Erschienen in:
Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht.
Akten des XI. Internationalen Kant Kongresses 2010, Bd.
5. Hrsg. von Stefano Bacin [u.a.]. Berlin [u.a.] 2013,
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Kant und die Grundlegung der Geisteswissenschaften
Bernward Grnewald
Wie kçnnen die empirischen Geisteswissenschaften der Gefahr (und dem
Verdacht) entgehen, statt objektiver Wissenschaft (unter dem vornehmen
Namen „Interpretation“) nichts anderes zu erzeugen als subjektive Meinungen? Meine Antwort lautet: Die Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung, sind es, die nicht nur den sog. Naturwissenschaften, sondern auch
der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, den Sozialwissenschaften erlauben, ber das, was wir subjektiv erleben, hinauszukommen
zur Objektivitt der Gegenstandsbestimmung, mithin zur Verwandlung
der bloßen Erscheinung in Erfahrung,
Bcher, Theaterstcke, auch die Handlungen der Menschen, Wahlkampfreden, Streikaufrufe liegen oder vollziehen sich vor unseren Augen
und Ohren. Gewiss reichen die Augen und Ohren nicht aus, um sie zu
erfassen, aber sie sind nicht Gegenstnde des Glaubens, sondern unseres
empirischen Wissens, sie sind Gegenstnde der Erfahrung. Nur mssen
wir, schon um sie uns bloß zur Gegebenheit zu bringen, um sie zu rezipieren,
mehr tun, als sie bloß ußerlich wahrzunehmen. Wir mssen sie verstehen.
Wie sie zu verstehen sind, mag des fteren zweifelhaft sein, aber Handlungen anderer verstehen wir mitunter einfach, weil die Handelnden uns
„mitteilen“ kçnnen, was sie tun, und sogar, warum sie es tun. Wiederum
mçgen wir bezglich des letzteren çfters misstrauisch sein (wer weiß, was
der Mensch eigentlich vorhat). Aber jedenfalls dies, was uns jemand als
seine Absicht und sein Ziel mitteilt, verstehen wir in vielen Fllen ohne
weiteres; und in manchen trivialen Fllen wissen wir ziemlich sicher,
warum jemand etwa das Fenster schließt – sogar, ohne dass er es uns sagt.
Die Geisteswissenschaften haben es mit Gegenstnden unserer Erfahrung
zu tun.
So lesen wir denn auch bei Kant: „Der Wille, als Begehrungsvermçgen,
ist […] eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nmlich
diejenige, welche nach Begriffen wirkt“ (KU, AA 05: 172.04 – 06). Naturursachen sind Gegenstnde der Erfahrung; Ursachen, die nach Begriffen
wirken, sind Gegenstnde einer speziellen Erfahrung, die es mit dem
Gebrauch von Begriffen zu tun hat. Dabei lsst Kant keinen Zweifel daran,
dass – im Unterschied zum teleologischen Begriff „einer Causalitt der Natur
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nach der Regel der Zwecke“ – der Begriff der menschlichen Zwecksetzung
oder, wie Kant formuliert: „der Begriff einer Causalitt durch Zwecke (der
Kunst)“ [ars/techne], ebenso „objective Realitt“ hat wie derjenige „einer
Causalitt nach dem Mechanism der Natur“ (vgl. KU, AA 05: 397.13 –
15). Denn nur weil es einen konstitutiven Gebrauch des Zweckbegriffs,
nmlich im Bereich des menschlichen Handelns, gibt, nur deshalb kann
berhaupt der bloß regulativ zu gebrauchende Begriff der Zweckmßigkeit
der Natur nach einer Analogie mit der „praktischen Zweckmßigkeit (der
menschlichen Kunst oder auch der Sitten) […] gedacht“ werden (vgl. KU,
AA 05: 181.03 – 11 u. 197.05 – 08). Die Zwecksetzung des menschlichen
Handelns ist der terminus a quo, nicht etwa ein Fall des terminus ad quem
dieser Analogie.
Die Gegenstnde der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Sozialwissenschaften sind Gegenstnde der Erfahrung; also
mssen Sie den Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung gengen, d. h.
den Gesetzen der Natur (natura formaliter spectata). Die „Kritik der reinen
Vernunft“ handelt von den Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung
berhaupt, damit auch von der Natur berhaupt. Diese hat nun, so lesen wir
in der Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft‘,
nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne zwei Haupttheile, deren der eine
die Gegenstnde ußerer, der andere den Gegenstand des inneren Sinnes
enthlt, mithin ist von ihr eine zwiefache Naturlehre, die Kçrperlehre und
Seelenlehre, mçglich, wovon die erste die ausgedehnte, die zweite die denkende
Natur in Erwgung zieht. (MAN, AA 04: 467.13 – 17.)
