M. Lurje [Lurie], Die Suche nach der Schuld (München/Leipzig 2004) 337–383
3.3. Die èmart¤a und die ékras¤a
3.3.1. Das Problem: Twining
Das Ergebnis, zu dem Arbogast Schmitt und seine Schülerin Viviana Cessi
bei der Interpretation des 13. Kapitels der Poetik kommen, ist, wie dargetan,
dem von Dacier und Lefèvre erstaunlich ähnlich. Im Unterschied zu Dacier
und Lefèvre jedoch geht Cessi in ihrer Untersuchung nicht direkt vom adikema im Affekt aus EN V 8 (1135b 19–24) aus, sondern führt die hamartia
des 13. Kapitels der Poetik auf die Unbeherrschtheit, ékras¤a, zurück. Den
tragischen Helden der aristotelischen idealen Tragödie will sie dementsprechend als einen ékratÆw verstanden wissen, dessen leichte, nichtsdestoweniger aber von ihm zu verantwortende Charakterfehler zur èmart¤a führen,
für die er so unverhältnismäßig büßen muß. 1
Die Idee, den tragischen Helden des 13. Kapitels als einen ékratÆw und
dessen hamartia als eine aufgrund der ékras¤a vollzogene Handlung zu
deuten, ist an sich natürlich nichts weniger als neu. Bereits Calepio scheint
1732 die hamartia des 13. Kapitels der Poetik andeutungsweise mit der incontinenza des 7. Buches der Nikomachischen Ethik in Verbindung gebracht
zu haben. 2 Sieht man jedoch von Calepios Andeutungen ab, scheint die
ékras¤a vor allem von Thomas Twining im Jahre 1789, also zwei Jahrhunderte vor Cessi, ins Spiel gebracht worden zu sein.3 In seinem Kommentar
zur Poetik ist nicht mehr von den drei von Dacier postulierten Bedeutungen
der hamartia die Rede, sondern einzig und allein vom éd¤khma diå pãyow
1
2
3
Vgl. oben S. 268–270.
Calepio (1732) 10f.: «e va quindi interpretando che Aristotele con la voce amãrtema
[sic] non abbia voluto prescrivere se non | un errore involontario, come falsamente ha
creduto anche il nostro Castelvetro, ed altri prima di lui seguiti ultimamente anche dal
Dacier nella sua traduzione. Il costoro sbaglio è nato per mio aviso dalla contrapposizione di queste parole del testo mØ diã moxyer¤an [sic], éllå diÉ èmart¤an megãlhn (non
per malvagità ma per notabile trascorso): ma la voce moxyer¤a [sic] non significa già la
malizia d’un delitto, ma l’abito vizioso: perciocché secondo il sistema della morale
Aristotelica, un sol atto, ancorché pravo non rende l’uomo d’ordinario malvagio. La
malvagità però come abituale s’ oppone alla colpa accidentale, non ad un’ innocente errore. Comprova ad evidenza il mio sentimento l’uso che Aristotele fa della medesima
dizione nella morale, massimamente nel lib. 7. c. I ove diversificando l’incontinenza da
moxyer¤a [sic], oppone questa seconda all’abito della virtù»; s. dazu oben S. 182–184.
Twining (1789) 308–309; von Cessi merkwürdigerweise nicht berücksichtigt. Generell
zu Twining als Philologen s. Sandys (1908) II, 420f.; zu seiner kommentierten Übersetzung der Poetik s. Herrick (1930) 138–141.
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D. Das höllische Weben
(adikema «a») in EN V 8. 1135b 19–24. Er macht zwar Dacier zu Recht zum
Vorwurf, daß dieser das freiwillige adikema im Affekt für involontaire ausgeben wollte, während es nach Aristoteles «not involuntary, but only not §k
proair°sevw» ist. 4 Da aber Twining die These von Robortello aufgab, daß
nur unfreiwillige Handlungen für die hamartia des 13. Kapitels in Frage
kommen, weil nach Aristoteles nur unfreiwillige Handlungen Eleos verdienen, und nur das Postulat gelten ließ, daß die hamartia nicht aufgrund der ponhr¤a zu geschehen hat,5 glaubte er trotzdem am adikema «a» als der angeblich einzigen Bedeutung der hamartia festhalten zu dürfen. Dabei setzte er
das adikema im Affekt mit den im siebten Buch der EN beschriebenen Handlungen des ékratÆw gleich, indem er EN VII 8. 1151a 10 (ka‹ ofl ékrate›w
êdikoi m¢n oÈk efis¤n, édikÆsousi d°) mit der Definition des adikema «a» V 8.
1135b 23f. (édikoËsi m°n, ka‹ édikÆmatã §stin, oÈ m°ntoi pv êdikoi diå taËta oÈd¢ ponhro¤) verglich. Und gerade solche ékrate›w seien Ödipus und
Thyestes gewesen, «men of ungovernable passion», die diå pãyow «transient
and occasional wrong» begehen. 6 Um aber alle Zweifel loszuwerden, ‘übersieht’ er einerseits ähnlich wie Lefèvre, daß die édikÆmata mit vollem Wissen
über alle Bedingungen und Umstände der Handlung begangen werden, und
erwähnt anderseits auch die èmartÆmata met' égno¤aw mit keinem Wort, sondern behauptet vielmehr kühn, daß Aristoteles édikÆmata diå pãyow als
èmartÆmata definiere. 7
Wie schon mehrfach angedeutet, spricht in der Tat vieles für die These
von Twining, daß die in EN III 1. 1110b 24–27 von den aufgrund von Unwissenheit vollzogenen und daher unfreiwilligen Handlungen abgegrenzte
und in V 8. 1135b 19–24 als freiwilliges adikema «a» definierte Einzelhandlung im Affekt mit den in EN VII beschriebenen Handlungen des ékratÆw
wenn auch nicht identisch zu sein braucht, so doch aufs engste zusammenhängt. Denn alle Elemente und Bedingungen des éd¤khma diå pãyow in III 1,
V 8 und der Handlungen diå pãyow in VII korrespondieren miteinander.
Der ékratÆw handelt mit vollem Wissen über handlungsrelevante Umstände, efid∆w ka‹ ˘ poie› ka‹ o ßneka, und daher freiwillig. 8 Er führt jedoch
die Handlung nicht aufgrund einer vorausgegangenen Entscheidung aus,
4
5
6
7
8
Twining (1789) 308f.
Twining (1789) 308.
Twining (1789) 309.
Twining (1789) 309.
EN VII 9. 1152a 15f.: •k∆n m°n (trÒpon gãr tina efid∆w ka‹ ˘ poie› ka‹ o ßneka); vgl.
auch EE II 7. 1223a 36 – b 3. Das adikema «a» begeht man im Unterschied zum hamartema efid∆w (V 8. 1135b 20). Zur aristotelischen Abgrenzung von freiwilligen und
unfreiwilligen Handlungen s. oben S. 287–292, bes. 290–292. 292–294. 295–300.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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nicht §k proair°sevw, sondern oÈ proairoÊmenow9 und parå proa¤resin, und
begeht daher zwar einen Akt der Ungerechtigkeit, ein éd¤khma, ist jedoch
dabei selber nicht êdikow.10 Seine proa¤resiw bleibt sittlich, §pieikÆw,11 er tut
aber nicht, was er auch seiner Ansicht nach tun sollte: ˜ te ékratØw oÈx ì
o‡etai de›n prãttein prãttei (EN V 9. 1136b 8f.). Deshalb wird er von Aristoteles mit einem Staat verglichen, der Richtiges beschließt und über ordentliche Gesetze verfügt, von diesen aber keinen Gebrauch macht: ka‹ ¶oike dØ ı
ékratØw pÒlei ∂ chf¤zetai m¢n ëpanta tå d°onta ka‹ nÒmouw ¶xei spouda¤ouw, xr∞tai d¢ oÈd°n ... ı d¢ ponhrÚw xrvm°n˙ m¢n to›w nÒmoiw, ponhro›w d¢
xrvm°n˙ (VII 10. 1152 a 20–24). An einer anderen Stelle (VII 8. 1151a 8–10)
vergleicht Aristoteles die ékrate›w mit den Milesiern aus dem berühmten
Epigramm des Demodokos: MilÆsioi éjÊnetoi m¢n oÈk efis¤n, dr«sin d' oÂãper éjÊnetoi. Das bedeutet, daß der ékratØw sich im Prinzip nicht nur im
Besitz des Wissens über das Konkret-Einzelne – tå kay' ßkasta, §n oÂw ka‹
per‹ ì ≤ prçjiw – befindet, sondern auch über das Allgemein-Grundsätzliche
tå kayÒlou, ì de› prãttein ka‹ œn éfekt°on. Von ihrem Wissen aber tatkräftig Gebrauch zu machen (yevre›n, xr∞syai) und ihre guten Ansätze zu
verwirklichen, daran werden die Unbeherrschten vom Affekt, pãyow, gehindert: ¶sti d° tiw diå pãyow §kstatikÚw parå tÚn ÙryÚn lÒgon, ˘n Àste m¢n mØ
prãttein katå tÚn ÙryÚn lÒgon krate› tÚ pãyow … otÒw §stin ı ékratÆw (VII
8. 1151a 20–24).12 Der Affekt überwältigt sie und löst einen momentanen Zustand der Unwissenheit aus,13 so daß der im Affekt Handelnde mit einem
9
10
11
12
13
EN III 2. 1111b 10–14: ofl d¢ l°gontew aÈtØn [sc. proa¤resin] §piyum¤an µ yumÚn µ boÊlhsin ≥ tina dÒjan oÈk §o¤kasin Ùry«w l°gein. oÈ går koinÚn ≤ proa¤resiw ka‹ t«n
élÒgvn, §piyum¤a d¢ ka‹ yumÒw. ka‹ ı ékratØw §piyum«n m¢n prãttei, proairoÊmenow d'
oÎ. Das adikema «a» gehört im Unterschied zum adikema «b» zu den als éproa¤reta
definierten freiwilligen Handlungen.
EN VII 8. 1150b 35 – 1151a 10: ka‹ ˜lvw d' ßteron tÚ g°now ékras¤aw ka‹ kak¤aw: ... ˜ti
m¢n oÔn kak¤a ≤ ékras¤a oÈk ¶sti, fanerÒn (éllå pª ‡svw): tÚ m¢n går parå proa¤resin tÚ d¢ katå tØn proa¤res¤n §stin: ... ka‹ ofl ékrate›w êdikoi m¢n oÈk efis¤n, édikÆsousi d°. Vgl. V 8. 1135b 19–25: (3a) ˜tan d¢ efid∆w m¢n mØ probouleÊsaw d°, éd¤khma,
oÂon ˜sa te diå yumÚn ka‹ êlla pãyh … édikoËsi m°n, ka‹ édikÆmatã §stin, oÈ m°ntoi
pv êdikoi diå taËta oÈd¢ ponhro¤: oÈ går diå moxyhr¤an ≤ blãbh: (3b) ˜tan d' §k proair°sevw, êdikow ka‹ moxyhrÒw.
EN VII 9. 1152a 16–18: ponhrÚw d' oÎ: ≤ går proa¤resiw §pieikÆw: Àsy' ≤mipÒnhrow. ka‹
oÈk êdikow: oÈ går §p¤boulow.
Zum ÙryÚw lÒgow als Normbegriff der aristotelischen Ethik s. Dirlmeier (1956) 298– 304
und 440f.
Wie diese momentane Unwissenheit (und somit auch die Handlung des Unbeherrschten) genau zustandekommt, erläutert Aristoteles in VII 3 anhand der vier aneinandergereihten, in der Aristoteles-Forschung viel behandelten lÊseiw (1147a 29 – 1147b 19),
auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann; s. dazu neben den erhellen-
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D. Das höllische Weben
Betrunkenen oder Schlafenden verglichen werden kann, der das Wissen hat
und doch nicht hat.14 Er ist efid⋲w sowohl ka‹ ˘ poie› ka‹ o ßneka, als auch ì
de› prãttein, setzt aber das Wissen nicht um, handelt oÈx …w ı efid∆w ka‹ yevr«n, sondern gewissermaßen égno«n diå pãyow.
Hinzu kommt, daß das adikema «a» gemäß V 8 nicht diå pãyow schlechthin geschieht, sondern nur diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikã
(1135b 20–22).15 Das scheint wiederum zur ékras¤a zu passen, die sich nach
Aristoteles entweder auf die auch als pãyh verstandenen §piyum¤ai a„
ényr⋲pinai ka‹ fusika‹ ka‹ t“ g°nei ka‹ t“ meg°yei (VII 6. 1149b 27–29)
oder aber auf den yumÒw bezieht, von dem Aristoteles sagt: ı d¢ yumÚw fusik⋲teron ka‹ ≤ xalepÒthw t«n §piyumi«n t«n t∞w Íperbol∞w ka‹ t«n mØ
énagka¤vn.16
Wenn also eine solche aufgrund der akrasia vollzogene Handlung im Affekt einem anderen Menschen Schaden zufügen sollte und gemäß dem Katalog der blãbai in V 8 eingeordnet werden müßte, so gehörte sie zweifelsohne
in die Kategorie adikema «a» (= 1135b 19–24). Der ékratÆw unterscheidet
sich dadurch von demjenigen, der di' êgnoian handelt und das èmãrthma met'
égno¤aw begeht, daß er über alle handlungsrelevanten Umstände richtig informiert ist und deshalb freiwillig handelt. Er handelt nicht, weil er nicht weiß,
wen er schlägt – er weiß es ganz genau – , und daher nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern aufgrund des Affekts, der das vorhandene Wissen nicht
wirksam werden läßt. Von demjenigen aber, der das adikema «b» (= 1135b
25) begeht, unterscheidet sich der ékratÆw dadurch, daß er nicht aufgrund
der vorausgegangenen Entscheidung – §k proair°sevw –, sondern nur aufgrund des Affekts handelt, so daß er auch weder êdikow noch moxyhrÒw noch
ékÒlastow ist.17 Da jedoch seine Handlung freiwillig ist, hat sie nach Ari-
14
15
16
17
den Erklärungen und weiterführenden Hinweisen von Dirlmeier (1956) 479–482 u. a.
auch Robinson (1969/1995), Mele (1999) 183–204 sowie die Darstellung von Wolf
(2002) 164–189.
Vgl. III 1. 1110b 24–27; III 5. 1113b 30–33; VII 3. 1147a 11–18; 1147b 6–9: p«w d¢ lÊetai ≤ êgnoia ka‹ pãlin g¤netai §pistÆmvn ı ékratÆw, ı aÈtÚw lÒgow ka‹ per‹ ofinvm°nou
ka‹ kayeÊdontow ka‹ oÈk ‡diow toÊtou toË pãyouw, ˘n de› parå t«n fusiolÒgvn ékoÊein,
VII 8. 1151a 4–5.
Vgl. dazu oben S. 295. 300 mit Anm. 64 u. unten Anm. 51 zu S. 351, Anm. 79 zu S. 362.
VII 6. 1149b 6–8; der Unbeherrschtheit in bezug auf den yumÒw ist der ganze Abschnitt
1149a 24 – 1149b 23 gewidmet; vgl. ferner VII 4. 1147b 23–31, wo tå énagka›a und tå
mØ énagka›a gegeneinander abgegrenzt werden.
Siehe oben S. 295 mit Anm. 48; vgl. VII 7. 1150a 27–30: pant‹ d' ín dÒjeie xe¤rvn e‰nai,
e‡ tiw mØ §piyum«n µ ±r°ma prãttoi ti afisxrÒn, µ efi sfÒdra §piyum«n, ka‹ efi mØ ÙrgizÒmenow tÊptoi µ efi ÙrgizÒmenow: t¤ går ín §po¤ei §n pãyei n; diÚ ı ékÒlastow xe¤rvn toË
ékratoËw.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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stoteles als ein éd¤khma zu gelten: ˜tan går •koÊsion ¬, c°getai, ëma d¢ ka‹
éd¤khma tÒt' §st¤n (V 8. 1135a 20f.).
Obschon also jede schädigende Handlung des ékratÆw nach EN V 8 eindeutig als ein adikema im Affekt zu beurteilen ist, bleibt zunächst einmal
ungewiß, ob jedes adikema im Affekt, wie Twining meinte, nach Aristoteles
unbedingt eine Handlung des ékratÆw sein muß. Denn ékras¤a wird von
Aristoteles auf eine bestimmte, verfestigte charakterliche Verfassung (ßjiw)
zurückgeführt, die sich von derjenigen der meisten Menschen unterscheidet.
So wird der ékratØw mit einem Menschen verglichen, der sich schneller und
mit weniger Wein betrinkt als die meisten: ˜moiow går ı ékratÆw §sti to›w
taxÁ meyuskom°noiw ka‹ Íp' Ùl¤gou o‡nou ka‹ §lãttonow µ …w ofl pollo¤ ...
(VII 8. 1151a 2–5). In V 8 heißt es aber, wie erinnerlich, zum adikema «a»
gehöre alles, ˜sa te diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikå
sumba¤nei to›w ényr⋲poiw (V 8. 1135b 20–22). Sind damit nur die ékrate›w
gemeint? Es scheint nämlich von vornherein unwahrscheinlich, daß Aristoteles hier mit to›w ényr⋲poiw nur die relativ kleine Gruppe von sittlich minderwertigen Menschen meint, die sich viel weniger beherrschen können, als
die meisten. Das Problem löst Aristoteles selbst, indem er EN VII 7. 1150a
12–16 ausdrücklich betont, daß die meisten Menschen in der Mitte zu plazieren sind zwischen dem Typ §gkratÆw und dem Typ ékratØw:
¶sti m¢n oÏtvw ¶xein Àste ≤ttçsyai ka‹ œn ofl pollo‹ kre¤ttouw, ¶sti d¢ krate›n ka‹
œn ofl pollo‹ ¥ttouw: toÊtvn d' ı m¢n per‹ ≤donåw ékratØw ı d' §gkratÆw, ı d¢ per‹
lÊpaw malakÚw ı d¢ karterikÒw. metajÁ d' ≤ t«n ple¤stvn ßjiw, kín efi =°pousi
mçllon prÚw tåw xe¤rouw.
Das bedeutet: Der Beherrschte, der §gkratÆw, dessen ßjiw spouda›a ist, kann
den Affekten und Leidenschaften besser standhalten, als die meisten. Der
Unbeherrschte, der ékratÆw, unterliegt aufgrund seiner ßjiw auch den Affekten, die die meisten zu beherrschen vermögen. Die meisten Menschen aber
sind aufgrund ihrer charakterlichen Verfassung, ihrer ßjiw, irgendwo in der
Mitte anzusiedeln, auch wenn sie eher zu den schlechteren, den ékrate›w neigen.18 Bald sind sie in der Lage, die Affekte zu beherrschen, bald nicht. Und
jedes Mal, wenn sie von den Affekten überwältigt werden und diå pãyow handeln, vollziehen sie Handlungen, die genauso zustande kommen und genauso
beschrieben werden müssen wie die in EN VII beschriebenen Handlungen des
ékratÆw, obwohl sie nicht zu diesem Charaktertyp gehören. Und wenn sie
dann – ohne Vorbedacht, sondern diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ
fusikå handelnd – etwas Ungerechtes tun, begehen sie ein in V 8 definiertes
18
Die Reihenfolge ist also nach Aristoteles: 1) §gkratÆw – 2) ofl pollo¤ – 3) ékratÆw – 4)
ékÒlastow. Dies wird noch wichtig werden; vgl. unten S. 346 mit Anm. 38.
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D. Das höllische Weben
adikema im Affekt. Daraus ergibt sich, daß diese Art von Schädigung nicht
nur die eigentlich Unbeherrschten oder, wie Twining sich ausdrückte, «men
of ungovernable passion», begehen können, sondern auch die ganz gewöhnlichen Menschen. Auf dieselben ofl pollo¤ bezieht sich wohl Aristoteles auch in
III 1, wenn er von den Handlungen spricht, die der in Zorn Geratene oder der
Betrunkene nicht aufgrund von Unwissenheit, di' êgnoian, sondern aufgrund
des Affektes oder der Trunkenheit égno«n vollzieht.19
Es ist indessen klar, warum Twining – und nicht nur er – darauf beharrte,
daß das adikema mit den Handlungen des ékratÆw gleichzusetzen sei. Im
Vergleich mit der an sich sehr ähnlichen Deutung von Dacier weist der Ansatz von Twining einen großen Vorteil auf: Da die akrasia charakterbedingt
ist, brauchte man nicht mehr, wie dies bei Dacier der Fall gewesen war, die
hamartia um die Charakterschwächen nachträglich zu erweitern, um das angebliche adikema des Ödipus mit der Bühnenhandlung des Oedipus Rex in
Einklang zu bringen. Die Charakterschwächen waren bei Twining bereits
implizit in die aristotelische Definition der als adikema gedeuteten hamartia
integriert. 20
Das änderte jedoch trotzdem nichts daran, daß die hamartia des Ödipus,
wie dargetan, sich nicht mit dem adikema «a» gleichsetzen läßt, weil Ödipus
nach Aristoteles den Vatermord (und die Mutterehe) nicht aufgrund des Affekts, sondern aufgrund von Unwissenheit in bezug auf das Objekt seiner
Handlung begangen hat und seine hamartia nach Aristoteles eine Handlung
di' êgnoian respektive ein èmãrthma met' égno¤aw darstellt. Die Einbeziehung
der akrasia half hier nicht weiter, da der Unbeherrschte über das Wissen bezüglich handlungsrelevanter Umstände und Bedingungen seiner Handlung
verfügt. Er ist ja im Unterschied zu dem di' êgnoian Handelnden nach Aristoteles efid⋲w ka‹ ˘n ka‹ ⁄ ka‹ Õw, ka‹ ˘ poie› ka‹ o ßneka. Kurzum, der
Deutungsversuch von Twining war mit denselben unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden, an denen auch Dacier, Manns, Harsh und Lefèvre scheitern mußten.
