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Kristoff Kerl über "Alma Mater Antisemitica"

»Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls«. Diese Worte des österreichischen Politikers Ferdinand Kronawetters verweisen auf ein Erklärungsmuster, das bei der Suche nach den Ursachen für Antisemitismus (und Rassismus) häufig zur Anwendung kam und kommt: die Verknüpfung antisemitischer Weltsichten mit der vermeintlichen Ungebildetheit ihrer Vertreter_innen sowie die damit einhergehende Verortung von Judenfeindschaft an den Rändern der Gesellschaft. Entgegen dieser weit verbreiteten Annahme wurde jedoch wiederholt gezeigt, zuletzt von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz (Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert), dass akademische Milieus eine wesentliche Triebkraft der Herstellung und Verbreitung antisemitischen Wissens sowie der Ausübung judenfeindlicher Gewalt darstell(t)en.

■ Alma Mater Antisemitica Regina Fritz /Grzegorz Rossolinski-Liebe / Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939 (Beiträge des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien zur Holocaustforschung; Bd. 3), Wien (new academic press) 2016, 328 S., 24,90 € 108 »Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls«. Diese Worte des österreichischen Politikers Ferdinand Kronawetters verweisen auf ein Erklärungsmuster, das bei der Suche nach den Ursachen für Antisemitismus (und Rassismus) häuig zur Anwendung kam und kommt: die Verknüpfung antisemitischer Weltsichten mit der vermeintlichen Ungebildetheit ihrer Vertreter_ innen sowie die damit einhergehende Verortung von Judenfeindschaft an den Rändern der Gesellschaft. Entgegen dieser weit verbreiteten Annahme wurde jedoch wiederholt gezeigt, zuletzt von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz (Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert), dass akademische Milieus eine wesentliche Triebkraft der Herstellung und Verbreitung antisemitischen Wissens sowie der Ausübung judenfeindlicher Gewalt darstell(t)en. Der überwiegende Teil historiographischer Arbeiten zu Ausbreitung und Wirkmacht antisemitischer Weltsichten an Universitäten und in akademischen Milieus fokussierte zunächst auf deutschsprachige Gebiete sowie die USA. Akademischer Antisemitismus in (süd-)osteuropäischen Staaten hingegen blieb bisher von der Geschichtswissenschaft weitgehend unberücksichtigt. An diesem weißen Fleck in der Historiographie setzt der von Regina Fritz, Grzegorz Rossolinski-Liebe und Jana Starek herausgegebene Sammelband an. Denn während hier auch Beiträge zu akademischem Antisemitismus in den USA, im nationalsozialistischen Deutschland, Österreich und Italien versammelt sind, bilden Artikel zu Judenfeindschaft an (süd-)osteuropäischen Universitäten in der Zwischenkriegszeit den Schwerpunkt der Anthologie. Vor dem Hintergrund der enormen Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Ländern wie Polen und Ungarn weist der Band damit einen großen Gegenwartsbezug auf. Insgesamt enthält der zweisprachige Sammelband 15 Beiträge, acht englisch- und sieben deutschsprachige. Dabei sind die Artikel zu akademischem Antisemitismus in Österreich allesamt auf Deutsch verfasst, was dazu führt, dass diese Beiträge einerseits – entsprechend der Agenda des Wiener Wiesenthal Instituts, in die öfentlichen Diskussionen zu intervenieren – über den engen wissenschaftlichen Zirkel hinaus rezipiert werden können. Andererseits bedeutet diese Sprachpolitik aber auch eine Begrenzung der innerakademischen Reichweite, da die entsprechenden Artikel für nicht-deutschsprachige Historiker_innen nicht zugänglich sind. Die Beiträge des Sammelbandes sind sechs thematischen Blöcken zugeteilt. Nach zwei thematisch einleitenden Beiträgen zum hemenkomplex »Antisemitismus und Universität«, zum einen von Regina Fritz und Grzegorz Rossolinki-Liebe sowie zum anderen von Konrad H. Jarausch, sind unter der Überschrift »Retrograde Avantgarde: Studierende als Vorhut faschistischer Massenbewegungen« zwei englischsprachige Artikel von Raul Carstocea sowie von Grzegorz Krzywiec versammelt, in denen die Bedeutung antisemitisch agierender studentischer Gruppen für die Formierung faschistischer Bewegungen in Rumänien und Polen der 1920er Jahre untersucht wird. In »Students Don the Green Shirt« beschreibt Carstocea die sich nach dem Ersten Weltkrieg im Königreich Rumänien vollziehende Expansion antisemitischen Wissens an Hand des Wirkens von Corneliu Zelea Condreanu, der unter anderem 1927 die faschistische Bewegung he Legion of the Archangel Michael gründete. Als wesentliche Ursachen für die Ausbreitung antisemitischer Sichtweisen identiiziert Carstocea Verschie- WERKSTAT TGESCHICHTE / Heft 76 (2017) – Klartext Verlag, Essen Rezensionen REZENSIONEN bungen innerhalb der Bevölkerungsstruktur, schwierige ökonomische Rahmenbedingungen sowie die sich vollziehende enge Verknüpfung von Antikommunismus und Antisemitismus. Überzeugend legt er dar, dass Universitäten in diesem Prozess der Umformung und Streuung antisemitischer Haltungen und