Das kçnnte uns hoffen lassen: wenn wir „Metaphysische Anfangsgrnde
der Naturwissenschaft“ vor uns haben, so werden wir zwei Abteilungen
vorfinden, eine fr die Kçrpernatur, eine fr die denkende Natur; wenn
anders die Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung fr jederlei Erfahrung gelten. Und immerhin gibt es einen Brief Kants an Schtz v. 13. 9.
1785, in dem Kant von der Absicht spricht, den schon ,fertiggemachten‘
,Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft‘ einen Anhang
ber die ,Metaphysischen Anfangsgrnde der Seelenlehre‘ beizugeben (vgl.
BR, AA 10: 406 f.) – eine Absicht, die er dann allerdings nicht realisiert hat.
Tatschlich erklrt Kant dann aber im weiteren Text der ,Vorrede‘ seine
berzeugung von der Unmçglichkeit einer ,Metaphysik der denkenden
Natur‘ und einer darauf aufbauenden Wissenschaft. Diese berzeugung
beruht auf Grnden, die fr Kant schon seit der 1. Auflage der KrV
feststehen. Sie lassen sich beinahe schon aus der zitierten Einteilung der
Kant und die Grundlegung der Geisteswissenschaften
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Natur „nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne“ nmlich in „die
Gegenstnde ußerer [Sinne]“ und „den Gegenstand des inneren Sinnes“
erschließen: Die Anschauungsform des inneren Sinnes ist die Zeit. Und da
eine besondere Naturlehre, anders als die „allgemeine Metaphysik der Natur“, um Wissenschaft zu werden, der Mathematik und der dadurch
mçglichen Konstruktion ihrer Grundbegriffe bedarf, wre eine Metaphysik
der denkenden Natur allein auf die Zeit verwiesen. (vgl. MAN, AA 04:
470 f.) Die Zeit aber hat nur eine Dimension, und damit ist mathematisch
nicht viel Staat zu machen:
[…] man mßte denn allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der
inneren Vernderungen desselben in Anschlag bringen wollen, welches aber
eine Erweiterung der Erkenntniß sein wrde, die sich zu der, welche die
Mathematik der Kçrperlehre verschafft, ungefhr so verhalten wrde, wie die
Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie (MAN,
AA 04: 471.14 – 19).
Kant nennt noch weitere Grnde fr die wissenschaftstheoretische Unzulnglichkeit der Seelenlehre, die wir angesichts des alles entscheidenden
Hauptpunktes hier auf sich beruhen lassen kçnnen.1
Es muss uns nicht sehr verwundern, dass Kant als Wissenschaft von der
denkenden Natur allein die Psychologie ins Auge fasst. Die meisten derjenigen Disziplinen, die wir im Deutschen heute unter den Begriff der
Geistes- und Sozialwissenschaften zusammenfassen, hat es zu Kants Zeiten
noch nicht oder nur in Anstzen gegeben. Und dass die Historie nicht als
Wissenschaft in Frage kommt, liegt fr Kant schon in ihrem Begriff: Er ist
als Begriff einer Darstellung von singulren Fakten „in verschiedenen
Zeiten und rtern“ der Gegenbegriff zu dem der auf Gesetzeserkenntnis
zielenden Wissenschaft; das gilt fr die Naturhistorie so gut wie fr die
menschliche Geschichte. Das schließt aber andererseits nicht aus, dass dem
Geschehen eine Gesetzlichkeit (eine Natur) zugrunde liegt.
Dennoch bleibt da ein Problem: Ist die denkende Natur nichts anderes
als ein Gegenstand des inneren Sinnes und daher bloß durch die artiku1
Zum einen kçnne die empirische Psychologie „nicht einmal als systematische
Zergliederungskunst oder Experimentallehre … der Chemie jemals nahe kommen,
weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße
Gedankentheilung von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten
und beliebig wiederum verknpfen“ lasse (MAN, AA 04: 471.21 – 26). Dazu
kommt, zum anderen, dass „noch weniger aber ein anderes denkendes Subject sich
unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen lßt, und selbst
die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alterirt und verstellt“ (Ebda, Z. 26 – 29).
