Academia.eduAcademia.edu

Gerechtigkeit und Geschlechterrollen (2016)

2016, Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts

RphZ Rechtsphilosophie Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2/2016 Sonderdruck Elisabeth Holzleithner Thema: Feministische Rechtswissenschaft Friederike Wapler: „Die Frau ist frei geboren“ – Feministische Perspektiven in der Rechts- und Sozialphilosophie Elisabeth Holzleithner: Gerechtigkeit und Geschlechterrollen Anna Katharina Mangold: Mehrdimensionale Diskriminierung – Potentiale eines materialen Gleichheitsverständnisses Anja Schmidt: Geschlecht als Kategorie des Rechts Beiträge: Rike Sinder: Republikanisches Recht und totale Rechtlosigkeit. Zum Naturrechtsdenken Hannah Arendts Massimo La Torre: „Republican“ Liberty? Wavering between Liberalism and Democracy 115 133 152 169 187 213 Herausgegeben von Alexander Aichele Martin Borowski Joachim Renzikowski Simone Zurbuchen Verlag C.H.BECK  2016 V Inhaltsverzeichnis Thema: Feministische Rechtswissenschaft Friederike Wapler: „Die Frau ist frei geboren“ – Feministische Perspektiven in der Rechts- und Sozialphilosophie ....................................................................... 115 Elisabeth Holzleithner: Gerechtigkeit und Geschlechterrollen ............................................................ 133 Anna Katharina Mangold: Mehrdimensionale Diskriminierung – Potentiale eines materialen Gleichheitsverständnisses ............................................................................... 152 Anja Schmidt: Geschlecht als Kategorie des Rechts .............................................................. 169 Beiträge Rike Sinder: Republikanisches Recht und totale Rechtlosigkeit. Zum Naturrechtsdenken Hannah Arendts ...................................................... 187 Massimo La Torre: „Republican“ Liberty? Wavering between Liberalism and Democracy ......... 213 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 133 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen Elisabeth Holzleithner1 I. Einleitung Geschlechterrollen sind vorgefertigte Skripte im Schauspiel des Lebens. Sie werden gelebt, und sie werden Menschen vorgehalten. Sie konstituieren stereotype Erwartungen an Verhalten, das im Einklang mit einem zugewiesenen Geschlecht stehen soll. Wer jemand im Sinne der eigenen Identifikation und der Anerkennung durch andere sein kann; was jemand im Zuge der Verteilung von Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten erreichen kann, ist von Geschlechterrollenzuschreibungen deutlich beeinflusst. Damit sind Geschlechterrollen zwangsläufig ein Thema der Gerechtigkeit. Sie sind aus Gerechtigkeitsperspektive ein Problem, denn sie schränken, indem sie auferlegt werden, Menschen in ihrer Entfaltung ein, und sie führen zu Benachteiligungen und Privilegierungen. Entlang der Hierarchisierung der Geschlechterrollen wird die Gesellschaft von strukturellen Ungleichheiten durchzogen. Die Gerechtigkeitsproblematik von Geschlechterrollen gilt es auszuloten. Dazu wird zunächst das Feld der Gerechtigkeit skizziert und in die Dimensionen der Anerkennung wie der Distribution aufgefächert – in Verknüpfung mit dem Ideal der Autonomie. Sodann wird die Thematik der Geschlechterrollen im Spannungsfeld von Stereotypen und Generalisierungen dargelegt. Dies geschieht in ganz grundsätzlicher Weise, indem der Begriff des (biologischen) Geschlechts selbst als Gegenstand von Geschlechterrollenerwartungen gefasst wird. Derart erweist sich bereits die (rechtliche) Zuweisung eines Geschlechts als Gerechtigkeitsproblematik. Anknüpfend daran werden unterschiedliche Ebenen und Bereiche untersucht, wo sich die Macht von Geschlechterrollen zeigt. Fokussiert wird dabei auf das Differenzieren wie das Zusammenwirken unterschiedlicher Sphären, namentlich von Öffentlichkeit und Privatheit, und auf den zentralen Stellenwert der Zuschreibung von Fürsorglichkeit und Fürsorgeleistungen an die weibliche Geschlechterrolle. In allem ist jedenfalls zu beachten, dass die Geschlechterdifferenz nicht als simple Dualität zu haben ist. Entsprechend müssen die Überlegungen auch die Vielfalt von Geschlechterrollen aufgrund ihrer Verwobenheit mit diversen Machtachsen wie Klasse, ethnischer Herkunft, (sub)kulturellen und religiösen Gepflogenheiten oder sexueller Orientierung thematisieren, also ihre situations- und situiertheitsbedingten Komplexitäten – Stichwort: Intersektionalität – ebenso wie ihre Veränderlichkeit mitbedenken. 1 Mein aufrichtiger Dank geht an Anja Schmidt für ihre Beharrlichkeit, Geduld und Textbearbeitung, an Kati Danielczyk, Isabell Doll, Maria Sagmeister und Friederike Wapler für Ermunterung, Inspiration, Diskussion, kritische Lektüre und wichtige Hinweise sowie an Joachim Renzikowski und Sascha Sebastian für die mit weiterführenden Vorschlägen angereicherte Endredaktion. 134 Elisabeth Holzleithner 2016 II. Perspektiven der Gerechtigkeit Die Frage nach der Gerechtigkeit eröffnet unterschiedlichste Perspektiven. Ausgangspunkt für deren Erörterung ist die Herausforderung, um die es bei der Gerechtigkeit geht: nämlich die Rechtfertigung der Verteilung von Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten im Hinblick auf die Frage, was wir einander schulden.2 Verteilung meint selbstredend nicht einfach einen Zustand, der vorfindlich und dann rechtfertigbar wäre, sondern bezieht sich auf alle einschlägigen Vorgänge – im günstigeren Fall ein „koordiniertes Handeln mit dem Ziel, gerechte Verhältnisse herzustellen.“3 Ebenfalls im Fokus sind die Ergebnisse solcher Prozesse, die jeweils wieder zum Gerechtigkeitsproblem werden (müssen). Zur Rechtfertigung wie zur Kritik sind Kriterien anzuwenden. Solche Kriterien – über die im Einzelnen zu streiten ist – betreffen alle Ebenen und Vorgänge, die mit der jeweiligen Herausforderung in Zusammenhang stehen. Dabei geht es, erstens, zunächst darum, was überhaupt (und gegebenenfalls wie viel davon und wie oft) verteilt oder zuerkannt werden soll.4 Hier war bereits die Rede von Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten; es kann sich aber auch um einen Status handeln, gleichsam ein Bündel von Rechten und Pflichten (mit entsprechenden distributiven Konsequenzen). Dazu gehört etwa eine Staatsbürgerschaft, das verheiratet oder verpartnert sein oder ein geschlechtlicher Personenstand. Mit Blick auf Statusfragen wie auch auf andere Kristallisationspunkte von Identität ergibt es Sinn, von Anerkennung als eigener Dimension der Gerechtigkeit zu sprechen, die – bei aller Verwobenheit – von jener der Distribution analytisch unterschieden werden kann.5 Die nächste, zweite, Ebene betrifft den Modus. Hier ist zu klären, aus welchen Gründen, nach welchen Kriterien, auf welche Art und nach welchem Verfahren die Verteilung von etwas oder die Anerkennung eines Status erfolgt. Und diese Fragen führen ganz zwanglos zur dritten Ebene, wenn es darum geht, wer jeweils als Subjekt der Gerechtigkeit zählt.6 Das betrifft nicht nur die Frage, wer ein Recht auf etwas hat, sondern auch, wer in welcher Weise festlegt, wie ein solches Recht zustande kommt und wem es zukommen soll. Mit Blick auf jede der genannten Ebenen kann problematisiert werden, ob die jeweils in Anschlag gebrachten Kriterien richtig bzw. angemessen sind – ob sie „passen“7. So kann etwa kritisiert werden, die Kriterien seien nicht richtig, weil relevante Faktoren bei deren Gestaltung nicht beachtet worden seien. Oder es mag vorgetragen werden, das Procedere zur Erstellung der Kriterien sei ungerecht, etwa weil nicht alle in angemessener Weise einbezogen worden sind, die – als Betroffene8 – einbezogen hätten werden 2 Holzleithner, Gerechtigkeit, 2009, 7. Ibid., 10. 