Die Idee von Twining wurde dann 100 Jahre später von Butcher aufgegriffen, der auch das adikema «a» mit den Handlungen der ékrate›w in Zusammenhang brachte, es jedoch nicht für die hamartia des Ödipus ausgeben
wollte.21 Stinton nahm auch die Handlungen der ékrate›w in seine ‘Bedeutungsskala’ der hamartia auf. Obschon er betonte, daß diese ‘Bedeutung’ der
hamartia sich mit dem adikema im Affekt in V 8 ‘überschneidet’, vermied er
es vorsichtshalber, die beiden für ein und dasselbe zu erklären, oder gar zu
19
20
21
Vgl. oben S. 288, 321f.
Vgl. die Gedankengänge von Manns oben S. 330.
S. oben S. 314.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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behaupten, daß die hamartia ausschließlich diese Bedeutung haben müsse.22
Das war jedoch für die Vertreter der moralisierenden Auffassung der hamartia nach wie vor inakzeptabel. Der Kampf um die Moral und die Gerechtigkeit Gottes ging weiter.
3.3.2. Philologie als Wortspiel: Gresseth
Mit denselben Schwierigkeiten wie Twining wurde auch Gerald K. Gresseth
konfrontiert, als er im Jahre 1958 an der University of Utah – unwissend –
den Ansatz von Twining wiederholte.23 Gresseth war nämlich der Ansicht,
die hamartia-Frage «is not actually a very thorny problem».24 Denn nach
Aristoteles ist der Mensch für sein Handeln moralisch verantwortlich,25 so
daß die hamartia des 13. Kapitels als «cause of action» nur in moralischen
Begriffen verstanden werden könne.26 Gresseth räumt zwar ein, daß der
Mensch – gemäß EN III 1 – für zwei Handlungsarten nicht moralisch verantwortlich gemacht werden kann: Es sind dies natürlich die unfreiwilligen
Handlungen unter Zwang oder aus Unwissenheit bezüglich handlungsrelevanter Umstände. Doch diese zwei Handlungsarten kämen – seiner Meinung
nach – für die hamartia der idealen Tragödie nicht in Frage.27 Warum dem so
sein soll, erklärt er freilich nicht,28 so daß seine ganze Konstruktion von Anfang an auf tönernen Füßen steht.
Unter diesen Prämissen behandelt Gresseth erneut den Katalog der Schädigungsarten in EN V 8 und wirft Aristoteles dabei «a certain looseness»
22
23
24
25
26
27
28
S. oben S. 317.
Bremer (1969) 93 lehnte die ‘Deutung’ von Gresseth ab; zu Recht, wenn auch ohne
Begründung. Mit gewichtigen Argumenten wandte sich gegen Gresseths
Identifizierung des tragischen Helden mit dem ékratÆw Schütrumpf (1970) 112–118.
Diese auch sonst wichtige Arbeit Schütrumpfs wurde von Cessi nicht berücksichtigt,
während sie den Aufsatz von Gresseth (1987, 32f.) mit viel Lob und Zustimmung
bedachte. In einer irreführenden Zusammenfassung erklärte Cessi jedoch nicht, auf
welchen Argumenten dieser angeblich «neue» Ansatz fußt.
Gresseth (1958) 313.
Gresseth (1958) 314–315.
Gresseth (1958) 316.
Gresseth (1958) 316.
Aus dem zweiten Teil seines Aufsatzes (328–335) geht jedoch deutlich hervor, warum
Gresseth die unfreiwilligen nicht moralisch zu verantwortenden Handlungen ausgeschlossen wissen wollte: nach Gresseth war Aristoteles vom moralischen Zweck und
Nutzen der Tragödie überzeugt, der nur dann gewährleistet wäre, wenn der tragische
Held sein Unglück selbst verschuldet resp. durch eigene Charakterschwächen herbeiführt. Um das beweisen zu können, schließt Gresseth die sittlich irrelevanten Bedeutungen der hamartia von Anfang an aus.
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beim Gebrauch der Begriffe vor:29 Aristoteles verwende «in a looser fashion» 30 «èmãrthma» für étÊxhma und «the more proper term» für das éd¤khma diå pãyow sei èmãrthma.31 Da Aristoteles nach Gresseth nicht das sagte,
was er wirklich meinte resp. hätte sagen sollen, postuliert Gresseth – des
Kontextes von EN V 8 sowie des Wortlauts der aristotelischen Definitionen
völlig ungeachtet – stellvertretend für Aristoteles und gewissermaßen auf eigene Faust folgende drei Arten von Schädigungen, die Aristoteles «really»
gemeint haben soll:32 1) étÊxhma und èmãrthma met' égno¤aw seien ‘in Wirklichkeit’ étuxÆmata; 2) éd¤khma diå pãyow sei èmãrthma; 3) éd¤khma §k proair°sevw sei éd¤khma.33 Gresseth gibt sich dabei keine Mühe, diese gelinde
gesagt merkwürdige These zu begründen oder zu erklären, warum Aristoteles selbst das Gegenteil von dem, was er angeblich «really» meinte, gesagt
haben soll, und aus welchem Grund Gresseth beansprucht zu wissen, was
Aristoteles zwar nicht gesagt, jedoch «really» gedacht hat. Trotz des Fehlens
einer argumentativen Grundlage errichtet Gresseth folgende Konstruktion:
Die hamartia des 13. Kapitels sei einzig und allein das für èmãrthma erklärte
éd¤khma diå pãyow, das der zum ékratÆw erklärte tragische Held begehe.34
Sieht man von den bereits vorgebrachten Argumenten gegen die absolute
Gleichsetzung des adikema «a» mit den Fehlhandlungen des Unbeherrschten
ab,35 blickt man ferner auch darüber hinweg, daß es auch Gresseth nicht gelingt, plausibel zu begründen, warum die tragische Zentralfigur notwendigerweise ein ékratÆw sein müßte, so bleibt noch folgendes zu bemerken: Das
adikema «a» (= 1135b 19–24) ist – genauso wie die Fehlhandlung des Unbeherrschten – freiwillig und muß daher nach Aristoteles als adikema, nicht
als hamartema definiert werden: ˜tan går •koÊsion ¬, c°getai, ëma d¢ ka‹
éd¤khma tÒt' §st¤n.36 Doch selbst wenn Aristoteles das im Besitz des Wissens
über handlungsrelevante Umstände, jedoch nicht aufgrund einer vorausgegangenen Entscheidung, sondern im Affekt begangene Vergehen, das er in
Wahrheit in EN V 8 als adikema «a» definierte, auch als èmãrthma definiert
hätte, könnte es allein schon deshalb unmöglich die einzige Bedeutung der
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31
32
33
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36
Gresseth (1958) 316f.
Gresseth (1958) 317.
Gresseth (1958) 316f.
Gresseth (1958) 317: «Thus Aristotle is really thinking in terms of this threefold classification.»
Gresseth (1958) 317.
Siehe bes. Gresseth (1958) 324–326. Cessi (1987) 32f. erwähnt nicht, daß Gresseth das
éd¤khma «a» für das ‘echte’ èmãrthma des ékratÆw hielt.
Vgl. oben S. 338–342.
V 8. 1135a 20f., vgl. oben S. 292f. mit Anm. 38; 296.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
345
hamartia des 13. Kapitels sein, weil eine solche hamartia für den Fall des
sophokleischen Ödipus, der nicht wußte, wen er schlug und wen er heiratete,
nicht zutrifft. Mit anderen Worten, selbst wenn man das adikema «a» hamartema nennte, dürfte es nicht mit der hamartia des Ödipus gleichgesetzt
werden. So muß auch dieser Versuch, die Handlungen di' êgnoian respektive
das èmãrthma met' égno¤aw, die der moralistischen Tragödientheorie zuwiderlaufen, zu eliminieren, um die tragische hamartia auf das adikema «a» zu
reduzieren, das erneut als eine Handlung des ékratÆw gedeutet wird, als eine
blanke Spekulation zurückgewiesen werden.
3.3.3. Die letzte Chance
3.3.3.1. Verzweiflung und Radikalisierung: Østerud
Die Lage scheint also für die Vertreter dieser Richtung nicht minder hoffnungslos zu sein als für Dacier. Da die Handlungen des ékratÆw, wie sie selber feststellten, eindeutig in die Kategorie adikema «a» (= EN V 8. 1135b
19–24) gehören und es keine Argumente dafür gibt, die Handlungen di'
êgnoian respektive das èmãrthma met' égno¤aw nicht als eine mögliche Bedeutung der hamartia des 13. Kapitels gelten zu lassen, und da ferner die hamartia des Ödipus gemäß der Handlungstheorie des Aristoteles unmöglich
ein adikema «a» sein kann, sondern nach wie vor zweifellos in die Kategorie
èmãrthma aus Unwissenheit fällt, schien auch diese zweite Argumentationsstrategie der Vertreter der moralisierenden Auffassung der hamartia trotz
gewisser Vorteile gegenüber Dacier oder Harsh von vornherein zum Scheitern verurteilt. Da aber die von Dacier begründete Argumentationsstrategie
ebenfalls und aus denselben Gründen mißglückt war, schienen nun alle Möglichkeiten erschöpft. Nach den Versuchen von Harsh einerseits und Gresseth
anderseits hätte man denken können, daß die letzte Stunde der moralisierenden Interpretation der hamartia endlich geschlagen habe. Weit gefehlt! Wer
will schon eigene Vorurteile preisgeben, selbst wenn die philologische Evidenz sie Lügen straft? Im Gegenteil, die Versuche, die hamartia durch deren
Gleichsetzung mit den Handlungen des ékratÆw auf ein sittlich relevantes,
aus Charakterschwächen resultierendes Vergehen zu beschränken, wurden
zusehends radikaler.
Im Jahre 1976 unternahm Svein Østerud einen weiteren Versuch zu beweisen, daß der tragische Held der idealen Tragödie des 13. Kapitels der Poetik einzig und allein ein ékratÆw sein soll. Østerud gründet seine Interpretation auf zwei unterschiedliche Argumente. Erstens, da der ékratÆw bei Aristoteles in der Mitte zwischen dem §gkratÆw und êdikow angesetzt ist und der
tragische Held der idealen Tragödie weder vollkommen noch ein Schuft sein
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D. Das höllische Weben
darf, sondern ein mittlerer Charakter sein müsse, sei er mit dem ékratÆw
identisch.37 Nun, mit diesem ‘Argument’ kann so gut wie gar nichts bewiesen
werden, weil erstens nach Aristoteles nicht nur der ékratÆw, sondern auch
die meisten Menschen weder vollkommen noch Schufte sind,38 und zweitens,
weil unter dieser von Østerud angenommenen einschränkenden Bedingung
für die Bedeutung der tragischen hamartia noch viele andere Handlungsarten
gemäß der Handlungstheorie des Aristoteles für die Hamartia des 13. Kapitels in Frage kommen.
Entscheidend ist jedoch Østeruds zweites, überraschendes Argument.
Ohne die Stelle, auf die er sich beruft, genau anzugeben, stellt Østerud die
These auf, es sei eine Tatsache, «fact», daß Aristoteles in der Nikomachischen
Ethik ein Vergehen des ékratÆw als èmãrthma, ein Vergehen des §gkratÆw als
étÊxhma, ein Vergehen des kakÒw als éd¤khma bezeichne.39 Da es einerseits
völlig klar ist, daß Østerud nur die blãbai in EN V 8. 1135b 11–25 gemeint
haben kann, und da es anderseits feststeht, daß in EN V 8 nur eine einzige
Form von Schädigung als èmãrthma definiert wird, bedeutet das, daß Østerud nicht das éd¤khma diå pãyow (adikema «a» = 1135b 19–24), sondern das
èmãrthma met' égno¤aw als die blãbh des Unbeherrschten verstanden wissen
will. Während also Twining und Gresseth die vom ékratÆw und aufgrund
seiner ékras¤a begangene Schädigung mit dem adikema «a» gleichsetzten
und im Bestreben, die hamartia des 13. Kapitels auf ein aus Charakterschwächen resultierendes und aus Leidenschaft begangenes Vergehen zu reduzieren, vergeblich versuchten, das adikema «a» für die einzig mögliche Bedeutung der hamartia zu erklären, identifiziert Østerud dieselbe vom ékratÆw
aufgrund seiner ékras¤a begangene Schädigung mit dem hamartema und
erklärt – in demselben Bestreben – diese Form von Schädigung für die einzige
wahre Bedeutung der hamartia im 13. Kapitel der Poetik. Während Twining
und Gresseth vergeblich versuchten, das èmãrthma met' égno¤aw als einen
sittlich irrelevanten Fehler aus nicht verschuldeter Unwissenheit entweder
totzuschweigen oder durch dessen Verschmelzung mit dem étÊxhma zu eliminieren, stellt Østerud alles auf den Kopf, indem er behauptet, das èmãr37
38
39
Østerud (1976) 74.
Siehe oben S. 341. Da Aristoteles sagt, daß der tragische Held uns, d. h. den meisten
Menschen, ähnlich oder eher besser (als die meisten) sein soll (Poet. 13. 1453a 5f.) und
die meisten Menschen eher besser sind als der Typ des ékratÆw, sollte der tragische
Held besser als der Typ des ékratÆw sein.
Østerud (1976) 74: «Another thing which speaks in favour of identifying the ideal tragic hero with the ékratÆw of the Nicomachean Ethics, is the fact that the fault committed by the ékratÆw or the man of average moral state is called èmãrthma. The fault of
the deliberately bad man, the êdikow, is an éd¤khma, whereas the fault of a good man,
the §gkratÆw – in so far as he commits a fault – is called an étÊxhma.»
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
347
thma met' égno¤aw bedeute ein vom ékratÆw begangenes Vergehen, und
schweigt nun seinerseits das éd¤khma diå pãyow (= 1135b 19–24) tot. In der
Tat, in seiner Aufzählung der blãbai ist kein Raum mehr für das im Affekt
begangene adikema «a». Es bleibt nur noch das adikema «b»(= 1135b 25), ein
Akt der Ungerechtigkeit aufgrund einer vorausgegangenen Entscheidung und
darum aufgrund moralischer Schlechtigkeit, übrig. Alles, was man mit dem
adikema im Affekt verbunden hatte, wurde auf das hamartema übertragen.
Was éd¤khma diå pãyow war, ist èmãrthma met' égno¤aw geworden.
So abwegig und fragwürdig begründet diese These auch sein mag, darf sie
in ihrer Radikalität nicht unterschätzt werden. Denn die Versuche von Dacier
und Lefèvre, Twining und Gresseth, die hamartia des 13. Kapitels auf die
‘erforderliche’ Bedeutung zu reduzieren, sind ja, wie dargelegt, nicht zuletzt
an den unfreiwilligen Handlungen di' êgnoian in EN III 1 resp. am èmãrthma met' égno¤aw in EN V 8 gescheitert. Je mehr sie versuchten, die hamartia
auf das adikema «a» zu beschränken, desto deutlicher wurde, daß die unfreiwillige Handlung di' êgnoian resp. das èmãrthma met' égno¤aw – als die hamartia des Ödipus und als eine der wahrscheinlichsten Bedeutungen der hamartia überhaupt – nicht aus dem Weg geräumt werden kann. So blieb den
Verfechtern der poetischen Gerechtigkeit und der Reinigung von den lasterhaften Charakterschwächen und Leidenschaften in der attischen Tragödie
theoretisch nur noch eine einzige, radikale Möglichkeit übrig, zu dem seit
dem 16. Jh. angestrebten Ergebnis doch noch zu gelangen: nämlich zu versuchen, das èmãrthma met' égno¤aw selbst, wenn es sich schon nicht aus der
Welt schaffen läßt, für ein sittlich relevantes, aus Unbeherrschtheit, im Affekt, aufgrund bestimmter Charakterfehler begangenes Vergehen zu erklären,
um die hamartia auf das so gedeutete èmãrthma zu reduzieren. Dies hat
Østerud getan. Obwohl er selbst sich nicht darum bemühte, seine These irgendwie zu begründen, eröffnete die von ihm postulierte Gleichsetzung der
hamartia = Vergehen des ékratÆw = hamartema ungeahnte Möglichkeiten.
Da ja der ékratÆw zwar efid⋲w, jedoch im momentanen Zustand der Unwissenheit, égno«n, handelt, entbehrt die Idee, solche Vergehen des ékratÆw mit
dem èmãrthma met' égno¤aw in EN V 8 gleichzusetzen, nicht einer gewissen,
wenn auch fadenscheinigen Plausibilität.
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348
D. Das höllische Weben
3.3.3.2. Ungeahnte Möglichkeiten: Anon. in EN V und seine Interpreten
Paradoxerweise berührte Østerud dabei in der Tat ein echtes Problem der Interpretation von EN V 8 und zugleich auch eine durchaus ernstzunehmende
und bis heute nicht beseitigte Schwachstelle der von Bywater begründeten
Deutung der tragischen hamartia, der sich, wie erinnerlich, im Unterschied zu
Robortello nicht nur auf EN III 1, sondern auch auf die Definition der drei
Schädigungsarten in V 8 berief.40 Denn die ironische Pointe der philologischen
Diskussion um die Bedeutung der hamartia im 13. Kapitel der Poetik liegt
darin, daß von den sehr vielen, die zur Erklärung des 13. Kapitels der Poetik die
Nikomachische Ethik heranzogen, nur sehr wenige es für nötig gehalten zu
haben scheinen, einen Blick auf die philologischen Kommentare zu den von
ihnen bemühten Stellen in EN sowie auf die systematischen Arbeiten zu den
einschlägigen Aspekten der Handlungstheorie des Aristoteles zu werfen. Von
diesen wenigen aber, die dies dennoch taten, scheint wiederum so gut wie niemand die in diesen Kommentaren und Arbeiten geführte Diskussion irgendwie
ernstzunehmen, die daraus resultierenden Implikationen zu Ende zu denken,
geschweige denn in seiner Argumentation konsequent zu berücksichtigen.41
Hätte es jemand in den letzten 100 Jahren getan, hätte er feststellen müssen, daß
beinahe die gesamte Forschungsliteratur zur Handlungstheorie des Aristoteles
Bywaters Deutung zu widersprechen, für die moralisierende Deutung der hamartia dagegen zumindest implizit wichtige Anhaltspunkte zu bieten scheint.
Hier muß leider weit ausgeholt werden.
1. Das Problem
Unglücklicherweise ist uns nämlich folgende, aus der Feder eines spätantiken
anonymen Kommentars (Anon. in E N V 8. 1135b 8–19, p. 237, 26 – 238, 9
Heylbut) stammende Erklärung der Definition der drei Schädigungsarten in
EN V 8 erhalten geblieben:
tåw d¢ katå êgnoian ginom°naw blãbaw koin«w e‰pen èmartÆmata. metå d¢ taËta
Ípodiair°seiw aÈt«n poie›: [a] tåw m¢n paralÒgvw aÈt«n ginom°naw étuxÆmata
kal«n, [b] tåw d¢ mØ paralÒgvw èmartÆmata ımvnÊmvw t“ koin“.
[a] e‡h d' ín paralÒgvw ginÒmena tå spãnia ka‹ éprosdÒkhta, oÂon efi tØn yÊran
éno¤jantow êfnv tinÚw ı patØr parest∆w §plÆgh µ efi gumnazom°nou §n t“ toioÊtƒ
xvr¤ƒ ka‹ ékont¤zontow §n ⁄ oÈde‹w §tÊgxanen n, eÍr°yh tiw t«n ofiket«n épÚ tÊxhw
40
41
Siehe dazu oben S. 286. 292. 299f. 301f.
Eine seltene Ausnahme stellt Sherman (1992) dar, dazu unten S. 367f.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
349
Ãn §n aÈt“ ka‹ perip¤ptvn t“ ékont¤ƒ. tå går toiaËta parãlogã te ka‹ éprosdÒkhta.
