wurden sie in Massen produziert und von ihren Herstellungsorten weiträumig verhandelt, so auch ins Ruhrgebiet und nach Westfalen. In der römischen Kaiserzeit scheinen sie noch Verwendung gefunden zu haben. Zerbrochene Armringe wurden nochmals erhitzt und die Teilstücke zu Anhängern oder Perlen umgeformt, wie es auch bei dem Hinseler Stück der Fall zu sein scheint. Der geringe Durchmesser von nur 2 cm weist darauf hin, dass er nachträglich umgeformt, sozusagen recycled wurde. Die spätesten Funde der Siedlung gehören ins 4. bis 5. Jahrhundert n. Chr. Es handelt sich um scheibengedrehte Terra Nigra (siehe den Beitrag von Claris- 15 Abb. 16. Blaues Glasarmringfragment mit gelber Fadenauflage aus der späten vorrömischen Eisenzeit, L. noch 2,5 cm, innerer Dm. ca. 2 cm. sa Agricola in diesem Band). Die Siedlung wurde in dieser Zeit aufgegeben. Eine Besonderheit ist das eingangs erwähnte Grab, das sich im Nord-Osten der Fläche 1 befindet. Es enthielt Scherben eines einheimischen Gefäßes und Leichenbrand, welcher nicht geborgen wurde. Das Grab war 0,82 m in den Boden eingetieft und verfügte über eine Stufe, auf der ein keramisches Gefäß als Beigabe niederlegt wurde. Von dem Gefäß sind nur einige Scherben erhalten, die nicht genauer als in das 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. datiert werden können. Die geringe Entfernung zu den kaiserzeitlichen Baubefunden stellt eine Besonderheit dar. Vereinzelt werden zwar Bestattungen von Kleinkindern im Bereich von Wohngebäuden gefunden und in der Peripherie mancher Siedlungen kann man sogar auf die Skelette von Erwachsenen stoßen, Brandgräber sind innerhalb von Siedlungen jedoch ungewöhnlich. Ob es möglich ist, dass mit diesem Grab der Randbereich eines ganzen Gräberfeldes angeschnitten wurde, bleibt noch zu untersuchen. In der Regel wurde auf separaten Gräberfeldern in wenigen hundert Metern Entfernung bestattet. Es besteht auch die Vermutung, dass die Lage der Siedlungen an Flüssen nicht allein aus pragmatischen Gründen gewählt wurde, sondern dass Flüsse die Siedlungsareale von den Gräberfeldern abgrenzten und mit den antiken Jenseitsvorstellungen in Verbindung zu bringen sind. In der näheren Umgebung zur kaiserzeitlichen Siedlung in Überruhr-Hinsel gibt es keinen weiteren Hinweis auf ein zugehöriges Gräberfeld außer 16 dem einzelnen Grab im direkten Siedlungsbereich. Im rhein-weser-germanischen Kreis überwiegt das Verhältnis von entdeckten Siedlungen stark gegenüber Gräbern. Das größte im Rheinland bekannte kaiserzeitliche Gräberfeld wurde in LeverkusenRheindorf zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausgegraben. Literatur von Uslar 1938, 9 ff.; Schumacher 1970; Beilke-Voigt 2003, 158 ff.; Eggenstein 2005, 54 ff.; Stein 2005, 403 ff.; Roymans/Verniers 2010, 202; Mirschenz 2013, 65 ff. Kala Drewniak – Leben und Alltag in Überruhr-Hinsel Das Leben in einer germanischen Siedlung an der Ruhr Der kommentierte Versuch einer zeichnerischen Annäherung Kala Drewniak / Christoph Heuer / Patrick Jung Die Rekonstruktion der antiken Realität ist ein schwieriges Unterfangen. Dennoch ist der Wunsch danach die wichtigste Triebfeder für die Beschäftigung mit der Vergangenheit. „Wie war es damals?“ So oder so ähnlich lassen sich die meisten Fragen an die Geschichte zusammenfassen. Der Archäologie sind dabei enge Grenzen gesetzt, denn nur ein geringer Teil der materiellen Kultur erhält sich in Form von Bodenfunden bis in die Gegenwart. Alles, was sich auf immaterieller Ebene abspielte – zwischenmenschliche Interaktion, Ängste, Hoffnungen, jedes gesprochene Wort und jeder gedachte Gedanke – sind unwiederbringlich verloren. Daher kann ein Lebensbild wie das unsere (Abb. 17) nur eine vage Annäherung sein, die mögliche Deutungen und Hintergründe für Objekte und Bodenbefunde visualisieren kann. Dabei muss immer im Auge behalten werden, dass eine Szene wie die dargestellte niemals in dieser Form stattgefunden hat. Um diesen Einschränkungen Ausdruck zu verleihen, schien uns eine handgefertigte, nicht auf Naturalismus abzielende Zeichnung deutlich besser geeignet als die heute üblichen, bisweilen trügerisch exakt wirkenden Computer-Modelle. Um ein Lebensbild nicht mit Details zu überfrachten, ist außerdem eine Auswahl der darzustellenden Aspekte sowie eine Fokussierung innerhalb dieser Auswahl unerlässlich. Naturgemäß kommen hier persönliche Ansichten und vor allem der Zeitgeist zum Tragen. Daher scheint die folgende Kommentierung nicht nur gerechtfertigt sondern sogar notwendig. Arbeitsschritte und Techniken – Anmerkungen des Zeichners Zunächst wurde eine Reihe kleinformatiger, flüchtiger Skizzen gezeichnet, in denen die Schwerpunkte der Darstellung in einen ebenso logischen wie nachvollziehbaren szenischen Zusammenhang gestellt werden. Nachdem wir uns auf eine Bildkomposition geeinigt hatten, begann die Ausarbeitung der Details. Zunächst wurden die Bildschwerpunkte in einzelnen Studien bearbeitet und mit den archäologischen Ergebnissen übereinander gebracht. Aufgrund unserer lückenhaften Kenntnisse müssen allerdings viele in der Zeichnung dargestell- ten Aspekte Spekulation bleiben. Diese Lücken zu füllen bleibt die Aufgabe des Bildschaffenden. In den Studien versuchten wir den Fundstücken und Baubefunden angemessene Lebenssituationen zu skizzieren und sie möglichst natürlich zu inszenieren ohne dabei eine romantische Idealisierung zu erzielen. Nachdem diese Skizzen aus archäologischer Sicht analysiert und mehrfach den Erkenntnissen angepasst wurden, begann die eigentliche Arbeit an dem vorliegenden Bild. Zunächst entstand eine mit einem Pinsel ausgeführte Tuschezeichnung. Nachdem ein Scan des Bildes wiederum von den beteiligten Archäologen überprüft wurde, wobei tatsächlich weitere Ungenauigkeiten auffielen, wurde eine endgültige Vorzeichnung in sepiafarbener Tusche erstellt. Diese Zeichnung wurde dann mit wasserlöslichen, schnelltrocknenden GouacheFarben übermalt. Die Vorteile dieser Technik sind zum einen die Geschwindigkeit, mit der man das Gemälde bearbeiten kann und zum anderen die stark deckenden Eigenschaften der Farbe, die beinahe an die von Ölfarben heranreicht. Dieser Fakt erleichterte einige nachträglich noch notwendig gewordene Änderungen am Bild. Bildaufbau und Hintergründe – Anmerkungen der Archäologen Die Zeichnung greift einige unserer Kenntnisse über die Siedlung in Überruhr-Hinsel auf und arrangiert diese in frei umgesetzter Form zu einer hypothetischen Szene des alltäglichen Lebens. Das rechte der beiden dargestellten Gebäude ist ein Grubenhaus. Dieser sehr häufige Bautyp ist durch charakteristisch angeordnete Pfostenlöcher und Bodenverfärbungen im Grundriss in Hinsel zweimal sicher nachgewiesen. Er kommt regelhaft in rechtsrheinischen Siedlungen der Frühgeschichte vor und indet in dieser Form sogar noch im Mitelalter Verwendung. Die zeichnerische Rekonstrukion ist in Maßen und Ausrichtung an den Befund St. 400 angelehnt. Das tief heruntergezogene, mit organischen Materialien gedeckte Satteldach und die lehmverstrichenen Flechtwerkwände lassen sich anhand von Vergleichsbefunden zweifelsfrei annehmen. Grubenhäuser waren in der Regel bis zu 0,7 m in Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Abb. 17. Alltagsszene in der kaiserzeitlichen Siedlung von Überruhr-Hinsel, dargestellt in Form einer zeichnerischen Annäherung. den Boden eingeiet und die Wände mit vier bis sechs Pfosten verstärkt. Sie weisen keine besonders große Nutzläche auf, die rechteckigen Gruben haben üblicherweise eine Seitenlänge von 2 m x 2,5 m bis maximal 4 m × 5 m. In solchen kleinen Bauten konnte man Vorräte lagern und verschiedene handwerkliche Täigkeiten ausüben. So wurden in dem rekonstruierten Befund ein Spinnwirtel und einheimische sowie römische Gebrauchskeramik gefunden, die sich an anderer Stelle auf dem Lebensbild wiederinden lassen. Links sieht man im Hintergrund ein größeres Wohnhaus. Die in Hinsel archäologisch dokumenierten Pfostenstellungen lassen zwar noch keinen eindeuigen Grundriss eines solchen Langhauses erkennen, die Auswertung von deren Verteilung in den unterschiedlichen Schichten steht jedoch derzeit noch aus. In jedem Fall waren Langhäuser die Regel in rechtsrheinischen kaiserzeitlichen Siedlungen, so- 18 dass man auch in Hinsel mit Wohngebäuden dieser Art rechnen muss. Die nahe gelegene Ruhr ist aus der gewählten Perspektive nicht zu sehen, jedoch deutet der lichte Wald die vorherrschende Umgebung im rechtsrheinischen Germanien an. In den Jahrhunderten nach Christi Geburt war der Urwald, der Mitteleuropa einst flächig bedeckt hatte, in der Region längst verschwunden. Stattdessen waren vielerorts Nutzwälder entstanden, die der Bau- und Feuerholzgewinnung, der Waldweide und anderen Zwecken dienten. Diese forstähnlichen Bereiche wechselten sich mit offenen, landwirtschaftlich genutzten Flächen ab. Die wichtigsten Nutztiere waren Rinder, die etwas kleiner waren als ihre heutigen Artgenossen. Daneben hielt man vor allem Schweine, die noch stark dem Wildschwein ähnelten. Sowohl Rinder Kala Drewniak / Christoph Heuer / Patrick Jung – Das Leben in einer germanischen Siedlung an der Ruhr als auch Schweine sind durch Knochenfunde in Hinsel belegt. Ein Bewohner der Siedlung entsorgt im Vordergrund rechts Abfall in eine Grube. Solche Gruben, die man häuig über einen langen Zeitraum zur Materialentnahme oder zu anderen Zwecken nutzte und später nach und nach wieder verfüllte, sind typisch für vor- und frühgeschichtliche Siedlungen. Auch in Hinsel gab es sie (wobei die dargestellte Grube weder in ihrer Lage noch mit ihrer Verfüllung einen der ausgegrabenen Originalbefunde exakt wiedergeben soll). Wie von anderen rechtsrheinischen Siedlungen bekannt ist, legte man solche Gruben etwas abseits und nicht in direkter Nähe der Wohnhäuser an. Der Mann auf unserem Bild benutzt für seine Arbeit einen hölzernen Daubeneimer, der von Reifen aus organischem Material zusammengehalten wird. Ein solches, aus vergänglichen Materialien geferigtes Behältnis ist für