Einstellungen eine zentrale Rolle spielten. Zum einen manifestierte sich an ihnen die neuartige Judenfeindschaft frühzeitig in Maßnahmen, wie zum Beispiel in Numerus clausus-Regelungen, zum anderen nahm die faschistische Organisation von Condreanu, die bei den Wahlen von 1937 15,58% der Stimmen erhielt, ihren Anfang als eine Studentenorganisation. Im zweiten der thematischen Blöcke des Sammelbands beschäftigen sich vier Artikel mit antijüdischen Maßnahmen und Gewalttaten an akademischen Institutionen. Während Mária M. Kovács, Zoia Trebacz und Kurt Bauer sich mit unterschiedlichen Formen der Diskriminierung und Gewalt in Ungarn, Polen und Wien auseinandersetzen, leistet Marija Vulesica wiederum historiographische Pionierarbeit, indem sie die Ausbreitung und Wirkmacht judenfeindlicher Ressentiments und Maßnahmen an jugoslawischen Universitäten für den Zeitraum zwischen 1918 und 1941 untersucht. Während in den wenigen Arbeiten, die sich bisher mit jüdischem Leben im Königreich Jugoslawien beschäftigt haben, die Bedeutung von Judenfeindschaft eher gering bewertet wird (Freidenreich 1979), zeigt Vulesica anhand der Untersuchung der beiden wichtigsten akademischen Zentren des damaligen Jugoslawien, Zagreb und Belgrad, dass antisemitische Ressentiments sich an Universitäten sehr wohl in diskriminierenden und gewalttätigen Praktiken niederschlugen. Juden, die im antisemitischen Diskurs als Kommunisten, ökonomische Ausbeuter und der Nation Nichtzugehörige konstruiert wurden, wurden an den Universitäten zur Zielscheibe beißender Polemik, rabiater Gewalt sowie diskriminierender Numerus clausus-Regelungen. Jugoslawische Antisemit_innen ori- entierten sich dabei an den Bewegungen in Ungarn und Österreich. Antisemitische Akteure und Netzwerke stehen im Fokus der im dritten Block zusammengefassten Beiträge. Sabrina Lausen und Natalia Aleksiun richten den Blick in ihren Beiträgen zum einen auf Studentenverbindungen sowie zum anderen auf Medizinstudierende in Polen. In »Geheimsache Bärenhöhle« wiederum untersucht Klaus Taschwer die Efekte des konspirativen Wirkens einer Gruppe antisemitischer Professoren und wendet sich damit einer zweiten antisemitischen Akteursgruppe neben den Studierenden zu, die an der Universität Wien zwischen 1918 und 1938 eine nicht zu unterschätzende Wirkmacht entfaltete, deren antisemitisches Wirken aber bisher wenig erforscht ist. Diesem Zweckbündnis christlichsozialer sowie deutschnationaler Professoren, dem hochrangige Persönlichkeiten wie der ehemalige Dekan und Rektor Hans Uebersberger angehörten, gelang es auf unterschiedliche Weise Einluss auf universitätspolitische Fragen wie zum Beispiel Berufungs- oder Habilitationsverfahren geltend zu machen. Wiederholt konnten auf diesem Weg jüdische und/oder linke Wissenschaftler_innen aus der Universität Wien gedrängt werden und diese zu einer Hochburg des Deutschnationalismus und des Faschismus avancieren. Im vierten thematischen Block setzen sich drei Artikel, verfasst von Michaela Raggam-Blesch, Ferenc Laczo und Nicola D’Elia, mit den Reaktionen jüdischer Studierender und Professoren auf den akademischen Antisemitismus in Österreich, Ungarn und Italien auseinander. Den Abschluss des Sammelbandes bildet letztlich ein Aufsatz von Stephen Norwood, in dem dieser die transnationalen Verlechtungen zwischen US-amerikanischen Universitäten und dem Dritten Reich beleuchtet. So plegten einige renommierte US-amerikanische Universitäten in den 1930er-Jahren enge Kontakte mit Repräsentant_innen Nazideutschlands und ermöglichten die Verbreitung nationalsozialistischer Weltsichten. WERKSTAT TGESCHICHTE / Heft 76 (2017) – Klartext Verlag, Essen Rezensionen 109 110 Dass die in den Beiträgen entwickelten Analysen mitunter auf Grund ihres Pioniercharakters nicht erschöpfend und allumfassend sind, liegt auf der Hand und tut der Bedeutung des Sammelbandes keinen Abbruch. Ein Kritikpunkt betrift die Nichtberücksichtigung der Kategorie Geschlecht in dem weit überwiegenden Teil der Beiträge. Das ist insofern bedauerlich, als dass eine geschlechterhistorische Perspektive vor dem Hintergrund des extrem männlichen Charakters zeitgenössischer Universitäten sowie der weit verbreiteten antisemitischen Konstruktion des efeminierten Juden einen großen Erkenntnisgewinn für das Verständnis des akademischen Antisemitismus verspricht. Zwar verweist der Beitrag »Zwischen Antifeminismus und Antisemitismus« von Michaela Raggam-Blesch auf Parallelen zwischen antisemitischen und antifeministischen Argumentationsweisen und fokussiert die Diskriminierung jüdischer Frauen an der Universität Wien zwischen 1897 und 1938, dennoch bleiben in dem Sammelband wichtige Fragen zur Verwobenheit antifeministischer und antisemitischer Diskurse unbeantwortet beziehungsweise werden erst gar nicht gestellt. Trotz dieser kleinen Monita stellt der Sammelband eine wichtige und inspirierende Erweiterung der historiographischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus dar. Kristoff Kerl (Köln) WERKSTAT TGESCHICHTE / Heft 76 (2017) – Klartext Verlag, Essen Rezensionen