[b] ˜sa d¢ mØ ¶xei m¢n tÚ parãlogon, égnooËntow m°ntoi g¤netai, taËta èmartÆmata. ı går §n ıd“ ékont¤zvn, §n ¬ efikÚw e‰na¤ tina, ka‹ tux⋲n tinow ≤mãrthke. afl
toiaËtai t«n blab«n èmartÆmata kaloËntai.42
Der Meinung des Anonymus nach unterscheide also Aristoteles in EN V 8
1135b 11–25 zwischen zwei unterschiedlichen Arten von hamartemata aus
Unwissenheit, so daß das atychema und das hamartema nicht zwei der drei
verschiedenen Schädigungsarten (atychema – hamartema – adikema), sondern
– als hamartema «a» (= atychema) und «b» (= hamartema) lediglich zwei
Formen derselben Schädigungsart èmartÆmata met' égno¤aw darstellten. Allein schon dieser zentrale Punkt der Interpretation des Anonymus hätte an
sich bei jedem von vornherein Argwohn wecken müssen. Zunächst einmal
scheint die den oben zitierten Ausführungen des Anonymus zugrundeliegende
Annahme, der Satz ( EN V 8. 1135b 11–25) «Von den drei Schädigungsarten,
ist die eine A ... Wenn also die Schädigung die Bedingung x erfüllt, dann ist es
B, wenn aber die Schädigung die Bedingung y erfüllt, dann ist es A. Wenn
aber die Schädigung die Bedingung z erfüllt, dann ist es C» bedeute, daß A
und B lediglich zwei Formen von A seien, daß also A sowohl A+B als auch A
im Unterschied zu B bedeute, den allgemeinen Gesetzen der Logik ins Gesicht zu schlagen. In seiner unreflektierten Tautologie mutet der so verstandene Satz gerade bei Aristoteles befremdend an, der sich bekanntlich des Problems der Mehrdeutigkeit von Begriffen und Bezeichnungen sehr bewußt war
und meist einen so großen Wert auf deren genaue und explizite Analyse und
Differenzierung legte und sich selten eine Gelegenheit nehmen ließ, auf
ım⋲numa und sun⋲numa ausdrücklich hinzuweisen.43 Kehrt man ferner von
der Logik und Sprachreflexion zu der aristotelischen Handlungstheorie zurück, so widerspricht die vom Anonymus postulierte resp. aus seiner Interpretation sich zwingend ergebende und ebenfalls sonderbar anmutende Dreiteilung der Schädigungen in EN V 8 in 1) hamartema (bestehend aus atychema als hamartema «a» und hamartema als hamartema «b») [1135b 11–29],
2) adikema [1135b 19–24 = adikema «a»], 3) adikema [1135b 25 = adikema
«b»] der sowohl in Rhet. ad Alex. 4. 1427a 30–36 überlieferten als auch von
Aristoteles selbst in Rh. I 13. 1374b 4–9 übernommenen Dreiteilung in 1)
atychema, 2) hamartema, 3) adikema als drei voneinander zu unterscheidende
Schädigungsarten.44 Schließlich wäre Vorsicht auch deshalb angebracht gewe42
43
44
Generell zu diesem anonymen Kommentar s. Moraux (1980) 324–330 und Mercken
(1990), bes. 407–410, 419–429.
Siehe dazu generell Flashar (1983) 424f. und zuletzt Schields (1999).
Vgl. oben S. 295–297.
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350
D. Das höllische Weben
sen, weil die Beispiele, die der Anonymus bringt, nicht nur nicht Aristoteles
entnommen, sondern auch nicht aristotelisch gedacht sind. 45
Dessen ungeachtet und wohl in der Überzeugung, daß eine (spät)antike
Autorität, wie zweifelhaft sie auch sein mag, immer noch besser sei als das
selbständige Denken, scheinen – sieht man von unentschlossenen Ausnahmen
ab 46 – so gut wie alle neueren Kommentare zu EN und Rh. sowie einschlägigen Arbeiten zur Handlungstheorie des Aristoteles dem Anon. in EN V 8 – in
diesem Punkt – ohne Zaudern und mit einer kaum nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit zuzustimmen (meist ohne auf die Quelle dieser Deutung
hinzuweisen).47 Wer von ihnen sich jedoch die daraus resultierende Frage,
worin denn genau der Unterschied zwischen den beiden von ihnen akzeptierten Arten der èmartÆmata met' égno¤aw liege, zu beantworten anschickte,
wurde mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert, die viel Kopfzerbrechen bereiteten und auch bis heute, wie sich bald zeigen wird, nicht gelöst
werden konnten. In der Tat, wer die vom Anonymus postulierte Zweiteilung
45
46
47
Weiteres dazu unten S. 356. 359. 379f.
Dazu gehören vor allem Grant (London 1857) I, 130f. und Cope/Sandys (1877) vol. I,
257f., vol. III, 180f. ad §3, deren Position jedoch auch insofern nicht ganz klar wird, als
sie die Interpretation des Anon. in EN V nicht explizit und argumentativ ablehnten,
sondern ignorierten. Zell (1820) vol. 2, 188–191 ging auf die Stelle nicht ein. Äußerst
zurückhaltend auch Rapp (2002), Bd. 2, 504 (ad Rh. I 13. 1374b 4–10), der auch auf den
Hinweis auf EN V 8 verzichtete; vgl. jedoch Bd. 2, 480f. (Anm. 2 ad 1372b 16).
Spengel (1867) I, 185; Ramsauer (1878) 341; Jackson (1879) 109–112; hier bes. 110;
Stewart (1892) vol. I, 501; Dareste (1893) 210; Burnet (1900) 236f. ad loc.; Loening
(1903) 210–235; Gernet (1917) 307f.; Maschke (1926) 157; Gintowt (1939) 71; Joachim/Rees (1951) 157f.; Gauthier/Jolif ( 11958/1959; zitiert nach: 21970) vol. 2. 1, 401;
Dyer (1965); Kenney (1979) 59f.; Grimaldi (1980) 303 ad 1374b 6f.; Sorabji (1980), bes.
278–281; Irwin (1985) 338 ad 1135b 17f.; vgl. ferner z. B. Bostock (2000) 120. Sauvé
Meyer (1993) äußerte sich dagegen zu EN 1135b 11–19 und somit auch zu dem für ihr
Thema zentralen Problem überhaupt nicht. Dirlmeier (1956) legte sich zwar weder in
der Übersetzung (113) eindeutig fest, noch ging er in den Anmerkungen zur Stelle (425)
auf das – damals bereits vieldiskutierte – Problem explizit ein, scheint jedoch dem
Anon. zu folgen. Stichproben zeigen ferner, daß die Interpretation des Anonymus sich –
zumindest bezüglich der Aufteilung der hamartemata in Unwissenheit in a) atychemata
und b) hamartemata – bereits in der frühen Neuzeit durchsetzte: s. z. B. Camerarius
(1578) 238 ad 1135b 11ff.: «Facit autem auctor nunc genera tria damni per iniuriam dati.
Ex quibus primum cum ignorantia coniunctum culpa caret & est bipertitum.» Vgl. auch
die allerdings nicht so eindeutige Position von Pietro Vettori (1548) 210 und (1584)
298f. Lambin (1565) und Muretus (1602) gingen auf das Problem nicht ein. Eine – mir
bekannte – wirkliche Ausnahme bildet dagegen der Kommentar von Giphanius (1608),
der konsequent zwischen 1) atychema, 2) hamartema und 3) adikema («a» und «b»)
unterschied; vgl. oben Anm. 28 zu S. 289; Anm. 30 zu S. 290; Anm. 47 zu S. 295; Anm.
51 zu S. 316; Anm. 54 zu S. 297.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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der unfreiwilligen hamartemata aus Unwissenheit nicht nur blind akzeptiert,
sondern im Rahmen der Handlungstheorie des Aristoteles einzuordnen, zu
erklären und die sich daraus ergebenden Implikationen zu Ende zu denken
versucht, wird bald ratlos.
2. Lösungsversuche und Aporien 1: Ramsauer
Da man nun mit zwei Arten von Fehlhandlungen in Unwissenheit (èmartÆmata met' égno¤aw) über das Konkret-Einzelne zu rechnen hatte, oder vielmehr rechnen zu müssen glaubte, war es naheliegend, zunächst einmal die für
die aristotelische Handlungstheorie zentrale, in EN III 1 vorgenommene Abgrenzung der Handlungen aufgrund von Unwissenheit (di' êgnoian) von den
Handlungen eines Betrunkenen oder z. B. Zornigen, d. h. im Affekt Handelnden, die gemäß EN III 1. 1110b 24–27 nicht di' êgnoian, sondern aufgrund von Trunkenheit oder Affekt und deshalb im momentanen Zustand der
Unwissenheit (égno«n) handeln, für die Erklärung der beiden Arten der
èmartÆmata met' égno¤aw zu bemühen.48 Dies war in der Tat auch die erste,
1878 von Gottfried Ramsauer vorgeschlagene Lösung. In der Annahme, mit ≤
érxØ t∞w afit¤aw in EN V 8. 1135b 18f., die beim hamartema §n aÈt“, beim
atychema hingegen ¶jvyen liegt, sei «ea causa quae érxØ t∞w égno¤aw µ toË mØ
efid°nai est» gemeint, glaubte er den Unterschied zwischen dem atychema (als
‘hamartema 1’) und dem hamartema (als ‘hamartema 2’) mit dem Hinweis
auf den in EN III 1. 1110b 24–27 begründeten Unterschied zwischen den
Handlungen di' êgnoian und den Handlungen des égno«n erklären zu können.49 Danach wäre das ‘eigentliche’ hamartema (also ‘hamartema 2’) ein z. B.
im Affekt oder im betrunkenen Zustand und daher im Zustand vorübergehender Unwissenheit (also von einem égno«n) begangenes Vergehen, während
der unfreiwillige Fehler di' êgnoian über das Konkret-Einzelne ein atychema
darstellte. 50
Dieser Deutung stand und steht jedoch der Umstand im Wege, daß die
aufgrund des Affekts und deshalb im momentanen Zustand der Unwissenheit
vollzogenen Handlungen nach Aristoteles – im Unterschied zu den unfreiwilligen Handlungen di' êgnoian – freiwillig sind und deshalb unbestreitbar als
adikema, und zwar als das adikema «a» (1135b 19–24) zu gelten haben. 51 Da
48
49
50
51
Siehe dazu oben S. 288 mit Anm. 24; 291f. 321f. 338–342.
Ramsauer (1878) 342 ad 1135b 18.
Dieselbe Deutung wurde später auch von Gintowt (1939) ausführlich begründet, vgl.
bes. 77f.; s. auch unten Anm. 77 zu S. 361.
Siehe oben S. 291f. 292f. 295f. 321f. Gemeint sind hier und, wenn nicht anders vermerkt, im folgenden die freiwilligen Handlungen diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikå sumba¤nei to›w ényr⋲poiw (EN V 8. 1135b 21f.), die auch die Unbe-
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D. Das höllische Weben
ferner Aristoteles die im Affekt vollzogenen Handlungen in EN V 8 1135b
19–24 auch tatsächlich eindeutig und explizit dem adikema «a» zuordnet,
können sie unmöglich zugleich auch zu dem hamartema gezählt werden. Somit scheidet Ramsauers – selten zur Kenntnis genommene, jedoch für die
ganze spätere Diskussion ‘wegweisende’ und bis heute nicht widerlegte –
Deutung ein für alle Mal aus.
3. Lösungsversuche und Aporien 2: Jackson
Weiter, entschlossener und umsichtiger, aber in dieselbe Richtung ging ein
Jahr später Henry Jackson. Zum einen verwandelte er Ramsauers Deutung
der érxØ ... t∞w afit¤aw in 1135b 18f. als der érxØ ... t∞w égno¤aw aufgrund desselben Verständnisses der drei Schädigungsarten in eine von ihm auch unmittelbar in den Text gesetzte Konjektur. 52 Eine auf den ersten Blick plausible
Parallele für seine Konjektur und zugleich eine Bestätigung seiner Interpretation glaubte er dabei in EN III 5. 1113b 30–33 gefunden zu haben, an der bereits oben behandelten Stelle also, an der Aristoteles die Handlungen aus
selbstverschuldeter Unwissenheit, wie z. B. die eines Betrunkenen, aus der
Gruppe der unfreiwilligen Handlungen ausschließt, weil die – vorübergehende – Unwissenheit des Betrunkenen durch das Trinken zustandekam und
es dem Betrunkenen freistand, sich nicht zu betrinken (ka‹ går §p' aÈt“ t“
égnoe›n kolãzousin, §ån a‡tiow e‰nai dokª t∞w égno¤aw, oÂon to›w meyÊousi
diplç tå §pit¤mia: ≤ går érxØ [sc. toË égnoe›n vel t∞w égno¤aw] §n aÈt“:
kÊriow går toË mØ meyusy∞nai, toËto d' a‡tion t∞w égno¤aw).53 Zum anderen
sah er sich gezwungen, das ‘eigentliche’ hamartema (als ‘hamartema 2’) als
das (angebliche) Vergehen eines égno«n folgerichtig für freiwillig zu erklären,
weil solche Handlungen nach Aristoteles in der Tat als freiwillig zu gelten
haben. 54 Da jedoch Jackson nicht bestreiten konnte, daß die Handlungen im
Affekt in EN V 8 dem adikema «a» (=1135b 19–24) zugeordnet sind, redu-
52
53
54
herrschtheit betreffen, vgl. oben 338–342. Dazu gehört auch das Ùrg¤zesyai in EN III 1.
1110b 24–27, vgl. 1111a 22 – 1111b 3. Die Handlungen diå pãyow d¢ mÆte fusikÚn mÆt'
ényr⋲pinon sind dagegen nach EN V 8. 1136a 5–9 unfreiwillig, s. o. S. 300 mit Anm. 64.
Jackson (1879) 110f.
Siehe dazu oben S. 291f., und unten Anm. 58 zu S. 353, ferner 359–363.
Jackson (1879) 109. Er blieb leider nicht der einzige: Dyer (1965) 253 führte Jacksons
Deutung ad absurdum, indem er alle drei resp. vier Arten von Schädigung in EN V 8
für freiwillig erklärte und die hamartemata (als Oberbegriff für atychema und hamartema) generell als «injury committed through a voluntary act but in ignorance» definierte. Auch Bostock (2000) 120f. fand es «not clear», ob Aristoteles das hamartema
(als ‘hamartema 2’) als freiwillig oder unfreiwillig angesehen habe, jedoch immerhin
«likely», daß auch das hamartema wie das atychema unfreiwillig ist.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
353
zierte er die Bedeutung des ‘eigentlichen’, nunmehr für freiwillig erklärten
hamartema (als ‘hamartema 2’) auf die Schädigungen des Betrunkenen, den
Aristoteles auch in EN III 5. 1113b 30–33 als Beispiel für die selbstverursachte
Unwissenheit anführt, so daß die Schädigungsart èmartÆmata met' égno¤aw
nunmehr einerseits (als atychema = ‘hamartema 1’) aus den unfreiwilligen
Handlungen di' êgnoian über das Konkret-Einzelne und anderseits (als hamartema = ‘hamartema 2’) aus den freiwilligen Handlungen des Betrunkenen,
der im momentanen Zustand der Unwissenheit (égno«n) handelt, bestehen
sollte.55
Diese – ebenfalls bis heute nicht widerlegte – Deutung Jacksons, die immerhin noch 1979 von Anthony Kenny in einer einflußreichen Monographie
zur Handlungstheorie des Aristoteles vertreten wurde,56 ist freilich ebenso
falsch wie dessen Konjektur, und zwar aus denselben Gründen wie die Interpretation Ramsauers.57 Die Handlungen, die jemand aufgrund von Trunkenheit und daher im momentanen Zustand selbstverschuldeter Unwissenheit
über das Konkret-Einzelne vollzieht, sind – wie grundsätzlich alle Handlungen des égno«n, §ån a‡tiow e‰nai dokª t∞w égno¤aw – nach Aristoteles ebenso
freiwillig wie die Handlungen im Affekt, und haben deshalb als adikema, und
zwar als das adikema «a» zu gelten.58 Die von Jackson notgedrungen vollzo55
56
57
58
Jackson (1879) 109.
Kenny (1979) 59f. übernahm nicht nur Jacksons Konjektur (bes. 60 mit Anm. 1), sondern folgte auch sonst dessen Interpretation, indem er den – im momentanen Zustand
der Unwissenheit handelnden – Betrunkenen aus EN III 5 1113b 30–33 (und MM I 33.
1195a 31–36, wonach allerdings – und dies wurde von Kenney nicht erwähnt – der Betrunkene ein freiwilliges adikema begeht, s. dazu unten Anm. 97 zu S. 369) als Beispiel
für das ‘hamartema im engeren Sinne’ (i.e. ‘hamartema 2’) anführte. Im Unterschied zu
Jackson aber hielt Kenny (1979, 59) auch das hamartema (als ‘hamartema 2’) für unfreiwillig, ohne jedoch die daraus resultierenden, von Jackson gesehenen Schwierigkeiten zu erklären, geschweige denn zu beseitigen.
Die Konjektur, wenn auch nicht unbedingt die mit ihr verbundene Interpretation, wurde unvorsichtigerweise u.a. auch von Susemihl (in seiner EN-Ausgabe Lipsiae 1880),
Lucas (1968) 301f. mit Anm. 1 zu S. 302 (vgl. dazu unten Anm. 103 zu S. 371f.) und
Fuhrmann (21992) 206 Anm. 77 zu S. 43 übernommen. Joachim/Rees (1951) 157 zögerten, sich festzulegen: «If one follows Jackson the distinction between étÊxhma und
èmãrthma will perhaps correspond to that between acts done di' êgnoian and acts done
égno«n as drawn in iii. 11110b 18–30.» Die Frage, ob und aus welchen Gründen man
Jacksons Konjektur und Deutung folgen soll oder nicht, beantworteten sie freilich
nicht.
Vgl. oben S. 291f. 292f. 295f. 321f. Es darf nämlich nicht vergessen werden, daß in EN
III 5 1113b 30–33, an der Stelle also, auf die Jackson sich zur Begründung sowohl seiner
Interpretation als auch seiner Konjektur berief, der Betrunkene (oder vielmehr die doppelte Strafe für dessen Vergehen) als ein – dem postiven Recht und der Gerichtspraxis
entnommenes – bestätigendes Beispiel für die EN III 5. 1113b 19–21 formulierte These
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D. Das höllische Weben
gene und deshalb auch künstliche Trennung der Handlungen des Betrunkenen von den Handlungen im Affekt war nicht nur von vornherein unwahrscheinlich, sondern lief auch der Handlungstheorie des Aristoteles zuwider,
der den Betrunkenen – meist zusammen mit dem Schlafenden – immer wieder
lediglich als ein klärendes Beispiel, als «eine dramatische Analogie» 59 für den
Unbeherrschten oder im Affekt Handelnden anführt, die zwar über das
handlungsrelevante Wissen verfügen, jedoch im momentanen Zustand der
Unwissenheit handeln. 60 Oder sollte vielleicht das aristotelische hamartema
59
60
gebracht wird: efi d¢ taËta fa¤netai ka‹ mØ ¶xomen efiw êllaw érxåw énagage›n parå tåw
§n ≤m›n, œn ka‹ afl érxa‹ §n ≤m›n, ka‹ aÈtå §f' ≤m›n ka‹ •koÊsia. Die Beispiele – auch
das des Betrunkenen – werden dann (1113b 21–23) folgendermaßen eingeleitet: toÊtoiw
d' ¶oike marture›syai ka‹ fid¤& Íf' •kãstvn ka‹ Íp' aÈt«n t«n nomoyet«n ... Anhand
der Beispiele des Betrunkenen (1113b 30–33) und des Sorglosen (1113b 33 – 1114a 4,
dazu unten S. 359–363) entwickelt und erläutert Aristoteles ferner lediglich ein argumentatives Modell, mit dessen Hilfe er anschließend (1114a 4 – 1115a 3) die Hauptthese
des Kapitels begründet, daß afl ßjeiw und afl t∞w cux∞w kak¤ai •koÊsio¤ efisin, daß also
die charakterliche Verfassung insofern freiwillig ist, als deren érxÆ genauso in uns liegt,
wie beim Betrunkenen und Sorglosen die érxÆ ihrer – daher eben selbstverschuldeten –
Unwissenheit in ihnen selbst liegt (vgl. bes. 1114b 18–22; 1114b 26 – 1115a 3). Da die
Handlungen aus selbstverschuldeter Unwissenheit (§ån a‡tiow e‰nai dokª t∞w égno¤aw,
EN III 5. 1113b 30f.) nach Aristoteles freiwillig sind, ist auch die von Jackson vorgeschlagene Konjektur ad 1135b 18f. (érxØ ... t∞w égno¤aw) ausgeschlossen: freiwillige
Handlungen sind nach Aristoteles EN V 8 (1135a 19–23) adikemata.
Vgl. Gosling (1993), hier 364, der den Schlafenden und den Betrunkenen zu Recht als
«rather dramatic analogues» für den Unbeherrschten bezeichnete. Es darf allerdings
dabei nicht übersehen werden, daß der Betrunkene Aristoteles nicht nur als Beispiel für
den Unbeherrschten dient, sondern auch, wie in EN III 1. 1110b 24–27, generell für
einen, der über das handlungsrelevante Wissen zwar im Prinzip verfügt, jedoch davon
keinen Gebrauch macht (resp. machen kann), sondern im momentanen Zustand der
Unwissenheit handelt.