die Hinseler Siedlung zwar nicht belegt, wurde aber sicher genutzt. In der Grube liegen bereits Scherben von zerbrochenen Tongefäßen und ein Bruchstück einer Handmühle zum Mahlen von Korn. Fragmente solcher Mühlen aus Basalt, die aus dem Linksrheinischen stammen, fanden sich auch vor Ort in den Gruben. Scherben von Tongefäßen sind in der Regel die bei weitem häuigsten Siedlungsfunde. Seit der Jungsteinzeit gehörten sie zum Inventar einer jeden vor- und frühgeschichtlichen Gemeinschat. Auf unserem Bild sind einige solcher Schüsseln und Töpfe an der Wand des Grubenhauses gestapelt. Bei den dunklen Brocken, die gerade in die Grube geschütet werden, handelt es sich um Schlackestücke, die auf ein in der Siedlung ausgeübtes Handwerk hinweisen: die Metallverarbeitung. Ein Schmied bei der Arbeit ist allerdings nicht zu sehen. Diese Täigkeit wurde wegen der Feuergefahr abseits der bewohnten Bereiche ausgeübt; außerdem scheinen die in Hinsel verwendeten Verfahren derzeit noch zu wenig gesichert, um sie zeichnerisch rekonstruieren zu können. Ein weiteres, durch Funde von Spinnwirteln für die Siedlung bezeugtes Handwerk wird von der Frau rechts im Bild ausgeübt: Mitels einer Handspindel spinnt sie einen Faden, den sie später zur Herstellung von Texilien verwenden wird. In der Mite des Bildes sehen wir einen Mann, der mit einem kleinen, von einem Pferd gezogenen Transportwagen in der Siedlung eintrit. Die Decke, mit der die Ladeläche des Wagens bedeckt ist, gibt einen Blick auf einen kleinen Teil der Ladung frei: Zu sehen ist eine Schüssel aus Terra Sigillata, also Tafelgeschirr aus dem römischen Gebiet links des Rheins. Verschiedene Hinseler Funde stammen von dort, wurden also imporiert. Wie sie hierher gelangten, weiß man jedoch nicht genau. Ist der Mann am Wagen ein aus dem römischen Provinzgebiet stammender Händler, der die Siedlungen an der Ruhr mit seinen Waren versorgt? Dieser Deutung wird meist der Vorzug gegeben. Oder handelt es sich lediglich um einen ehemaligen Bewohner der Siedlung, der für einige Jahre auf der römischen Seite des Rheins gelebt hat, nun in seine alte Heimat zurückkehrt und seinen Hausrat mit sich führt? Die Möglichkeiten, wie das „Importmaterial“ in die Hinseler Siedlung gelangt sein könnte, sind vielfälig. Die Bauart des Wagens ist aus dem Gebiet der römischen Provinz vor allem in einer zweiachsigen Variante bekannt. Die kleinere Version mit nur einer Achse und demnach reduzierter Ladeläche wurde in erster Linie als leichter Reisewagen zur Personenbeförderung benutzt, kann aber auch gut zum Transport persönlicher Habseligkeiten verwendet worden sein. Das Pferd, das durch Tierknochenfunde in vielen Siedlungen links und rechts des Rheins belegt werden kann, ist eines der möglichen Zugiere. Denkbar wären auch ein Rind oder ein Maulier. Das problemaischste Element eines Lebensbildes sind meist die dargestellten Menschen. Welche Kleidung, Haar- und Bartracht trugen sie? Was kann man in ihren Gesichtern erkennen bzw. in sie hineininterpreieren? Welches Geschlecht, welches Alter wird gezeigt und ist im Vordergrund, welches wird nur im Hintergrund oder am Rand gezeigt? Schnell lenkt die Darstellung von Personen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf frei erfundene Elemente wie den Ausdruck in einem Gesicht oder eine prägnante Geste. In unserem Fall sehen wir einen männlichen Bewohner, eine weibliche Bewohnerin sowie ein Kind, jeweils bei Täigkeiten, die sie sicherlich so oder so ähnlich ausgeübt haben. Die Frau trägt ein sogenanntes Peplos-Gewand, der Mann und der Junge eine lang- bzw. eine kurzärmelige Tunika mit einer Hose darunter und einfachen Lederschuhen. Der Reisende am Wagen trägt einen Kapuzenmantel, wie er aus dem gallo-römischen Raum belegt ist. Ein Aspekt fehlt jedoch auf unserem Bild: ein oder mehrere Männer in Wafen, von denen Bruchstücke in geringer Zahl ebenfalls in Hinsel gefunden wurden. In zahlreichen Darstellungen werden germanische Männer stereotypisch mit Speer und Schild in Händen gezeigt. Ohne Zweifel mussten Gemein- Kala Drewniak / Christoph Heuer / Patrick Jung – Das Leben in einer germanischen Siedlung an der Ruhr 19 schaten und Individuen in der Kaiserzeit wehrhat sein. Im Alltag trug man jedoch sicherlich nicht ständig seine Bewafnung mit sich, weshalb diese in unserem Bild auch nicht zu sehen ist. Der Vorzug einer Zeichnung wie der unseren ist der Freiraum für die Fantasie des Betrachters, die solche – aus subjekiver Sicht zu recht oder zu unrecht – nicht abgebildeten Details in einem verdeckten Bereich oder außerhalb des Bildausschnites vermuten kann. Literatur Mainka-Mehling 2006. 20 Kala Drewniak / Christoph Heuer / Patrick Jung – Das Leben in einer germanischen Siedlung an der Ruhr (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich Kala Drewniak Auffällig in Überruhr-Hinsel ist der hohe Anteil an Fundstücken, die jenseits des Limes im Römischen Reich produziert wurden. Dazu gehören bestimmte Keramikgefäße, Mühlsteine aus Basalt, einige Bronzeobjekte und vier römische Münzen des 1. bis 4. Jahrhunderts n. Chr. Man spricht bei Objekten aus den Provinzen, die auf rechtsrheinischen Fundplätzen gefunden wurden, allgemein von römischem Import. Die Frage, wie diese Objekte ins Barbaricum gelangt sind, ist für die archäologische Forschung im Fall von Überruhr-Hinsel von besonderem Interesse. Römische Funde kommen ab der frühen römischen Kaiserzeit auf nahezu allen rechtsrheinischen Fundplätzen vor. Bronzegefäße, Keramik und Trachtbestandteile lassen sich sowohl in Siedlungen, als auch als Beigaben in Gräbern finden. Im Bereich des westlichen Hellwegs steht jedoch die Frage nach dem Verlauf einer West-Ost verlaufenden Handelsroute im Raum. Ob der Hellweg bereits in römischer Zeit als Handelsroute genutzt wurde, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Die Menge an römischen Funden jenseits des Limes bezeugt einen intensiven Austausch zwischen den Provinzen und der rechtsrheinischen Bevölkerung. Lange bestand in der archäologischen Forschung die Meinung, dass der Großteil der römischen Objekte als Beutegut ins Barbaricum gelangt sein musste. Von der Vorstellung, dass der Kontakt zwischen den beiden Rheinseiten lediglich durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt war, ist jedoch abzusehen. Vielmehr muss der Limes zwar als bewachte, jedoch nicht als unpassierbare Grenze angesehen werden. Neben der Rekrutierung von Germanen ins römische Militär, die nach ihrer Rückkehr römische Waren ins Rechtsrheinische mitbrachten, muss auch auf anderem Wege ein Austausch von Gütern erfolgt sein. Abb. 18. Fragmente einer Handmühle aus Basaltlava, zwei Schleifsteine, ein Spinnwirtel und ein Gerät aus Knochen (Kopie), das wahrscheinlich beim Weben am Webstuhl eingesetzt wurde. und lässt sich bereits auf eisenzeitlichen Fundplätzen finden. Der bronzene Ring mit kreisrunden Eindrücken wurde in den römischen Provinzen hergestellt und später umgearbeitet (Abb. 19). Ursprünglich handelte es sich um einen Fingerhut, die Kuppe wurde nachträglich abgeschnitten. Parallelen zu noch vollständigen Fingerhüten, aber auch zu solchen, die nachträglich zu Ringen umgearbeitet wurden, Gegenstände aus dem täglichen Gebrauch Dabei muss es sich nicht immer um Gegenstände von herausragendem Wert gehandelt haben. Die Basaltlavafragmente (Abb. 18) sind Überreste von Handmühlen und wurden aus dem Mayener Raum importiert. Basaltlava ist kein ungewöhnlicher Fund in vor- und frühgeschichtlichen Siedlungen Abb. 19. Fingerhut, offen, Bronze, Dm. 2,1 cm. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Abb. 20. Gefäßscherben aus Terra Sigillata mit Relief- und sogenannter Barbotineverzierung. Unten rechts das geflickte Fragment (die Metallklammer ist modern). fanden sich zahlreich auf dem Handelsplatz in Erin, Castrop-Rauxel. Römische Produkte wurden demnach auf den eigenen Bedarf angepasst, umgeformt und wiederverwendet. Im mitteleuropäischen Barbaricum sind solche recycelten Objekte nicht ungewöhnlich. Die häufigste Fundgattung bildet Keramik. Nach einer ersten Durchsicht des Materials aus Überruhr-Hinsel kann der Anteil der römischen Gefäße auf etwa 40 % geschätzt werden. Am häufigsten kommen rauwandige Schüsselformen vor, die ins 2. bis 3./4. Jahrhundert datiert werden können. Es handelt sich zum Großteil um unverzierte römische Gebrauchskeramik. Es ist also denkbar, dass der Inhalt der Gefäße und nicht unbedingt die Gefäße selbst verhandelt wurden. Doch auch Scherben von sehr feintonigen Gefäßen, Glanztonware mit einem dunklen Überzug oder Reliefsigillata mit bildlicher Verzierung kommen im Fundspektrum vor. Diese repräsentaiven Gefäße werden auch als Tafelgeschirr angesprochen, sie geben jedoch keinen eindeuigen Hinweis auf die Übernahme von römischen Tafel- und Trinksiten. Imporierte Objekte waren auch trotz Beschädigungen noch in Gebrauch. Dies lässt sich an der Scherbe einer Schüssel aus Terra Sigilata erkennen, die an einer Bruchstelle vier Durchlochungen aufweist (Abb. 20). Zur Reparatur des Bruchs wurden die Stücke an dieser Stelle mit metallenen Klammern ixiert. Die Scherben gehören zu einer halbkugeligen Schüssel mit Reliefverzierung. Solche Schüsseln treten bis etwa 250 n. Chr. auf, die Reparatur könnte jedoch darauf verweisen, dass sie länger in Benutzung geblieben ist. 22 Wertvolle Gegenstände aus Metall – Handel mit Prestigeobjekten? Nicht nur Keramikgefäße wurden ins Rechtsrheinische verhandelt. Die Attasche in Form eines Weinblattes, die auch auf dem Titelblatt der Broschüre wiederzufinden ist, war ursprünglich am Rand eines bronzenen Beckens angelötet (Abb. 21a). Diese Becken hatten in der Regel einen Durchmesser von etwa 40 cm und waren mit bis zu drei Henkelattaschen versehen. Als Henkel dienten bronzene Ringe, die mithilfe der Attaschen befestigt waren. Die Rückseite der Henkel war oft zoomorph, also tierförmig, gestaltet. Auf dem Stück aus Überruhr-Hinsel ist ein schematisch geformter Tierkopf zu erkennen, wahrscheinlich ist ein Panther