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lationslos-eindimensionale Zeit strukturiert? Ist Kant hier auf der Hçhe
seiner eigenen Einsichten? In der Anthropologie etwa spricht er von „der
Natur des Denkens, als eines Sprechens zu und von sich selbst“ (Anth, AA
07: 167.12 f.). Erfahrbar also sind die berlegungen von Menschen und
ihre Zwecke gerade, insofern sie sprachlich artikulierbar sind und daher von
ihnen selbst und anderen rezipiert werden kçnnen. Auch erweist sich die
Vorstellung mancher Leute von Kants angeblich vorsprachlich konzipierten
,Bewusstseinsphilosophie‘, die es zu berwinden gelte, sehr schnell als
abwegig, sobald man genauer hinsieht. „Urtheile denken […] ohne
Wçrter“ ist fr Kant ein Unding.2 – Wenn aber schon der Vollzug des
Denkens Sprechen mit sich selbst ist, also sprachliche Artikulation impliziert,
dann, so ist zu vermuten, ist erst recht das empirische Bewusstsein dessen,
was wir gedacht haben, durch die sprachliche Bezeichnung der Gedanken
vermittelt. Das Kapitel der Anthropologie „Von dem Bezeichnungsvermçgen“
besttigt diese Vermutung:
Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzglichste
Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses grçßte Mittel, sich
selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer
auf Otaheite [Tahiti – B.G.] nennen das Denken: die Sprache im Bauch),
folglich sich auch innerlich (durch reproductive Einbildungskraft) Hçren.
(Anth, AA 07: 192.29 – 34).
Mssen wir uns da nicht fragen, ob der Begriff des inneren Sinnes und seiner
Form, der Zeit, ausreicht, um zu begreifen, wie uns die denkende Natur
gegeben sein kann? Das Entscheidende fr uns ist zunchst der Hinweis auf
die Art, wie Phnomene der denkenden Natur – „Gedanken“ heißen sie
hier – als solche rezipiert werden: durch ein Verstehen; des weiteren die
Feststellung, dass sich selbst zu verstehen impliziert, dass das Denken die
Gedanken „bezeichnet“ hat, so dass sie identifizierbar sind. Das ,Sich-selbstVerstehen‘ wird mit dem Verstehen anderer parallelisiert. Freilich geht
daraus auch hervor, dass das Denken selbst und die Bezeichnung der Gedanken unterschieden sind, die Bezeichnung durch Sprache ist nur das
vorzglichste Mittel der Gedankenbezeichnung und „das grçßte Mittel, sich
selbst und andere zu verstehen“.
Mag es auch noch andere, dann wohl weniger vorzgliche Arten der
„Gedankenbezeichnung“ und „Mittel, sich selbst und andere zu verstehen“
2
Vgl. V-Lo/Wiener, AA 24: 934; dazu des nheren Brandt, Reinhard: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67 – 76; B 92 – 201. Hamburg 1991, 42;
dagegen die Fehleinschtzung bei Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung.
Das Problem des bergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988, 97.
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geben, der innere Sinn und seine Form, die Zeit, scheinen doch eine allzu
reduzierte theoretische Grundlage zu sein, um sich von einer auf die
denkende Natur bezogenen Rezeptivitt und ihrer Struktur einen Begriff
zu machen. Mssen wir nicht sagen: die Zeit verhlt sich zur Struktur
dessen, was wir in den empirischen Geisteswissenschaften von den Menschen, ihren Handlungen, ihrer Geschichte und ihren Werken erfahren,
wieder nur so wie die gerade Linie zur ganzen Geometrie?
Zwei Fragen drngen sich daher auf: gibt es so etwas wie eine „Geometrie“ der Gedanken? Und kçnnten wir, wenn wir eine solche erfinden
kçnnten, doch „Metaphysische Anfangsgrnde einer Wissenschaft von der
denkenden Natur“ formulieren, Analoga zu den vier Hauptstcken
Phoronomie, Dynamik, Mechanik, Phnomenologie?