4 Man kann hier noch weiter fragen: Woher stammt zu Verteilendes oder Zuzuerkennendes, wie ist es entstanden, von wem wird es (um welchen „Preis“) zur Verfügung gestellt, wie ist diese Person/Institution daran gelangt? 5 So beharrlich Fraser, z.B. in Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis, 2013, 193 f.; s. auch ihre bekannte Auseinandersetzung mit Honneth: Fraser/Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, 2003. 6 Fraser, Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis, 2013, 200. 7 Der einschlägige Klassiker ist Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, 2006. 8 Die Diskussion darüber, wer in welchem Kontext als Betroffene*r gelten soll, wird entlang des allaffected sowie des all-subjected bzw. coercion principle geführt. S. dazu Fraser, Fortunes of Feminism, 202; dies., Abnormal Justice, Critical Inquiry 34 (2008), 393 (411 ff). Etwas andere Akzente setzt z.B. 3 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 135 müssen, wodurch es gar kein gerechtes Ergebnis geben könne. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und die Frage stellen, ob es überhaupt gerecht ist, dass ein bestimmtes Gut (in einem weiten Sinn, man denke nur an die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin) hergestellt und zugänglich gemacht wird, oder dass ein bestimmter Status konstituiert und zuerkannt oder verwehrt wird – und unter welchen Bedingungen. Einschlägige Diskussionen werden heute sowohl hinsichtlich des Personenstandes Geschlecht9 als auch mit Blick auf die Institutionalisierung von Beziehungen in Ehe oder Lebenspartner*innenschaft10 geführt. Bei aller hier angedeuteten Unterschiedlichkeit der Zugänge zu Herausforderungen der Gerechtigkeit kann eine grundlegende Aussage getroffen werden: Grundsätzlich ist jeder Mensch Subjekt der Gerechtigkeit. In einer Formulierung von Ronald Dworkin wird jeder Person gleiche Achtung und Berücksichtigung geschuldet;11 jede Person zählt gleichermaßen. Was das mit Blick auf spezifische Gerechtigkeitsfragen bedeutet, ist Gegenstand von Auseinandersetzungen – eben hinsichtlich dessen, wer in welchem Kontext konkret zu berücksichtigen ist und in welcher Weise. Die von Dworkin übernommene Formulierung bringt aber jedenfalls einen zentralen Gedanken zum Ausdruck: Sie geht über die Idee bloß formeller Gleichheit hinaus.12 Das Prinzip der Gleichheit wird immer schon im Licht von zu vermittelnden Differenzen interpretiert und von gegebenenfalls auszugleichenden Ungleichheiten. Denn die Gesellschaft ist von strukturellen Ungleichheiten durchzogen, die sich auf die Situation von Individuen aufgrund ihrer Positionierung auswirken (können). Bloß formelle Gleichheit zu postulieren würde diejenigen privilegieren, die sich aufgrund ihrer Machtposition selbst als Maßstab setzen können – und dies oft gar nicht bemerken.13 Strukturelle Ungleichheiten sind Hindernisse für menschliche Entfaltung aufgrund der Zuschreibung von Charakteristika wie (weibliches) Geschlecht, ethnische Herkunft, (homo)sexuelle Orientierung, (deklassierte) soziale Herkunft oder (mangelnde) körperliche und intellektuelle Fähigkeiten. Von Anfang an prägen sie das menschliche Leben, wie Judith Lorber dies pointiert (und wohl etwas holzschnittartig) zum Ausdruck bringt: „Immer noch wollen wir ja nicht nur sofort wissen, ob ein Säugling ein Junge oder ein Mädchen ist, sondern immer noch wird uns und den kleinen Kindern mit dieser Information, dieser Kategorisierung, verbunden mit der Rasse und den sonstigen sozialen Merkmalen, genau mitgeteilt, auf welchen Platz in ihrer sozialen Ordnung man sie verweisen wird, ob man sie dazu ermutigt, ihr Leben als 9 Song, The boundary problem in democratic theory: why the demos should be bounded by the state, International Theory 4 (2012), 39 (48 ff). Die Literatur zu dieser Frage im Kontext der Demokratietheorie ist nachgerade unüberschaubar. 9 S. Deutscher Ethikrat, Fragebogen für Juristen zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland, insb. Fragen 11 und 12 (http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/fragebogen-intersexualitaetjuristen.pdf); die juristiHannah Ahrendsschen Auseinandersetzungen finden sich hier: http://www. ethikrat.org/sachverstaendigenbefragung-intersexualitaet (21.2.2016). 10 Siehe dazu mti vielen Nachweisen Holzleithner, Was sollen „wir“ wollen? Debatten über rechtlich institutionalisierte Beziehungen, in: Bannwart et al. (Hrsg.), Keine Zeit für Utopien? Perspektiven der Lebensformenpolitik im Recht, 2013, 169. 11 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1977, 439. 12 Dworkin, Umgekehrte Diskriminierung, in: Rössler (Hrsg.), Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse, 1993, 74 (79). 13 Holzleithner, Gerechtigkeit, 2009, 12. 136 Elisabeth Holzleithner 2016 dominante, selbstbewusste und gesellschaftlich wichtige Person zu leben oder als unterdrückte, verkümmerte Person, die am Rande des wichtigen Geschehens steht.“14 Wenn hier die menschliche Entfaltung in den Mittelpunkt von Gerechtigkeitsüberlegungen gestellt wird, dann ist damit ein prominentes Ideal angesprochen: jenes der Autonomie. Die Berufung darauf bedarf möglicherweise der Erläuterung. Gerade in queer-feministischen Zusammenhängen wird häufig befürchtet, mit der Bezugnahme auf Autonomie würde man sich eine zu hohe Hypothek einhandeln, die in der fragwürdigen Geschichte ebenso wie in der einengenden Gegenwart des Begriffs besteht. Zum einen wurde Autonomie zunächst unter Ausschluss von Frauen und Fremden konzipiert. Indem man auf ihr angebliches Wesen rekurrierte, sprach man ihnen die Fähigkeit zur Autonomie schlicht ab.15 Nicht nur Kant und Hegel reservierten Autonomie für heterosexuelle, weiße, männliche Besitzbürger, sei es unter Berufung auf Natur16, Sozialisation oder sozioökonomische Lage.17 Problematisch war auch immer eine Verengung des Begriffs auf eine Form der Selbstermächtigung, welche Bindungen und Abhängigkeiten negiert.18 Und aktuell irritiert die Reduktion von Autonomie auf eine neoliberale Vorstellung der Wahl durch den rational-egoistischen Marktteilnehmer, der seine individuellen Interessen optimiert.19 Die Kritik ist wichtig, damit wird aber nicht die Idee der Autonomie als solche desavouiert. Ihre Bedeutung liegt zunächst darin vorzugeben, dass jede Person als Subjekt anzuerkennen ist – und nicht als Objekt von Zumutungen, seien diese traditionalistischer, aber auch emanzipatorisch gemeinter Art.20 Im Einzelnen wird Autonomie über jene sozial geschaffenen Bedingungen erfasst, welche die Handlungsfähigkeit von Menschen ermöglichen bzw. einschränken:21 Es bedarf zunächst eines adäquaten Bereichs von (Lebens-)Möglichkeiten, die ergriffen werden können. Die Voraussetzung dafür sind intellektuell-emotionale und auch körperliche Kapazitäten, um vorhandene oder zu schaffende Möglichkeiten wahrzunehmen, sie zu bewerten und sich dafür 14 Lorber, Gender-Paradoxien, 1999, 413. Wenn Autonomie aus Wesensargumenten hergeleitet wird, dann ist das Ausdruck von stereotypisierenden Vorurteilen, die Menschen an eine bestimmte Situation ketten wollen und die anderen nützen; es ist Ausdruck eines hierarchisierten Machtverhältnisses. Vgl. zur Kritik des liberalistischen Autonomieideals im Hinblick auf die Stellung von Frauen auch Wapler in diesem Heft sowie dies., Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau, in: Kaufmann/ Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung und Verantwortung, 2012, 79 ff. 16 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werke 7, 1986, § 166, Zusatz. 