dargestellt. Die angelöteten Teile, also die Attaschen und der Standring, lösten sich oft im Laufe der Zeit von den Gefäßen ab. In Überruhr-Hinsel wurde der Rest des Beckens nicht aufgefunden, er wurde vielleicht in einem anderen Zusammenhang verwendet. Die Wiederverwendung von Altmetall ist ebenso wahrscheinlich wie ein Handel mit ganzen Gefäßen. Auf dem Gelände der Zeche Erin in Castrop-Rauxel wurde beispielsweise in den neunziger Jahren ein Handelsplatz entdeckt, auf dem der Verkauf von Altmetall festgestellt werden konnte. Als ursprüngliche Funktion wird die Verwendung als Trink- oder Tafelservice, aber auch als Handwaschgefäß vermutet. Vollständige Becken dieses Typs finden sich in der Regel in Gräbern. Dort dienten sie als Urne oder auch als Beigabe. Ein Nachweis für ihr Vorkommen in einer Siedlung stellt eine Ausnahme dar. Ein vergleichbares Becken Kala Drewniak – (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich a b Abb. 21. a: Attasche in Form eines Weinblattes aus Bronze, B. 5,5 cm, H. 8,0 cm. – b: Die Umzeichnung zeigt ein Becken des gleichen Typs aus dem Kammergrab von Gommern. Kala Drewniak – (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich 23 Abb. 22. Fragment einer Venusstatuette aus Pfeifenton, H. 6,5 cm, Br. 6,0 cm. wurde im Fürstengrab von Gommern in SachsenAnhalt gefunden, das sich durch seinen Reichtum an Beigaben auszeichnet (Abb. 21b). Die Nachfrage nach römischen Produkten bestand also auch noch in Gebieten im Barbaricum, die weit östlich des römischen Limes gelegen waren. Gefäße solcher Art kommen in der gesamten mittleren bis späten römischen Kaiserzeit vor; das Stück aus Gommern kann in die Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. datiert werden. Eine vergleichbare Zeitstellung kann daher auch für das Hinseler Stück angenommen werden. Objekte ohne materiellen Wert Ebenfalls aus dem Linksrheinischen stammt das Fragment einer Statuette aus hellbeigem Pfeifenton (vgl. Abb. 22). Die Oberfläche ist stark abgenutzt, was auf die Bodenlagerung zurückzuführen ist. Zu erkennen ist der Oberkörper einer Frau, deren rechter Unterarm quer über der Brust liegt. Solche Terrakottastatuetten kommen im Römischen Reich sehr häufig in sakralem Kontext vor. Sie stellen Götterfiguren dar und werden zu mehreren Stücken in Depots auf den Arealen von Heiligtümern hinterlegt. Im Fall von Überruhr-Hinsel ist die Zuweisung zum Typ der „Venus pudica“ sehr wahrscheinlich, obwohl sie nur als Fragment erhalten ist. Vergleichsstücke verweisen darauf, 24 dass solche Statuetten stellenweise bemalt waren. Wahrscheinlich wurde sie in Köln am Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. produziert. Im rechtsrheinischen Gebiet lassen sie sich in wenigen Fällen in Gräbern und vereinzelt im Siedlungskontext finden, wo sie häufig aus Gruben geborgen werden. Blei im Rechtsrheinischen Im Gebiet des rechtsrheinischen Barbaricum lassen sich Bleifunde erst seit der römischen Kaiserzeit in archäologischen Kontexten inden. Blei iel als Abfallprodukt bei der Silberherstellung an, wurde aber auch als eigenständiger Rohstof abgebaut und weiterverarbeitet. Hinweise darauf, dass es vor Ort für den einheimischen Gebrauch verarbeitet wurde, gibt es jedoch nicht. Funde aus Blei der ersten nachchristlichen Jahrhunderte treten in erster Linie in Form von Barren auf und wurden wahrscheinlich hauptsächlich als Rohstof verhandelt. Besonders häuig kommen Bleibarren in der Gegend um Soest vor. Unter den Bleifunden aus Überruhr-Hinsel befindet sich ein 3,0 cm hohes, durchlochtes Objekt, das durch parallele, waagerechte Linien verziert ist (Abb. 23). Vom westlichen Hellweg stammt eine Reihe von Funden, die wie die zuvor erwähnten Spinnwirtel (Abb. 18) symmetrisch gefertigt und Kala Drewniak – (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich Abb. 23. Wirtel mit umlaufenden, parallelen Zierlinien, Blei, H. 3,0 cm; 73 g. Abb. 24. Kugelförmiges Gewicht, Eisen, Dm. 5,0 cm, 570 g. a b Abb. 25. a: Rückseite einer schlecht erhaltenen römischen Fundmünze aus Hinsel. Doppelmaiorina des Magnentius, Decentius oder Poemenius, auf der Rückseite vollflächig ein Christogramm. Prägung 350–353 n. Chr., Bronze, Dm. 25,3 mm. – b: Zum Vergleich eine nicht aus Hinsel stammende, besser erhaltene Münze: 1½-fache Maiorina des Magnentius von 353 n. Chr., Vorder- und Rückseite, vergrößert. Kala Drewniak – (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich 25 zentral durchlocht sind. Sie werden daher als Bleiwirtel angesprochen. Diese Wirtel variieren stark in Form und Ausfertigung, ähneln aber prinzipiell unserem Fundstück aus Essen. Ob sie jedoch zur Herstellung von Stoffen verwendet wurden, lässt sich nicht nachweisen. Für die Objekte, deren Durchlochung leicht dezentral angelegt ist, muss von einer Interpretation als Spinnwirtel sogar abgesehen werden. Eventuell handelt es sich bei dem Stück um ein Gewicht, wie sie auch in Soest gefunden wurden. Diese gehörten vermutlich zu Schnellwagen. Ein weiteres Gewicht aus Überruhr-Hinsel ist kugelförmig und besteht aus Eisen (Abb. 24). Es ist mit einer Öse zur Aufhängung versehen, sein Gewicht beträgt 570 g. Auch dieses kann ursprünglich Teil einer Schnellwage gewesen sein. Bei römischen Schnellwaagen sind die beiden Hebelarme ungleich lang, wobei am längeren Arm das Ausgleichsgewicht manuell verschoben werden kann, bis ein Gleichgewicht eintritt. Sold und Soldaten Ein monetäres System gab es in den rechtsrheinischen Gesellschaten ursprünglich nicht. Mit dem Aufeinandertrefen von römischer und „barbarischer“ Kultur prägen römische Münzen ab der Kaiserzeit das Fundbild der Siedlungen in diesem Raum. Eine der vier Münzen aus Überruhr-Hinsel wurde bei den Arbeiten 1968 in den Sondageschnitten östlich von Lehmannsbrink gefunden. Es handelt sich um eine Doppelmaiorina, welche zur Zeit des Usurpators Magnenius von diesem selbst, seinem Bruder Decenius oder seinem Rivalen Poemenius geprägt wurde (Abb. 25a). Flavius Magnus Magnenius war Befehlshaber der gallischen Legionen und ließ sich 350 n. Chr. von seinen Truppen zum Kaiser ausrufen. Seine Regierungszeit dauerte nur drei Jahre, weshalb der Prägungszeitpunkt der Münze trotz des schlechten Erhaltungszustands recht genau besimmt werden kann. Die Rückseite zeigt ein Christogramm, ein Zeichen gebildet aus den griechischen Buchstaben Chi (X) und Rho (P). Nach der sogenannten Konstaninischen Wende gewann das Christentum im Römischen Reich immer mehr an Bedeutung, wodurch das Christogramm auch weite Verbreitung in den römischen Provinzen fand. Wohlgemerkt sagt der Fund einer solchen Münze nichts über die Glaubensvorstellungen der Bevölkerung der Siedlung aus. Wie sie hierher gelangt ist, bleibt eine ofene Frage. Es ist aber denkbar, dass sie von einem Söldner aus dem römischen Militär nach seiner Heimkehr mitgebracht wurde. 26 Abb. 26. Bügelfragment einer Zwiebelknopffibel aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr., Bronze, L. 3,2 cm. Ein klarer Nachweis für den Kontakt zum römischen Militär ist das Fragment des Bügels einer bronzenen Zwiebelknopffibel (Abb. 26). Ihren Namen tragen diese aufgrund der zwiebelförmigen Knöpfe an den Bügelenden, was auch beim Hinseler Bruchstück erkennbar ist. Fibeln sind Teile der antiken Tracht und dienen zum Verschluss von Gewändern. Form, Größe und Material variieren stark je nach sozialer Stellung und Herkunft des Trägers. Zwiebelknopffibeln wurden seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. in den römischen Provinzen hergestellt und waren Teil der Tracht von römischen Soldaten und Beamten. Die Söldner aus dem Rechtsrheinischen leisteten häufig Dienst in der Armee und brachten Güter aus dem Römischen Reich in die Gebiete jenseits des Limes (vgl. auch den Beschlag vom Pferdegeschirr Abb. 14). Literatur Eggers 1951 Taf. 9; Keller 1971, 31 f.; Lange 1995, 173 f.; CRFB 6, 38; Melzer/Capelle 2007; Cosack 2008, 561; Ebel-Zepezauer 2008, 88; Eggenstein 2008, 71 f.; Alföldi/von Kaenel 2013, 72 f. Kala Drewniak – (Handels-)Beziehungen zum Römischen Reich Spätrömische Terra Nigra aus Überruhr-Hinsel Clarissa Agricola Keramik kommt auf archäologischen Fundplätzen sehr zahlreich vor und stellt für Archäologen eine der wichtigsten Fundgattungen dar. Mit ihrer Hilfe ist es möglich Fundplätze zu datieren, aber auch mögliche Ess- oder Trinksitten der Menschen sowie Handelsstrukturen zu rekonstruieren. Auch das Fundmaterial der germanischen Siedlung in Überruhr-Hinsel wird zu großen Teilen von Keramik dominiert. Neben der römischen und germanischen Keramik des Fundplatzes sticht vor allem eine Feinkeramik hervor, die im 4. bis 5. Jahrhundert n. Chr. hergestellt wurde (Abb. 27). Sie zeichnet sich durch eine graue Oberfläche und einen feinen, hellen Ton aus. Die Gefäße sind meist durch umlaufende Kerbbänder verziert, welche mithilfe eines Rollrädchens angebracht wurden. Vorzugsweise produzierte man in dieser Warenart sogenannte Fußschalen, die vermutlich als Trinkgeschirr Verwendung fanden. Diese Keramikware wird in der Forschung als „spätrömische Terra Nigra“ bezeichnet und ist in Nordwestdeutschland und den Niederlanden weit verbreitet. Herkunft und Ursprung dieser Ware sind bislang noch nicht geklärt und werden derzeit im Rahmen eines Dissertationsprojektes an der Goethe Universität in Frankfurt am Main näher untersucht. Dabei kommen sowohl archäologische als auch naturwissenschaftliche Methoden zum Einsatz. Ziel ist es unter anderem, mögliche Produktionsorte der „spätrömischen Terra Nigra“ festzustellen. Unterschiedliche Töpfereizentren zeichnen sich durch charakteristische Elementgehalte aus, die als chemischer Fingerabdruck umschrieben werden können. Da jedoch noch nicht alle antiken Töpfereien chemisch untersucht und viele gar nicht bekannt sind, kann dieser chemische Fingerabdruck auch dazu verwendet werden, um Hinweise auf mögliche Herkunftsregionen der Töpferwaren zu erhalten. Um mögliche Produktionsorte festzustellen wird bei den Untersuchungen unter anderem ein portables Röntgenfluoreszenz-Spektrometer verwendet. Mithilfe dieses Gerätes ist es möglich, die Konzentration chemischer Elemente innerhalb der Keramik zu ermitteln. Diese Informationen werden Abb. 27. Gefäßscherben aus Terra Nigra, gefunden in Überruhr-Hinsel. dazu genutzt, die chemischen Fingerabdrücke von Töpfereien, in denen Terra Nigra produziert wurde, zu bestimmen. In diesem Zusammenhang wird auch das Fundmaterial der germanischen Siedlung aus Überruhr-Hinsel untersucht, da es sich hierbei um den größten Fundkomplex mit spätrömischer Terra Nigra im rechtsrheinischen Gebiet handelt. Literatur Schumacher 2005, 110; 114 f.; Hegewisch 2013, 147–170. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Knochenfunde aus Überruhr-Hinsel Einblicke in Tierhaltung und Tiernutzung Christian Meyer Knochenfunde gehören bei archäologischen Ausgrabungen mit zu den häuigsten Objekten. In vorund frühgeschichtlichen Siedlungen sind es dabei zumeist ierische Reste, die angetrofen werden, und die als Schlacht- und/oder Werkabfall zu deuten sind. Da man den nicht weiter zu speziischen Artefakten verarbeiteten Knochen ihr Alter aber nicht direkt ansieht, ist es hier besonders wichig, auf die Lagebeziehungen zu genauer daierten Strukturen zu achten. So sind z. B. Kämme, Spielsteine und Nadeln typische Objekte, die aus Knochen und dem nah verwandten Werkstof Geweih geferigt werden, und sich häuig in römischem, aber auch germanischem Kontext inden lassen. Diese sind somit zumindest grob in ihrer Zeitstellung fassbar. Bei den heute noch vorliegenden 18 Knochenstücken aus dem germanischen Siedlungsareal von Hinsel sind zwar auch einige bewusste Modiikaionen durch Menschenhand erkennbar, diese Funde sind aber nicht als „Artefakte“ im engeren Sinne zu deuten, sondern als der typische Abfall frühgeschichtlicher Tierkörperzerlegung (Abb. 28). Auch eine erste Interpretaion aus den 1960er Jahren, bei der Knochen von jungen Hutieren als Stempel zur Keramikverzierung gedeutet wurden, muss nach heuiger Betrachtung kriisch gesehen werden. Insgesamt handelt es sich bei den vorhandenen Knochen auch nur um wenige, wahrscheinlich zufällig geborgene Stücke. Die allermeisten werden, dem damaligen Zeitgeist und den Umständen der Grabung geschuldet, ohne weitere Beachtung vor Ort verblieben sein. Damit ist zwar eine wichige und aufschlussreiche Quelle der Rekonstrukion früherer Lebenswelten weitgehend unerschlossen geblieben, einige Aussagen lassen sich aber dennoch trefen und am vorliegenden Material nachvollziehen. So liegen aus Hinsel neben Schädelresten und Zähnen auch Knochenstücke von großen Langknochen, von der Wirbelsäule und von Füßen vor, was belegt, dass ehemals ganze Tierkörper vor Ort verarbeitet worden sind. Dies entspricht den Erwartungen an eine Siedlung dieser Zeit. Sofern Knochen generell gut genug erhalten sind und ihre Menge weiterreichende Aussagen zulässt, lässt sich auch das Artenspektrum recht gut eingrenzen. Beispielsweise können so die Anteile von selbst gezüchteten Nutz- ieren und erjagten Wildieren ermitelt werden. Im germanischen Siedlungsraum waren vor allem Rind und Schwein die wichigsten Nutziere, die auch häuig bei Ausgrabungen nachgewiesen werden können; die Jagd spielte ofenbar nur eine geringe Rolle. Sofern größere Mengen an Knochen einer Nutzierart vorliegen, lassen sich z. B. auch speziische Unterschiede in den Wuchsformen ermiteln, die sich in verschiedenen kulturellen Kontexten durchaus unterscheiden können. So waren die Rinder römischer Zucht deutlich größer als diejenigen der einheimischen Germanen, was sich vielerorts belegen lässt. Wenn in grenznahen Regionen, wie der sogenannten „Hellwegzone“ dann gehäut Überreste von Tieren mitlerer Größe aufgefunden werden, lässt sich dies durchaus als mögliche Vermischung beider Zuchtlinien deuten. Liegen geeignete Merkmale vor, so lässt sich auch das jeweilige Schlachtalter der Tiere ermitteln. So zeigen z. B. Zähne ohne Abnutzung oder mit noch nicht vollständig abgeschlossener Entwicklung an, dass das jeweilige Tier bereits relativ früh der Fleischnutzung zugeführt worden und nicht zu Zuchtzwecken, für die Milchgewinnung oder schlicht als Arbeitstier längerfristig gehalten worden ist. Während Rinder, Schafe und Ziegen neben ihrem Fleisch auch noch weiteren Nutzen für die germanische Bevölkerung hatten, wurden Schweine als reine Fleischlieferanten gehalten und somit vergleichsweise früher geschlachtet. Säge- und Schnittspuren an Knochen können diese Verwertung direkt belegen. Zuweilen deuten verschiedene Spuren am selben Knochenstück auch verschiedene Nutzungsformen an, wie z. B. bei einem Zehenknochen eines Rindes aus Hinsel. So wurden neben Fleisch, Sehnen und Knochenmark sicher auch Felle, Hufe und Hörner als weiteres tierisches Rohmaterial weiterverarbeitet. Im Gegensatz zu den Knochen erhalten sich Artefakte aus diesen Materialien aber nur in Ausnahmefällen. Das volle Ausmaß der Tiernutzung kann somit zwar erahnt, nicht aber komplett nachvollzogen werden. Spuren anderer Art können jedoch noch davon berichten, was nach der Schlachtung bzw. nach der Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Abb. 28: Eine Auswahl der besser erhaltenen Knochen- und Zahnfunde aus Hinsel. Während allein sechs der Stücke als Fußknochen von verschiedenen Huftierarten angesprochen werden können (Schaf/Ziege, Schwein und Rind), darunter ein zweifach durchtrennter Rinderzeh (unten rechts), liegen auch zwei Backenzähne vom Rind vor. Der Zahn unten links stammt von einem noch nicht ausgewachsenen Tier, welches somit wohl relativ früh als Fleischlieferant genutzt worden ist. primären Nutzung mit den ierischen Überresten geschehen ist. Einige vollständig verbrannte Knochenfragmente aus Hinsel zeigen z. B. an, dass diese Stücke für längere Zeit in ein Feuer geraten sind, was bei Streufunden ohne genauen Kontext manchmal die Abgrenzung zu Resten (zerstörter) menschlicher Brandgräber erschwert. Bei völlig durchgeglühten und stark fragmenierten Knochenstücken kann somit nicht immer entschieden werden, ob es sich um menschliche oder um ierische Überreste handelt, was für die archäologische Interpretaion des Fundplatzes von großer Bedeutung wäre. Im Fall von Hinsel können jedoch die verbrannten Knochenreste eindeuig als ierischen Ursprungs besimmt werden. Diese reihen sich somit in das typische Spektrum einer germanischen Siedlung ein, in der für gewöhnlich Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen und Pferde gehalten wurden (siehe den Beitrag von Detlef Hopp in diesem Band), wie natürlich auch der Hund als ältester Begleiter des Menschen. Ot inden sich aber deutlich häuiger dessen Bissspuren an den übrigen Schlachtabfällen, als seine Skeletreste selbst. Auch bei den wenigen Knochen, die aus Hinsel vorliegen, indet sich solch ein zerkautes Knochenstück. Andere bekannte Tiere von Haus und Hof, wie z. B. Katzen und Hühner, entstammen römischem Kontext und sind daher anfangs nur selten auch von germanischen Bauern gehalten worden. Christian Meyer – Knochenfunde aus Überruhr-Hinsel Durch regionale und auch überregionale Vergleiche lassen sich besonders in „kulturellen“ Grenzsituaionen recht klare Unterschiede fassen, die im Verlauf des weiteren Zusammenlebens z. B. durch Übernahme als brauchbar angesehener Prakiken bzw. Wirtschatsformen immer mehr verwischen. Werden bei einer Ausgrabung auch die auf den ersten Blick unscheinbaren Knochenfunde systemaisch geborgen, lässt sich durch deren genaue Betrachtung eine ganze Reihe an Faceten des Alltags- und Wirtschatslebens vergangener Zeiten rekonstruieren. Literatur Brink-Kloke/Meurers-Balke 2003, 111–126 (M. Doll); BrinkKloke u. a. 2006, 34–49; Mirschenz 2013, 43 f. 29 Brukterer in Überruhr-Hinsel? Patrick Jung Als Bewohner der frühgeschichtlichen Siedlung von Überruhr-Hinsel werden gemeinhin Angehörige der Brukterer vermutet, die wiederum als germanischer „Stamm“ gelten. Sogar eine Straße, die im Bereich des Ausgrabungsgeländes verläut, wurde nach ihnen benannt (Abb. 29). So sicher diese einfach wirkende Aussage bei oberlächlicher Betrachtung auch zu sein scheint, so komplex ist die Thematik in Wahrheit. Geschichte und Siedlungsgebiete der Brukterer Unser Wissen über die Brukterer stammt ausschließlich aus schriftlichen Quellen. Dabei handelt es sich um kurze Textpassagen, die sich in den Werken griechischer oder römischer Autoren finden. Bedeutende Geographen und Geschichtsschreiber wie Strabo, Plinius oder Tacitus berichten über sie. Ein von einem Brukterer niedergeschriebenes Zeugnis ist nicht bekannt, weshalb unsere Informationen letztlich aus zweiter Hand und darüber hinaus oftmals tendenziös aus Sicht eines Gegners verfasst sind. Abb. 29. Straßenschild „Bruktererhang“ in Überruhr-Hinsel. Seit den Jahren um Christi Geburt gerieten die Brukterer (lat. Bructeri) mit den Römern immer wieder in Konflikte. In dieser Zeit siedelten sie noch in den Gebieten an der Ems sowie der mittleren und oberen Lippe. Vermutlich gab es auch verschiedene Arten des friedlichen Kontakts – etwa in Form von Handel –, worüber die Schriftquellen jedoch schweigen. Bei ihren Auseinandersetzungen konnten beide Seiten mehrmals kleinere oder größere Erfolge für sich verbuchen. So nahmen die Brukterer etwa an der sogenannten Varusschlacht 9 n. Chr. teil. Sie gelangten sogar in den Besitz eines erbeuteten Legionsadlers, den die Römer erst bei einem erfolgreichen Gegenschlag einige Jahre später zurückgewinnen konnten. Im Zusammenhang mit einer weiteren großen Auseinandersetzung zwischen Römern einerseits und einer Allianz germanischer Verbände mit unzufriedenen provinzialrömischen Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite – dem sogenannten Bataver-Aufstand 69/70 n. Chr. – ist uns eine der wenigen Persönlichkeiten aus den Reihen der Brukterer überliefert: Die Seherin Veleda, die nicht nur in religiösen Fragen sondern auch politisch und diplomatisch eine bedeutende Rolle spielte. Ende des 1. Jahrhunderts wurden Brukterer schließlich ohne Zutun