Verdeutlichen wir uns vorab, wie die denkenden Natur zu einem
Gegenstand der Erfahrung werden kann – und zuerst, wie etwas von ihr
(sagen wir: Gedanken) rezipierbar werden kann: durch Verstehen, vorzugsweise durch sprachliches Verstehen, hatten wir bei Kant gelesen. Das
setzt bei dem, der versteht, offenbar mehr voraus, als einen „inneren Sinn“
der das zu Verstehende in seinen Zeithorizont einordnet. Wir kçnnten
zunchst sagen: es setzt voraus, dass er die Sprache des (gesprochenen oder
geschriebenen) Textes beherrscht. Aber in gewissen Fllen muss die Sprache
allererst gelernt werden. Was heißt es, dass jemand das Wort oder den Satz
einer Sprache versteht? Oder auch: was heißt es, dass jemand eine bestimmte Geste (des Grßens, der Bitte um eine Spende usw.) wortlos
versteht? Wir sagen: er muss den Sinn der Geste, des Satzes verstehen. Die
eine Person bringt etwas, einen Sinn, zum Ausdruck, die andere Person muss
eben diesen Sinn rezipieren. Wieso ist dergleichen mçglich? Offenbar, weil
beide Personen ber die Elemente und die Struktur dieses Sinnes irgendwie
,verfgen‘. – Ich krze meine berlegung ein wenig ab: ber Sinn verfgen wir, weil wir ber ein ganzes System von Sinn, ein Sinn-System,
verfgen. Verstehen kçnnen wir einander, soweit wir ber ein gemeinsames
Sinnsystem verfgen; wo nicht, mssen wir, um zum Verstndnis zu gelangen, unser eigenes Sinnsystem erweitern. Sinneinheiten sind nur
sprachlich identifizierbar, aber sie sind nicht dasselbe wie sprachliche
Einheiten, schon weil sprachliche Einheiten mitunter, wenn nicht gar
hufig, vieldeutig sind und Sinn zumeist verschieden, z. B. in Synonymen
und in verschiedenen Sprachen, ausgedrckt werden kann.
Meine Folgerung: die (spezifische) Bedingung der Mçglichkeit des
Verstehens, d. h. der Rezeption von Sinn, ist nicht die Zeit, sondern ein
umfassendes Sinnsystem oder, um einen phnomenologischen Terminus
einzufhren, ein noematisches System. Wenn es daher eine Chance geben
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soll, den Begriff der denkenden Natur zu konstruieren, dann mssten wir
berlegen, ob der Begriff eines noematischen Systems so etwas wie eine
mathematische Konstruktion erlaubt. Ich gebe dazu nur zwei Hinweise:
Erstens: Sinn ist nicht gltiger Sinn; schon deshalb wre eine Sinn-Mathematik, nennen wir sie „Noematik“, nicht dasselbe wie eine Logik.
Zweitens: Sinn mag in vielen, vielleicht den wichtigsten Fllen so etwas wie
einen Geltungsanspruch enthalten, etwa den theoretischen, von gewissen
Gegenstnden zu gelten. Aber nicht in ihrer Geltungsfunktion untersucht
eine Noematik die Sinneinheiten (Noemata) und Sinnzusammenhnge,
sondern in ihrer Funktion, Vorkommnisse der denkenden Natur, DenkVorkommnisse (,noetische‘ Prozesse) zu strukturieren. Infolgedessen sind
etwa die Sinnelemente, die in der Logik die Funktion allgemeiner Begriffe
haben, als Strukturelemente der noetischen Prozesse durchaus Bestimmtheiten von singulren Begebenheiten in der Zeit.
Setzen wir einmal voraus, eine Noematik, eine Mathematik der
Sinneinheiten, in denen sich Menschen geistig ,bewegen‘, sei mçglich.
Dann stnde einer „Metaphysik der denkenden Natur“ nichts mehr im
Wege. Skizzieren wir also die vier Hautstcke:
I. Im ersten Hauptstck, nennen wir es „formale Noetik“, sprechen wir
(statt, wie in den ,Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft‘
von der Materie als dem Beweglichen im Raume) von der noetischer Subjektivitt und der Synthesis von Sinn-Elementen, die durch ihre Stelle in
einem noematischen System determiniert sind. Dem vom jeweiligen Subjekt
habitualisierten, relativen noematischen System stellen wir dabei das durch
Definition erweiterte – und schließlich das in indefinitum erweiterte
universale oder absolute noematische System aller mçglichen Sinnelemente
gegenber. In der formalen Noetik ist zu zeigen, inwiefern die so definierten noetischen Prozesse als strukturelle Grçßen, die also aus Teil-Noesen zusammengesetzt sind, begriffen werden kçnnen.