17 So etwa Kant, Metaphysik der Sitten, A 167/B 197, 433 oder auch ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). In Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 1, in Weischedel, Werkausgabe Band XI, 1977, 125. 18 Dagegen richtet sich das Konzept der „relationalen Autonomie“. S. etwa Mackenzie/Stoljar, Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, 2000. S. aber auch das Konzept der sozialen Freiheit bereits im frühen Sozialismus – dazu Honneth, Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung, 2015. 19 Zur Frage, inwieweit bestimmte Feminismen dem Neoliberalismus zuarbeiten, s. Fraser, Feminism, Capitalism and the Cunning of History, New Left Review 56 (2009), 97; Klinger, Gender in Troubled Times: Zur Koinzidenz von Feminismus und Neoliberalismus, in: Fleig (Hrsg.), Die Zukunft von Gender. Begriff und Zeitdiagnose, 2014, 126. 20 Die Rede ist dann kritisch von „Zwangsfreiheiten“; s. Sauer/Strasser, Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, 2008. 21 Friedman, Autonomy, Gender, Politics, 2003, 3 ff.; Raz, The Morality of Freedom, 1986, 372 f. 15 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 137 oder dagegen zu entscheiden. Damit diese entsprechend entfaltet werden können, bedarf es förderlicher Rahmenbedingungen; keinesfalls darf der Hinweis auf begrenzte Fähigkeiten als Keule verwendet werden, um Autonomie kategorisch abzusprechen. Schließlich müssen die jeweiligen Situationen durch die relative Abwesenheit von Zwang und Manipulation charakterisiert sein. Nur so kann verbürgt werden, dass die Handlungen, die eine Person vollzieht, oder der Lebensweg, den sie einschlägt, auch der „ihre“ ist.22 Dass Autonomie unter den genannten Bedingungen steht, bedeutet nicht zuletzt, dass Autonomie nichts einfach Naturgegebenes ist, sondern dass die Frage, ob ein autonomes Leben möglich ist, davon abhängt, wie Recht und Gesellschaft diese Bedingungen gestalten. Wie können also die Bedingungen für Autonomie förderlich gestaltet, wie kann der Unterdrückung, der Verkümmerung von Menschen entgegengewirkt werden – zumal, wenn sie auf eingelebten, nachhaltigen und beharrlichen, miteinander verwobenen diskriminierenden Strukturen beruhen? Die Aufgabe ist ganz offensichtlich sehr komplex, und sie ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil schon hinsichtlich der Einschätzung der Lage große Unterschiede existieren. Dass überhaupt Handlungsbedarf besteht, ist bei weitem nicht allen einsichtig, und das hat nicht nur mit dem Wirken der „Bürden des Urteilens“23 zu tun, mit denen Rawls die Entstehung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten erklären möchte. Viele menschliche Konflikte sind durch das Wirken ausgesprochener Untugenden und Ressentiments geprägt. Aber selbst wenn man sich auf bestimmte Problemwahrnehmungen und darauf verständigen kann, Maßnahmen zur Förderung materieller Gleichheit zu setzen, sind in einer nichtidealen Welt diverse Gefahren zu gewärtigen: So mag die Problematik unter Anknüpfung an unterdrückungsgeneigte Charakteristika sogar noch verstärkt werden, weil es über Generalisierungen, die etwa fördernden Maßnahmen zugrunde liegen, erst recht wieder zur Beförderung von Stereotypen, zur Verfestigung von Rollen und damit zur Verstetigung der Ungleichheitsstruktur kommen mag. Hier ist die Rede vom „Dilemma der Differenz“24. Des Weiteren ist zu beachten, dass Maßnahmen, die bestimmten Mitgliedern einer marginalisierten Gruppe zugutekommen mögen, negative Auswirkungen auf andere Gruppenmitglieder zeitigen können. Damit wird auch die Frage danach berührt, wer in spezifischen Gerechtigkeitsüberlegungen überhaupt in den Blick genommen wird – also nochmals die Frage nach den Subjekten der Gerechtigkeit. III. Zur Problematik von Geschlechterrollen Jede Annäherung an den Begriff der Geschlechterrolle muss vom Begriff des Geschlechts ausgehen. Üblicherweise wird, angestoßen von feministischer Forschung, die sich insoweit etablieren konnte,25 zwischen dem „biologischen“ und dem „sozialen“ 22 Rössler, Bedingungen und Grenzen von Autonomie, in: Pauer-Studer/Nagl-Docekal (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit und Autonomie, 2003, 327 (332 ff.). 23 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, 2003, 68 f. 24 Minow, Making All the Difference. Inclusion, Exclusion, and American Law, 1990, 20. S. dazu unter III.2.b) und Schmidt in diesem Heft unter VII.b). 25 Diese Differenzierung hat es auch in den gehobenen Mainstream geschafft. Als passender Beleg erscheint hier Schwanitz, Bildung. Alles, was man wissen muss, 1999, 379: „Zur Minimalausstattung der Aufklärung gehört auch die Selbstverständlichkeit, dass man zwischen ‚Sex‘ und ‚Gender‘ unterscheidet. Die beiden Begriffe sind aus der amerikanischen Frauenbewegung bei uns eingewandert: 138 Elisabeth Holzleithner 2016 Geschlecht respektive der Geschlechterrolle differenziert. Bereits seit geraumer Zeit kollabiert allerdings die Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht und der Geschlechterrolle, indem auch das biologische Geschlecht eine, wie ich das nennen möchte, „normative Wendung“26 genommen hat. Sprich: Auch beim biologischen Geschlecht ist nun nicht mehr einfach die Rede von Faktizität, sondern es wird über jene Normen erfasst, welche für die Zuweisung zu einem Geschlecht eingehalten werden (sollen). Es hat sich daher eingebürgert, nicht mehr vom biologischen Geschlecht als einer Tatsache zu sprechen sondern vom „Zuweisungsgeschlecht“27. Das biologische Geschlecht ist also gleichsam zur Rolle dekonstruiert worden, die der Körper von Beginn an zu spielen hat.28 Das bedeutet nicht, dass ein Körper in seiner Entwicklung schlicht verfügbar wäre – was sich zumal in der Pubertät tut, kann mit der bloßen Macht der Imagination nicht gelenkt werden. Allerdings ist es durch bestimmte Eingriffe etwa hormoneller Art beeinflussbar, und es wird entlang spezifischer Normen entschieden, ob und unter welchen Bedingungen diese jemandem – zum Beispiel: einer Transperson im jugendlichen Alter29 – verfügbar gemacht werden oder nicht.30 Vor diesem Hintergrund möchte ich vorschlagen, Geschlecht als Anerkennungsverhältnis zu verstehen. Geschlecht wird danach bestimmt, unter welchen Voraussetzungen – gemäß welcher Normen – jemand als Angehörige*r eines Geschlechts anerkannt wird. Eine Geschlechterrolle ist ein Ensemble von Verhaltenserwartungen, die in ihrer Summe nicht nur ein Korsett darstellen, sondern auch Sinnangebote vermitteln.31 Geschlechterrollen eröffnen bestimmte Optionen und schließen andere aus, schränken Menschen immer auch in ihrer Entfaltung ein. Diese Prozesse passieren auf jedenfalls zweierlei Weise (und selbstredend sind diese beiden Weisen miteinander verschränkt): Erstens werden Menschen einem Geschlecht zugewiesen und im Lauf ihres Aufwachsens auf die damit verbundenen Rollenerwartungen getrimmt. Damit ist die Dimension der Anerkennung angesprochen. Zweitens korrelieren Geschlechterrollen mit Benachteiligungen und Privilegierungen beim Zugang zu Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten. Dies betrifft die distributive Dimension. Die Dimensionen der Anerkennung 26 ‚Sex‘ bezeichnet das biologische Geschlecht, ‚Gender‘ die sozialen Rollen ‚Mann‘ und ‚Frau‘, die auf das biologische Geschlecht draufgesattelt worden sind. Diese Unterscheidung berücksichtigt: Das biologische Geschlecht liegt fest, die sozialen Rollen sind kulturelle Erfindungen, die auch anders möglich wären.