EN VII 3. 1147a 10–15: ¶ti tÚ ¶xein tØn §pistÆmhn êllon trÒpon t«n nËn =hy°ntvn
Ípãrxei to›w ényr⋲poiw: §n t“ går ¶xein m¢n mØ xr∞syai d¢ diaf°rousan ır«men tØn
ßjin, Àste ka‹ ¶xein pvw ka‹ mØ ¶xein, oÂon tÚn kayeÊdonta ka‹ mainÒmenon ka‹ ofinvm°non. éllå mØn oÏtv diat¤yentai o· ge §n to›w pãyesin ˆntew, vgl. 1147b 6–9: p«w d¢
lÊetai ≤ êgnoia ka‹ pãlin g¤netai §pistÆmvn ı ékratÆw, ı aÈtÚw lÒgow ka‹ per‹ ofinvm°nou ka‹ kayeÊdontow ka‹ oÈk ‡diow toÊtou toË pãyouw, ˘n de› parå t«n fusiolÒgvn
ékoÊein, VII 8. 1151a 3–5: ˜moiow går ı ékratÆw §sti to›w taxÁ meyuskom°noiw ka‹ Íp'
Ùl¤gou o‡nou ka‹ §lãttonow µ …w ofl pollo¤, VII 10. 1152a 14–18: oÈd¢ dØ …w ı efid∆w ka‹
yevr«n [sc. ı ékratØw], éll' …w ı kayeÊdvn µ ofinvm°now. ka‹ •k∆n m°n (trÒpon gãr tina
efid∆w ka‹ ˘ poie› ka‹ o ßneka), ponhrÚw d' oÎ: ≤ går proa¤resiw §pieikÆw: Àsy' ≤mipÒnhrow. ka‹ oÈk êdikow: oÈ går §p¤boulow ..., vgl. auch MM II 6. 1201b 39 – 1202a 6:
OÈd¢n oÔn êtopon oÈd' oÏtv sumbÆsetai §p‹ toË ékratoËw, tÚn ¶xonta tØn §pistÆmhn
faËlÒn ti prãttein. ¶sti går …w §p‹ t«n meyuÒntvn. ofl går meyÊontew, ˜tan aÈto›w ≤
m°yh épallagª, pãlin ofl aÈto‹ efis¤n: oÈk §j°pesen d' aÈt«n ı lÒgow oÈd' ≤ §pistÆmh,
éll' §kratÆyh ÍpÚ t∞w m°yhw, épallag°ntew d¢ t∞w m°yhw pãlin ofl aÈto‹ efis¤n. ımo¤vw
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
355
(als ‘hamartema 2’) neben den Handlungen des Betrunkenen auch die handlungstheoretisch exquisiten ‘Handlungen des Schlafenden’ mit einschließen?
4. Lösungsversuche und Aporien 3: Stewart, casus, culpa und dolus
4.1. Das Problem: Anon. in EN V und Digesta Iustiniani
Es gab freilich noch eine dritte – und letzte – Möglichkeit, die vom Anonymus
in die Welt gesetzte Zweiteilung der èmartÆmata met' égno¤aw in atychema
und hamartema zu erklären, die im Prinzip bereits von John Alexander Stewart im Jahre 1892 vorgeschlagen wurde. Obwohl er Jacksons Konjektur
zurückwies, stimmte er dessen Interpretation aufs Ganze gesehen zu.61 Er
machte jedoch – zu Recht – darauf aufmerksam, daß an der von Jackson bemühten Stelle in EN III 5 nicht nur von den Handlungen des Betrunkenen,
der seine Unwissenheit freiwillig verursacht (1113b 30 – 33), die Rede ist,
sondern unmittelbar danach (1113b 33 – 1114a 3) auch von solchen Handlungen in Unwissenheit, bei denen der Handelnde etwas nicht weiß, was man
wissen muß und was auch leicht zu wissen wäre (ì de› §p¤stasyai ka‹ mØ
xalepã §sti), und deshalb genauso seine Unwissenheit durch Sorglosigkeit,
di' ém°leian, selber verursacht, wie der Betrunkene die seine durch das Trinken.62 Denn genauso, wie es dem Betrunkenen freistand, sich nicht zu betrinken (kÊriow går toË mØ meyusy∞nai, 1113b 32f.), stand es auch dem Sorglosen
frei, sich darum, ì de› §p¤stasyai ka‹ mØ xalepã §sti, zu kümmern (toË går
§pimelhy∞nai kÊrioi, 1114a 3), so daß man auch von dem di' ém°leian Unwissenden und unwissend Handelnden sagen kann, daß er a‡tiow t∞w égno¤aw
ist. Daher schlug Stewart folgerichtig vor, unter dem hamartema (als ‘hamartema 2’) in EN V 8 sowohl die Handlungen des Betrunkenen als auch die
Handlungen des di' ém°leian Unwissenden zu verstehen.63
Schwerwiegender war jedoch, daß Stewart den so gedeuteten Katalog der
drei Schädigungsarten – 1) atychema (= ‘hamartema 1’) als eine unfreiwillige
Handlung di' êgnoian, 2) hamartema (= ‘hamartema 2’) als ein Vergehen des
61
62
63
oÔn ¶xei ı ékratÆw ... Dem entspricht auch, daß ofinoflug¤a auf einer Affektschwäche
beruht (EE II 3. 1221b 15–17) und zur ékolas¤a gehört (EE III 2. 1231a 18–21; EN III
5. 1114a 27–28).
Stewart (1892) vol. I, 501 ordnet dem atychema (als ‘hamartema 1’) die unfreiwilligen
Handlungen di' êgnoian, dem hamartema (als ‘hamartema 2’) aber nicht generell alle
Handlungen des égno«n, sondern vor allem die Handlungen des Betrunkenen zu.
EN III 5. 1113b 33 – 1114a 3: ka‹ toÁw égnooËntãw ti t«n §n to›w nÒmoiw, ì de› §p¤stasyai ka‹ mØ xalepã §sti, kolãzousin, ımo¤vw d¢ ka‹ §n to›w êlloiw, ˜sa di' ém°leian égnoe›n dokoËsin, …w §p' aÈto›w ¯n tÚ mØ égnoe›n: toË går §pimelhy∞nai kÊrioi.
Stewart (1892) vol. I, 502: «blãbai inflicted by a drunken or careless person».
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356
D. Das höllische Weben
di' ém°leian égno«n, 3) adikema – mit der im römischen Recht der späten
Kaiserzeit geläufigen Unterscheidung von 1) casus als einem nicht vorhersehbaren Zufall, 2) culpa als einem fahrlässigen Vergehen (das vorhersehbar war
und deshalb auch von einem Vorsichtigen, a diligente, hätte vermieden werden können) und 3) dolus als einem vorsätzlichen Verbrechen in Zusammenhang brachte64 und dabei auf ein Beispiel verwies, anhand dessen in den Digesta Iustiniani (Dig. 9. 2, 31 Krüger/ Mommsen) der Unterschied zwischen
casus und culpa erläutert wird, und das dem Beispiel, anhand dessen der Anon.
in EN V 8 den Unterschied zwischen dem atychema und hamartema als zwei
Formen der hamartemata in Unwissenheit erläuterte, aufs beste entsprach:
Si putator ex arbore ramum cum deiceret vel machinarius hominem praetereuntem
occidit, ita tenetur, si is in publicum decidat nec ille proclamavit, ut casus eius evitari possit. Sed Mucius etiam dixit, si in privato idem accidisset, posse de culpa agi:
culpam autem esse, quod cum a diligente provideri poterit, non esset provisum aut
tum denuntiatum esset, cum periculum evitari non possit. secundum quam
rationem non multum refert, per publicum an per privatum iter fieret, cum
plerumque per privata loca volgo iter fiat. Quod si nullum iter erit, dolum dumtaxat
praestare debet, ne immittat in eum, quem viderit transeuntem: nam culpa ab eo
exigenda non est, cum divinare non potuerit, an per eum locum aliquis transiturus
sit. 65
Während also der Anonymus in EN V 8 für das hamartema (als ‘hamartema
2’) einen fahrlässigen Speerwerfer als Beispiel anführte, der den Speer auf einer Straße wirft und dabei einen Passanten trifft, obwohl er damit zu rechnen
hätte, daß er auf der Straße einen Passanten treffen könnte,66 handelt das Beispiel in den Digesten von einem, der beim Baumbeschneiden einen Ast auf die
Straße hinunterwirft und damit einen Passanten trifft, obschon er damit rechnen müßte, daß er auf der sei es öffentlichen sei es privaten Straße jemanden
treffen könnte. In den beiden – zum Verwechseln ähnlichen – Fällen läge nach
dem römischen Strafrecht der Kaiserzeit eine culpa, eine fahrlässige Schädigung (und im schlimmsten Fall Tötung), vor, weil sie in den beiden Fällen –
im Unterschied zu dem nicht vorhersehbaren casus – von einem um- und vor64
65
66
Stewart (1892) vol. I, 502f.; vgl. schon Michelet (11829; zitiert nach 21848) vol. 2, 186
und dens. (1828) 97.
Zum Unterscheidung casus-culpa vgl. auch Dig. 9. 2, 52, 4 und 10. 3, 26.
Vgl. Anon. in EN V 8. 1135b 16–19, p. 238, 2–8 (Heylbut) [a = atychema casus] e‡h d'
ín paralÒgvw ginÒmena tå spãnia ka‹ éprosdÒkhta, oÂon efi ... gumnazom°nou §n t“
toioÊtƒ xvr¤ƒ ka‹ ékont¤zontow §n ⁄ oÈde‹w §tÊgxanen n, eÍr°yh tiw t«n ofiket«n épÚ
tÊxhw Ãn §n aÈt“ ka‹ perip¤ptvn t“ ékont¤ƒ. tå går toiaËta parãlogã te ka‹ éprosdÒkhta. [b = hamartema culpa] ˜sa d¢ mØ ¶xei m¢n tÚ parãlogon, égnooËntow m°ntoi
g¤netai, taËta èmartÆmata. ı går §n ıd“ ékont¤zvn, §n ¬ efikÚw e‰na¤ tina, ka‹ tux⋲n
tinow ≤mãrthke.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
357
sichtigen Menschen hätte vorausgesehen und vermieden werden können und
müssen.
Daß Stewart selbst zwischen den Handlungen des Betrunkenen (i.e. des
aufgrund von Trunkenheit Unwissenden) und den Handlungen des di'
ém°leian Unwissenden gemäß EN III 5 nicht unterschied und die beiden
Handlungsarten dem hamartema (als ‘hamartema 2’) zuwies, änderte nichts
daran, daß sich bald nach ihm die bis heute nicht nur unter den Rechtshistorikern verbreitete, zuerst, wenn nicht alles täuscht, von Richard Loening im
Jahre 1903, zuletzt von Richard Sorabji im Jahre 1980 energisch vertretene
Interpretation entwickelte, die in EN V 8 unter dem atychema (als ‘hamartema 1’) – nach wie vor – den unfreiwilligen Fehler di' êgnoian, nun allerdings
im Sinne von casus, unter dem hamartema aber (als ‘hamartema 2’) die fahrlässige Schädigung di' ém°leian im Sinne von culpa verstanden wissen will
und in Aristoteles den Begründer der Unterscheidung casus – culpa – dolus
und generell der römischen strafrechtlichen Zurechnungslehre der späten
Kaiserzeit feiert. 67 Während bei Ramsauer und Jackson das Verständnis der
érxØ t∞w afit¤aw in 1135b 18f. als der érxØ t∞w égno¤aw im Zentrum ihrer Argumentation stand,68 rückte bei Stewart und seinen Nachfolgern bei der Ab67
68
Loening (1903) 210–235; vgl. schon Burnet (1900) 236f.; ferner Maschke (1926) 157f.,
Kübler (1930); Gauthier/Jolif (1957/58) 400f.; Sorabji (1980) 272–287, bes. 278–281; vgl.
291–298. Allerdings versteht Sorabji (1980) 280 unter dem hamartema (als ‘hamartema
2’) genauso wie Stewart (1892), wenn auch ohne ihn zu erwähnen, neben den «negligent
injuries», die im Zentrum seines Interesses stehen, auch die Handlungen des Betrunkenen. Auf die daraus resultierenden Schwierigkeiten (dazu gleich unten bes. S. 363) ging
er freilich nicht ein. Vgl. ferner Zaibert (1998) 278–281.
Stewart (1892) vol. I, 504 ad 1135b 18 deutete érxØ ... t∞w afit¤aw gegen Jackson als
«principium causae» (so schon Muret, 1565, 318), vgl. Hipp., De prisca medicina 1, 1ff.:
ÑOkÒsoi §pexe¤rhsan per‹ fihtrik∞w l°gein µ grãfein, ÍpÒyesin sf¤sin aÈt°oisin
Ípoy°menoi t“ lÒgƒ, yermÚn, µ cuxrÚn, µ ÍgrÚn, µ jhrÚn, µ êll' ˜ ti ín §y°lvsin, §w
braxÁ êgontew, tØn érxØn t∞w afit¤hw to›sin ényr⋲poisi t«n noÊsvn te ka‹ toË yanãtou,
ka‹ pçsi tØn aÈt°hn, ferner [Ar.] Mech. 1. 847b 16f.: pãntvn d¢ t«n toioÊtvn ¶xei t∞w
afit¤aw tØn érxØn ı kÊklow. An beiden Stellen bedeutet die Wendung principium causae,
«the origin of the cause» resp. «original cause». Das Verständnis von érxØ ... t∞w afit¤aw
in EN V 8. 1135b 18f. wurde schon immer durch die Interpretation des Anon. in EN V
8, der freilich selbst diesen für Aristoteles singulären Ausdruck weder erwähnt noch erklärt, beeinflußt und erschwert. Der Ausdruck kann hier natürlich weder «principium
culpae» bedeuten, wie Vettori in seiner moralisierenden Übersetzung (1584) 298 wollte,
noch ist afit¤a mit Burnet (1900) ad loc. als crimen «charge, offence», «Beschuldigung»
zu verstehen; auch die unentschlossene Übersetzung von Dirlmeier («Ursache des Falschen», was für afit¤a als crimen ungenau und als culpa zu schwach ist) trifft nicht zu.
Denn afit¤a als crimen kommt bei Aristoteles so gut wie nicht vor, und érxØ t∞w afit¤aw
ist überhaupt kein juristischer Ausdruck und ergibt in diesem (handlungstheoretischen)
Kontext überhaupt Sinn nur in Hinblick auf die für die Handlungstheorie des Aristo-
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D. Das höllische Weben
grenzung des atychema (als ‘hamartema 1’) vom hamartema (als ‘hamartema
teles zentrale Frage, wer resp. was die Handlung in Bewegung bringt und verursacht,
d. h. um das bewegende Prinzip und die Ursache einer Handlung, und ob sie ¶jvyen
oder ¶svyen liege. Vgl. die Bestimmungen der unter Zwang ausgeführten Handlungen
in EN III 1. 1110a 1–4: b¤aion d¢ o ≤ érxØ ¶jvyen, toiaÊth oÔsa §n √ mhd¢n sumbãlletai ı prãttvn µ ı pãsxvn, vgl. 1110b 15f.: ¶oike dØ tÚ b¤aion e‰nai o ¶jvyen ≤ érxÆ,
vgl. EE II 7. 1224b 11–13: tØn går ¶jvyen érxÆn ... énãgkhn l°gomen, EE II 7. 1224b
14f.: ˜tan d' ¶svyen ≤ érxÆ, oÈ b¤&, vgl. De respir. 16. 478b 24–26: yãnatow d' §st‹n ı
m¢n b¤aiow ı d¢ katå fÊsin, b¤aiow m¢n ˜tan ≤ érxØ ¶jvyen ¬, katå fÊsin d' ˜tan §n
aÈt“, vgl. ferner Met. VIII 7. 1049a 11–13: ka‹ §p‹ t«n êllvn …saÊtvw ˜svn ¶jvyen ≤
érxØ t∞w gen°sevw. ka‹ ˜svn dØ §n aÈt“ t“ ¶xonti ..., s. dazu oben S. 288f. 290f. 293 mit
Anm. 41; 298 mit Anm. 55. Diese érxØ (t∞w kinÆsevw), das bewegende Prinzip der
Handlung, kann aber auch als deren Ursache, afit¤a, betrachtet und verstanden werden:
EN III 1. 1110b 2f.: ıpot' ín ≤ afit¤a §n to›w •ktÚw [= ≤ érxØ ¶jvyen] ¬ ka‹ ı prãttvn
mhd¢n sumbãllhtai. Wenn man aber nicht unter Zwang handelt, dann ist die érxØ §n
t“ prãttonti (1110b 4), dann ist es gelo›on afitiçsyai tå §ktÒw (1110b 13), vgl. auch
MM I 14. 1188b 6–14: ˜soiw m¢n oÔn §stin §ktÚw ≤ afit¤a toË parå fÊsin ti µ par' ì
boÊlontai poie›n, §roËmen biazom°noiw ì ín poi«si poie›n: §n oÂw d' §n aÈto›w §stin ≤
afit¤a, oÈk°ti toÊtouw biãzesyai §roËmen. ToË oÔn bia¤ou otow ≤m›n ¶stv ı ırismÒw, œn
§ktÒw §stin ≤ afit¤a, Íf' ∏w biãzontai prãttein (œn d' §ntÚw ka‹ §n aÈto›w ≤ afit¤a, oÈ
b¤a), vgl. ferner EN V 9. 1136b 28f.; VI 4. 1140a 13. 15f., Phys. II 1, 192b 20–30: …w
oÎshw t∞w fÊsevw érx∞w tinÚw ka‹ afit¤aw toË kine›syai ka‹ ±reme›n §n ⁄ Ípãrxei
pr⋲tvw kay' aÍtÚ ka‹ mØ katå sumbebhkÒw … ımo¤vw d¢ ka‹ t«n êllvn ßkaston t«n
poioum°nvn: oÈd¢n går aÈt«n ¶xei tØn érxØn §n •aut“ t∞w poiÆsevw, éllå tå m¢n §n
êlloiw ka‹ ¶jvyen, oÂon ofik¤a ka‹ t«n êllvn t«n xeirokmÆtvn ßkaston ... Rh. I 10.
1369a 32– 69b 6: ¶sti d' épÚ tÊxhw m¢n tå toiaËta gignÒmena, ˜svn ¥ te afit¤a éÒristow
... fÊsei d¢ ˜svn ¥ t' afit¤a §n aÈto›w [implizit bedeutet das übrigens, daß im Unterschied zum Fall «fÊsei» bei den Handlungen épÚ tÊxhw – genauso wie bei den Handlungen b¤& – die afit¤a ¶jvyen liegen muß], vgl. Phys. II 5. 197b 18–22: Àste fanerÚn
˜ti §n to›w èpl«w ßnekã tou gignom°noiw, ˜tan mØ toË sumbãntow ßneka g°nhtai œn ¶jv
tÚ a‡tion, tÒte épÚ toË aÈtomãtou l°gomen: épÚ tÊxhw d°, toÊtvn ˜sa épÚ toË
aÈtomãtou g¤gnetai t«n proairet«n to›w ¶xousi proa¤resin, vgl. auch II 6. 197b 36f.
toË m¢n går ¶jv tÚ a‡tion, toË d' §ntÒw. Vgl. schließlich EE II 6. 1223a 4–9: Àste ˜svn
prãjevn ı ênyrvpÒw §stin érxØ ka‹ kÊriow, fanerÚn ˜ti §nd°xetai ka‹ g¤nesyai ka‹ mÆ
... ˜sa d' §f' aÍt“ §sti poie›n µ mØ poie›n, a‡tiow toÊtvn aÈtÚw §st¤n: ka‹ ˜svn a‡tiow,
§f' aÍt“, 1223b 14–16: d∞lon ˜ti ka‹ ≤ éretØ ka‹ ≤ kak¤a per‹ taËt' §stin œn aÈtÚw
a‡tiow ka‹ érxØ prãjevn. lhpt°on êra po¤vn aÈtÚw a‡tiow ka‹ érxØ prãjevn. Diesem
Gebrauch im handlungstheoretischen Kontext entspricht übrigens die synonyme
Verwendung von érxØ, afit¤a und a‡tion z. B. im Buch A der Metaphysik (982b 29, 983a
29, 986b 33 etc.). Trotzdem bleibt der Ausdruck érxØ t∞w afit¤aw für Aristoteles
singulär. Wenn man jedoch t∞w afit¤aw nicht, was an sich durchaus denkbar und zu
erwägen wäre, als eine bereits unter dem Einfluß des Anon. in EN V 8 entstandene,
moralisierende Glosse streichen will, wird man érxØ t∞w afit¤aw im Sinne von «das
bewegende Prinzip der Handlung, das zugleich deren Ursache ist» verstehen müssen;
vgl. etwa EN V 6. 1134a 21 érxØ proair°sevw. Galuzzi (1632) 976 paraphrasierte daher
wohl richtig mit «cum agendi principium & potestas in nobis est».
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
359
2’) das Kriterium paralÒgvw/ mØ paralÒgvw in 1135b 16f. in den Vordergrund, das – im Einklang mit den Erläuterungen des Anon. in EN V 8 und der
Definition der culpa in den Digesta Iustiniani69 – dahingehend ausgelegt
wurde, daß das hamartema als die Handlung, die nicht paralÒgvw geschieht,
nicht unerwartet geschehe und darum vom – eben gerade deshalb fahrlässig –
Handelnden hätte vorausgesehen und somit auch vermieden werden können
und müssen.
Es besteht auch in der Tat kein Zweifel, daß die von Stewart begründete
Interpretation – im Unterschied zu denjenigen Ramsauers und Jacksons – die
Intention des anonymen EN-Kommentators, dessen Äußerungen immerhin
der ganzen Debatte zugrundeliegen, trifft und daß der Anonymus tatsächlich
an die im römischen Recht seiner eigenen Zeit geläufige Unterscheidung zwischen dem unvorhersehbaren casus und der fahrlässigen culpa dachte und die
aristotelische Definition der drei Schädigungsarten im Sinne dieser strafrechtlichen Unterscheidung des römischen Rechts zu deuten versuchte. Die Frage
ist bloß, ob Aristoteles, dem ein Bürger des römischen Kaiserreichs zu sein
nicht beschieden war, mit dem Anonymus, Stewart und denen, die ihnen in
den letzten 100 Jahren folgten, einverstanden gewesen wäre.70
4.2. Aristoteles versus Anon. in EN V 8 und Digesta Iustiniani
4.2.1. Handlungen di' ém°leian bei Aristoteles
Aristoteles selbst behandelt die di' ém°leian zustande kommende Unwissenheit an je einer Stelle in EE und EN. In EE II 9. 1225b 10–16 grenzt er – ähnlich wie EN III 1. 1110b 24–27 – die unfreiwilligen Handlungen di' êgnoian
resp. des di' êgnoian égno«n von den Handlungen ab, die zwar in Unwissenheit (also von einem égno«n), jedoch nicht aufgrund von Unwissenheit (di'
êgnoian) vollzogen werden. Als Beispiel für eine solche – offensichtlich
selbstverursachte und deshalb für die Handlung letztlich nicht kausale – Unwissenheit führt Aristoteles hier jedoch nicht – wie in EN III 1 – den Betrunkenen oder den Zornigen, sondern einen di' ém°leian Unwissenden an:
˜sa d' égno«n ka‹ diå tÚ égnoe›n, êkvn. [a] §pe‹ d¢ tÚ §p¤stasyai ka‹ tÚ efid°nai
dittÒn, ©n m¢n tÚ ¶xein, ©n d¢ tÚ xr∞syai tª §pistÆm˙, ı ¶xvn mØ xr⋲menow d¢ ¶sti m¢n
69
70
Vgl. oben S. 356 mit Anm. 66.