Wer je die ,Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft‘
studiert und sich mit den oft sehr komplexen Formulierungen der ,Erklrungen‘ und ,Lehrstze‘ abgemht hat, kann sich leicht denken, dass die
entsprechenden Formulierungen einer formalen Noetik nicht gerade
schlichter ausfallen kçnnen. Nur um Ihnen einen Eindruck von der Form
solcher Stze zu geben, stelle ich hier den Lehrsatz dieses ,Ersten Haupt-
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stcks‘ vor (gegenber der Formulierung in meinem Buch3 syntaktisch ein
wenig ,entzerrt‘):
Lehrsatz: Die Zusammensetzung einer Noesis, in welcher ein Subjektsbegriff
(S) durch das Prdikat (P) bestimmt wird, aus zwei Noesen desselben noetischen Subjekts kann nur auf folgende Weise gedacht werden:
Denken wir uns in ihr zwei Konstitutionsakte als vereinigt,
(1) deren einer die explizite Konstitution der synthetischen Einheit des Subjektsbegriffs S mit den Konstituentien (Q/R) des Prdikatsbegriffs durch das
transzendentale Bewusstsein darstellt, u. zw. aufgrund eines noematischen
Systems, das diese Begriffe, aber nicht P, enthlt,
(2) deren anderer die implizite Konstitution eines Noema darstellt, welches aus
den genannten Konstituentien (Q/R) den Prdikatsbegriff (P) und so ein
umfassenderes noematisches System erzeugt:
ein System, aufgrund dessen beide Noesen vereinigt gedacht werden kçnnen
(wobei der implizite Konstitution noch keine Gegenstandsgeltung, sondern
nur begriffliche Geltung beansprucht).
Die methodologische Bedeutung eines solchen Lehrsatzes kçnnte darin
liegen, die quivalenz etwa von Interview-ußerungen mit weiteren, explizierenden Antworten zu exponieren.
II. Das zweite Hauptstck, nennen wir es „noetische Dynamik“, handelt
von den Grundkrften der denkenden Natur. Kant spricht des fteren von
„Grundkrften“ der Seele, ohne dass man allerdings den Eindruck gewinnt,
dass er sich ber Art und Zahl dieser Grundkrfte eine abschließende
Meinung gebildet htte. In den ,Metaphysischen Anfangsgrnden‘ fasst er
einmal „das Bewußtsein, mithin die Klarheit der Vorstellungen meiner
Seele“ als Grundkraft ins Auge.4 In den Metaphysik-Vorlesungen heißt es,
unter Abweisung der Wolffschen These von der Seele als Grundkraft:
„Demnach sind das Erkenntnißvermçgen, das Vermçgen der Lust und Unlust,
und das Begehrungs-Vermçgen, Grundkrfte“ (V-Met-L1/Pçlitz, AA
28.1: 194). Diese Trias entspricht genau der Dreigliedrigkeit der „Seelenvermçgen oder Fhigkeiten“ in der Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft“ (vgl. KU, AA 05: 177), wo allerdings der Ausdruck „Grundkraft“
3
4
Grnewald, Bernward: Geist – Kultur – Gesellschaft. Versuch einer Prinzipientheorie
der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage. Berlin 2009,
288 f.
Allerdings in einem Zusammenhang, in dem Kant nur die Frage diskutiert, ob eine
nicht-materielle Substanz, deren Grçße nicht aus Teilen bestnde, entstehen oder
vergehen kçnne (Vgl. MAN, AA 04: 542.18–543.14).
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nicht benutzt wird. Schließlich heißt es in dem Aufsatz „ber den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“:
Verstand und Wille sind bei uns Grundkrfte, deren der letztere, so fern er
durch den erstern bestimmt wird, ein Vermçgen ist, Etwas gemß einer Idee,
die Zweck genannt wird, hervorzubringen (GTP, AA 08: 181).
In der Fußnote zu demselben Absatz bezeichnet Kant allerdings auch die
Einbildungskraft als eine Grundkraft des „Gemts“.
Allen diesen Andeutungen ist gemeinsam, dass sie sozusagen pauschal
von Vermçgen handeln, ohne zu erwgen, wie diese Vermçgen als Krfte
von unterschiedlichem Gehalt oder Maß einen Menschen, sein Denken und
Handeln bestimmen kçnnten. Dies wrde erst recht bei dem Vorschlag
„Bewusstsein“ schwerlich mçglich sein, aber auch die Begriffe der Einbildungskraft und des Gefhls der Lust und Unlust scheinen wenig geeignet,
den geistigen Krften ein angebbares Maß zuzudenken.