“ Dass die Unterscheidung in dieser Schlichtheit nicht zu haben ist, ist Gegenstand der weiteren Ausführungen im Haupttext. 26 S. dazu etwa Holzleithner, Legal Gender Studies: Grundkonstellationen und Herausforderungen, juridikum. zeitschrift für kritik recht gesellschaft 2015, 471 (478 f.). 27 S. etwa American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 5. Aufl. 2013, 452. 28 Zur Dekonstruktion des (biologischen) Geschlechts vgl. Schmidt in diesem Heft unter IV. m.w.N. 29 S. zu dieser Thematik de Vries et al., Young adult psychological outcome after puberty suppression and gender reassignment, Pediatrics 134 (2014), 696; Vrouenraets et al., Early Medical Treatment of Children and Adolescents With Gender Dysphoria: An Empirical Ethical Study, Journal of adolescent health 57 (2015), 367; Vance/Rosenthal, Treating Transgender Youth: Pushing the Dialogue Forward, Journal of adolescent health 57 (2015), 357. 30 Zur rechtlichen Relevanz solcher Problemlagen s. KG, FamRZ 2012, 309 m. Anm. Wojtowicz im Fall eines elfjährigen Kindes, dessen Eltern einen Konflikt über die Notwendigkeit einer hormonellen Behandlung austrugen. Ich danke Friederike Wapler für diesen Hinweis. 31 Dazu, dass der Sinn und die Sicherheit, welche die weibliche Geschlechterrolle zu versprechen scheint, trügerisch sein kann, s. Mika, Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität. Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug, 2012. 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 139 wie der Distribution sind miteinander verschränkt – sie lassen sich aber doch analytisch voneinander trennen. Über Geschlechterrollen werden regelmäßig Hierarchien etabliert, die sich in Benachteiligungen und Privilegierungen auf der Ebene der Anerkennung wie jener der Distribution ausdrücken. Sie wären aber auch dann suspekt, wenn sie nicht-hierarchisch wären, da sie jedenfalls Menschen in ihrer Entfaltung hemmen. Dahinter steckt die These, dass Menschen unter Berufung auf ihre Geschlechterrollen in ihrer Entfaltung einzuschränken an sich ein Gerechtigkeitsproblem darstellt. 1. Geschlechterrollen, Körperkonfigurationen und geschlechtertypische Performances Wer einer Geschlechterrolle folgt, wer sie einnimmt, darf Anerkennung32 erwarten – wer sie verfehlt, muss Missachtung fürchten.33 Anerkennung als Mann oder Frau, das bedeutet zunächst, überhaupt als männlich oder weiblich wahrgenommen und respektiert zu werden. Für viele, vielleicht die meisten Menschen ist dies kaum ein Thema; für Transgender-Personen allerdings geht es um die ganz grundlegende Respektsbezeugung, rechtlich und sozial im Identitätsgeschlecht anerkannt zu werden. Darüber hinaus enthält die Dimension der Anerkennung im Geschlecht respektive in der Geschlechterrolle die Kategorie der Wertschätzung.34 Das bedeutet, dass es nicht nur gelingt, überzeugend als Mann oder Frau zu wirken, sondern auch eine Performance hinzulegen, die bei anderen als „gelungen“ ankommt. In solchen Fällen wird Menschen vermittelt, sie verkörperten ihre Geschlechterrolle35 so, dass es dem jeweiligen Ideal nahekommt – und dafür werden sie mit wertschätzender Anerkennung belohnt. Welche Zwänge damit einhergehen und welche Kosten dadurch verursacht werden könnten, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Die erste Dimension, die Zuweisung eines Körpergeschlechts und damit die Anerkennung als männlich oder weiblich in einem ganz grundlegenden Sinn, beginnt heute in vielen Gesellschaften im Rahmen medizinisch überwachter Schwangerschaften bereits vor der Geburt: Anhand von Ultraschallbildern wird ein Geschlecht zugeschrieben, dieses wird dann im Geburtenbuch vermerkt – Menschen werden mit dem „Stempel des Geschlechts“36 markiert. Darauf stellen sich angehende Elternteile und Menschen um sie herum ein. In westlichen Gesellschaften bedeutet dies regelmäßig das Zulegen einer Babygarderobe in rosa für Mädchen oder hellblau für Jungen37 – eine 32 Solche Anerkennung kann freilich auch in unerwünschter Weise zum Ausdruck gebracht werden: etwa indem ein Bauarbeiter „anerkennend“ pfeift, wenn eine Frau in attraktiver Aufmachung vorbeigeht. Auch das Bild des nachpfeifenden Bauarbeiters ist ein Stereotyp, allerdings machen viele Frauen regelmäßig einschlägige Erfahrungen. 33 Das kann bis hin zur tödlichen Gewalt gehen, und Transpersonen sind besonders gefährdet. S. dazu das Trans Murder Monitoring Project von Transgender Europe, http://tgeu.org/tmm/ (21.2.2016). 34 Diese beiden Dimensionen der Anerkennung werden in loser Anknüpfung an Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1994, 148 ff., unterschieden. 35 Gemäß Butlers Konzept der Performativität handelt es sich hier um ein Normenfolgen durch deren beständiges Zitieren. Darunter versteht sie eine ständig wiederholende und zitierende Praxis, in deren Verlauf der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt. Diese „Macht als Diskurs“ ist ein „dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist“, eine geschichtliche Kette des Zitierens von Normen, die niemand wählen kann, die zwanghaft wiederholt werden. Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, 1997, 35 ff. 36 Ibid., 147. 37 S. Schnerring/Verlan, Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees, 2014. 140 Elisabeth Holzleithner 2016 nicht zuletzt der Funktionsweise von Märkten im Kapitalismus geschuldete vestimentäre Geschlechtertrennung, die sehr unterschiedliche Ausformungen erlebt, je nach Kontext unterschiedlich gehandhabt, als normative Vorgabe auferlegt wird, und die während des gesamten Lebens nie mehr aufhört.38 Wehe jener Person, die sich in die „falsche“ Abteilung in einem Bekleidungsgeschäft begibt: Sie erntet Irritation bis hin zur Fassungslosigkeit und Zurechtweisung bis hin zum Rauswurf. Und selbstredend ist nicht nur Bekleidung geschlechtlich konnotiert: Die Organisation von Spielzeugabteilungen macht dies deutlich, und es ist heute kaum noch möglich, eine geschlechtsneutrale Schultasche zu erwerben.39 Die geschlechtliche Konnotation von Körperteilen, Habitus und Bekleidung kann Anknüpfungspunkt für Sinnstiftung sein, aber auch Anlass für quälende Zuschreibungen und verletzende Eingriffe. Für Intergenderpersonen bedeutet die Zuweisung eines Geschlechts auch heute noch allenfalls chirurgische Interventionen in die Genitalien zu einem Zeitpunkt, in dem sie nicht zustimmungsfähig sind.40 Angestoßen durch die seit Beginn der 1990er Jahre vor allem von Betroffenengruppen und Wissenschafter*innen verschiedener Disziplinen geäußerte Kritik41 an dieser Praxis wurde die Problematik zwar mittlerweile erkannt, und ein Umdenken hat begonnen. Zu einem generellen Verbot von Operationen an nicht zustimmungsfähigen Intergenderkindern konnte man sich – mit Ausnahme von Malta42 – im hegemonialen Nexus aus Recht und Medizin allerdings bislang nicht durchringen.43 Solche Eingriffe durchzuführen, insbesondere wenn sich hinter den medizinischen primär kosmetische Gründe verbergen, bedeutet aber, einer Person die Anerkennung der Integrität ihrer spezifischen körperlichen Geschlechterkonfiguration infolge der Zuweisung einer Geschlechterrolle ganz grundsätzlich zu verwehren. Auch bei der Anerkennung von Zwischengeschlechtlichkeit als geschlechtlicher Personenstand ist der Mainstream-Rechtsdiskurs noch nicht weit gediehen – adding insult to injury. Einzelne Staaten sehen diesbezügliche Möglichkeiten vor. In Deutschland 38 S. zu diesem Themenkomplex, Holzleithner, Bekleidung und Genderperformance. Gutachten für die österreichische Gleichbehandlungsanwaltschaft, Klosterneuburg, 21.10.2015, http://www.gleichbehandlungsanwaltschaft.at/DocView.axd?CobId=61160 (17.2.2016). 