Dies wurde bereits von David Daube (1969) 131–156 mit zum Teil beachtlichen Argumenten bestritten, von denen Sorabji (1980) 280f. explizit lediglich ein einziges, sekundäres, in der Tat nicht zutreffendes und bereits von Schofield (1973), der jedoch im übrigen Daube zustimmte, berichtigtes Argument (bezüglich der Bedeutung des Begriffs
paralÒgvw in EN V 8. 1135b 16f.) behandelte; s. unten S. 366–368.
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D. Das höllische Weben
…w dika¤vw <ín> égno«n l°goito, ¶sti d¢ …w oÈ dika¤vw, oÂon efi di' ém°leian mØ
§xr∞to. [b] ımo¤vw d¢ ka‹ mØ ¶xvn tiw c°goito ên, efi ˘ =ñdion µ énagka›on ∑n, mØ ¶xei
di' ém°leian µ ≤donØn µ lÊphn [EE II. 9. 1225b 10–16]
Aristoteles unterscheidet somit in EE II 9 zwischen zwei verschiedene Formen der Unwissenheit di' ém°leian: Die erste (1225b 11–14) betrifft denjenigen, der zwar das handlungsrelevante Wissen über das Konkret-Einzelne hat
(d. h. im Prinzip weiß, wen er in Wirklichkeit schlägt oder womit er in Wirklichkeit schlägt etc.), jedoch – di' ém°leian – keinen Gebrauch davon macht.
Eine Handlung des auf diese Weise di' ém°leian Unwissenden, die hier nur
als Beispiel (oÂon 1225b 13) für die Handlungen des nicht di' êgnoian égno«n
angeführt wird, entspricht haargenau den Handlungen des im Affekt Handelnden und des Unbeherrschten, die alle – wie der Betrunkene – zwar über
das handlungsrelevante Wissen verfügen, jedoch es nicht gebrauchen, es nicht
wirksam werden lassen (können). 71 Der Sorglosigkeit kommt – und dies ist
nicht unwichtig – bei einer Handlung des di' ém°leian Unwissenden dieselbe
kausale Funktion zu, die Aristoteles sonst dem Affekt oder der Trunkenheit
zuschreibt. 72 Es besteht deshalb auch kein Zweifel, daß auch solche Handlungen des di' ém°leian Unwissenden nach Aristoteles als freiwillig zu gelten
haben und gemäß EN V 8 dem adikema «a» (= 1135b 19–24) zugeordnet werden müßten. 73
Anders scheint es auf den ersten Blick um die zweite Form der di'
ém°leian zustande kommenden Unwissenheit (1225b 14–16) bestellt, obwohl
Aristoteles betont, daß auch derjenige, der auf diese Weise di' ém°leian unwissend handelt, genauso wie im ersten Fall tadelnswert ist (ımo¤vw ... c°goito
ên 1225b 14f.). Im Unterschied zur ersten Form befindet sich der Handelnde
in diesem Fall nicht im Zustand momentaner Unwissenheit, sondern verfügt
über das handlungsrelevante Wissen in bezug auf das Konkret-Einzelne auch
wirklich nicht: er weiß also z. B. wirklich nicht, wen er in Wahrheit schlägt
oder womit er ihn in Wahrheit schlägt. Und trotzdem handelt er nach Aristoteles nicht aufgrund von Unwissenheit (di' êgnoian), sondern égno«n di'
ém°leian, weil er das handlungsrelevante Wissen (z. B. darüber, wen er in
Wirklichkeit schlägt oder womit er ihn in Wirklichkeit schlägt etc.) leicht
haben könnte und auch haben müßte (efi ˘ =ñdion µ énagka›on ∑n, mØ ¶xei,
1225b 15) und deshalb nur aufgrund seiner Sorglosigkeit nicht hat. Es ist dabei von Bedeutung, daß Aristoteles neben der Sorglosigkeit – im gleichen Zug
– wiederum Affektzustände als Ursache für eine solche selbstverschuldete und
71
72
73
Vgl. oben S. 321f. 338–341.
Vgl. oben S. 291 mit Anm. 34.
Es sei daran erinnert, daß Aristoteles EN V 8. 1135b 20f. die Handlungen diå yumÚn ka‹
êlla pãyh nur als ein Beispiel für das adikema «a» anführt: oÂon ... (1135b 20).
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
361
tadelnswerte Unwissenheit nennt: efi ... mØ ¶xei di' ém°leian µ ≤donØn µ lÊphn
(1225b 15f.). Diesen zweiten Fall der Unwissenheit di' ém°leian behandelt
nun Aristoteles auch im bereits mehrfach erwähnten Kapitel EN III 5 – neben
und unmittelbar nach dem Beispiel des Betrunkenen – als ein weiteres Beispiel
für eine Handlung in selbstverschuldeter Unwissenheit (1113b 33 – 1114a 3): 74
ka‹ toÁw égnooËntãw ti t«n §n to›w nÒmoiw, ì de› §p¤stasyai ka‹ mØ xalepã §sti, kolãzousin, ımo¤vw d¢ ka‹ §n to›w êlloiw, ˜sa di' ém°leian égnoe›n dokoËsin, …w §p'
aÈto›w ¯n tÚ mØ égnoe›n: toË går §pimelhy∞nai kÊrioi.
Auch hier ist vom handlungsrelevanten Wissen die Rede, das man haben muß
und das auch leicht zu haben wäre (ì de› §p¤stasyai ka‹ mØ xalepã). Auch
hier ist daher von einem die Rede, der dieses Wissen nur deshalb nicht hat,
weil er sich darum nicht kümmerte (…w §p' aÈto›w ¯n tÚ mØ égnoe›n: toË går
§pimelhy∞nai kÊrioi). Auch hier erscheint der di' ém°leian Unwissende in
Gesellschaft des Betrunkenen und im momentanen Zustand selbstverschuldeter Unwissenheit Handelnden auf der einen und der z«ntew éneim°nvw auf
der anderen Seite, die kakourgoËntew resp. §n pÒtoiw ka‹ to›w toioÊtoiw diãgontew freiwillig einen entsprechenden Charakter entwickeln und deshalb am
Ende aÈto‹ a‡tioi sind toË éd¤kouw µ ékolãstouw e‰nai (1114a 3–6).75
Spätestens hier, im Kontext von EN III 5,76 wird zunächst einmal deutlich,
daß nach Aristoteles auch diese Handlungen des di' ém°leian Unwissenden
freiwillig sind und daß der di' ém°leian unwissend Handelnde sich nur
unwesentlich von dem aufgrund von Trunkenheit unwissend Handelnden
unterscheidet, der freiwillig seine Unwissenheit verursacht, indem er sich betrinkt. Beide handeln zwar égnooËntew, jedoch nicht di' êgnoian, sondern aufgrund von Trunkenheit (diå m°yhn) oder Sorglosigkeit (di' ém°leian).77 Denn
genauso wie es dem – nach Aristoteles deshalb freiwillig handelnden – Betrunkenen freistand, sich nicht zu betrinken, stand es auch dem Sorglosen frei,
sich um das Wissen dessen zu kümmern, was man wissen muß und was auch
leicht zu wissen ist, und somit seine freiwillige, selbstverschuldete und tadelnswerte Unwissenheit zu vermeiden.78 Das bedeutet jedoch zwingend, daß
auch solche Handlungen des di' ém°leian Unwissenden – genauso wie die
74
75
76
77
78
Vgl. oben S. 291f. 352–354. 355. 357.
Vgl. schon Plat. Phdr. 256c 1f.: tãx' ên pou §n m°yaiw ≥ tini êll˙ émele¤& t∆ ékolãstv
aÈto›n Ípozug¤v labÒnte tåw cuxåw éfroÊrouw ...
Vgl. bes. oben Anm. 58 zu 353.
Darauf wies schon Gintowt (1939) 76f. hin, der daher – wie im Prinzip schon Ramsauer
– folgerichtig unter dem hamartema (als ‘hamartema 2’) a l l e Handlungen des égno«n
(diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikå, diå m°yhn, di' ém°leian), jedoch
nicht di' êgnoian verstanden wissen wollte.
Vgl. oben S. 291f. 352–354, 355.
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362
D. Das höllische Weben
Handlungen des Betrunkenen –, weil freiwillig, gemäß EN V 8 als adikema zu
gelten haben:79
éd¤khma d¢ ka‹ dikaioprãghma Àristai t“ •kous¤ƒ ka‹ ékous¤ƒ: ˜tan går •koÊ80
sion ¬, c°getai, ëma d¢ ka‹ éd¤khma tÒt' §st¤n: Àst' ¶stai ti êdikon m¢n éd¤khma
81
d' oÎpv, ín mØ tÚ •koÊsion prosª (1135a 19–23).
79
80
81
Daß sowohl die Handlungen des Betrunkenen (EN III 1; III 5), des Zornigen (III 1) als
auch des di' ém°leian égno«n (III 5, EE II 9) nach Aristoteles freiwillig sind und daher
nach EN V 8 als adikemata zu gelten haben, betonte im Prinzip, wenn auch zu hastig
und ungenau argumentierend, schon Daube (1969) 136–139. Um ihre Interpretation
aufrechterhalten zu können, behaupteten dagegen Loening (1903) 220 und – ohne Loening zu erwähnen – Sorabji (1980) 273f., daß in EN V 8 – im Unterschied zu EN III 1
und 5 sowie EE II 9 – nicht nur die Handlungen di' êgnoian, sondern alle Handlungen
in Unwissenheit als unfreiwillig definiert würden, und beriefen sich dabei merkwürdigerweise auf EN V 8. 1136a 5–9; ohne freilich zu erwähnen, geschweige denn zu bedenken, daß es sich an der von ihnen bemühten Stelle nicht generell um die Handlungen in
Unwissenheit handelt, sondern ausschließlich um die Handlungen des égno«n diå
pãyow d¢ mÆte fusikÚn mÆt' ényr⋲pinon, die – im Unterschied zu den Handlungen diå
yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikå sumba¤nei to›w ényr⋲poiw (EN V 8.
1135b 21f.), die bereits zuvor dem freiwilligen adikema zugeordnet wurden – in der Tat
als unfreiwillig betrachtet werden; nach Aristoteles besteht nämlich zwischen dem
yumÚw ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikå sumba¤nei to›w ényr⋲poiw, auf der einen
und dem pãyow mÆte fusikÚn mÆt' ényr⋲pinon auf der anderen Seite ein fundamentaler
Unterschied, vgl. dazu oben S. 300 mit Anm. 64; Anm. 51 zu S. 351. Sorabji (1980) 273
meinte außerdem, daß in der dem Katalog der Schädigungsarten vorausgehenden Definition der freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen (EN V 8. 1135a 23–33; vgl. dazu
oben S. 292–294) – wiederum im Unterschied zu EN III 1 und 5 sowie EE II 9 – zwischen den Handlungen di' êgnoian und den Handlungen des égno«n nicht unterschieden werde. Dies ist jedoch ausgeschlossen, weil Aristoteles sich dabei ausdrücklich auf
die frühere Definition der Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit – sei es in EN III 1 sei es in
EE II 9 – beruft (1135a 23; vgl. oben S. 293 mit Anm. 39). Indessen werden sowohl in
EE II 9. 1225b 1–16, bes. 1225b 10–16 als auch in EN III 1. 1110b 24–27 die unfreiwilligen Handlungen di' êgnoian (über das Konkret–Einzelne) von den Handlungen, die
zwar in Unwissenheit, jedoch nicht aufgrund von Unwissenheit (di' êgnoian) vollzogen
werden, abgegrenzt, wobei Aristoteles auschließlich die Handlungen di' êgnoian als
unfreiwillig betrachtet. Für die Verwendung vom einfachen égnoe›n für das égnoe›n di'
êgnoian vgl. EN V 8. 1135a 24 mit z. B. EN III 1. 1111a 1 und EE II 9. 1225b 9. Daß
Aristoteles den Unterschied zw. dem égnoe›n und dem égnoe›n di' êgnoian auch in EN
V 8 voraussetzt, wird ferner indirekt gerade in 1136a 6–9 bestätigt (dazu oben S. 300
mit Anm. 64, Anm. 51 zu S. 351). Es bleibt daher nur zu hoffen, daß diese nicht überzeugenden Argumente von Loening und Sorabji nie mehr wiederholt werden.
Nach EE II 9. 1225b 14f. sind die Handlungen des di' ém°leian Unwissenden tadelnswert: ımo¤vw ... c°goito ên, vgl. oben S. 359f. Vgl. auch EN III 1. 1109b 31f.: ka‹ §p‹ m¢n
to›w •kous¤oiw §pa¤nvn ka‹ cÒgvn ginom°nvn, §p‹ d¢ to›w ékous¤oiw suggn⋲mhw, §n¤ote d¢
ka‹ §l°ou.
Vgl. oben S. 292f., 296.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
363
Mit anderen Worten, Stewart hatte sicherlich Recht, indem er – im Prinzip
Jackson folgend – die Handlungen des di' ém°leian Unwissenden von den
Handlungen des Betrunkenen nicht trennen wollte. Sowohl in EE II 9 als
auch in EN III 5 dient die Handlung des di' ém°leian Unwissenden lediglich
als ein extremes Beispiel für das freiwillige Handeln in Unwissenheit im
Unterschied zum unfreiwilligen Handeln aufgrund von Unwissenheit (di'
êgnoian). Da aber die Handlungen des Betrunkenen (d. h. aufgrund von
Trunkenheit Unwissenden) ebensowenig von den Handlungen des aufgrund
von Affekt Unwissenden wie von den Handlungen des di' ém°leian Unwissenden geschieden werden können, scheint die Position von Ramsauer, der
unter dem hamartema (als ‘hamartema 2’) all e Handlungen des égno«n (sei
es diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikã, sei es diå m°yhn, sei es
di' ém°leian), jedoch nicht di' êgnoian subsumieren wollte, die einzige konsequent gedachte zu sein. Doch auch sie ist, wie dargetan, nicht haltbar, weil
diese Handlungen sich alle darin vom unfreiwilligen Handeln di' êgnoian
unterscheiden, daß sie freiwillig sind und deshalb auch alle – sofern es sich um
Schädigungen handelt – als adikema «a» (= 1135b 19–24) eingestuft werden
müssen.82
82
Gegen die Zuweisung der zweiten Form der di' ém°leian zustandekommenden Unwissenheit an das adikema «a» scheint freilich auf den ersten Blick der Umstand zu sprechen, daß man das adikema «a», wie erinnerlich, efid⋲w begeht (1135b 20). Während
diese Definition des adikema «a» zu den anderen freiwilligen Handlungen des égno«n
bestens paßt, zu den Fällen also, in denen der Handelnde im Prinzip über das handlungsrelevante Wissen bezüglich des Konkret-Einzelnen verfügt, es jedoch sei es diå
yumÚn ka‹ êlla pãyh (˜sa énagka›a µ fusikå), sei es diå m°yhn, sei es di' ém°leian
nicht ‘aktiviert’ und nicht gebraucht und deshalb zwar im Prinzip efid⋲w, jedoch égno«n
handelt, scheint nämlich derjenige, der das Wissen, das er haben müßte und das auch
leicht zugänglich ist, di' ém°leian wirklich nicht hat, zwar auch nicht di' êgnoian, sondern nur égno«n und deshalb zwingend freiwillig, jedoch trotzdem – paradoxerweise –
nicht efid⋲w zu handeln. Hat vielleicht Aristoteles, wie bereits Schofield (1973) 69f. aus
anderen Gründen vermutete, im Katalog der drei Schädigungsarten in EN V 8 diesen
extremen Sonderfall der freiwilligen Unwissenheit, der in seiner Handlungstheorie eine
paradoxe Ausnahme darstellte, einfach nicht berücksichtigt? Wir wissen es nicht. Fest
steht jedenfalls, daß für solche Handlungen keine besondere Schädigungsart vorgesehen
sein kann, weil sie nur als ein extremes Beispiel für die freiwilligen Handlungen eines
égno«n dienen und deshalb nur ein adikema «a» darstellen können. Nach EE II 9.
1225b 13f. würde derjenige, der von seinem Wissen z. B. di' ém°leian keinen Gebrauch
macht, zu Unrecht als égno«n bezeichnet, weil er nicht di' êgnoian égno«n, sondern
freiwillig handelt (was letztlich auch erklärt, warum Aristoteles in EN V 8. 1135 b 20
denjenigen, der z. B. aufgrund des Affekts und im Zustand momentaner Unwissenheit,
égno«n, freiwillig handelt, als wissend, efid⋲w, beschreibt, vgl. oben S. 295 mit Anm. 48;
321f.). Wäre Aristoteles vielleicht soweit gegangen, zu sagen, daß auch derjenige, der
das Wissen haben müßte und auch leicht haben könnte und nur di' ém°leian µ ≤donØn
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D. Das höllische Weben
4.2.2. casus/fortuna versus imprudentia versus culpa
Somit aber wird auch der zweite Teil von Stewarts Deutung, die auch vom
Anonymus selbst intendierte Gleichsetzung von atychema und hamartema in
EN V 8 mit casus und culpa des römischen Strafrechts, hinfällig. Wer schon
nach römischen Parallelen zu EN V 8 sucht, sollte lieber, statt in den Digesta
Iustiniani aus dem 6. Jh. n. Chr. zu wühlen, auf die rhetorischen Handbücher
des 1. Jh.s. v. Chr., z. B. auf Ciceros De inventione oder die anonyme Rhetorik ad Herennium einen Blick werfen. Während Rh. ad Alex. 4,7. 1427a 27–30
es, wie erinnerlich, als eine Methode der Verteidigung (tÚ épologikÒn) empfiehlt, die Schädigung efiw èmãrthma µ efiw étÊxhma êgein (d. h. zu zeigen, daß
es sich nicht um ein éd¤khma, sondern entweder um ein èmãrthma oder um
ein étÊxhma handelt), um auf diese Weise suggn⋲mhw tuxe›n zu können, und
Aristoteles in Rh. I 13. 1374b 4–9 letztlich im selben Zusammenhang èmãrthma und étÊxhma, die einen Anspruch auf die suggn⋲mh haben, vom éd¤khma
unterscheidet, führt Aristoteles in Rh. III 15. 1416a 14f. – offenbar auf eine
Variation desselben tÒpow der forensischen Rhetorik zurückgreifend – drei
Entschuldigungsgründe für eine Fehlhandlung an, und zwar, daß es sich um
[a] èmãrthma µ [b] étÊxhma µ [c] énagka›on
handle. Es besteht kein Zweifel, daß es hier um die dem Leser bereits aus Rh.
ad Alex. 4,7, Ar. Rh. I 13 und EN V 8 vertrauten èmãrthma und étÊxhma
handelt, die nun um das énagka›on erweitert sind. Wichtiger als diese Erweiterung ist, daß Cicero in De invent. 2, 94 (vgl. 1, 15. 41) die purgatio in
dieselben drei partes aufteilt:
[a] imprudentiam [= êgnoia]83, [b] casum, [c] necessitudinem,
83
µ lÊphn nicht hat und deshalb nicht di' êgnoian égno«n, sondern freiwillig égno«n
handelt – genauso wie derjenige, der di' ém°leian, diå yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikã, diå m°yhn vom Wissen, das er hat, keinen Gebrauch macht – zu Unrecht
als égno«n bezeichnet würde und deshalb – paradoxerweise – ebenfalls als efid⋲w zu gelten hat? Denn der Unterschied zwischen einem, der das Wissen im Prinzip hat und es
freiwillig nicht gebraucht, und einem, der sich um das Wissen, das jedem leicht zugänglich ist und ihm also im Prinzip jeder Zeit zur Verfügung steht, freiwillig nicht kümmert, ist nicht allzu groß: beide handeln nicht di' êgnoian, sondern freiwillig égnooËntew, beide sind t∞w égno¤aw a‡tioi. Und darauf kam es Aristoteles handlungstheoretisch
an. Pointiert formuliert: Wer freiwillig in Unwissenheit über das Konkret-Einzelne ist
und égno«n handelt, handelt nach Aristoteles efid⋲w. Oder anders herum: Wer zwar
égno«n, jedoch nicht di' êgnoian handelt, handelt nach Aristoteles efid⋲w (freilich mit
der Ausnahme der Handlungen im unnatürlichen und unmenschlichen Affekt gemäß
EN V 8. 1136a 7–9, vgl. o. S. 300 mit Anm. 64; Anm. 51 zu S. 351; Anm. 79 zu S. 362).