der Römer in einer innergermanischen Auseinandersetzung schwer geschlagen und mussten infolgedessen möglicherweise Teile ihrer alten Gebiete aufgeben und nach Süden und Westen ausweichen; vielleicht hatten sich auch zuvor schon Teile der Brukterer auf den Weg gemacht. Wegen der anhaltend unruhigen Verhältnisse waren im erweiterten Vorfeld des Niederrheinlimes möglicherweise temporär größere Landstriche unbewohnt, was Neusiedler angelockt haben könnte. So wurden die im 1. Jahrhundert v. Chr. im heutigen Ruhrgebiet siedelnden Sugambrer 8 v. Chr. von den Römern geschlagen und große Teile von ihnen anschließend umgesiedelt. Die zu dieser Zeit ebenfalls in der Region beheimateten Marser wurden 14 n. Chr. als Vergeltung für die Varus-Niederlage stark dezimiert oder sogar ausgelöscht. Da die antiken Autoren jedoch aus Mangel an Interesse oder schlicht Unkenntnis nur wenige für uns verwertbare geographische Angaben festhielten, sind wir über die Lage der Handlungsorte und die Grenzen Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel der germanischen Siedlungsgebiete nicht unterrichtet. Anzunehmen ist jedoch, dass die Brukterer in der Folgezeit südlich der Lippe bis nahe an die Rheingrenze zogen. Eine spätantike Straßenkarte des 4. Jahrhunderts, die Tabula Peutingeriana, verzeichnet Burcturi im Rechtsrheinischen etwa ab der Höhe der Stadt Köln bis weit an den Mittelrhein hinauf. Auch in der späteren Kaiserzeit setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Römern und Brukterern fort. Ab dem 3. Jahrhundert formierten sich mehrere germanische „Stämme“ am Niederrhein zum Verbund der Franken, in dem auch die Brukterer aufgingen. Teile von ihnen müssen im 5. Jahrhundert ins Linksrheinische gezogen sein. Letzte Spuren der auf der rechten Rheinseite verbliebenen Brukterer inden sich in der historischen Überlieferung des frühen Mitelalters: Nachdem im späten 7. Jahrhundert erste Missionare bei ihnen gewirkt haten, wurden Boructuarii um 694/95 n. Chr. von angreifenden Sachsen unterworfen. Aus dem 9. Jahrhundert schließlich ist der Distrikt (lat. pagus) Borathra bekannt, der sich zwischen Lippe und Ruhr bis zum Rhein erstreckte und im Blick auf seine Namensgebung auf die Brukterer zurückgeführt wird. Die Identität der Brukterer Wir kennen also vor allem kriegerische Ereignisse, politische Handlungen oder bemerkenswerte Einzelepisoden aus der Geschichte der Brukterer, die von den antiken Autoren jedoch nur dann überliefert wurden, wenn sie die römische Seite direkt betrafen. Darüber hinaus lassen sich aus den Schriftquellen nur noch wenige Informationen über die Brukterer gewinnen. Im Kampf, der für das Leben der Männer sicher eine nicht unwichtige Rolle spielte, seien sie tüchtig gewesen; sie sollen sich sogar einmal auf der Ems mit den Römern ein Flussgefecht geliefert haben. Die besondere Rolle von weisen Frauen zeigen beispielhaft die Berichte von der Seherin Veleda. Mit Tamfana ist sogar eine Göttin namentlich bekannt, die bei den Brukterern großes Ansehen genoss. Man kannte zumindest im 1. Jahrhundert n. Chr. „Große“ und „Kleine Brukterer“ (lat. Bructeri maiores und minores) mit unterschiedlichen Siedlungsgebieten, verstand sie also nicht als nur eine einzige Gemeinschaft. Des Weiteren erfahren wir, dass sie von Königen (lat. reges) beherrscht wurden. Über die Art des Königtums, das nicht mit den uns Patrick Jung – Brukterer in Überruhr-Hinsel geläufigen neuzeitlichen und modernen Monarchien gleichgesetzt werden darf, sowie die Anzahl ihrer Könige sind wir jedoch nicht informiert. Es wäre denkbar, dass verschiedenen Kleingruppen der Brukterer verschiedene Kleinkönige vorstanden. Schlaglichtartig überliefert ist außerdem, dass im spätrömischen Heer Hilfstruppen aus den Reihen der Brukterer dienten. Das Vorhandensein solcher Einheiten im Sold des römischen Heeres spricht dafür, dass es auch in der Spätantike mehrere, eigenverantwortlich handelnde Brukterer-Gruppen nebeneinander gab – lagen doch die rechts des Rheins siedelnden „Stammesbrüder“ der Auxiliarsoldaten immer wieder in Konflikt mit den Römern. Über den Alltag der Menschen, ihre Religion oder ihr Selbstverständnis berichten die antiken Texte kaum etwas. Vor allem Letzteres wäre bei der Suche nach der Identität der Bewohner der Hinseler Siedlung des 2. bis 4. Jahrhunderts ausschlaggebend: Verstanden sie sich selbst als Brukterer? Und wenn ja, was bedeutete dies für sie? Leider lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Selbst die übliche Bezeichnung „Stamm“ ist nicht mehr als eine sprachliche Notlösung. Dem Begriff haftet die alte Auffassung an, es handele sich dabei um eine wenig komplex strukturierte Gruppe von Menschen, für deren Zusammenhalt besonders die Berufung auf eine gemeinsame Abstammung von Bedeutung sei. Die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb einer solchen Gruppe müssten also über einen langen Zeitraum eng verflochten und in sich geschlossen bleiben. Die historische Realität gestaltete sich aber vermutlich lexibler. Aus den Schritquellen geht hervor, dass germanische Gemeinschaten ot in Bewegung waren und ihre Siedlungsgebiete freiwillig oder gezwungenermaßen verlagerten – die Brukterer selbst sind ein gutes Beispiel hierfür. Solche eher mobilen sozialen Verbände waren häufig für die Aufnahme von Fremden sehr offen, solange dies den gemeinsamen Interessen diente. Es ist beispielsweise gut möglich, dass versprengte Gruppen der Marser oder Sugambrer Zuflucht bei ihren Nachbarn fanden. Vorgänge dieser Art konnten zu einer häufiger stattfindenden Vermischung von Bevölkerungen und deren jeweiligen Hintergründen führen – Migration und die daraus resultierenden Akkulturationsvarianten waren bereits in der Frühgeschichte ständig ablaufende Prozesse. Dies macht es bei der insgesamt nicht sehr dichten Quellenlage für die heutige Wissenschaft schwer, eine bestimmte vor- oder frühgeschichtliche Gruppe von Men- 31 schen eindeutig zu fassen. Letztlich ist sogar strittig, wann wir überhaupt von einer gemeinsamen Identität sprechen und somit eine Gemeinschaft als Ethnie bezeichnen können. Auf der Suche nach einer solchen Ethnie könnte die Sachkultur weiterhelfen. Zwar ist die Sphäre der geistigen Welt, darunter etwa die religiösen Vorstellungen der damaligen Menschen, weitestgehend verloren. Doch müsste sich eine zusammengehörige Gruppe nicht durch einheitliche Trachtelemente, Töpferwaren, Waffen und andere Aspekte ihrer materiellen Kultur den Archäologen gegenüber zu erkennen geben? Auch archäologisch nachweisbare Elemente der Bestattungssitten, also etwa die Art der Leichenbehandlung in Form von Verbrennung oder Körperbestattung, können aufschlussreich sein. In der Vergangenheit hat man versucht, durch die Bewertung solcher Charakteristika einzelne germanische Gruppen gegenüber anderen abzugrenzen. Wie sich jedoch schon seit langem gezeigt hat, können die von den antiken Autoren in größerer Zahl namentlich überlieferten Gemeinschaften nicht mit einzelnen Typen von Bodenfunden in Übereinstimmung gebracht werden. Aus archäologischer Sicht lassen sich die Brukterer lediglich den sogenannten Rhein-Weser-Germanen zuweisen, die sich vor allem durch die Verwendung einer bestimmten Art von Gefäßkeramik auszeichnen. Alles dies ist in wissenschaftlichen Kreisen seit langem bekannt, dennoch wird in populären Darstellungen die Verbindung der archäologisch erforschten Siedlung in Überruhr-Hinsel mit den literarisch überlieferten Brukterern meist aufrecht erhalten. Eine klare Entscheidung kann nicht herbeigeführt werden. Trägt man die uns bekannten Indizien zusammen, lässt sich das Ergebnis vielleicht so formulieren: Es ist nicht ausgeschlossen, dass in der Siedlung von Überruhr-Hinsel zumindest zeitweise Menschen lebten, die von den römischen Autoren als Angehörige der Brukterer aufgefasst wurden – vielleicht zusammen mit Resten anderer Gruppen, etwa der Sugambrer, Marser oder auch der bislang in diesem Text noch nicht erwähnten, an unterer Lippe und Ruhr siedelnden Chattuarier. Über alles Weitere, insbesondere die selbst empfundene Identität dieser Leute, lässt sich nur spekulieren. Literatur Schmidt 1938/40 [1970], 420–425; Neumann u. a. 1978; Will 1987, 38–44; Wolters 1990, 260–262; Tausend 2006; Mirschenz 2013, 14–16. 32 Patrick Jung – Brukterer in Überruhr-Hinsel Überruhr-Hinsel – Das Navalia des Ptolemaios? Hans-Jörg Nüsse Im zweiten Buch (Kap. 11) seines um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstandenen Werks zur Geographie behandelte der in Alexandria lebende Gelehrte Klaudios Ptolemaios den Raum jenseits der nördlichen römischen Provinzgrenzen: die Germania magna. Neben geographischen Angaben zu Bergen und Flussmündungen verzeichnete er dabei über 90 Orte (poleis) mit konkreten Koordinaten. Auch östlich des Niederrheins finden sich mehrere Nennungen von Orten. Navalia wurde auf der Grundlage geodätischer Berechnungen dabei jüngst hypothetisch mit der kaiserzeitlichen Siedlung von Überruhr-Hinsel im Stadtgebiet von Essen gleichgesetzt. Eine bis heute ungelöste Frage ist, was genau Ptolemaios unter dem Begrif polis (griech. = Stadt) verzeichnete. Er bediente sich hier eines für den mediterranen Raum gängigen und verständlichen Begrifs – keine bislang bekannte Siedlung aus Germanien ist jedoch nur annähernd mit den urbanen Strukturen der aniken Welt zu vergleichen. Ptolemaios lieferte hier keine weiteren Informaionen und stützte sich auf Angaben der ihm vorliegenden Primärquellen, er selbst hat Germanien nie gesehen. So sind bis heute auch keine befriedigenden Deutungen oder gar eine sichere Ideniizierung der ptolemäischen poleis gelungen. Es handelte sich ofenbar um Örtlichkeiten, die durch einen Bedeutungsüberschuss gegenüber ihrem Umfeld gekennzeichnet waren. Was diesen ausmachte bleibt recht spekulaiv. War es die Größe des Siedlungsplatzes, seine Funkion oder war letztlich sogar eine Kleinregion gemeint, die besonders dicht besiedelt war? Es müssen zumindest Plätze von gewisser überregionaler Bedeutung