Wenn wir uns Verstand und Wille als Grundkrfte denken, so ist die
Situation nicht viel besser, solange wir unter ihnen dasjenige verstehen, was
uns in Kants Kritiken als Vermçgen begegnet, berhaupt gewisse Prinzipien
gltigen Denkens, Wollens und Handelns zu gebrauchen. Verstehen wir
aber unter dem Verstand einer Person ein konkret bestimmtes kognitives
Potential, das eine bestimmte Person hat, also die Menge der berzeugungen
einer Person, und unter dem Willen einer Person ein konkretes Ensemble
von Zwecken und Maximen, dann wird verstndlich, warum die „geistigen
Krfte“ einer Person ganz bestimmte berlegungen, Entscheidungen und
Handlungen ermçglichen, zu denen eine andere Person gnzlich unfhig
wre. Die zitierte Formulierung, der Wille sei, „so fern er durch den erstern
[den Verstand] bestimmt wird, ein Vermçgen […], Etwas gemß einer
Idee, die Zweck genannt wird, hervorzubringen“, erhlt nun sozusagen
einen neuen Sinn, insofern Verstand und Wille nun zu Grçßen-Variablen
werden, in die wir berzeugungen, Maximen und Zwecksetzungen als
Variablen-„Werte“ einsetzen mssen. Wir kçnnten noch einmal eine terminologische Anleihe bei der Phnomenologie machen und von „noetischen Habitualitten“ sprechen. Noetische Habitualitten entstammen
noetischen Prozessen; und wir kçnnen sie ihrem noematischen Gehalt
nach, wie die noetischen Prozesse, durch Stze darstellen, aber sie haben
einen anderen Zeitindex: Einmal „gewonnen“, bleiben sie erhalten und
bestimmen unser Denken und Handeln, bis sie gegebenenfalls revidiert
werden. Ihre Funktion ist es, bestimmte noetische Prozesse zu ermçglichen
oder gar zu motivieren, bestimmte andere jedoch zu verhindern. (Das
besagen denn auch die betreffenden Definitionen und Lehrstze.)
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III. Das dritte Hauptstck, sagen wir: die noetische Praktik, hat die Relationen noetischer Prozesse zu definieren und nach Mçglichkeit die Gesetze
zu formulieren, die das geistige Geschehen bestimmen. Hier sind Begriffe
wie die der Person und der Persçnlichkeit zu definieren, hier sind Aussagen
ber den Grund der Identitt einer Person, die Form der Motivation von
Entscheidungen und die Wechselwirkung mit der Umwelt im Handeln zu
machen. – Ich kann hier wie bei den ersten beiden Hauptstcken nicht alle
Definitionen, Lehrstze und Beweise entfalten, die in einem solchen
Lehrstck notwendig sind, aber vielleicht kann ich dem Leser eine vage
Vorstellung von dem ganzen Unternehmen geben, wenn ich einfach die
vier Lehrstze dieses Hauptstcks vorstelle.
Lehrsatz 1: Die Strke der Subjektivitt einer Person im Vergleich zu jeder
anderen Person zu einem bestimmten Zeitpunkt (die Persçnlichkeit des
Subjekts) kann nur durch die Strke der noetischen Prozesse, d. i. ihr noetisches Potential, aufgrund gegebener Entscheidungen zwischen noematischen
Alternativen, geschtzt werden.
Lehrsatz 2: Bei allen Vernderungen des Bewusstseins erweist sich ein noetisches Subjekt reflexiv als mit sich selbst identisch bleibende Person (personales
Ich) nicht aufgrund der Erhaltung irgendeiner Substanz, sondern durch
Selbstzuschreibung (transzendentales Bewusstsein) vergangener Erlebnisse
und darin der frheren Meinungen, Entscheidungen und Handlungen […];
auch im Falle aktueller Kritik an diesen Meinungen [, Entscheidungen] und
Handlungen aktualisiert eine Person durch diese Selbstzuschreibung einen
reflexiven Kern eigener berzeugungen (jene Erlebnisse gehabt zu haben), zu
denen auch die kausale Zurechnung der eigenen Handlungen gehçrt (die in
moralischen Kontexten zur Imputation wird).
Lehrsatz 3: Noetische Entscheidungen (innere Handlungen) einer Person
haben eine innere Ursache (Motivation) in den, gewisse Kriterien fr die
Zueignung von Noemata implizierenden, Maximen der Persçnlichkeit.