39 Zur Rolle der Werbung s. Völzmann, Geschlechtsdiskriminierende Wirtschaftswerbung. Zur Rechtmäßigkeit eines Verbots geschlechtsdiskriminierender Werbung im UWG, 2014. 40 In diesem Sinne auch noch die – mittlerweile abgelaufenen und in Überarbeitung befindlichen – Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), Störungen der Geschlechtsentwicklung, AWMF-Leitlinien-Register, Nr. 027/022, letzte Aktualisierung: 10/2010, http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027-022l_S1_Stoerungen_der_Geschlechtsentwicklung _2010_abgelaufen.pdf (8. 4. 2016). 41 Diamond/Sigmundson, Management of Intersexuality: Guidelines for Dealing with Persons with Ambiguous Genitalia, Archives Pediatric Adolescent Medicine 151 (1997), 1046 (1047) sowie Kessler, Lessons From The Intersexed, 1998, 119 ff.; vgl. für das deutsche Recht auch Tönsmeyer, Die Grenzen der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern, 2012, 262 ff. 42 Art. 14 Gender identity, gender expression and sex characteristics Act 2015. S. dazu Petričević, Zur Legitimität von Geschlechtsnormierungen bei intersexuellen Minderjährigen, juridikum. zeitschrift für kritik recht gesellschaft 2015, 427 (435). 43 S. die insoweit als zu wenig radikal wahrgenommene Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Intersexualität, http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf (12.2.2014). Kritisch dazu die große Anzahl von Beiträgen unter http://blog.zwischengeschlecht.info/pages/Ethikrat-Intersex-Chronik-2008-2013 (12.2.2014). S. auch http://www.theguardian.com/global-development-professionals-network/2016/feb/10/intersex-human-rights-lgbti-chile-argentina-uganda-costarica?CMP=share_btn_fb (17. 2. 2016). 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 141 wurde ein halber Schritt getan; nunmehr ist gemäß § 22 Abs. 3 dPStG auf einen Geschlechtseintrag in das Geburtenregister zu verzichten, wenn ein Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugewiesen werden kann.44 Umschreibungen wie „ungeklärt“ oder „intersexuell“ sind gemäß Nr. 21.4.3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz nicht zulässig.45 Dass diese Regelung vielleicht in manchen Fällen eine Verbesserung bedeutet, in anderen eine Verschärfung der Lage, dass sie jedenfalls inadäquat ist und der spezifischen Situation von Intergender-Personen nicht gerecht wird, ist allenthalben von Betroffenen zu vernehmen46 und wird auch in der wissenschaftlichen Literatur moniert.47 Transgender-Personen können für ihre Performance im Identifikationsgeschlecht an herrschende Normen von Weiblichkeit und Männlichkeit anknüpfen; je näher sie am Ideal sind, desto leichter wird ihnen das „Passing“ fallen, desto eher werden sie Anerkennung im Identifikationsgeschlecht erfahren.48 Wer „auffliegt“, ist freilich in Gefahr gewalttätiger Übergriffe: Transgender-Personen sind diesbezüglich eine besonders bedrohte Gruppe,49 wie auch Lesben und Schwule, die nicht in konventionellen Geschlechterrollen leben. Und genderrollenkonforme Transfrauen leben zusätzlich unter dem „ganz normalen“ Risiko von geschlechtsbasierten (sexuellen) Übergriffen. Hieran wird ersichtlich, dass in der Geschlechterrolle zu reüssieren nicht nur Anerkennung mit sich bringt, sondern auch Gefährdungen – bzw. dass die Anerkennung die Grundlage für eine Gefährdung sein kann. Das Recht verlangt für einen Personenstandswechsel vielerorts keine chirurgischen Modifikationen des Körpers mehr,50 macht die Anerkennung im „anderen“ Geschlecht aber – neben der die Behörden überzeugenden Darstellung – doch von einer Diagnose abhängig, jener der „Geschlechtsidentitätsstörung“ oder, mit dem neuen Begriff des DSM-5, der „Geschlechtsdysphorie“.51 Das bedeutet eine Pathologisierung als Voraussetzung für einen Wechsel des geschlechtlichen Personenstandes. Eine solche Zuschreibung eines Krankheitswerts ist auch Voraussetzung für den Zugang zu medizinischen Ressourcen, die eine weitergehende Anpassung des Körpers an das Identifikationsge- 44 Nach Auskunft der deutschen Bundesregierung leben Anfang 2016 zwölf Menschen ohne Geschlechtseintrag. Die Zahlen sind allerdings mangels vollständiger Erfassung mit Vorsicht zu genießen. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/073/1807310.pdf (17.2.2016). 45 Gegen diese Einschränkung läuft derzeit ein Verfahren unter dem Titel „Dritte Option“; gegen einen Beschluss des OLG Celle, Das Standesamt 2015, 107 f. m. krit. Bespr. von Gössl, Das Standesamt 2015, 174 ff.; inzwischen wurde eine Beschwerde vor dem BGH eingebracht. Aktuelle Informationen sind abrufbar unter http://dritte-option.de/geschlechtseintrag-interdivers-beschwerdebegruend ung-beim-bgh-eingereicht/ (8.4.2016). 46 S. z.B. http://maedchenmannschaft.net/tag/personenstandsgesetz/ (12. 2. 2014). 47 So etwa Sieberichs, Das unbestimmte Geschlecht, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2013, 1180. 48 McKinnon, Stereotype Threat and Attributional Ambiguity for Trans Women, Hypatia 29 (2014), 857. 49 S. die Nachweise bei Testa et al., Effects of Violence on Transgender People, Professional psychology, research and practice, 43 (2012), 453. 50 Für Deutschland s. BVerfGE 128, 109 ff.; dazu Adamietz, Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechterdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, 2011, 144 ff., 168 ff. 51 S. den aktuellen Überblick zur Begrifflichkeit bei Nieder/Briken/Richter-Appelt, Transgender, Transsexualität und Geschlechtsdysphorie: Aktuelle Entwicklungen in Diagnostik und Therapie, PSYCH up2date (2013), 373. 142 Elisabeth Holzleithner 2016 schlecht als Heilbehandlung ermöglichen – eine distributive Folge der Anerkennungsfrage. Zusammenfassend und verallgemeinernd: Körper, Habitus und Verhaltensweisen werden überwacht; symbolische Echtheitszertifikate werden ausgestellt. Bestimmte Arten und Farben von Bekleidung, bestimmte Körper und Identitäten kommen für die „Richtigkeit“ der Geschlechterperformance zu stehen. Werbung, Kultur- und Konsumgüterindustrie perpetuieren, bestärken und verfestigen die Geschlechterdichotomie. Wer die Rolle als Mann oder Frau nicht überzeugend darstellt, erlebt von verschiedenen Seiten die Verweigerung von Anerkennung. Dadurch wird Menschen in ihren Abweichungen das Leben schwer gemacht; es geht darum, sie in den für „ihr“ Geschlecht „angemessenen“ Habitus hineinzuzwingen. Es ist die Aussicht auf Anerkennung, die eine Geschlechterrolle schmackhaft macht, wie ja auch die (Gefahr der) Sanktionierung von Abweichungen es weniger reizvoll erscheinen lässt, sich aus der Geschlechterrolle auszuklinken. (Bei weitem nicht alle lassen sich davon abschrecken; so entstehen Subkulturen, in welchen sich Abweichler*innen kompensatorisch Respekt zukommen lassen.52 Die als LGBTIQ* – Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intergender, Questioning/Queer – gefasste Vielfalt von Gender-Avantgarden ist das beste Beispiel dafür.) Wie die Idealtypen genau aussehen ist unterschiedlich je nach sozialem Kontext, aber immer differenzierend zwischen Männern und Frauen, wobei es nunmehr so sein dürfte, dass die Grenzpatrouillen bei der männlichen Geschlechterrolle noch strenger paradieren als bei der weiblichen – jedenfalls und offensichtlich bei der Bekleidung.53 2. Geschlechterrollen und Lebensweisen: Mutterschaft und Fürsorge Bislang war hier primär von Körper, Bekleidung und Habitus die Rede – die Thematik der Geschlechterrollen hat aber bekanntlich weitere Dimensionen, die unter dem Topos der geschlechterrollentypischen Lebensweise gefasst werden könnten (und die selbstredend mit Körper, Bekleidung und Habitus verwoben sind). Sehen wir dies von der Seite „der Frau“ her an – welche Lebensentscheidungen, Charakteristika und Verhaltensweisen werden mit der weiblichen Geschlechterrolle assoziiert? Mit Frug können drei Dimensionen unterschieden werden: Mütterlichkeit, Sexualisierung und Terrorisierbarkeit (im Sinne einer geschlechtsbedingten Schwäche, die offenbar zu Gewalt geradezu einlädt – oder dazu, Frauen unter männlichen „Schutz“ zu stellen).54 Im Folgenden werde ich mich auf Mütterlichkeit im Zusammenspiel mit Sexualisierung konzentrieren. Traditionell steht Weiblichkeit in enger Verbindung mit der sozialen Funktion der Reproduktion: Im Rollenskript für Frauen ist vorgesehen, Mutter zu werden und diese 52 Zur „counter culture of compensatory respect“ s. Sennett/Cobb, The Hidden Injuries of Class, 1972, 85, 83 f. 53 S. dazu mit etlichen Beispielen aus dem Recht Holzleithner, Bekleidung und Genderperformance, Gutachten für die österreichische Gleichbehandlungsanwaltschaft, Klosterneuburg, 21.10. 