gewesen sein, um Eingang in das Werk des Ptolemaios gefunden zu haben. Dabei ist wahrscheinlich weniger die germanische Sicht ausschlaggebend gewesen als die Perspekive der Verfasser der geographischen Berichte. In den Quellen, die Ptolemaios zur Verfügung standen, wurden wohl vorrangig diejenigen Lokalitäten verzeichnet, die aus römischer Sicht als besonders relevant erschienen. Die Angaben entstammten zum einen Reiseberichten, zum anderen aber sicher auch den Aufzeichnungen aus der Phase der (militärischen) Erschließung des Landes. Den geographischen Daten des Ptolemaios wohnt eine allgemeine „Unschärfe“ inne, da er die Lage der poleis auf maximal fünf Bogenminuten genau verzeichnete. Daraus resuliert schon grundsätzlich ein recht großlächiges Zielgebiet für Lokalisierungsversuche, das einen Radius von bis zu rund 20 km erreichen kann. Hinzu tritt ein weiteres quellenkritisches Problem: Ptolemaios verwendete verschiedene Berichte, die „Karte“ Germaniens setzt sich daher aus verschiedenen Teilen zusammen. Neben individuellen Fehlern treten somit auch systematische Verschiebungen ganzer Teilbereiche auf. Derartigen systematischen Fehlern lässt sich mit mathematisch-geodätischen Rechenverfahren nachgehen. Dieser neue methodische Ansatz wurde jüngst im Rahmen eines Forschungsprojekts der Technischen Universität Berlin verfolgt. Doch verbleiben gerade im Fall Germaniens nur äußerst wenige eindeutige Identifizierungen, über die dann eine Lokalisierung weiterer Plätze gelingen kann. Denn im Gegensatz zu den römischen Provinzen mit zahlreichen namentlich bekannten Städten, die als verlässliche Berechnungsgrundlage herangezogen werden können, fehlen im Inneren Germaniens sichere Fixierungspunkte. Verlässlich lassen sich quasi nur die Flussmündungen in die Nord- und Ostsee sowie der Donauverlauf mit den ptolemäischen Koordinaten parallelisieren, vor allem die poleis „schwimmen“ bis zu einem gewissen Grad innerhalb des Gesamtraums. Von archäologischer Seite gestaltet es sich äußerst schwierig, geeignete Kriterien für die Gleichsetzung eines archäologischen Fundplatzes mit einer polis des Ptolemaios zu definieren. Hierbei muss zudem davon ausgegangen werden, dass sich sowohl römische Lagerstandorte der augusteischen Okkupationsphase als auch einheimische Siedlungsplätze dahinter verbergen. Letztere liefern in der Regel jedoch keine Befunde oder hinreichend stichhaltiges Fundmaterial, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, eine Siedlung als entsprechend bedeutsam zu bezeichnen. Wichtige Indizien liefern vielmehr die Gräber: mit den so genannten „Fürstengräbern“ könnten diejenigen gesellschaftlich herausragenden Persönlichkeiten greifbar werden, die – vor allem auch für die römische Seite – wichtige „politische“ Adressaten ihrer Zeit darstellten. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Da die Gräber vermutlich innerhalb der von ihnen zu Lebzeiten kontrollierten Einflussbereiche liegen, könnten die ptolemäischen Ortsnamen diese Territorien oder sogar einen konkreten Wohnsitz eines „Fürsten“ benennen. Derartige „Fürstengräber“ liegen für den Raum zwischen Rhein und Weser jedoch nicht vor, obwohl es sicherlich sozial hochrangige Familien gegeben haben wird. Somit entfällt dieses mögliche Indiz auf der Suche nach den poleis, die Ptolemaios in dieser Region verzeichnete. Es bleiben die Siedlungen selbst. Die bislang archäologisch großflächig untersuchten Siedlungsplätze geben jedoch nur bedingt eine graduelle Abstufung im Sinne einer klaren Siedlungshierarchie zu erkennen. Erst für das 3./4. Jahrhundert n. Chr. lassen sich durch römische Importfunde in den Siedlungen Ansätze für eine Differenzierung erkennen, dies trifft für die Situation im 1. Jahrhundert n. Chr., auf die die ptolemäischen Angaben zu beziehen sind, jedoch noch nicht im vergleichbaren Maß zu. Das regionale Besiedlungsbild ist durch weilerartige Siedlungen mit eher verstreut liegenden Gehöften geprägt, kompaktere dorfartige Siedlungsformen, die aus anderen Bereichen der Germania magna durchaus bekannt sind, treten nicht auf. Insofern erlaubt die recht einheitliche Besiedlungsstruktur ohne erkennbare Zentren (vorerst) nur eine äußerst vage Verknüpfung archäologisch bekannter Siedlungsplätze mit den ptolemäischen poleis. Dies trifft auch auf Navalia zu. Überruhr-Hinsel stellt nur eine von mehreren Identifikationsmöglichkeiten dar, neue Grabungsergebnisse könnten jederzeit zu einer anderen Bewertung führen und eine Neuberechnung der Koordinaten für die gesamte Region notwendig machen. Man wird sicherlich nicht fehlgehen, hinter Navalia eine einheimische Siedlung an der Ruhr (oder auch der Lippe) zu vermuten, zumal ein onomastischer Bezug zur Schifffahrt bzw. einem schiffbaren Fluss im Namen zu erkennen ist. Trotz der skizzierten Problematik bleibt eine wichtige Erkenntnis bezüglich der in Westfalen zu lokalisierenden poleis: die Orte spiegeln nach den geodätischen Berechnungen offenbar keinen der entlang der Lippe errichteten augusteischen Lagerstandorte wider. Hier ergaben sich keinerlei überzeugende Kongruenzen. Insofern scheinen die poleis tatsächlich auf einheimische germanische Lokalitäten Bezug zu nehmen. Vermutlich gehören sie in einen zeitlichen Horizont, der auf die militärische Okkupationsphase unter Augustus folgte und von einer möglichen wirtschaftlichen Durchdringung des Raums von römischer Seite zeugt. Navalia war vermutlich einer der Plätze unter ihnen, der damals in den Fokus der Römer rückte. Literatur Nüsse u. a. 2011. 34 Hans-Jörg Nüsse – Überruhr-Hinsel – Das Navalia Hans-Jörg Nüsse – Überruhr-Hinsel – Das Navaliades desPtolemaios? Ptolemaios Zur römischen Kaiserzeit im Essener Stadtgebiet Detlef Hopp Die Anfänge archäologischer Forschung reichen in Essen weit in das 19. Jahrhundert zurück. Aber erst unter Dr. Ernst Kahrs (1876–1948), der in Essen seit 1914 Museumsleiter und ab 1920 Direktor des Ruhrlandmuseums war, nahm die Archäologie bis in die 1940er Jahre einen gewaltigen Aufschwung. Doch blieben insgesamt neu entdeckte Fundstellen der römischen Kaiserzeit eine Seltenheit. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Archäologie in Essen nur ein sehr geringer Stellenwert eingeräumt: Der Wiederaufbau der in großen Teilen kriegszerstörten Stadt wurde jedenfalls kaum für einen Blick in den Boden genutzt. Eine der wenigen Ausnahmen blieb die in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre in Überruhr-Hinsel freigelegte germanische Siedlung. Erst seit 1992 werden wieder, trotz eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten, systematisch Bauarbeiten durch die Essener Stadtarchäologie begleitet und archäologische Untersuchungen durchgeführt. Bei diesen und anderen Tätigkeiten – und beispielsweise auch durchgeführten Prospektionen – wurden im Laufe der Jahre auch Fundstellen der römischen Kaiserzeit entdeckt. Im Ruhrgebiet umfasst die römische Kaiserzeit etwa den Zeitabschnit zwischen dem ausgehenden 1. Jahrhundert v. und dem 5. Jahrhundert n. Chr. Nach Caesars Eroberung Galliens, zwischen 58 und 50 v. Chr., wurde auch der linke Niederrhein in das Römische Reich eingegliedert und durch den Limes an seiner Grenze geschützt. Unmittelbar am Rhein entstanden sowohl römische Lager und Kastelle, die das linksrheinische Zivilland schützten, als auch die ersten Städte: Köln (Colonia Claudia Ara Agrippinensium) und Xanten (Colonia Ulpia Traiana). Erhaltene schritliche römische Quellen geben einen Einblick in die Geschichte und durch sie kennen wir die Namen germanischer Stämme, die rechtsrheinisch siedelten. Zu nennen sind beispielsweise die Sugambrer, die aus ihren Gebieten, zwischen Ruhr und Sieg, 55 und 53 v. Chr. an den Niederrhein vordrangen. Mit der Niederlage des Varus im Teutoburger Wald 9 n. Chr. gaben die Römer ihre Poliik, Germanien bis zur Elbe zu besetzen, auf. 14 bis 16 n. Chr. drangen jedoch römische Legionen unter Germanicus vom Rhein aus auf das rechtsrheinische Gebiet vor, wobei die Truppen, historischen Quellen zu Folge, die bekannten Abb. 30: Ausgrabungen in Burgaltendorf 1994. Wege mieden. Das römische Heer durchquerte dabei die silva Caesia, den Heissi-Wald, der sich heute noch in dem Ortsnamen Heisingen wiederindet. Sie sießen weit in germanisches Gebiet vor und dabei auf die Marser, die vernichtend geschlagen wurden. Wahrscheinlich betraten römische Soldaten sogar Essener Boden. Nach dem Bataveraufstand, zwischen 68 und 70 n. Chr., in den die rechtsrheinisch siedelnden Brukterer eingriffen, entschärfte sich die Lage am Rhein. Etwa um 85 n. Chr. wurden die linksrheinischen Gebiete zur römischen Provinz Germania inferior, mit Köln als Hauptstadt. Auch der rechtsrheinische Raum, die sogenannte Germania libera, standen unter römischem Einfluss. Der Stammesverband der Franken, denen neben den Brukterern beispielsweise die Chamaven und Chattuarier angehörten, zerstörte zwar 260 n. Chr. das Lager Gellep (Gelduba) bei Krefeld, doch sind auch das 3. und 4. Jahrhundert in unserem Raum als friedlich zu bezeichnen. Ab ca. 353 n. Chr. drangen dann Germanen aus den Gebieten östlich des Rheins an den Limes vor, zerstörten diesen und verwüsteten ganze Landstriche. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts zogen sich schließlich die römischen Truppen vom Niederrhein zurück und die Franken Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel drangen allmählich in die linksrheinischen, römischen Gebiete vor. Im Essener Stadtgebiet konzentrieren sich die kaiserzeitlichen Fundstellen südlich der Ruhr. Dass diese aber im Süden der Stadt gleichmäßiger verteilt zu sein scheinen, ist sicherlich ein Problem der Essener Forschung und besonders durch die Industrialisierung bedingt. Vor allem im Essener Norden wurden durch sie große Gebiete zerstört, ohne dass hier archäologische Beobachtungen gelangen oder in naher Zukunft noch gelingen könnten. In Burgaltendorf wurden 1993 und 1994 Siedlungsspuren aus vorrömischer und frührömischer Zeit entdeckt (Abb. 30). In den Abfallgruben der in Teilen untersuchten Siedlung wurde einheimisch-germanische und importierte römische Keramik der frühen römischen Kaiserzeit gefunden (Abb. 31). In diesen Zeitabschnitt gehört anscheinend ein großes dreischiffiges Haus. Allerdings waren die Erhaltungsbedingungen ausgesprochen schlecht, sodass die Rekonstruktion nicht als gesichert angesehen werden kann. Interessant sind die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungen: Beispielsweise konnte durch eine Analyse des ge- Abb. 31: Ausgrabung einer Grube in Burgaltendorf. borgenen Knochenmaterials nachgewiesen werden, dass in der Siedlung Hunde, Rinder, Schweine aber auch Pferde gehalten wurden. Schon 1954 war beim Bau der Kläranlage in Kettwig ein Grab gefunden worden: Es handelt sich um den Rest eines germanischen Brandgrabes aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. 1999 und 2000 konnten dann bei der Erweiterung der Kläranlage erneut Funde, darunter auch ein wenig Leichenbrand, geborgen werden. Südlich der Ruhr, aus Kettwig vor der Brücke, stammen ebenfalls importierte und germanische Keramik- und Metallfunde des 1. bis 4. Jahrhunderts, die – wie beispielsweise auch in Hinsel oder Burgaltendorf durch Ausgrabungen erschlossen – auf eine Besiedlung des Raumes südlich der Ruhr in der Kaiserzeit schließen lassen (Abb. 32). Abb. 32: 2010 in Kettwig durch Michael Bauer entdeckte Attasche mit Medusenhaupt. 36 Aber auch nördlich der Ruhr liegen aus Freisenbruch (Siedlungsreste), der Innenstadt (Einzelfunde), aus Steele (Münze) und aus Vogelheim (Grabreste und Einzelfunde) Funde und Befunde vor, die belegen, dass in Essen mit einer größeren Dichte germanischer Siedlungen zu rechnen ist. Detlef Hopp – Zur römischen Kaiserzeit im Essener Stadtgebiet Abb. 33: Untersuchungen in Freisenbruch 2004. Freilegung des Sechs-Pfosten-Baus. So konnten 2004 in Freisenbruch Reste eines Gehöftes untersucht werden. Hier waren allerdings wegen des intensiven Ackerbaus in den vergangenen Jahrhunderten und starker Hangneigung die Erhaltungsbedingungen äußerst schlecht. Meist waren die Befunde, darunter Spuren von Pfosten und Gruben, nur wenige Zenimeter ief erhalten. Einige lassen sich wahrscheinlich zu einem dreischiigen Gebäude ergänzen, das ca. 6 m breit, etwa 20 m lang und von Nordosten nach Südwesten ausgerichtet war. Vergleiche zu dieser Hausform sind aus den germanischen Gebieten Wesfalens und den Niederlanden bekannt. Fünf weitere Pfostengruben gehören anscheinend zu einem Sechspfostenbau, der häuig vorkommt (Abb. 33). Insgesamt wurden nur sehr wenige Funde geborgen. Die Keramik, fast ausschließlich Überreste einheimisch-germanischer Ware, erlaubt eine grobe Daierung in die römische Kaiserzeit, etwa vom 2. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. Keiner der oben genannten Fundplätze gilt aber als so gut untersucht wie die Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre ausgegrabene Siedlung in Überruhr-Hinsel: Mehrere Bauten, zahlreiche Siedlungsgruben aber beispielsweise auch ein Brandgrab wurden gefunden. Neben Pfostenhäusern Detlef Hopp – Zur römischen Kaiserzeit im Essener Stadtgebiet wurden auch in den Boden eingeiete, sogenannte Grubenhäuser nachgewiesen. Die Funde, darunter bemerkenswert viele Imporfunde, erlauben eine Daierung der Siedlung vom 2. bis 4./5. Jahrhundert und lassen auf einen bescheidenen Wohlstand der hier lebenden Germanen schließen. Zusätzlich zeigt die Verteilung der oben genannten Fundstellen deutlich, dass der Hellweg spätestens in der Kaiserzeit zu einer wichigen Ost-West-Handelsverbindung geworden war, da sich einige der Fundplätze – wie der beim Bau eines Hauses vor 1927 in Steele gefundene römische As – direkt an seinem vermuteten Verlauf nördlich der Ruhr beinden. Abschließend ist anzumerken, dass die meisten der seit 1992 entdeckten Fundplätze nicht vollständig untersucht sind, sodass sich hier in Zukunt für Universitäten ein reiches Betäigungsfeld erschließt. Literatur Brand/Hopp 1995, 47–58; 81–98; Hopp/Trümpler 2001; Buhren/Hopp 2004; Schumacher 2005. 37 Das Ruhrgebiet in römischer Zeit Ein Überblick Manuela Mirschenz Während des 1. bis 4. Jahrhunderts n. Chr. verlief die Grenze zwischen dem Römischen Reich und dem „Barbaricum“ durch den Westrand des heutigen Ruhrgebietes. Während das linke Rheinufer mit zahlreichen Militärlagern und den Koloniestädten Köln und Xanten einen repräsentativen Saum römischer Macht und Kultur bildete, blieb das Gebiet östlich des Stroms infolge der Varusniederlage einer scheinbar freien Entwicklung überlassen, über die wir nur spärlich durch Schriftquellen informiert sind (Abb. 34). Mit einem breit angelegten Überblick über den aktuellen Forschungsstand ergibt sich ein neues Bild des Besiedlungsprozesses, der Nutzung natürlicher Ressourcen und der kulturellen Einflüsse, welche sowohl von römischer als auch von innergermanischer Seite auf die Region zwischen Lippe und Wupper einwirkten. Das Siedlungswesen Mehr als 100 Fundorte im rechtsrheinischen Ruhrgebiet zwischen Lippe und Wupper können als germanische Siedlungen der römischen Kaiserzeit (1. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) angesprochen werden (Abb. 35). Ihre Gemeinsamkeiten beschränken sich auf die Positionierung an kleineren Fließgewässern, den Nachweis der Pfostenbauweise und das Fehlen fortifikatorischer Anlagen. Letzteres deutet auf eine gewisse friedliche Koexistenz zum benachbarten Imperium Romanum hin. Aus der Beobachtung, dass sich zwischen Ruhr und Lippe Siedlungsspuren und vor allem Fundstücke römischer Provenienz verdichten, ist in der Vergangenheit schon häuig auf eine dem historischen Abb. 34. Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana, einer überlieferten Straßenkarte des späten 4. Jahrhunderts n. Chr. Während das linksrheinische Gebiet detailliert kartiert ist, wird das rechtsrheinische Gebiet nordöstlich von Köln („Agripina“) lediglich als „Francia“ ausgewiesen. Ungeschriebene Geschichte(n) – Die Siedlung der römischen Kaiserzeit in Überruhr-Hinsel Abb. 35. Die Gesamtbesiedlung während der römischen Kaiserzeit im Ruhrgebiet ohne zeitliche Differenzierung. Siedlungsnachweise mit Befunden (schwarz) und befundfreie Fundstellen mit siedlungscharakteristischem Material (weiß). Hellweg entsprechende römisch-germanische Handelsroute geschlossen worden. Hier ist jedoch eine diferenzierte Betrachtung der Siedlungschronologie notwendig. Essen-Überruhr-Hinsel und zahlreiche andere Siedlungen entstehen in einer allgemein expansiven Phase, die mit Siedlungsexpansion und Prosperität im benachbarten Imperium Romanum parallel einhergeht. Darauf folgt in den Rheinniederungen – dem direkten Limesvorland – eine drastische Entsiedelung ab der Mitte des 3. Jahrhunderts. Im zentralen Ruhrgebiet hingegen besteht ein großer Teil der Siedlungen über das 3. und 4. Jahrhundert hinaus fort. Die räumliche Distanz zur Grenze ist jedoch kein Indiz für eine Distanzierung in den grenzüberschreitenden Beziehungen. Im Gegenteil sind gerade für die Spätanike zahlreiche Gemeinsamkeiten in der Sachkultur und im ökonomischen Handeln bezeugt. Das Siedlungsbild ist lediglich ein Beleg dafür, dass die westliche Hellwegzone zumindest in der Spätantike nicht als Transitzone zwischen dem Imperium Romanum und dem Inneren der Germania magna, sondern als autarke Siedlungskammer betrachtet werden muss. Dafür spricht auch, dass sich die Komplexe mit Gebäuderesten und damit die permanenten Siedlungsspuren hier konzentrieren. Im Quervergleich der inneren Siedlungsstrukturen ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild. Es kom- Manuela Mirschenz – Das Ruhrgebiet in römischer Zeit men ein-, zwei- und dreischiige Befunde in jeder Zeitstellung vor. Während der ersten Jahrhunderte n. Chr. gelten die dreischiigen Pfostenhausgrundrisse als charakterisisch für den Küstenraum, doch difundiert dieses Bild im Ruhrgebiet, sodass man hier nicht wie in vielen anderen Gebieten der Germania magna von einer einheitlichen „Hauslandschaft“ sprechen kann. Häuser, die über eine innere Pfostenreihe verfügen und somit als zweischiffige Grundrisse bezeichnet werden, sind im Ruhrgebiet zwar schon in der vorrömischen Eisenzeit und frühen Kaiserzeit verbreitet, doch unterscheiden sich jene Grundrisstypen von den uneinheitlichen Erscheinungsformen der mittleren und späten Kaiserzeit. Einschiffige Grundrisse (ohne Binnengliederung) sind frühestens ab dem römischen Kultureinfluss im Niederrhein- und Lippegebiet nachweisbar und werden offenbar über einen sehr langen Zeitraum hinweg genutzt und weiterentwickelt. Darüber hinaus zählen Speicherbauten (Vier- und Sechspfostenspeicher) sowie Gruben und Grubenhäuser zum charakteristischen Befundspektrum. Sämtliche ebenerdige Hauskonstruktionen bestanden aus Holzpfosten, die vertikal in den Boden eingetieft waren und sich als Pfostenlöcher erhalten haben. Mehrheitlich ist die Verwendung rundlicher, naturbelassener Stämme zu erkennen. Nur in 39 wenigen Siedlungen wurden auch formbehauene (vierkantige) Holzstämme eingesetzt, deren Spuren denen frühkaiserzeitlicher Pfostenbauten im Imperium Romanum ähneln. Von den Wandverbindungen hat sich vereinzelt Staklehm erhalten. Reste von Kalkmörtel aus verschiedenen Siedlungskontexten deuten auf verputzte Innenräume hin. Als Dachbedeckung wird allgemein Stroh angenommen. Ziegel und Steine können trotz der Nähe zum Imperium Romanum nicht als Baumaterial bezeugt werden. Rechteckige Gruben, die deutlich unter dem alten Niveau lagen, und zum Teil mit Pfosten versehen waren, werden in der Regel als Grubenhäuser gedeutet. Sie zählen in Westfalen bereits zum Befundspektrum späteisenzeitlicher und frühkaiserzeitlicher Siedlungsplätze und sind auch in jünger datierten Komplexen der ersten vier nachchristlichen Jahrhunderte häufig anzutreffen. Das vollständige Fehlen von Grubenhausbefunden in einer Siedlung kann – wie im Falle der Siedlungen Kamen-Westick oder Castrop-Rauxel-Ickern mit den jeweiligen hydrologischen Bedingungen am Ort erklärt werden. Grubenhäuser stehen nicht selten mit einem Gebäudeensemble in Verbindung und zählen tendenziell zu den Werkplätzen der Siedlungen. Oft finden sich Anzeichen von Textilverarbeitung, wie Spinnwirtel oder Webgewichte in den Grubenhäusern. In anderen Grubenhauskomplexen gefundene Rotlehmkonzentrationen, Schmelztiegel und Bronzeobjekte deuten dagegen auf Buntmetallverarbeitung und -recycling hin. Auf Verhüttungsvorgänge, welche offenbar ebenfalls in Grubenhäusern verrichtet werden konnten, lassen Funde von Schlacke in Vergesellschaftung mit Mahlsteinen und Raseneisenerz schließen. In vielen Siedlungen wurde Brauneisenstein bzw. das in nahezu unbegrenzter Kapazität anstehende Rasenoder Sumpfeisenerz angetroffen. Bei der Beurteilung ökonomischer Kriterien muss strikt zwischen den überaus günstigen Potentialen und den tatsächlichen Nachweisen differenziert werden. Die landschaftliche Prägung durch den Mittelgebirgsraum schränkte die Besiedlung auf den vorgelagerten Lössrand ein. Diese Zone selbst bot seit jeher ein hohes Potential an fruchtbaren Abb. 36. Römische Scheibenfibel mit Millefiori-Einlagen im Schachbrettmuster, 2. bis 3. Jahrhundert n. Chr. (vergrößert), Fundort Kamen-Westick. 