Lehrsatz 4: ußeres Handeln einer Person, als unter dem Bewusstsein „ich tue
h“ stattfindende Wechselwirkung des Verhaltens der Person mit ihrer Umwelt,
impliziert eine innere Wechselwirkung zwischen dem Potential von praktischer
und doxischer (kognitiver) Persçnlichkeitsfunktion.5
IV. Das vierte Hauptstck, es heißt bei Kant „Phnomenologie“, hier also
„Noetische Phnomenologie“, soll die Gegenstnde noetischer Erfahrung
modaltheoretisch differenzieren und dadurch die betreffenden Erscheinungen (,Phnomene‘) in (bestimmte) Erfahrung berfhren. Das Erfahrungssubjekt nmlich ist immer in die Erfahrung des Gegenstandes verwickelt. Daher ist dasjenige, was uns gegeben ist, eine auch im empirischen
5
Vgl. Grnewald, a.a.O., 300–305.
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Sinne auf den Zustand des Subjekts bloß relative Erscheinung, die erst noch
auf ihre objektive Gltigkeit zu befragen und zu beurteilen ist.
Ich erlutere das zunchst an dem physikalischen Beispiel (wir sind in
der Newtonschen Himmelsmechanik): Die geradlinige Bewegung, sagt
Kant im Lehrsatz 1 der Phnomenologie, ist eine bloß mçgliche Bewegung,
weil es fr den Beobachter dabei keinen Unterschied macht, ob der Gegenstand oder aber der Beobachter mitsamt dem umgebenden Raum bewegt
ist. Der Beobachter kann also willkrlich entscheiden, ob er den Gegenstand oder sich selbst mitsamt dem Raum als bewegt bestimmt. Bei der
Kreisbewegung ist das anders, denn sie beweist durch ihre Abweichung von
der geradlinigen Bewegung eine bewegende Kraft. Sie ist daher eine
wirkliche Bewegung. Notwendig schließlich sind, wie man aus dem dritten
Newtonschen Gesetz entnehmen kann, die Bewegungen jedes bei einer
Bewegungsmitteilung beteiligten Kçrpers. Getreu der Aufgabe der Modalkategorien, nicht die „Bestimmung des Objects“ zu vermehren, sondern
„das Verhltniß zum Erkenntnißvermçgen aus[zu]drcken“(KrV, B 266),
liegt die Relevanz der Kantischen „Phnomenologie“ in der Differenzierung und Verflechtung der empirischen Methoden (der Grçßenbestimmung durch die geradlinige Bewegung, der Diagnose von Krften durch
die Beobachtung von Abweichungen von der Gradlinigkeit, der gesetzlichen Korrelierung von Bewegungssubstraten).
Die modale Differenzierung noetischer Prozesse unterscheidet nun
Verstehensprozesse, Entscheidungen (als innere Handlungen) und ußere
Handlungen. Prozesse bloßen, rezeptiven Verstehens haben es einerseits auf
der Gegenstandsseite mit bloß mçglichen noetischen Objekten zu tun, denn
zu etwas Noetischem (,Geistigem‘) werden die Objekte (sprachliche
Lautfolgen, Bcher usw.) nur durch die semiotische Aktivierung des
noematische Systems des rezipierenden Subjekts; andererseits sind auch die
Verstehensprozesse selbst, als Forschungs-Objekte, bloß mçgliche Vernderungen der verstehenden Subjekte (in ihrer Persçnlichkeit), da diese sich
das Verstandene, um es zu verstehen, ja nicht zu eigen machen mssen
(etwa als Meinung). Entscheidungen (kognitiver oder praktischer Art) dagegen sind Prozesse, die durch die Vernderung der betreffenden Persçnlichkeit das Engagement noetisch motivierender Krfte und nicht nur eine
Aktivierung des noematischen Systems beweisen; sie sind daher wirkliche
(innere) Handlungen einer Person. ußere Handlungen schließlich machen
eine Wechselwirkung zwischen kognitiven und praktisch-noetischen Akten
und daher die Wirklichkeit dieser inneren Handlungen notwendig.
Auch die Funktion der noetischen ,Phnomenologie‘ ist eine methodologische: eben jene Verwandlung der Erscheinungen in Erfahrung. Die
Kant und die Grundlegung der Geisteswissenschaften
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(im Kantischen Sinne) ,phnomenologischen‘ Lehrstze lassen uns einschtzen, bei welchen noetischen „Phnomenen“ wir mit welchen Mitteln
nach welcher Art von Realgrnden, Ursachen, Motiven zu forschen haben.