Vgl. De invent. 2, 95: imprudentia est cum scisse aliquid is qui arguitur negatur; vgl.
dazu oben S. 84 mit Anm. 15;
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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Nicht anders liegen die Dinge in Rh. ad Her. 1, 24, wo die purgatio dividitur
in [a] imprudentiam, [b] fortunam, [c] necessitatem.84
Dabei entspricht imprudentia [= êgnoia] zweifelsohne dem èmãrthma und
casus/fortuna dem étÊxhma. Allein schon die Tatsache, daß bei Cicero und
Rh. ad Her. èmãrthma mit imprudentia [= êgnoia] übersetzt und somit – genauso wie in Rhet. ad Alex. 4,8–9. 1427a 30–36 und Ar. EN V 885 – von vornherein mit êgnoia geradezu identifiziert wird, ist bemerkenswert. Schwerwiegender ist jedoch die Definition der imprudentia [= êgnoia] als èmãrthma
in Rh. ad Her. 2, 24:
[Rh. ad Her. 2, 23: purgatio ... dividitur in [c] necessitudinem, [b] fortunam, [a] imprudentiam ...]
Si autem [a] imprudentia reus se peccasse dicet, primum quaeretur,
[1] utrum potuerit scire an non potuerit; deinde,
[2] utrum data sit opera ut sciretur, an non;
[3] deinde, utrum casu nescierit an culpa .
Nam qui se propter vinum aut amorem aut iracundiam fugisse rationem dicet, is
animi vitio videbitur nescisse, non imprudentia ; quare non imprudentia se defendet,
sed culpa contaminabit personam ...
Cum [b] in fortunam causa conferetur ...
Das bedeutet: Rh. ad Her. grenzt imprudentia (= èmãrthma) als den Fall der
nicht verschuldeten Unwissenheit von den Handlungen in selbstverschuldeter
und daher auch sittlich und strafrechtlich zu verantwortender Unwissenheit
mit Hilfe derselben Kriterien ab, mit denen Aristoteles die unfreiwilligen
Handlungen di' êgnoian von den freiwilligen Handlungen des di' ém°leian
Unwissenden abgrenzt: 1) ob der Handelnde das Wissen hätte haben können
oder nicht, 2) ob er sich darum gekümmert habe oder nicht.86 Imprudentia (=
èmãrthma) würde also nur dann vorliegen, wenn 1) der Handelnde das Wissen nicht haben konnte und b) sich darum bemühte, das Wissen zu haben.
Hinzu kommt ein drittes Kriterium, das wohl auch die ersten zwei mit einschließen soll: 3) utrum casu nescierit an culpa. Wenn also der Handelnde das
Wissen hätte haben können und sich darum nicht gekümmert hat, oder aufgrund von Trunkenheit oder Affekt, propter vinum aut amorem aut iracundiam, das vorhandene Wissen nicht gebrauchte – was erstaunlicherweise genau dem freiwillig handelnden égno«n diå m°yhn oder diå yumÚn ka‹ êlla
84
85
86
Vgl. 2, 23: ea [sc. purgatio] dividitur in [c] necessitudinem, [b] fortunam, [a] imprudentiam.Vgl. dazu oben S. 296f. mit Anm. 50; 298f.
Vgl. oben S. 296f.
Vgl. oben S. 359–363.
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pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikã oder di' ém°leian bei Aristoteles entspricht –,
wenn er also seine Unwissenheit selbst verursachte und sie deshalb auch zu
verantworten hat, dann liegt der Fall culpa vor. Liegt aber culpa vor, dann
darf – und das ist entscheidend – nicht mehr von imprudentia (i.e. èmãrthma)
als purgatio die Rede sein: culpa, i.e. der Fall selbstverschuldeter Unwissenheit, schließt geradezu imprudentia (i.e. èmãrthma) als einen möglichen
Grund für purgatio aus. Hier wird zum einen deutlich, wo die Ursprünge der
strafrechtlichen Unterscheidung culpa/casus in Wahrheit zu suchen sind. Zum
anderen aber läßt sich dadurch auch der entscheidende Denkfehler des Anonymus in EN V 8 (und derer, die ihm folgten) erklären, der gewissermaßen
zwei grundverschiedene Dinge, die Unterscheidung von 1) fortuna/casus (=
[1] étÊxhma) und 2) imprudentia (= [2] èmãrthma) als zwei auseinanderzuhaltende partes der purgatio (und das bedeutet nach Aristoteles als zwei unfreiwillige und deshalb zu entschuldigende Schädigungsarten) auf der einen
und die Unterscheidung «utrum [1] casu an [2] culpa», mit deren Hilfe imprudentia (= èmãrthma) n ic h t von casus/fortuna (als étÊxhma), sondern von
culpa, von den Fällen selbstverschuldeter Unwissenheit abgegrenzt wird, auf
der anderen Seite verwechselt und vermengt hat. Indessen dürfen sie nicht
vermengt werden: casus/fortuna (als étÊxhma) hat mit casus des Kriteriums
«utrum casu an culpa» in Wirklichkeit ebensowenig zu tun, wie imprudentia
(als èmãrthma) als eine Schädigung aufgrund der nicht verschuldeten Unwissenheit mit culpa als einem Fall selbstverschuldeter Unwissenheit, die ja auch
nach Aristoteles, wie dargelegt, bereits zum adikema, und zwar zum adikema
«a» gehört. So scheint diese hilfreiche Parallele die Interpretation des Anonymus resp. die Gleichsetzung von hamartema mit culpa – zusätzlich – Lügen
zu strafen.
4.2.3. Berechenbarkeit versus Vermeidbarkeit
Da die freiwilligen Handlungen in Unwissenheit di' ém°leian (über das Konkret-Einzelne, das man wissen muß und leicht wissen könnte) einerseits von
Aristoteles unmöglich dem unfreiwilligen hamartema in EN V 8 hätten zugeordnet werden können und anderseits das hamartema unter keinen Umständen mit der culpa des römischen Strafrechts gleichgesetzt werden darf, erweist
sich im Grunde auch die ganze Diskussion um die genaue Bedeutung von
paralÒgvw/mØ paralÒgvw (in EN V 8 1135b 16f.) als nebensächlich.87 Gegen
die traditionelle, von Daube energisch, jedoch in der Tat nicht überzeugend
bekämpfte88 und von Schofield – gegen die Argumente von Daube zu Recht –
87
88
Vgl. oben S. 297, 357–359.
Daube (1969) 131–156, bes. 144f.; vgl. oben Anm. 70 zu S. 359.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
367
verteidigte Übersetzung 89 «beyond reasonable expectation/calculation» resp.
«wider alle vernünftige Erwartung/Berechnung» wäre eigentlich nichts einzuwenden (obwohl sie zweifelsohne bereits unter dem Einfluß der verfehlten
Interpretation des Anonymus entstanden war), 90 solange daraus nicht mit den
meisten Interpreten, die unter dem hamartema (als ‘hamartema 2’) um jeden
Preis die culpa des römischen Rechts resp. die fahrlässige Schädigung – oder
zumindest etwas, was irgendwie doch noch «culpable» wäre – verstanden
wissen wollen, der zweifellos falsche, weil von Aristoteles nicht intendierte,
und eben nicht nur von Daube, sondern auch von Schofield bekämpfte 91 und
zuletzt von Nancy Sherman92 hoffentlich endgültig zurückgewiesene Schluß
gezogen wird, daß nach Aristoteles die Schädigung, die nicht paralÒgvw geschieht, vom Handelnden hätte vorausgesehen und somit auch vermieden
werden können oder gar müssen. Das Kriterium paralÒgvw/mØ paralÒgvw
bestimmt bei Aristoteles hier grundsätzlich weder die (mangelnde) Vorsicht
noch die Strafbarkeit: sowohl das atychema, das paralÒgvw geschieht, als
auch das hamartema, das mØ paralÒgvw geschieht, sind beide per definitionem
unfreiwillig und deshalb gemäß der Handlungstheorie des Aristoteles per
definitionem aus dem Bereich des Lobs und Tadels und der strafrechtlichen
Verantwortung ausgeschlossen.93 Es war ihm hier in erster Linie um die Begreifbarkeit und rationale Erklärbarkeit der Kausalität dessen, was geschieht
und wie die Handlung resp. Schädigung zustande kommt, zu tun. Aristoteles
war nämlich von der Idee besessen, daß die tÊxh ein parãlogon, wider alle
Begreifbarkeit und Berechnung, ist, eine für die menschliche Vernunft unerklärbare Ursache, afit¤a êlogow ényrvp¤nƒ logism“ (EE VIII 2 [= VII 14]
1247b 7f.). Die Ursache dessen, was épÚ tÊxhw geschieht, ist unbegreifbar, unbestimmbar und liegt außerhalb des Handelnden.94 Liegt aber die Ursache im
89
90
91
92
93
94
Schofield (1973) 67–70. Im Übrigen stimmte Schofield jedoch Daube zu.
Vgl. auch die schlichte Paraphrase Lambins (1558) [242+] 31 Anm. 56 (ad V. 8. 1135b
16f. paralÒgvw): «parãloga autem, id est, inopinata, si modo hoc nomen Graeco
respondet, sunt ea, quae praeter communem omnium opinionem atque adeo praeter rationem fiunt.»
Schofield (1973) 68–70. bes. 69f.
Sherman (1992) 177–196; hier: 186–188; vgl. jetzt auch dies. (1997) 247f.
Siehe oben S. 287. 292f. 296–298.
Die tÊxh sowie tÚ aÈtÒmaton werden von Aristoteles in Phys. II 5–6 (196b 5 – 198a 14)
definiert; vgl. bes. 197a 18–20: ka‹ tÚ fãnai e‰na¤ ti parãlogon tØn tÊxhn Ùry«w: ı går
lÒgow µ t«n ée‹ ˆntvn µ t«n …w §p‹ tÚ polÊ, ≤ d¢ tÊxh §n to›w gignom°noiw parå taËta,
vgl. EE VIII 2 (= VII 14). 1248a 9–11: eÈtuxe›n m¢n oÔn doke›, ˜ti ≤ tÊxh t«n parå
lÒgon afit¤a, toËto d¢ parå lÒgon (parå går tØn §pistÆmhn ka‹ tÚ kayÒlou); EE VIII 2
(= VII 14). 1247a 31–35; ferner Rh. I 10. 1369a 32 – 69b 6: ¶sti d' épÚ tÊxhw m¢n tå toiaËta gignÒmena, ˜svn ¥ te afit¤a éÒristow ka‹ mØ ßnekã tou g¤gnetai ka‹ mÆte ée‹ mÆte
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368
D. Das höllische Weben
handelnden Menschen selbst, dann ist das, was geschieht, nicht mehr paralÒgvw, sondern rational nachvollziehbar, erklärbar und daher auch berechenbar. Das ist aber auch alles, was Aristoteles damit meint. Um mit Sherman zu
reden:
What happens by luck is beyond human reasoning. It is unaccountable ... Conversely, what is not paralogos is penetrable by human calculation. It is not beyond
our reason to account for what happened. Indeed, what happened may be psychologically surprising, even astounding, but at some level it is subject to coherent explanation. But, notice, this makes no commitment to the issue of avoidability, so
central to negligence. It says nothing about what care and application could have
avoided ... To be able to see how an agent came to make a mistake, how it followed
in a casually coherent way from judgement and character is to show that the
mistake is a cause penetrable to human reasoning ... Intelligibility and avoidance are
separate matters.95
Auch hier hilft es vielleicht, daran zu denken, daß bei Aristoteles die Handlungsbeschreibungen vom Standpunkt des außenstehenden und über das
handlungsrelevante Wissen verfügenden Beobachters gegeben werden.96
Wenn etwas paralÒgvw geschieht, dann geschieht es nach Aristoteles vor
allem für diesen Beobachter «beyond reasonable calculation», ist für ihn «unaccountable». Die Frage, ob der Handelnde selbst es hätte voraussehen und
vermeiden müssen, wird dabei gar nicht gestellt. Der Begriff mØ paralÒgvw
impliziert jedenfalls bei Aristoteles keine ém°leia (die eine Fehlhandlung, wie
dargetan, ohnehin freiwillig und somit auch zum adikema machen würde).
Daran sollte nicht mehr gerüttelt werden.
Somit kann von allen drei, durch den spätantiken Anonymus provozierten
Interpretationen mit gutem Gewissen – auf immer – Abschied genommen
werden.
5. Zurück zu Aristoteles
Wenn sich sowohl die Interpretation des Anonymus als auch alle drei von ihr
ausgehenden Interpretationen zwingend als verfehlt erwiesen haben, stellt
95
96
…w §p‹ tÚ polÁ mÆte tetagm°nvw (d∞lon d' §k toË ırismoË t∞w tÊxhw per‹ toÊtvn), fÊsei
d¢ ˜svn ¥ t' afit¤a §n aÈto›w ... Siehe ferner die Definition der eÈtuxÆmata in Rh. I 5.
1361b 39 – 1362a 1–12: eÈtux¤a d° §stin, œn ≤ tÊxh égay«n afit¤a, taËta g¤gnesyai ka‹
Ípãrxein µ pãnta µ tå ple›sta µ tå m°gista … ˜lvw d¢ tå toiaËta t«n égay«n §stin
épÚ tÊxhw §f' oÂw §stin ı fyÒnow. ¶stin d¢ ka‹ t«n parå lÒgon égay«n afit¤a tÊxh, oÂon
efi ofl êlloi édelfo‹ afisxro¤, ı d¢ kalÒw, µ ofl êlloi mØ e‰don tÚn yhsaurÒn, ı d' eren, µ
efi toË plhs¤on ¶tuxen tÚ b°low, toÊtou d¢ mÆ, µ efi mØ ∑lye mÒnow, ée‹ foit«n, ofl d¢ ëpaj
§lyÒntew diefyãrhsan: pãnta går tå toiaËta eÈtuxÆmata doke› e‰nai.
Sherman (1992) 187.
Vgl. oben S. 324f..
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
369
sich die Frage, worin denn nun der Unterschied zwischen den beiden vom
Anonymus postulierten Arten der hamartemata in Unwissenheit noch bestehen soll, respektive ob diese ohnehin sonderbar anmutende Zweiteilung noch
irgendwie aufrechterhalten werden kann und sollte. Hier gilt es, folgendes zu
bedenken: Den Interpretationen von Ramsauer, Jackson und Stewart und
ihrer Nachfolger liegt die These zugrunde, daß die unfreiwilligen Handlungen
aufgrund der nicht verschuldeten Unwissenheit über konkrete handlungsrelevante Umstände von Aristoteles dem atychema zugeordnet seien. 97 Dies
97
Als Bestätigung dafür berief man sich bisweilen gerne auf [Ar.] MM I 33. 1195a 15–22,
wonach derjenige, der aufgrund von Unwissenheit über das Objekt der Handlung oder
andere handlungsrelevante Umstände etwas Ungerechtes tut, ein étuxÆw ist resp.
étuxe›: ... ˜tan prãtt˙ katå proa¤resin ka‹ •kous¤vw ... ka‹ ˜tan efid∆w ka‹ ˘n ka‹ ⁄ ka‹
o ßneka, oÏtvw d¤kaion prãttei. ımo¤vw ka‹ …saÊtvw ka‹ ı êdikow ¶stai ı efid∆w ka‹ ˘n
ka‹ ⁄ ka‹ o ßneka. ˜tan d¢ mhy¢n toÊtvn efid∆w prãj˙ ti êdikon, êdikow m¢n oÈk ¶stin,
étuxØw d°. efi går ofiÒmenow tÚn pol°mion épokte¤nein tÚn pat°ra ép°kteinen, êdikon m°n
ti ¶prajen, édike› m°ntoi oÈy°na, étuxe› d°. Dies ist jedoch nur eine scheinbare Parallele zu EN V 8. Man braucht nämlich nur etwas weiter zu lesen, um festzustellen, wie
stark die gesamte Darstellung in MM I 33. 1195a 15–1195b 4 sich von der Darstellung
in EN V 8 unterscheidet, weil MM 1 33 im Unterschied zu EN V 8 nur zwei Schädigungsarten kennt: das unfreiwillige étuxe›n resp. atychema und das freiwillige édike›n
resp. adikema. Die Definition des freiwilligen adikema ist dabei in MM I 33 genauso
undifferenziert, wie die Definition der unfreiwilligen Schädigung, weil hier – im Unterschied zu EE II 9. 1226b 30–1227a 3 und EN V 8. 1135b 8–11 resp. 19–26 – •koÊsion
und proa¤resiw voneinander nicht geschieden werden, vgl. dazu Walzer (1929) 128f.
Infolgedessen stellen die Handlungen, die nach EN V 8 zum adikema «a» gehören,
nach MM I 33 ein adikema «b» dar. Wer nämlich im Affekt oder im betrunkenen
Zustand, d. h. im Zustand momentaner Unwissenheit, für die er selbst verantwortlich
ist, etwas Ungerechtes tut, begeht nach MM I 33 – im Unterschied zu EN V 8. 1135b
19–24 – nicht nur ein adikema, sondern ist auch selber êdikow, vgl. MM I 33. 1195a
27–37: ˜tan m¢n går ≤ êgnoia afit¤a ¬ toË prçja¤ ti, oÈx •k∆n toËto prãttei, Àste oÈk
édike›: ˜tan d¢ t∞w égno¤aw aÈtÚw ¬ a‡tiow, ka‹ prãtt˙ ti katå tØn êgnoian ∏w aÈtÚw
a‡tiow §st¤n, otow ≥dh édike›, ka‹ dika¤vw êdikow ı toioËtow klhyÆsetai. oÂon §p‹ t«n
meyuÒntvn. ofl går meyÊontew ka‹ prãjant°w ti kakÚn édikoËsin: t∞w går égno¤aw aÈto¤
efisin a‡tioi: §j∞n går aÈto›w mØ p¤nein tosoËton, Àst' égnoÆsantaw tÊptein tÚn pat°ra.
ımo¤vw [ka‹] §p‹ t«n êllvn égnoi«n ˜sai m¢n g¤nontai di' aÈtoÊw, ofl katå taÊtaw
édikoËntew êdikoi: œn d¢ mØ aÈto¤ efisin a‡tioi, éll' ≤ êgnoia kéke¤noiw §st‹n afit¤a to›w
prãjasi toË prçjai, oÈk êdikoi. Es fehlen also hier das hamartema auf der einen und
das adikema «a» auf der anderen Seite. Wenn nun die Alternative µ édike› µ étuxe›
lautet und alles, was nicht ein freiwilliges édike›n ist, ein étuxe›n sein muß, dann ist
natürlich auch die unfreiwillige Handlung aufgrund von Unwissenheit ein étuxe›n. Für
das Verständnis von EN V 8 jedoch ist diese undifferenzierte Definition des étuxe›n in
MM I 33 ebenso irrelevant wie die nicht minder undifferenzierte Definition des
édike›n. Oder möchte vielleicht jemand aufgrund von MM I 33 behaupten, daß die
freiwilligen Handlungen in Unwissenheit (also eines égno«n, jedoch nicht di' êgnoian
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370
D. Das höllische Weben
scheint indes ausgeschlossen, weil die aristotelische Definition der Handlungen di' êgnoian der in EN V 8. 1135b 16–19 gegebenen Definition des atychema widerspricht. Bei den Handlungen di' êgnoian liegen das bewegende
Prinzip (érxÆ) und die Ursache (afit¤a) stets im Handelnden selbst, während
beim atychema das bewegende Prinzip und die Ursache der Handlung außerhalb des Handelnden liegen müssen. 98 Denn gemäß der Handlungstheorie des
Aristoteles liegen das bewegende Prinzip und die Ursache einer Handlung
nur dann außerhalb des Handelnden, wenn die Handlung b¤& oder diå tÊxhn
geschieht.99 Was di' êgnoian geschieht, geschieht daher ferner, weil nicht diå
tÊxhn, per definitionem auch nicht paralÒgvw. Das bedeutet, daß die unfreiwillige Fehlhandlung di' êgnoian über das Konkret-Einzelne in EN V 8 per
definitionem nie ein atychema, sondern einzig und allein ein hamartema sein
kann. Daraus folgt aber: Als èmãrthma met' égno¤aw kann in EN V 8. 1135b
12–16 nicht sowohl atychema als auch das hamartema, sondern einzig und
allein das èmãrthma definiert werden, das im folgenden, in 1135b 16–24, vom
atychema und adikema («a» und «b») abgegrenzt wird. Das atychema hat mit
den Handlungen aufgrund von Unwissenheit nichts zu tun.
Somit scheint es unumgänglich, zu der bereits 1608 von Giphanius begründeten und oben vertretenen Interpretation des Katalogs der drei Schädigungsarten in EN V 8 zurückzukehren, nach der das unfreiwillige hamartema
aus Unwissenheit streng unterschieden werden muß vom unfreiwilligen irrationalen atychema auf der einen Seite und dem freiwilligen adikema auf der
anderen Seite, das entweder ohne oder mit Vorbedacht zustande kommen
kann.100 Der anonyme EN-Kommentator und diejenigen, die sich Jahrzehnte,
wenn nicht Jahrhunderte lang von ihm in die Irre führen ließen, stehen jedenfalls dieser an sich so naheliegenden Deutung nicht mehr im Wege.