2015, http: //www.gleichbehandlungsanwaltschaft.at/DocView.axd?CobId=61160 (17.2.2016). 54 Frug, A Postmodern Feminist Legal Manifesto, Harvard Law Review 105 (1992), 1045. Frug unterscheidet „terrorization“; „ a body that is ‚in terror‘, a body that has learned to scurry, to cringe, and to submit “ (1049 f.); „ maternalization“; „ a body that is ‚for maternity‘“ (1050); „ sexualization“; „ a body that is ‚for‘ sex with men, a body that is ‚desirable‘ and also rapable, that wants sex and wants raping“ (1050). 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 143 Rolle entsprechend auszufüllen. Zugleich ist die weibliche Geschlechterrolle nicht nur mit Mutterschaft assoziiert, sondern auch damit, sexuell verführerisch zu sein – attraktiv für Männer, nicht zuletzt, um sich einen Mann zu „angeln“, der in das Geschäft der Reproduktion mit einsteigt und diesem und „seiner“ Frau loyal verbunden bleibt. Mutterschaft und (Hetero-)Sexiness standen lange Zeit im Widerspruch zueinander – verkörpert in den Geschlechterrollen von Jungfrau/Mutter auf der einen und Hure auf der anderen Seite. Das hat sich mittlerweile allerdings geändert. Nunmehr ist die Verbindung der Aspekte von Mutterschaft und sexueller Attraktivität nachgerade zur Aufgabe der modernen westlichen Frau geworden. So befasst sich Frau intensiv mit Bekleidung, Frisur, Schminke, Haut, Figur – und braucht auch entsprechend Zeit und Geld,55 um hier zu reüssieren. Freilich gehört es heute zum guten Ton der Selbstdarstellung, die eigene attraktive Performance nicht bloß in ihrem Bezug auf Männer zu sehen. Die selbstbewusste westliche Frau will attraktiv sein für sich selbst, weil sie sich dann gut fühlt (und damit womöglich den willkommenen Effekt erzielt, doppelt attraktiv zu sein für andere). Das wird nicht nur als persönlicher Gewinn angesehen, es wird auch als Distinktionsmerkmal verwendet – gegenüber Frauen, die sich das etwa aus religiösen Gründen und jedenfalls in der Öffentlichkeit versagen. Entsprechende Entgegensetzungen brechen in Debatten über das Kopftuchtragen oder gar über das Tragen einer Burka auf, wenn „richtige“, mit Autonomie vereinbare Weiblichkeit damit assoziiert wird, auf sexuell attraktive Weise öffentlich Frau sein zu können. Eine solche simple Entgegensetzung ist reduktionistisch und verträgt sich nicht mit einem komplexen Verständnis von Autonomie. a) Fürsorge und Geschlechterrolle Aber bleiben wir beim Kern dessen, was Mutterschaft ausmacht – was die Rolle definiert und mit sich bringt. Mutterschaft war und ist der Dreh- und Angelpunkt von Anforderungen und Zuschreibungen an Frauen.56 Dabei ist wie ganz generell beim Geschlecht ein Syndrom in Form einer Trias von „Natur – Sentiment – Mystifikation“ festzustellen: „Unreflektiert werden die Gender-Konstruktionen für vorgegebene ‚Natur‘ gehalten (als Metaphysik, bisweilen bloß als Biologismus der Geschlechter) und sind intensiv mit ‚Gefühlen‘ (Sentiment) besetzt; nicht genug – das Paket aus ‚Natur‘ und ‚Gefühl‘ erweist sich als besonders resistent gegen einen reflektierenden Zugang (Mystifikation).“57 Weil Frauen die Mutterschaft auf den Leib geschrieben wird, sind sie nicht nur für Schwangerschaft und Gebären zuständig, sondern auch für das Versorgen der Nachkommenschaft (Kinder und später auch Enkel). Dafür hat die Natur sie angeblich 55 Es ist auffällig, dass Produkte, die sich marketingmäßig an Frauen richten, regelmäßig teurer sind als solche für männliche Kundschaft. S. dazu Sievers, Was es kostet, eine Frau zu sein, http:// www.faz.net/aktuell/finanzen/meine-finanzen/geld-ausgeben/laut-us-studie-zahlen-frauen-fuer-produkte-mehr-als-maenner-14079197.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (14.3.2016) und den genialen Beitrag von Ellen DeGeneres über „Bic for Her“, https://www.youtube.com/watch?v= eCyw3prIWhc (14. 3. 2016). 56 S. dazu Wapler in diesem Heft, insbesondere ihre Ausführungen zu Rousseau. 57 Benke/Holzleithner, Mainstreaming Legal Gender Studies, Juridikum 1999, 57. 144 Elisabeth Holzleithner 2016 besonders befähigt, indem sie Frauen mit der Mutterliebe58 ausstattete – als spezifische Ausprägung der besonderen weiblichen Begabung dafür, sich um andere zu kümmern. Fürsorge ist daher nicht nur „weiblich“ – sie gilt auch nicht als Arbeit, weil sie eine Tätigkeit ist, die im privaten Leben „aus Liebe“ erbracht wird – oder jedenfalls werden sollte.59 Fern von der herausfordernden Welt der Öffentlichkeit, in der Männer ihren Mann stehen sollen, besorgen Frauen jenes Nest, in welches die Männer sich nach einem harten Tag im öffentlichen Leben zurückziehen können – als Ort der Erholung.60 Alle verfügbaren Statistiken zeichnen das nämliche Bild und ermöglichen eine einhellige Diagnose: Fürsorge ist in der Gesellschaft höchst ungleich verteilt; das Geschlechterverhältnis ist ein ganz wesentlicher Faktor dieser ungleichen Verteilung.61 Kurz und mit Hamington gesprochen: „Care creates gender inequality.“62 Das Problem geht allerdings über die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit im engeren Sinn – also jener nach dem Verhältnis zwischen Frauen und Männern – hinaus. Denn es existiert zudem zwischen privilegierten Personen und marginalisierten (meist) Frauen, die schlecht bezahlt und häufig halb legal oder überhaupt illegalisiert Fürsorgeleistungen erbringen. Polemisch auf den Punkt gebracht: Wenn die „eigentlich“ dafür zuständige Mutter „ihre“ Aufgaben nicht erbringen kann (oder will), dann bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als sie an andere, (noch) weniger privilegierte Frauen zu delegieren.63 Derart wird die Positioniertheit von Frauen an unterschiedlich prekären Intersektionen deutlich: Frauen sind eben keine homogene Gruppe, sondern sie leben in höchst unterschiedlicher Weise, beeinflusst von einander überkreuzenden – intersektionalen64 58 Zu deren Erfindung durch Rousseau s. Bernard, Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung, 2015. 59 Entsprechend fragt Krebs zu Recht mit Blick auf Familienarbeit: „Kann denn Liebe Arbeit sein?“ Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2002. 60 Die folgenden Ausführungen schöpfen aus Holzleithner, Geschlechterrolle und Fürsorge, in: Kaufmann/Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung und Verantwortung, 2012, 63. 61 Gumpert, Wenn die Töchter nicht mehr pflegen … Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege, 2010; Backes/Wolfinger/Amrhein, „Geschlechterungleichheiten in der Pflege“, in: Bauer/Büscher (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Pflege. Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung, 2008, 132. 62 Hamington, The Will to Care: Performance, Expectation, and Imagination, Hypatia 25 (2010), 675. 63 Williams, Gender Wars: Selfless Women in the Republic of Choice, New York University Law Review (1991), 1559 (1597). 64 Den Begriff in die Debatte eingeführt hat Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum (1989), 139. S. zur Problematik Mangold in diesem Heft und eine Fülle von Bänden nun auch in deutscher Sprache, darunter: Winker/Degele (Hrsg.), Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, 2009; Klinger/Knapp/Sauer (Hrsg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, 2007; Klinger/Knapp (Hrsg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, 2008; Lutz/Herrera Vivar/Supik (Hrsg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, 2010; Hess/ Langreiter/Timm (Hrsg.), Intersektionalität Revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, 2011; Philipp et al. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung. Soziale Realitäten und Rechtspraxis, 2014. 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 145 – Machtachsen wie ethnische und nationale65 Herkunft und Zugehörigkeit, sozioökonomische Position,66 sexuelle Orientierung oder körperliche und geistige Fähigkeiten. Insofern ist die Problematik, die hier beschäftigt, nicht nur eine der feministischen Kritik an ungerechten patriarchal fundierten Verhältnissen, sondern es ist auch eine der innerfeministischen Debatten über die Unzulänglichkeiten einer undifferenzierten Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und den halbierten Erfolgen feministischer Bemühungen – beziehungsweise, in den Worten von Tronto, deren „unfinished agendas“: Denn die Bemühungen zur Gleichstellung haben wohl dazu geführt, dass wesentlich mehr Frauen als früher einer Erwerbsarbeit nachgehen oder eine politische Funktion innehaben, wodurch es zunehmend „upper middle-class two-career household(s)“ gibt. Solche Haushalte bedürfen, damit auch die Frauen ihren Tätigkeiten im öffentlichen Leben nachgehen können, häuslicher Hilfskräfte – zum Putzen ebenso wie zur Kinderbetreuung. Die Gerechtigkeit solcher Arrangements ist zu hinterfragen, insbesondere jene Art und Weise, wie intersektionale Vulnerabilitäten ausgebeutet werden.67 Klassische Theorien der Gerechtigkeit kommen nicht einmal in die Nähe solcher Fragen. Sie fokussieren primär darauf, wie die fundamentalen öffentlichen Interessen von Bürgern (weniger von Bürgerinnen) in einer legitimierbaren Grundstruktur miteinander vereinbart werden können.68 Immer noch wird gern so getan, als wären Menschen „einfach da“. Thomas Hobbes trieb dieses Motiv einst auf die Spitze, als er vorschlug, die Menschen („men“) so zu betrachten, „als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprießt und gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift wären.“69 Damit wird nicht nur die Dimension der Fürsorge ausgeblendet, die es braucht, bis ein Mensch soweit ist, als Erwachsener anderen Erwachsenen gegenüberzustehen und autonom sein Leben zu führen. Es wird auch verschleiert, worauf ein Agieren im öffentlichen Leben beruht: Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht oder sich im Bereich der institutionalisierten Politik oder in der Zivilgesellschaft engagieren möchte, muss sich entweder die Zeit gut einteilen, um für die eigenen Grundbedürfnisse zu sorgen, oder hat Bedarf nach Fürsorgeleistungen von anderen Personen: für sich selbst sowie gegebenenfalls für jene, die in einer Beziehung der Abhängigkeit zu einer aktiv im öffentlichen Leben agierenden Person stehen – Kinder etwa oder wegen Krankheit, Behinderung oder Altersschwäche bedürftige nahestehende Personen. Derartige Fragen sind für das Funktionieren des privaten wie des öffentlichen Lebens höchst relevant, sie werden aber aufgrund der Vermutung der Selbstverständlichkeit, dass irgendjemand – die Ehefrau, die Mutter, weibliches Personal – die benötigten Leis- 65 S. hierzu etwa Dallinger/Theobald, „Pflege und Ungleichheit: Ungleiche Citizenship rights im internationalen Vergleich“, in: Bauer/Büscher (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Pflege, 78. 66 S. etwa Acker, The Continuing Necessity of „Class“ in Feminist Thinking, in: Knapp/Wetterer (Hrsg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, 2003, 49. 67 Tronto, The „Nanny“ Question in Feminism, Hypatia 17 (2002), 34. 68 In diesem Sinne der Hauptfokus von Rawls, der aber im Unterschied zu vielen die Gerechtigkeitsdimension des privaten Lebens nicht völlig ausblendet und nicht ungefragt von konventionellen Familienkonzeptionen ausgeht; s. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, 2003, § 50, Die Familie als Basisinstitution. 69 Hobbes, Philosophical Rudiments Concerning Government and Society, in Molesworth: The English Works of Thomas Hobbes, Bd. II, 1966, 109, zitiert nach: Benhabib, Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Ansätze zu einer feministischen Moraltheorie, in: List/Studer (Hrsg.), Denkverhältnisse. Feminismus als Kritik, 1989, 454 (464). 146 Elisabeth Holzleithner 2016 tungen erbringt, typischerweise nicht thematisiert. So werden zentrale Dimensionen des menschlichen Lebens ausgeblendet und damit bloß ein unvollständiges Bild jener Desiderata gezeichnet, die für ein gedeihliches – und gerechtes – menschliches Zusammenleben notwendig sind. Sie werden geschlechterrollentypisch in den Bereich des Fraglosen abgeschoben. Die Frage, wie Fürsorge jenseits von Geschlechterstereotypen gerecht „verteilt“ werden kann, ist ebenso virulent wie – im philosophischen Mainstream – untertheoretisiert.70 Überlegungen und praktische Maßnahmen müssten damit beginnen, Fürsorge und Bezogenheit auf andere von der weiblichen Geschlechterrolle zu lösen und als allgemeine menschliche Haltungen und Tätigkeiten stark zu machen. Es müsste darum gehen, dass Männlichkeit nicht mehr damit kollidiert, dass also ein männliches Selbstverständnis es schafft, diese Dimensionen ebenso zu integrieren. Politisch wird damit begonnen, die Vaterrolle als aktive Sorge für Kinder im täglichen Leben zu verstehen – und nicht bloß im Sinne des Familienerhalters, der das Geld nach Hause bringt und vielleicht am Sonntag mit dem Sohn Fußball spielt.71 Philosophisch bedeutet das, die Konzeption relationaler Autonomie zu pflegen, Selbstbestimmung also nicht abgekoppelt von Beziehungen zu anderen zu fassen.72 Dies beinhaltet die Notwendigkeit, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit jenseits von Geschlechterstereotypen neu zu gestalten. Im Übrigen bedeutet dies nicht, wie bisweilen befürchtet wird, einen Verzicht auf eine Privatsphäre.73 Es bedeutet aber sehr wohl, dass öffentliches Leben nicht ohne seine Verschränkung mit dem gedacht werden kann, was im Privaten geschieht, und dass das private Leben von daher für sozialgestaltende Maßnahmen zugänglich ist. Dabei geht es um die Vereinbarkeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben, einerseits durch eine (andere) Gestaltung der Öffentlichkeit, die sich mit der Übernahme von Fürsorgeverantwortung für andere besser vereinbaren lässt; andererseits aber auch darum, dass Menschen in tendenziell symmetrischen Beziehungen die Fürsorge für andere miteinander teilen.74 Ein entsprechender relationaler Begriff von Autonomie berücksichtigt – geschlechtsneutral – die Eingebundenheit von Menschen, wird aber auch nicht darauf verzichten, die Bedingungen der Autonomie im Kontext von Beziehungen (des Fürsorgens) einzufordern.75 Von der hier eingeforderten Entstereotypisierung sind wir freilich weit entfernt. Und die Konzentration der mit Fürsorge assoziierten Tugenden und Leistungen auf Mutterschaft hat weitgehende Konsequenzen – sie spielt eine zentrale Rolle „in defining 70 Vgl. hierzu auch Wapler in diesem Heft. Auch das ist ein Stereotyp. 