Erscheinungen bloß mçglicher noetischer Gegenstnde (etwa von Texten)
bedrfen (einerseits) zunchst keiner anderen Erklrung als der durch das
Rezeptionsvermçgen der verstehenden Subjekte. Wollen wir sie in „Erfahrungsgegenstnde“ verwandeln, mithin als etwas bestimmen, was eine
von unserer Subjektivitt unabhngige Bestimmtheit besitzt, dann mssen
wir den Texten einen Realgrund in einem erzeugenden Subjekt (evtl. auch
in einer Subjektsgemeinschaft) zudenken. Im Falle eines Werkes insbesondere denken wir ihm ein Bestimmtsein durch einen bestimmten Produktentwurf, etwa eine Romankonzeption, fr die wir inner- und gegebenenfalls außerhalb des Textes nach Anhaltspunkten Ausschau zu halten
haben – wenn wir wirklich den Text selbst und nicht etwa unsere Einflle
beim Lesen des Textes erforschen wollen.
Andererseits sind uns alle geistigen Sachverhalte als solche, alle persçnlichen berzeugungen und Ziele, alle Entscheidungen und alle
Handlungen als sinnbestimmte Vorkommnisse nur ber Verstehensprozesse
zugnglich, und das heißt: ber die Rezeption von Sinn, mithin ber die
Erscheinung „bloß mçglicher“ noetischer Objekte. Diese wiederum kçnnen wir nur durch kategoriale Einbettung in das durch die Relationskategorien strukturierte (brige) Handlungsgeschehen in Erfahrungsobjekte
verwandeln.
Alle Phnomene der empirischen Geisteswissenschaften sind als noetische Phnomene bloße Gegenstnde des Verstehens. Aber nicht alle sind
Texte oder aktuelle sprachliche ußerungen, die schon in sich selbst einen
artikulierten Sinn zur Darstellung bringen. ußere Handlungen etwa sind
erfahrbar als Verhalten von Personen, dem wir als Beobachter oder
Kommunikationspartner einen (wie Max Weber formulierte) subjektiven
Sinn zudenken, welchen wir unter gnstigen Bedingungen auch bestimmen kçnnen. Vielfach sind uns die Handlungen nur im Rckschluss von
Handlungsresultaten zugnglich. Die Bestimmung von Handlungssinn
kçnnen wir leisten, wenn wir die Handlungen (a) auf durch bestimmte
berzeugungen und habituelle Zwecke motivierte Entscheidungen zurckfhren und (b) deren Ausfhrung als Steuerung durch die Wechselwirkung von kognitiven und praktischen Prozessen erklren kçnnen. Dazu
brauchen wir ußerungshandlungen oder ußerungs-Dokumentationen,
die den betreffenden Handlungssinn und die ihm zugrundeliegenden
Habitualitten (mittelbar oder unmittelbar) erschließen lassen. Es bedarf
eines ganzen Arsenals von Methoden, damit ein Historiker oder ein So-
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zialwissenschaftler die ihm vorliegenden oder aktuell gegebenen Phnomene in Erfahrung berfhren kann. Aber es ist schon deutlich geworden,
dass wir dazu ein kategoriales Gerst von geisteswissenschaftlichen Begriffen brauchen, um ber unsichere Vermutungen und allzu geniale
Konstruktionen hinauszukommen. – Die modaltheoretischen Lehrstze
(der noetischen Phnomenologie) sollen begreifen lassen, welche Verflechtungen von Methoden zwischen dem Verstehen (der bloß mçglichen
noetischen Objekte) und der Verhaltensbeobachtung notwendig ist, um
Erscheinungen in geisteswissenschaftliche Erfahrung zu verwandeln.
Die Ausarbeitung von ,Metaphysischen Anfangsgrnden der Geisteswissenschaften‘ sollte zeigen, dass Geisteswissenschaften, als Objektivitt
beanspruchende Wissenschaften, mçglich sind; und sie kçnnte zeigen, dass
es die Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung sind, die nicht nur den
sog. Naturwissenschaften, sondern auch den Geisteswissenschaften – der
Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, den Sozialwissenschaften – erlauben, ber das, was wir subjektiv erleben, hinauszukommen
zur Objektivitt der Gegenstandsbestimmung.