40 Manuela Mirschenz – Das Ruhrgebiet in römischer Zeit Agrarflächen, ein weit verzweigtes Gewässernetz, Solequellen und Zugang zu den Rohstofflagerstätten des rechtsrheinischen Schiefergebirges. Sicher zu bestätigen sind neben den besagten Aktivitäten in der Metallgewinnung und im Buntmetallrecycling sowie in der Textilherstellung auch Getreideanbau und Viehzucht. Mancherorts ist zu erkennen, dass bei den landwirtschaftlichen Produkten über das subsistenzwirtschaftliche Maß hinaus produziert wurde. In besonderer Weise trifft dies auf die Art der Rinderzucht zu, welche nach Ausweis mittelwüchsiger Mischrassen und archäozoologisch ermittelter Schlachtreife in vereinzelten Kontexten des 4. Jahrhunderts n. Chr. auf die Fleischproduktion ausgerichtet war. Solche züchterischen Fertigkeiten konnten nur über einen Wissenstransfer aus dem provinzialrömischen Raum erworben worden sein. Sachkultur Etwa ab der Zeitenwende siedelte zwischen Rhein und Weser eine Bevölkerung, die bisher als archäologische Gruppe der „Rhein-Weser-Germanen“ angesprochen worden ist. Die Grenzen einer angenommenen rhein-weser-germanischen ‚Kultur‘ bleiben allerdings aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der darin anzutreffenden Heterogenität der Keramik, der Siedlungs- und Hausformen sowie der Bestattungssitten nur unscharf zu bestimmen. Als verbindendes Element wird nach Rafael von Uslar eine Formengruppe handgemachter Keramik betrachtet, die zwar schwerpunktmäßig in Westfalen, jedoch auch bis in die Küstenregion sowie nach Thüringen verbreitet war. Regionale Provenienzen, z. B. anhand von Rand- und Verzierungsformen, sind bis heute nicht zweifelsfrei zuzuordnen. Die von Rafael von Uslar definierten sechs Hauptformen und diversen Untervarianten lassen sich nur grob in das 1. bis 3. Jahrhundert datieren, jedoch nicht feinchronologisch aufschlüsseln. Ne- Abb. 37. Fundmaterial römischer Provenienz im Ruhrgebiet. Ein maximaler Anstieg ist im 4. Jahrhundert zu verzeichnen. Manuela Mirschenz – Das Ruhrgebiet in römischer Zeit 41 ben dieser handgemachten Keramikformengruppe spielt ab der Spätantike die Drehscheibenkeramik eine wichtige Rolle. Es sind vor allem die mit Einstichmustern verzierten Terra-Nigra-Schüsseln, welche nicht nur in Überruhr-Hinsel, sondern in vielen Siedlungen des Ruhrgebietes zahlreich zutage treten und Siedlungsaktivität im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert n. Chr. indizieren (siehe den Beitrag von Clarissa Agricola in diesem Band). Im geographischen Kerngebiet der rhein-wesergermanischen Gruppe mangelt es an eigenen Fibelformen. Elbgermanische Knieibeln und römische Fibeln (Abb. 36) deuten auf unterschiedliche Fremdimpulse ab dem späten 2. Jahrhundert hin. Recht häuig kommen Fibeln mit hohem Nadelhalter vor. Es handelt sich um eine Leiform des 3. Jahrhunderts, die stark an der Unterelbe verbreitet ist. Im 4. und frühen 5. Jahrhundert n. Chr. wurden Fibeln mit kastenförmigem Nadelhalter zu einem grenzübergreifenden Trachtelement zwischen dem Rheinland (z. B. Köln, Neuss, Krefeld-Gellep, Xanten) und Wesfalen (z. B. Castrop-Rauxel, KamenWesick, Soest). Sie sind in einen größeren Kontext mit anderen Trachtelementen sowie der besagten Terra-Nigra-Keramik zu stellen, da dieses Fundgruppen die Entstehung von etwas Neuem und Grenzübergreifendem repräsenieren. Römisches Fundmaterial tritt im rechtsrheinischen Ruhrgebiet besonders zahlreich auf. Außer Münzen überschritten römische Artefakte offenbar kontinuierlich die Rheingrenze zwischen Lippe- und Wuppermündung. Das chronologische und typologische Profil der römischen Funde des Ruhrgebietes unterscheidet sich von anderen Fundräumen in der Germania magna. Einen Schwerpunkt bildet Material des 4. Jahrhunderts (Abb. 37). Besonders das Typenspektrum der römischen Gebrauchskeramik ist vergleichsweise breit aufgestellt. Alltagskultur dominiert deutlich vor Prestigeobjekten wie Bronzegefäßen oder Feinkeramik. Doch auch die Terra Sigillata lässt erkennen, dass sie leicht erhältlich und in einem breiten Typenspektrum verfügbar war. Die Reihen römischer Münzen laufen ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. parallel, sodass für diesen späten Epochenabschnitt sogar ein monetärwirtschaftlicher Anschluss an das Imperium Romanum diskutiert wird. Bestattungssitten Zu den älteren Traditionen des rechtsrheinischen Ruhrgebietes bzw. des sogenannten „rhein-wesergermanischen“ Raumes zählt die Beisetzung der Verstorbenen im Brandgrubengrab. Doch schon in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. treten andere Brandbestattungsformen hinzu, deren Parallelen sowohl in römischen und als auch in östlichen Nachbargebieten der Germania magna gefunden werden können. Aus einzelnen nahezu beigabenlosen Urnengräbern, die ab der Mitte des 2. Jahrhunderts erstmals rechts des Rheins auftreten, kann möglicherweise auf eine Niederlassung von Individuen oder Kleingruppen geschlossen werden, die Gewohnheiten aus dem linksrheinischen Nachbarraum mitbrachten. Hinzu gesellen sich ab dieser Zeit auch Brandschüttungsgräber, die bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts eher in der östlichen rheinweser-germanischen Randzone im thüringischen Raum anzutreffen waren. Sie kommen dann im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts weit gestreut von Nordostwesfalen bis in den Kastellfriedhof von Krefeld-Gellep vor. Häufchen von ausgelesenem Leichenbrand, deren Behältnisse fehlen oder aufgrund ihrer organischen Beschafenheit restlos vergangen sind, gehören zu den Erscheinungen, die erst frühestens an der Wende zum 3. Jahrhundert in Krefeld-Gellep sowie zwischen Lippe und Wupper autreten. Die tradierte Brandgrubenbestatung wird jedoch weiter über das 4. Jahrhundert hinaus im rechtsrheinischen Raum geplegt. Insgesamt spricht dies für eine ab dem späten 2. Jahrhundert einsetzende Durchmischung konstanter und neuer Bevölkerungselemente im rechtsrheinischen Ruhrgebiet. Zusammenfassung Das Ruhrgebiet war nach 16 n. Chr. über vier Jahrhunderte lang vielschichigen Einlüssen sowohl von innergermanischer als auch von römischer Seite ausgesetzt. Die aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen stammenden Akteure gestalteten langfrisig einen Handlungsraum, in dem spätestens im fortgeschritenen 4. Jahrhundert n. Chr. etwas Neues und Grenzübergreifendes entstanden war. Literatur von Uslar 1938; Wilhelmi 1967; Stupperich 1980; Hopp/ Trümpler 2001; Mirschenz 2013. 42 Manuela Mirschenz – Das Ruhrgebiet in römischer Zeit Anhang Verzeichnis weiterführender Literatur Alföldi/von Kaenel 2012: M. Alföldi/H.-M. von Kaenel (Hrsg.), Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland VI 3/4, Reg. Bez. Düsseldorf (ohne Krefeld-Gellep, Neuss und Xanten) (Mainz 2012). Bechthold 1966: G. Bechthold, Eine germanische Siedlung auf Essener Boden. Mitt. Ruhrland- u. 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S. 2 Foto: Elke Brochhagen Abb. 1, 5 Archiv Ruhr Museum Abb. 2, 4 Darstellung aus HK Luftbilder/Karten Lizenz Nr. 318/2014 mit Genehmigung vom Amt für Geoinformation, Vermessung und Kataster der Stadt Essen vom 06.06.2014 (Eintragung der Grabungsflächen Abb. 4: Andreas Nehen M.A., LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland) Abb. 3 Geobasisdaten der Kommunen und des Landes NRW © Geobasis NRW 2013 Abb. 6 Nach Janssen 1968; grafische Überarbeitung: maßwerke GbR Abb. 7 Nach Schumacher 1970 Abb. 2; grafische Überarbeitung: maßwerke GbR Abb. 8 LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland, Bild: Patrick Lackner Abb. 9–13, 15, 18, 20, 22, 25a, 27, 28 Ruhr Museum, Foto: Rainer Rothenberg Abb. 16, 29 Ruhr Museum, Foto: Patrick Jung Abb. 17 Überruhrer Bürgerschaft e.V., Zeichnung: Christoph Heuer Abb. 21b Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (aus: M. Becker, Das Fürstengrab von Gommern 1. Veröff. Landesamt Denkmalpfl. u. Arch. Sachsen-Anhalt – Landesmus. Vorgesch. 63 (Halle 2010) Taf. 40; 41 Abb. 25b LVR-LandesMuseum Bonn, 28372, Foto: Claudia Klages Abb. 30, 31, 33 Detlef Hopp Abb. 32 Peter Hadasch Abb. 34 Tabula Peutingeriana, Segmentum II Abb. 35 Manuela Mirschenz, Karierung: Christoph Duntze Abb. 36 Haus der Stadtgeschichte Kamen, Foto: Manuela Mirschenz Abb. 37 Manuela Mirschenz Clarissa Agricola (Insitut für archäologische Wissenschaten, Abteilung II, Goethe Universität Frankfurt a. M.) Anhang Mirschenz – Anhang Manuela Kala Drewniak (LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland, Abteilung Prospektion) Christoph Heuer (Essen) Dr. Detlef Hopp (Institut für Denkmalschutz und Denkmalpflege/Stadtarchäologie, Essen) Dr. Patrick Jung (Ruhr Museum, Essen) Christian Meyer (Halle) Dr. Manuela Mirschenz (LVR-LandesMuseum Bonn) Prof. Dr. Hans-Jörg Nüsse (Institut für Prähistorische Archäologie der FU Berlin) 45