6. Ungeahnte Möglichkeiten?
Welche Konsequenzen aber konnte die vom anonymen EN-Kommentator
provozierte Diskussion um die Interpretation von EN V 8 für das Verständnis
der hamartia im 13. Kapitel der Poetik haben? Für die Interpretation Robortellos war sie im Grunde ohne Bedeutung, weil er, wie erinnerlich, nicht vom
Katalog der drei Schädigungsarten in EN V 8, sondern von der Definition der
98
99
100
Handelnden) über das Konkret-Einzelne (wie die des Betrunkenen, des Zornigen, des
Unbeherrschten etc.) in EN V 8 dem adikema «b» zugeordnet werden müssen?
Vgl. oben S. 390f. 297. 298f., bes. Anm. 55 zu S. 298.
Siehe oben S. 290f. mit Anm. 31f.; 298f. mit Anm. 55.
Siehe oben S. 294–299.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
371
freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen in EN III 1 ausgegangen war.101
Daß die unfreiwilligen Handlungen aufgrund von Unwissenheit über das
handlungsrelevante Konkret-Einzelne aus EN III 1, die Robortello für die
einzig mögliche Bedeutung der tragischen hamartia erklärte, in EN V 8 von
Aristoteles auch explizit als hamartema definiert werden, hätte ihm höchstens
als eine willkommene Bestätigung seiner These dienen können. Indem jedoch
Bywater mit Nachdruck auf die Definition des hamartema in EN V 8 hinwies
und dadurch, ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten zu erklären, das
Hauptgewicht der Argumentation (zu Unrecht) auf EN V 8 verlegte, trug er –
vielleicht unversehens – nicht nur dazu bei, daß im 20. Jh. der Katalog der drei
Schädigungsarten EN V 8 in der Diskussion um die Bedeutung der hamartia
im 13. Kapitel der Poetik immer mehr in den Vordergrund rückte, sondern
setzte seine eigene Deutung der hamartia ernsthaften Einwänden aus. Denn
da die von Anon. in EN V 8 ausgehenden Interpretationen von Ramsauer,
Jackson und Stewart noch nie widerlegt wurden, hätte das von Bywater neu
begründete Verständnis der hamartia im 13. Kapitel der Poetik bis jetzt jeder
Zeit mit dem gelehrt wirkenden Hinweis auf das zwar zweifellos verfehlte,
jedoch herkömmliche Verständnis von hamartema in EN V 8 – zumindest auf
den ersten Blick – in Frage gestellt und bestritten werden können. Man hätte
nämlich der Argumentation von Bywater, letztlich aber auch von Robortello
entgegenhalten können, daß die unfreiwilligen Handlungen aufgrund der
nicht verschuldeten Unwissenheit über das Konkret-Einzelne, die sie beide
für die hamartia des idealen tragischen Helden erklärten, in Wahrheit von
Aristoteles in EN V 8 als atychema definiert würden, d. h. aufgrund ihrer
kausalen Irrationalität für die ideale Tragödie per definitionem gar nicht in
Frage kämen.102 Wer Bywater im 20. Jh. zustimmte, ignorierte indes meist
stillschweigend die in der Luft liegenden Einwände oder berief sich sogar auf
die Kommentare, deren Interpretation von EN V 8 seine eigene Argumentation zunichte machte und seinem Verständnis der hamartia im 13. Kapitel der
Poetik widersprach.103
101
102
103
Siehe oben S. 286–292. 301f.
Vgl. oben S. 284. 288. 298f.
Bywater (1909) ging weder auf das Problem selbst noch auf Jacksons, Ramsauers und
Stewarts Deutungen ein. Ross (1923) 214f. folgte der Aufteilung der hamartemata in a)
atychemata und b) hamartemata, deutete aber 287 Anm. 6 die tragische hamartia
trotzdem als «error of judgement». Lucas (1968) 301f. akzeptierte die Konjektur von
Jackson ad 1135b 19 und sah sich daher, um Bywaters Deutung irgendwie aufrechterhalten zu können, gezwungen, einerseits die Relevanz des Unterschieds zwischen ‘hamártema 1’ (= atychema) und ‘hamartema «proper»’ für die tragische hamartia zu
bestreiten, anderseits aber die tragische hamartia in erster Linie mit dem atychema zu
identifizieren: «usually [sic] the tragic hamartia leads to an atuchema caused by lack of
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372
D. Das höllische Weben
Da die von Anon. in EN V 8 ausgehenden Interpretationen von Ramsauer,
Jackson und Stewart noch nie widerlegt wurden, sondern bis zum heutigen
Tag neben einander existierten, hätte ferner umgekehrt jeder Interpret der
Poetik des Aristoteles, der die hamartia moralisierend im Sinne eines sittlich
relevanten Fehlers aus Leidenschaft und Charakterschwächen deuten wollte,
seine Position mit extensiven Verweisen auf die Kommentare und Forschungsliteratur zu EN V 8 – zumindest auf den ersten Blick – überzeugend
begründen und es den Vertretern der Interpretation Bywaters überlassen
können, erst das Gegenteil zu beweisen. Es standen ihm viele ‘vielversprechende’ Optionen offen. Zwar war die von Jackson vorgeschlagene exklusive
Deutung des hamartema (als ‘hamartema 2’) als eine Fehlhandlung des Betrunkenen für die Interpretation der hamartia des idealen tragischen Helden
wenig hilfreich. Statt jedoch vieles Evidente und Unbestreitbare in Abrede zu
stellen und verzweifelt – und vergeblich – darauf zu beharren, daß die hamartia des idealen tragischen Helden ein adikema «a» zu sein habe, 104 hätte man
es sich viel einfacher machen und im Gefolge Ramsauers darauf hinweisen
104
essential knowledge.» Bremer (1969) 18–20 berief sich ausgerechnet auf den Kommentar von Joachim/Rees (1951) 157, die – als einzige – den Unterschied zwischen dem angeblichen ‘hamartema 1’ = atychema und ‘hamartema 2’ = hamartema äußerst unscharf
definierten. Indem er ferner die Konjektur von Jackson ad 1135b 19 beiläufig (1969,
Anm. 17 zu S. 20, «this confuses the distinction») zurückwies, widerlegte er noch lange
nicht die von ihm nicht einmal erwähnten Interpretationen Ramsauers, Jacksons und
Stewarts. Schütrumpf (1970) 115f. ging weder auf die Frage, worin der Unterschied
zwischen dem angeblichen ‘hamartema 1’ = atychema und ‘hamartema 2’ = hamartema
bestehen soll, noch auf die Kommentare und Forschungsliteratur zur Stelle ein; vgl. jedoch jetzt dens. (1989) bes. 141, Anm. 67 zu S. 150 und Anm. 80 zu S. 153. Zierl (1999)
132 mit Anm. 11 erachtete die hamartia im 13. Kapitel der Poetik und das hamartema
in EN V 8 als einen Fehler aus entschuldigender Unwissenheit über das Konkret-Einzelne und verwies dabei u. a. auf den Kommentar von Grimaldi (1980) 303, der jedoch
– wenn auch ohne jede Begründung – genau das Gegenteil behauptete, daß nämlich die
hamartemata nicht «simply intellectual errors» seien, sondern immer «their source ... in
some flaw of character» hätten. Dieselben Widersprüche finden sich auch bei den Vertretern der breiten Auffassung der hamartia. Butcher ( 21898, vgl. dazu oben S. 312–314)
312 mit Anm. 3 akzeptierte die Deutung des atychema (als ‘hamartema 1’) als eines
unfreiwilligen Fehlers di' êgnoian und des hamartema (als ‘hamartema 2’) als der Fehlhandlungen des égno«n, ohne jedoch daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.
Stinton (1975, vgl. dazu oben S. 316–318) 153 akzeptiert einerseits die unfreiwilligen
Handlungen di' êgnoian aus EN III 1 als eine mögliche Bedeutung der hamartia im 13.
Kapitel der Poetik, schließt aber anderseits (157 mit Anm. 33) dieselben Handlungen
implizit als atychemata in EN V 8 aus, indem er Jacksons (in Wahrheit Ramsauers, s.
oben S. 351f.) Deutung der érxØ t∞w afit¤aw in 1135b 18f. als der érxØ t∞w égno¤aw und
der entsprechenden Zweiteilung der hamartemata in Unwissenheit in atychema und
hamartema (als ‘hamartema 2') zustimmte; Beispiele dieser Art ließen sich vermehren.
Vgl. oben S. 321–336.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
373
können, daß Aristoteles in EN V 8 das ‘eigentliche’ hamartema (als ‘hamartema 2’) allgemein als ein sittlich relevantes, weil nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern im Zustand selbstverschuldeter Unwissenheit, z. B. aufgrund
des Affekts begangenes Vergehen definierte habe,105 um dann das so verstandene hamartema für die einzig wahre tragische hamartia zu erklären. Man
hätte ferner zusammen mit dem Anonymus, Stewart und anderen das hamartema in EN V 8 und somit auch die tragische hamartia im 13. Kapitel der
Poetik konkret für ein sittlich relevantes, in selbstverschuldeter und moralisch
zu verantwortender Unwissenheit di' ém°leian begangenes, fahrlässiges Vergehen im Sinne von culpa der Digesta Iustiniani erklären können, das nicht
unerwartet geschieht und daher vom Handelnden hätte vorausgesehen und
vermieden werden können und müssen. Da aber die Fehlhandlungen desjenigen, der nicht di' êgnoian, sondern zwar efid⋲w, jedoch égno«n (sei es diå
yumÚn ka‹ êlla pãyh, ˜sa énagka›a µ fusikã, sei es diå m°yhn, sei es di'
ém°leian) handelt, mit den Fehlhandlungen des Unbeherrschten aufs engste
zusammenhängen,106 hätte man die hamartia – als das hamartema in EN V 8 –
auch für ein sittlich relevantes, charakterbedingtes und aus Charakterschwächen resultierendes, im Zustand selbstverschuldeter Unwissenheit begangenes
Vergehen eines Unbeherrschten erklären und es, wie gesagt, den Vertretern
der Interpretation Bywaters überlassen können, erst das Gegenteil zu beweisen.
Daß dies vor Østerud, wenn nicht alles täuscht, niemand getan oder zumindest versucht hat, ist, offen gestanden, verblüffend. Zwar wiesen Manns
und Harsh zaghaft darauf hin, daß auch das hamartema in EN V 8 (als ‘hamartema 2’) «eine moralische Seite» haben könne. Sie begnügten sich jedoch
mit diesen unentschlossenen Hinweisen und wollten trotzdem die tragische
hamartia in der aristotelischen Poetik um jeden Preis auf das adikema im Affekt («a») reduzieren.107 Erst Østerud hat, wie oben dargelegt wurde, den
ersten Schritt in die einzige noch mögliche Richtung getan.108 Es bot sich somit die letzte Chance nachzuweisen, daß Aristoteles die Forderung nach der
göttlichen Gerechtigkeit im Drama doch noch vertreten und Ödipus der moralischen und charakterbedingten Schuld habe überführen wollen. Diese letzte
Chance ist bald nach Østerud von Schmitt und Cessi ergriffen worden.
105
106
107
108
Vgl. oben S. 351f.
Vgl. oben S. 338–342.
Vgl. oben S. 328 resp. 333. Gauthier/Jolif (1957/58) 400f. beriefen sich bei der Interpretation des hamartema im Sinne des Anon. in EN V 8 paradoxerweise auch auf die
moralisierende Hamartia-Deutung von Harsh (1945), der jedoch vor allem das adikema
«a» für die tragische hamartia ausgeben wollte.
Vgl. oben S. 346f.
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374
D. Das höllische Weben
3.3.3.3. Das Ende: Schmitt & Cessi
Daß die hamartia des 13. Kapitels der Poetik ein sittlich relevantes Vergehen
des ékratÆw zu bedeuten habe, wird in der Dissertation von Cessi, die ohne
Arbogast Schmitt «nicht entstanden wäre»,109 bereits als gegeben vorausgesetzt und deshalb auch nicht detailliert begründet. Cessi ging dabei in folgenden Schritten vor:
Im ersten Kapitel, in einer in zentralen Punkten leider irreführenden
«Übersicht über die Forschung»,110 schilderte Cessi, wie «der Kern des Problems» lange verkannt worden 111 und man erst in den «letzten Jahren» zu der
Erkenntnis gelangt sei, daß die hamartia des 13. Kapitels der Poetik mit der
von Aristoteles in EN VII behandelten akrasia eng verbunden sein müsse. 112
Denn die hamartia beruhe – so Cessi – einerseits nicht auf der moralischen
Schlechtigkeit und könne daher nicht ein éd¤khma sein; anderseits aber
komme auch ein unglücklicher Zufall, étÊxhma, nicht in Frage, weil der
Mensch sich für die hamartia «irgendwie verantwortlich» fühle.113 Sie verlor
dabei bemerkenswerterweise kein Wort darüber, daß Twining, Butcher,
Gresseth und Stinton die Handlungen des ékratÆw mit dem adikema im Affekt in EN V 8 in Zusammenhang gebracht hatten.114 Sie erwähnte ferner
auch nicht, daß gemäß der Interpretation von Stinton, die nach Cessi «ein
neues Kapitel der Forschung» eröffnet habe,115 auch die Handlungen aufgrund von Unwissenheit sowie die ‘gemischten Handlungen’ mögliche Bedeutungen der hamartia darstellen,116 und begründete daher auch nicht,
warum die hamartia ausschließlich ein Vergehen des ékratÆw bedeuten
müsse. In der also noch nicht begründeten Annahme, daß die hamartia «in
den Bereich der menschlichen Verantwortung» gehöre117 und mit der akrasia
eng zusammenhänge, sieht Cessi «die noch bestehende Aporie» der Erklärung des hamartia-Begriffs und somit ihre eigentliche Aufgabe darin, die
Entstehungsbedingungen und das Zustandekommen der Handlungen des
109
110
111
112
113
114
115
116
117
Cessi (1987) Vorwort XV. Zurückhaltend skeptisch ist die kurze Besprechung von M.
Heath, ClR 38 (1988) 404, der die Deutung Stintons für die richtige zu halten scheint.
Cessi (1987) 1–48.
Cessi (1987) 4.
Cessi (1987) 45.
Cessi (1987) 45.
Vgl. z. B. Cessi (1987) 32f. Zur wirklichen Interpretation von Gresseth sowie dessen
Argumentation s. oben S. 343–345. Twining wurde von Cessi nicht berücksichtigt.
Cessi (1987) 39.
Vgl. Cessi (1987) 35–38; zu der wirklichen Position Stintons s. oben S. 316–318.
Cessi (1987) 45.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
375
ékratÆw, insbesondere das Problem des handlungsrelevanten Wissens, «möglichst tiefgehend» untersuchen zu müssen.118
Diesen Fragen ist auch der größte Teil der Arbeit – 200 von den insgesamt
274 Seiten! – gewidmet. Cessi behandelt ausführlich die aristotelische Wahrnehmungslehre, die Begriffe fantas¤a, ˆrejiw, pãyh, frÒnhsiw und schließlich die ékras¤a selbst. Erst am «Schluß» der Untersuchung kehrt sie zur
aristotelischen Poetik zurück,119 um zusammenfassend ‘festzuhalten’, daß
einerseits ein ékratÆw zur hamartia des 13. Kapitels der Poetik aufgrund seines Charakters veranlagt sei120 und daß anderseits der tragische Held der idealen Tragödie, der nach Aristoteles weder ein sittlich vollkommener Mensch
(§pieikÆw) noch ein Schuft sein soll, ein «zur èmart¤a veranlagter Charakter»,121 also ein ékratÆw sei,122 so daß die hamartia, die weder ein atychema
noch ein adikema sein könne,123 sich ohne Widersprüche als ein charakterbedingter und sittlich relevanter Denkfehler des «zur èmart¤a veranlagten
Charakters», also des in EN VII beschriebenen ékratÆw erklären lasse.124
Aufgrund dieser Deutung des 13. Kapitels entwickelt Cessi schließlich die bereits oben skizzierte Theorie, daß die Tragödie nach Aristoteles ein «Erziehungsmittel» sei, das den Zuschauern zum Zwecke der moralischen Besserung vor Augen führt, wie auch kleine, verzeihliche Charakterfehler zu einer
Katastrophe führen könnten.125
So nützlich und verdienstvoll die von Cessi unternommene ausführliche
Untersuchung der akrasia bei Aristoteles auch immer sein oder zumindest
auf den ersten Blick erscheinen mag, ließ ihre Arbeit die entscheidenden Fragen doch offen und die zentralen Probleme ungelöst, denen sich jeder am
Ende des 20. Jh.s in Angriff genommene Versuch, die Bedeutung der hamartia auf die Fehler des ékratÆw zu reduzieren, zu stellen hat. Denn daß die
hamartia nur einen Fehler des ékratÆw zu bedeuten habe, ist keine neue Idee.
Es ist jedoch weder Twining noch Gresseth noch Østerud gelungen, diese,
sagen wir, Hypothese zu begründen und zu bestätigen, weil sie die anderen
Bedeutungen der hamartia, vor allem die unfreiwilligen Handlungen di'
êgnoian, nicht zu eliminieren vermochten. Wie begründet nun Cessi ihre Interpretation?
118
119
120
121
122
123
124
125
Cessi (1987) 46f.
Cessi (1987) 250–279.
Cessi (1987) 251.
Cessi (1987) 260.
Cessi (1987) 260f.
Cessi (1987) 250.
Cessi (1987) 260–262.
Cessi (1987) 263–274, bes. 266ff.
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D. Das höllische Weben
Das erste Argument lautet: Da der tragische Held nach Aristoteles ein
‘mittlerer’ Charakter zw. §pieikÆw und êdikow sein soll, sei er ein ékratÆw.126
Wie jedoch oben gezeigt wurde, ist das kein Argument: denn danach kämen
auch die meisten Menschen für den idealen tragischen Helden in Frage, obwohl sie nicht alle ékrate›w sind.127
Cessi läßt ferner, wie dargelegt, im Gefolge Stintons zwei einschränkende
Kriterien für die Bedeutung der hamartia gelten: die hamartia dürfe weder a)
diå kak¤an geschehen, noch b) ein purer Zufall, étÊxhma, sein. Doch daraus
darf man noch nicht folgern, daß die hamartia nur einen Fehler des ékratÆw
bedeuten müsse. Wie die Interpretation von Stinton selbst gezeigt hat, kommen unter dieser Einschränkung immer noch sieben Bedeutungen der hamartia in Frage, zu denen u.a. auch die unfreiwilligen Handlungen di' êgnoian sowie die mikta‹ prãjeiw gehören.128 Da diese beiden zumindest in Frage
stehenden Bedeutungen mit der akrasia nichts zu tun haben, können sie auch
nicht durch eine noch so ausführliche und «tiefgehende» Behandlung der
akrasia eliminiert werden. Cessi bringt jedoch keine Argumente vor, warum
diese Arten von Handlungen von ihr nicht einmal in Erwägung gezogen wurden. Das bedeutet: mit Hilfe der beiden von Cessi explizit genannten Argumente kann die ihrer Arbeit zugrundeliegende These nicht begründet werden.
Um so erstaunlicher ist, daß Cessi nirgends explizit sagte, daß in Wahrheit
der «grundsätzlich neue Ansatz» 129 ihrer Untersuchung darin besteht, daß sie
im Gefolge Østeruds das èmãrthma met' égno¤aw in EN V 8 nicht als einen
unfreiwilligen aus Unwissenheit über handlungsrelevante Umstände begangenen Fehler, sondern als ein freiwilliges Vergehen des ékratÆw interpretierte, das bislang mit dem adikema «a» (EN V 8. 1135b 19–24) in Zusammenhang gebracht wurde. 130 Diese entscheidende These ihrer Interpretation
der hamartia wird freilich nicht nur nicht explizit zum Ausdruck gebracht,
sondern auch nicht sorgfältig begründet. Sie verbirgt sich vielmehr in einem
126
127
128
129
130
Cessi (1987) 260f.
Vgl. oben S. 341f. 346 mit Anm. 38.
Vgl. oben S. 317f.
Cessi (1987) 3.
Angesichts dessen, daß Østerud die der Arbeit von Cessi zugrundeliegende Idee,
èmãrthma met' égno¤aw als eine Handlung des ékratÆw zu deuten, vorweggenommen
hat, verwundert es einen, daß Cessi (1987, 30) von Østeruds Aufsatz nur folgendes zu
berichten wußte: «Eine ausführliche Liste der zahlreichen Beiträge zum èmart¤a-Problem bietet noch einmal der Aufsatz von Østerud, der feststellen muß, daß keine Einhelligkeit erreicht worden ist (…); er spricht von der moralischen Zwielichtigkeit (…)
des Wortes, schiebt aber wie gewöhnlich die Schuld auf die Schwierigkeiten der
èmart¤a-Passagen bei Aristoteles…»
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
377
Unterkapitel des der ékras¤a gewidmeten Kapitels, in dem Cessi angeblich
«ein von Aristoteles im Rahmen der ékras¤a-Problematik erwähntes Beispiel» für die Handlungen des Unbeherrschten analysiert.131 Wie jedoch aus
dem angeführten Zitat und der Stellenangabe «EN 1135b 13–16» unmittelbar
hervorgeht, handelt es sich bei diesem «klärenden Beispiel» überraschenderweise um nichts anderes als einen aus dem Kontext herausgerissenen Teil der
aristotelischen Definition der èmartÆmata met' égno¤aw in EN V 8, das Cessi
ohne jede Begründung und mit der größten Selbstverständlichkeit als ein Beispiel für die Fehlhandlung des ékratÆw interpretiert. Hier kommt nun Østerud zum Zuge.
Der vollständige Text der aristotelischen Definition der èmartÆmata met'
égno¤aw in EN V 8. 1135b 12–16 lautet, wie erinnerlich, folgendermaßen:
tå m¢n met' égno¤aw èmartÆmatã §stin, ˜tan mÆte ˘n mÆte ˘ mÆte ⁄ mÆte o ßneka
Íp°labe prãj˙: µ går oÈ bãllein µ oÈ toÊtƒ µ oÈ toËton µ oÈ toÊtou ßneka ”Æyh,
éllå sun°bh oÈx o ßneka ”Æyh, oÂon oÈx ·na tr⋲s˙ éll' ·na kentÆs˙, µ oÈx ˜n, µ
oÈx ⁄.
Unterstrichen ist der von Cessi nicht zitierte Text. Stattdessen gibt sie nämlich
merkwürdigerweise nur den folgenden Teil der Definition wieder:
«µ går oÈ bãllein µ oÈ toÊtƒ µ oÈ toËton µ oÈ toÊtou ßneka ”Æyh, éllå sun°bh
oÈx o ßneka ”Æyh»
und setzt danach einen Punkt.132 Es wird noch zu fragen sein, warum. Aus
dieser ‘Kurzfassung’ der Definition der èmartÆmata met' égno¤aw heraus und
ohne über den Kontext von EN V 8 und den Zusammenhang, in dem diese
Definition steht, auch nur ein einziges Wort zu verlieren, entwickelt nun
Cessi ihre Interpretation. Die Lektüre dieser entscheidenden Passage darf dem
Leser nicht vorenthalten bleiben. Denn mit der Richtigkeit der von Cessi vorgebrachten Deutung des hamartema steht und fällt letztlich die von Arbogast
Schmitt so erfolgreich vertretene Gesamtinterpretation der aristotelischen
Tragödientheorie und somit auch deren ‘Anwendung’ auf den sophokleischen
Oedipus Rex:
«Ein klärendes Beispiel: NE 1135b13–16» 133
«Ein von Aristoteles im Rahmen der ékras¤a-Problematik erwähntes Beispiel
dient zum einen der Verdeutlichung des Zustandekommens eines sittlich
131
132
133
Cessi (1987) 242–244. Bezeichnenderweise steuert ihre ganze Untersuchung der akrasia
auf dieses angebliche «Beispiel» zu, so daß die Vermutung naheliegt, daß ihre ganze
Untersuchung der akrasia auf dieses angebliche «Beispiel» von vornherein zugeschnitten ist.
Cessi (1987) Anm. 100 zu S. 242.
Cessi (1987) 242.
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D. Das höllische Weben
relevanten, weil auf dem Charakter des Handelnden beruhenden Wissens und zum
anderen dem Verständnis der Entstehung einer in diesem Bereich verzerrten, zur
Fehlhandlung führenden Perspektive.
Wenn ein Speerwerfer seinen Speer auf dem Weg wirft, weil er ihn | für ein
schönes, zum Werfen geeignetes Wurfgelände hält und daraufhin unmittelbar Lust
zu werfen empfindet, obwohl er ‘weiß’, daß er jemanden treffen könnte, und er
dann tatsächlich jemanden trifft und tötet, ist die Unwissenheit (êgnoia), auf die er
sich nach dem Geschehen der Tat beruft, selbstverschuldet. Man kann in dieser
Konstellation nicht von einem Unfall (étÊxhma) sprechen. Ein unglücklicher Zufall
würde dann vorliegen, wenn der Speerwerfer im Stadion geworfen und einen plötzlich auf das Wurfgelände laufenden Zuschauer getroffen hätte. Dies wäre ein unvorhersehbarer Umstand, und dem Speerwerfer könnte nicht vorgeworfen werden,
es nicht ‘gewußt’ zu haben. Nur bei dem ersten Beispiel handelt es sich um eine
Fehlhandlung, die auf ékras¤a beruht.
Der Speerwerfer besitzt sowohl die allgemeine Erkenntnis §f’ •autoË, Werfen
auf der Straße sei gefährlich, als auch das ebenso allgemeine Wissen, jede Gelegenheit zu werfen müsse genutzt werden. Wenn er daran gewöhnt ist, dem unmittelbaren, augenblicksgebundenen Angenehmen zu folgen, wird er die Wahrnehmung eines geeigneten Wurfgeländes allein mit jener Vorstellung verbinden, die sich aus der
wiederholten Erfahrung des Werfens und aus der damit verbundenen Lust gebildet
hat und ihm das Werfen auf dem wahrgenommenen schönen Gelänge [sic] als angenehm erscheinen läßt. Diese Vorstellung (fantas¤a afisyhtikÆ) wird zusammen mit
der gegenwärtigen Wahrnehmung des Wurfgeländes zur Entstehung des Strebens
(§piyum¤a) nach dem Werfen führen. Die auf Grund eines wahrnehmenden Erkenntnisaktes entstandene Begierde wird wiederum bewirken, daß der Speerwerfer
die Wahrnehmung des Wurfgeländes nicht unter allgemeine Erkenntnis der Gefährlichkeit des Werfens auf der Straße subsumiert, sondern einzig und allein unter
das allgemeine Wissen davon, daß jede Gelegenheit zu werfen genutzt werden muß.
Er realisiert die bevorstehende Gefahr nicht (égnoe›), weil er jenen Vorstellungsakt
nicht vollzieht, in dem sich der Aspekt der Gefähr-|lichkeit des Werfens auf der
Straße mit der Tatsache, daß das Gelände, auf dem er werfen möchte, eine Straße
ist, hätte verbinden können. Die zur Handlung bewegende und aus einem unterscheidenden Denkakt entstandene Leidenschaft, die eine aktualisierte Erkenntnis
ist, läßt ihn bei der Wahrnehmung verharren und verdunkelt das andere Wissen, das
er nur wie ein Betrunkener oder Schlafender besitzt … Diese für die Fehlhandlung
verantwortliche êgnoia gehört weder zu jener Art der Unwissenheit, die den Handelnden von der Schuldhaftigkeit seiner Tat befreit, noch zeugt sie wie im Fall des
Zuchtlosen (ékÒlastow) von einer Absicht.»134
Wir haben also einen verschwiegenen, unter einem unauffälligen Titel versteckten und auch sonst höchst merkwürdigen Versuch vor uns, das hamartema aus Unwissenheit mit Hilfe der oben behandelten Interpretation des
anonymen EN-Kommentators als ein im Affekt begangenes adikema des Unbeherrschten zu deuten. Sehen wir genauer zu:
134
Cessi (1987) 242–244.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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1) Den Ausführungen von Cessi liegt die Behauptung zugrunde, daß es
sich um «ein von Aristoteles im Rahmen der ékras¤a-Problematik erwähntes
Beispiel» handle. Diese Behauptung stellt zugleich auch das pr«ton ceËdow
ihrer Interpretation dar, sie trifft nämlich, gelinde gesagt, nicht zu: Es handelt
sich hier um die Definition einer der blãbai, die Aristoteles aufgrund seiner
Bestimmungen des Aktes der Ungerechtigkeit (adikema) sowie der freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen formuliert. In EN V 8 ist nirgends von
der ékras¤a, geschweige denn einer «ékras¤a-Problematik» die Rede. Das
bedeutet aber: Indem Cessi die Definition des hamartema von vornherein für
ein Beispiel einer Fehlhandlung des ékratÆw ausgibt, entzieht sie sich der
Pflicht, erst nachzuweisen, daß es sich in den zwei von ihr zitierten Zeilen aus
EN V 8 um die ékras¤a handeln würde. Indessen hätte gerade das sorgfältig
begründet werden müssen; wenn es nur möglich gewesen wäre.
2) In ihren Ausführungen geht Cessi ferner nicht von dem – von ihr wohl
auch deshalb gar nicht zitierten – Beispiel aus, das Aristoteles selbst (EN V 8.
1135b 15f.) für die èmartÆmata met' égno¤aw gibt: oÂon oÈx ·na tr⋲s˙ éll'
·na kentÆs˙, µ oÈx ˜n, µ oÈx ⁄. Das aristotelische Beispiel ersetzt sie ohne jede
Begründung durch das oben behandelte Beispiel des anonymen EN-Kommentators für das hamartema (als ‘hamartema 2’ im Unterschied zum atychema als ‘hamartema 1’).135 Somit liegt Cessis hamartia-Interpretation implizit das vom Anonymus in die Welt gesetzte und oben behandelte Verständnis des hamartema aus Unwissenheit in EN V 8 als eine fahrlässige Schädigung zugrunde, das sie mit der hamartia im 13. Kapitel der Poetik stillschweigend gleichsetzt.136 Daß Cessi dabei auf die komplexe, vom Anonymus
ausgehende Forschungsdiskussion um EN V 8 mit keinem einzigem Wort
eingeht, ist erstaunlich.137 Schwerwiegender ist jedoch, daß Cessi auch nicht
beachtete, daß der von ihr zitierte Teil der Definition der èmartÆmata met'
égno¤aw allein schon deshalb kein Beispiel für eine fahrlässige Schädigung sein
kann, weil diese Definition nach der von Cessi zugrundegelegten Interpretation des Anonymus nicht nur das hamartema, sondern auch das atychema mit
einschließt. Es hätte ferner eigentlich auffallen müssen, daß das von Aristoteles selbst gegebene und von Cessi unterdrückte Beispiel für die èmartÆmata
met' égno¤aw sich mit dem vom Anonymus für das hamartema (als ‘hamar135
136
137
Vgl. oben S. 348f. 356 mit Anm. 66. Cessi (1987) Anm. 100 zu S. 242 verwies immerhin
selbst auf Anon. in EN V, p. 238, 6–8 (Heylbut) und somit wiederum auf einen kurzen,
aus dem Kontext herausgerissenen Abschnitt.
Siehe oben S. 348–370, bes. 355–368.
Nicht berücksichtigt wurden dabei von Cessi u. a. die Interpretationen von EN V 8 von
Ramsauer (1878), Jackson (1879), Stewart (1892), Loening (1903), Gintowt (1939), Dyer
(1965a), Daube (1969), Schofield (1973), Kenney (1979) und Sorabji (1980).
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D. Das höllische Weben
tema 2’) gegebenen Beispiel nicht deckt, daß also Aristoteles bei der Definition der èmartÆmata met' égno¤aw nicht im entferntesten an die vom Anonymus konstruierte Handlungssituation dachte. Denn die von Cessi weder zitierte noch berücksichtigte Erklärung des Aristoteles selbst in EN V 8. 1135b
15f. oÂon (1) oÈx ·na tr⋲s˙ éll' ·na kentÆs˙, µ (2) oÈx ˜n, µ (3) oÈx ⁄ scheint
den Fall, daß ein Speerwerfer sich auf der Straße im Speerwerfen übt und,
ohne jemanden treffen zu wollen, aber auch ohne die potentielle Gefährlichkeit seiner Handlung zu realisieren, fahrlässig einen Passanten trifft, geradezu
auszuschließen. Aristoteles denkt nämlich hier nicht an jemanden, der die
möglichen Folgen seiner Handlung nicht voraussieht, sondern an einen, der
das konkrete handlungsrelevante Wissen entweder über (1) den wirklichen
Zweck oder (2) über das wirkliche Objekt oder (3) über das wirkliche Mittel
seiner Handlung nicht hatte. Im ersten Fall (oÈx ·na tr⋲s˙ éll' ·na kentÆs˙)
weiß der Handelnde ganz genau, wer das Objekt und was das Mittel seiner
Handlung sind, will jedoch zu einem anderen Zweck handeln: er zielte auf
eine bestimmte Person mit einem bestimmten Gegenstand, jedoch nicht, um
diese bestimmte Person zu verwunden, sondern nur, um sie zu ‘stacheln’. Im
zweiten Fall (oÈx ˜n) will der Handelnde eine bestimmte Person mit einem
bestimmten Gegenstand treffen, trifft jedoch in Wirklichkeit nicht den, den er
zu treffen glaubte, weil er nicht weiß, wer in Wirklichkeit derjenige ist, den er
treffen wollte. Im dritten Fall (oÈx ⁄) täuscht sich der Handelnde weder bezüglich des Objekts noch des Zwecks, dafür aber bezüglich des Mittels seiner
Handlung: er will eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zweck treffen,
jedoch nicht mit dem Mittel, mit dem er sie in Wirklichkeit trifft; d. h. er hält
das Mittel, mit dem er handelt, für etwas anderes, als es in Wirklichkeit ist.
Für einen fahrlässigen Speerwerfer, der sich auf der Straße übend gar niemanden treffen will, ist in der aristotelischen Definition und Erläuterung der
èmartÆmata met' égno¤aw gar kein Raum vorhanden.
3) Cessi versucht ferner mit viel Phantasie das Beispiel des Anonymus –
wiederum mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne jede Begründung –
als eine Handlung des Unbeherrschten zu deuten. Denn es ist auch beim Anonymus nirgends von der Unbeherrschtheit die Rede, weder von der «aufgrund eines wahrnehmenden Erkenntnisaktes entstandenen» §piyum¤a, noch
von der «zur Handlung bewegenden und aus einem unterscheidenden Denkakt entstandenen Leidenschaft»; weder davon, daß der Speerwerfer deshalb
auf der Straße wirft, weil er sie für «ein schönes, zum Werfen geeignetes Gelände hält», noch daß der Handelnde «das allgemeine Wissen» habe, «daß jede
Gelegenheit genutzt werden muß». Auch hier wird die entscheidende These
von Cessi gar nicht begründet, sondern – diesmal nicht direkt in den Aristoteles, sondern in den anonymen EN-Kommentar – hineingelesen. Denn sie ist
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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nicht die erste, die das hamartema (als ‘hamartema 2’) im Gefolge des Anonymus als eine fahrlässige Schädigung verstanden wissen will.138 Neu ist hingegen der Versuch, die vom Anonymus ins Spiel gebrachte fahrlässige Schädigung als eine charakterbedingte, aus einer verfestigten charakterlichen Verfassung des Unbeherrschten, aus dessen Charakterschwächen resultierende
Schädigung zu interpretieren.139 Hier gilt auch das bereits oben in bezug auf
das adikema «a» Gesagte:140 Es mag durchaus möglich sein, daß auch ein Unbeherrschter eine Handlung in di' ém°leian zustande kommender Unwissenheit begehen kann. Dies bedeutet jedoch nicht, daß jede Handlung in di'
ém°leian zustande kommender Unwissenheit nach Aristoteles immer einer
verfestigten charakterlichen Verfassung entspringen müsse und ausschließlich
von einem Unbeherrschten begangen werden könne. Im Gegenteil, in EN III
5. 1113b 33 – 1114a 7 unterscheidet Aristoteles explizit zwischen einer einmaligen freiwilligen Handlung des di' ém°leian Unwissenden, dem es freistand,
sich um das obligate und allgemeinzugängliche handlungsrelevante Wissen zu
kümmern, und den freiwilligen Handlungen eines solchen di' ém°leian Unwissenden, der aufgrund seiner verfestigten charakterlichen Verfassung bereits
nicht mehr in der Lage ist, sich um das obligate und allgemeinzugängliche
handlungsrelevante Wissen zu kümmern (toioËtÒw §stin Àste mØ §pimelhy∞nai, 1114a 3f.), der jedoch trotzdem insofern freiwillig handelt, als es ihm
einst freistand, nicht so zu werden, d. h. nicht einen solchen Charakter zu entwickeln: éllå toË toioÊtouw gen°syai aÈto‹ a‡tioi z«ntew éneim°nvw (1114a
4f.).
So bricht die von Cessi entwickelte ‘Interpretation’ auf einmal wie ein
Kartenhaus zusammen. Die von ihr bemühte Definition der èmartÆmata met'
égno¤aw ist in Wahrheit kein «von Aristoteles im Rahmen der ékras¤a-Problematik erwähntes Beispiel»; das vom Anonymus für das als eine fahrlässige
Schädigung verstandene hamartema angeführte Beispiel ist kein Beispiel für
eine charakterbedingte Fehlhandlung des Unbeherrschten. Die vom Anonymus ins Spiel gebrachte Unterscheidung Zufall/fahrlässige Schädigung resp.
138
139
140
Vgl. oben S. 355–359.
So hat z. B. Fuhrmann (21992) 206 Anm. 77 zu S. 43f. – nach Cessi (1987), jedoch ohne
sie zu erwähnen und wohl auch unabhängig von ihr – die drei Schädigungsarten in EN
V 8 als Zufall (atychema) – Fahrlässigkeit (hamartema) – Vorsatz (adikema «b» [=
1135b 25], das unvorsätzliche adikema «a» [=1135b 19–24] wird auch von ihm weder
erwähnt noch berücksichtigt, vgl. unten S. 382f.) verstanden und dementsprechend die
mit dem so verstandenen hamartema gleichgesetzte hamartia im 13. Kapitel der Poetik
für eine fahrlässige, jedoch nicht charakterbedingte Handlung erklärt. Seine Interpretation entfällt zusammen mit dem ihr zugrundeliegenden, auf den Anon. in EN V zurückgehenden Verständnis von EN V 8; s. dazu o. S. 348–368, vgl. auch Anm. 57 zu S. 353.
Vgl. oben S. 341f.
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casus/culpa hat, wie bereits oben gezeigt wurde, nichts mit der aristotelischen
Unterscheidung hamartema/atychema zu tun.141 Die schädigenden Handlungen des di' ém°leian Unwissenden sind gemäß der Handlungstheorie des Aristoteles freiwillig und müssen dem freiwilligen adikema («a» 1135b 19–24)
zugeordnet werden. Dasselbe gilt auch für die Handlungen des Unbeherrschten:
4) Da der ékratÆw das Wissen über die handlungsrelevanten Umstände
hat, gilt seine Handlung als freiwillig.142 Gemäß der aristotelischen Bestimmung des éd¤khma in EN V 8 1135a 19–23 hat jede ungerechte Handlung, sofern sie freiwillig begangen wurde, als éd¤khma zu gelten. Eine unfreiwillige
Handlung ist dagegen kein éd¤khma.143 Das bedeutet: Da die Fehlhandlung
des Unbeherrschten freiwillig und infolgedessen ein éd¤khma ist, während die
èmartÆmata nach Aristoteles unfreiwillig und deshalb keine édikÆmata sind,
kann Aristoteles mit dem hamartema unmöglich eine Fehlhandlung des ékratÆw gemeint haben.
5) Stellt man nun die Definition des hamartema zurück in den Kontext der
Aufzählung der blãbai, so springt ins Auge, daß Cessi das adikema «a» in
ihrer ganzen Untersuchung nirgends erwähnt. Sie scheint auch im oben zitierten Kapitel nur von atychema, hamartema und adikema «b» (= 1135b 25),
auszugehen. Das adikema «a» (1135b 19–24) dagegen wird konsequent totgeschwiegen.144 Das nimmt natürlich nicht wunder, weil sowohl die Handlungen des ékratÆw als auch die Handlungen des di' ém°leian Unwissenden, weil
freiwillig, aber unvorsätzlich, in die Kategorie adikema «a» gehören,145 und
Cessi alles, was in Wahrheit mit dem adikema «a» im Zusammenhang steht,
im Gefolge Østeruds auf das hamartema zu übertragen versucht. Da sich aber
das adikema «a» sowohl vom adikema «b» als auch vom hamartema unterscheidet, so daß dessen Existenz nicht abzuleugnen ist, würde es für die Interpretation von Cessi zur Folge haben, daß dieselben Handlungen des ékratÆw
in diese zwei völlig verschiedenen Kategorien der blãbai gehören würden,
141
142
143
144
145
Vgl. oben S. 359–368.
Vgl. oben S. 338–341.
Vgl. oben S. 292f. 296, 321. 338–341.
Vgl. oben zur Vorgehensweise von Østerud oben S. 346f. An der einzigen Stelle, wo
Cessi – in der Einleitung – auf einen Teil der Definition des adikema «a», und zwar auf
EN V 8. 1135b 22–26 verwies (Cessi, 1989, 10f. mit Anm. 22), geht aus ihren höchst
verschwommenen Formulierungen bedenklicherweise nicht deutlich genug oder vielmehr überhaupt nicht hervor, daß es sich hier nach Aristoteles – wie man EN III 8.
1135b 19–22 entnehmen kann, dem Teil der Definition des adikema «a» also, den Cessi
weder zitierte noch berücksichtigte – um ein freiwilliges adikema handelt, das jedoch
nach Aristoteles vom adikema «b» unterschieden werden muß.
Vgl. oben S. 321f., 338–342, 359–363.
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3. Tragische Charakterschwächen und philologische Denkfehler
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was unmöglich ist. Wenn man aber das adikema «a» nicht totschweigt und
diese beiden Formen von blãbai nebeneinanderstellt, wie Aristoteles sie
nebeneinandergestellt und voneinander abgegrenzt hat, und deren Definitionen prüfend befragt, welcher Form der Schädigung die Handlungen des
ékratÆw zuzuordnen seien, so gibt es keinen Zweifel: Es sind dies nur die
freiwilligen édikÆmata.
Der Versuch von Schmitt und Cessi, die èmartÆmata in EN V 8 als ein
sittlich relevantes, charakterbedingtes Vergehen des ékratÆw zu deuten und
dadurch die hamartia des 13. Kapitels der Poetik auf diese Bedeutung zu reduzieren, muß also – genauso wie alle früheren und oben besprochenen Versuche dieser Art – wohl oder übel als eine blanke, jeder argumentativen
Grundlage entbehrende und nicht nur dem Wortlaut von EN V 8 widersprechende, sondern auch den Grundlagen der aristotelischen Handlungstheorie
zuwiderlaufende Spekulation entschieden zurückgewiesen werden.
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