72 Vgl. hierzu Wapler, Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau, in: Kaufmann/Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung und Verantwortung, 2012, 79 (87 ff.); Schmidt, Weibliche und männliche Geschlechterrolle im Kontext von Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortung, ibid., 45 (49 f., 53). 73 S. Rössler, Der Wert des Privaten, 2001. 74 Damit kommt es zu einer Erweiterung jener Diskurse, die heute dazu tendieren, bloß von „Vereinbarkeit“ zu sprechen und die Frage der Aufteilung der Familienarbeit nicht thematisieren; vgl. Stratigaki, The Cooptation of Gender Concepts in EU Policies: The Case of „Reconciliation of Work and Family“, Social Politics (2004), 30. 75 S. den wichtigen Hinweis von Wapler in diesem Band, wonach die Geschichte der Frauenbewegung im Kern die Geschichte eines langwierigen und vielschichtigen Kampfes um Eigenständigkeit und Autonomie ist. 71 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 147 women’s aspirations and position within social, economic and political structures.“76 Insofern geht es dabei eben nicht nur um das Verhältnis zwischen Mutter, Vater, Kind und anderen Abhängigen im privaten Leben, sondern sie hat ganz erhebliche Auswirkungen auf „women’s standing in the political order“77. Jene Prozesse, die im Familienleben ablaufen, sind immer noch das bedeutendste Hindernis für Geschlechtergleichheit in der Sphäre des Politischen wie am Arbeitsplatz.78 So ist in der akademischen Literatur von der „Motherhood Penalty“79 die Rede. Frauen werden am Arbeitsmarkt dafür abgestraft, Mütter zu sein, indem es für sie schon schwieriger ist, überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, und wenn sie einen haben, dann müssen sie damit rechnen, signifikant weniger zu verdienen als Frauen ohne Kinder und schon gar als Männer mit oder ohne Kinder(n).80 Im Gegensatz dazu profitieren Männer von ihrer Verankerung in einer Familie mit Kindern – Stichwort: „Husband Premia“: „Family thus pulls in opposite directions for men and women: helping wages and careers for one sex, detrimental for the other, and jointly increasing the gap between men and women.“81 Es ist wichtig zu beachten, dass es nicht nur die reale Mutterschaft ist, die weibliches Fortkommen in Arbeitsleben, Wirtschaft und Politik behindert – oder ihm ein frühzeitiges Ende setzt. Die Geschlechterrolle, welche Mütterlichkeit, Sexualisierung und Terrorisierbarkeit vereint, zeitigt ihre Auswirkungen unabhängig davon. Um dies zu erklären, muss die Macht von Stereotypen elaboriert werden. b) Geschlechterrollen zwischen Stereotypen und Generalisierungen Geschlechterrollen sind eine Hypothek für alle Frauen (und nicht nur für sie). Frauen sind gleichsam „guilty by association“, unabhängig davon, wie sie selber leben (wollen). An der Geschlechterrolle werden Frauen gemessen; in ihrem Licht werden Frauen wahrgenommen. Das Stereotyp „Frau“ legt sich so über die einzelne Frau; es markiert die Grenzen dessen, wer und wie eine Frau sein kann. Und nicht zu vergessen: Starre Weiblichkeitsbilder werden (immer noch) „als defizitäres Gegenbild zu einer positiven männlichen Norm konstruiert und im soziokulturellen System immer wieder reprodu- 76 Guerrina, Equality, Difference and Motherhood: the case for a feminist analysis of equal rights and maternity legislation, Journal of Gender Studies 10 (2001), 33. 77 Pateman, Equality, Difference, Subordination: the politics of motherhood and women’s citizenship, in: Bock/James (Hrsg.), Beyond Equality and Difference: citizenship, feminist politics and female subjectivity 1992, 17 (21). 78 Petersen/Penner/Høgsnes, From Motherhood Penalties to Husband Premia: The New Challenge for Gender Equality and Family Policy, Lessons from Norway, American Journal of Sociology 119 (2014), 1434 mit Verweis auf Williams, Reshaping the Work-Family Debate: Why Men and Class Matter, 2010. 79 So offenbar erstmals Budig/England, The Wage Penalty for Motherhood, American Sociological Review 66 (2001), 204. 80 S. dazu mit einer Fülle von Nachweisen Benard/Correll, Normative Discrimination and the Motherhood Penalty, Gender and Society 24 (2010), 616. 81 Petersen/Penner/Høgsnes, From Motherhood Penalties to Husband Premia: The New Challenge for Gender Equality and Family Policy, Lessons from Norway, American Journal of Sociology 119 (2014), 1434 (1435). 148 Elisabeth Holzleithner 2016 ziert“.82 Sehen wir uns vor diesem Hintergrund den Begriff und die Wirkungsweise des Stereotyps näher an.83 Stereotype sind in der Gesellschaft verankerte, weit verbreitete, um nicht zu sagen: hegemoniale Wahrnehmungsschablonen. Sie beinhalten verallgemeinernde Vorstellungen von Angehörigen bestimmter Gruppen, welche durch die Stereotypisierung in ihrer spezifischen Gestalt konstituiert werden. Stereotypen verzerren die Wahrnehmung: Sie machen weitgehend immun gegen dem Stereotyp zuwiderlaufende Informationen. Wer sich von Stereotypen leiten lässt (und dies ist ein Vorgang, der ganz wesentlich unbewusst abläuft), nimmt stereotypenkonforme Charakteristika selbst dann wahr, wenn sie nicht zum Ausdruck gebracht werden, übersieht daher auch Charakteristika, die dem Stereotyp widersprechen.84 Andernfalls wird das vom Stereotyp abweichende Verhalten entweder als Ausnahme angesehen, die erst recht die Regel bestätigt, oder es wird als illegitime Überschreitung von Rollenvorgaben wahrgenommen und mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln sanktioniert. Auf diese Weisen werden Gruppen homogenisiert. Die Macht von Stereotypen kommt freilich nicht nur von außerhalb, sondern wirkt auch innerhalb der Gruppe jener, die durch Stereotypen konstituiert sind.85 Ein spezifischer Ausdruck des Erfolgs stereotypisierender Zuschreibungen ist das Phänomen des „Stereotype threat“86. Demzufolge haben Stereotypen unmittelbare Auswirkungen auf die Fähigkeit von Menschen, Leistungen zu erbringen. Wenn etwa ein Stereotyp in einer Test-Situation aktiviert wird, dann schneiden Mitglieder der betroffenen Gruppe signifikant schlechter ab als wenn dies nicht der Fall ist.87 Neben anderen Beispielen zeigt dieses Phänomen sich bei der Lösung mathematischer Aufgaben von Frauen und Männern. Wenn vorausgeschickt wurde, dass Frauen typischerweise schlechter abschneiden, dann war das Ergebnis von Frauen innerhalb der betroffenen Gruppe schlechter als wenn vorab verkündet wurde, dass das Geschlecht ohne Einfluss auf die Testergebnisse ist.88 Durch Aktualisierung gruppenspezifischer Merkmale und deren interagierende Zuschreibung an Personen in einer Situation werden diese Personen darauf zurückgeworfen, Angehörige einer Gruppe mit bestimmten Eigenheiten zu sein. Dies hat unbewusste Effekte wie im Fall von Testsituationen – für die Angehörigen der so konstituierten Gruppe. Die Effekte zeigen sich aber selbstverständlich auch in der Wahrnehmung „von außen“, wenn etwa Frauen aufgrund ihres Geschlechts in diversen Bereichen einfach weniger zugetraut wird. Eine im Jahr 2016 aktuelle Untersuchung 82 D.F./I.H., Geschlechterrolle, in: Kroll (Hrsg.), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe (2002), 158 (159). 83 Im Folgenden beziehe ich mich auf Überlegungen von Blum, Stereotypes and stereotyping: A moral analysis, Philosophical Papers 33 (2004), 251, setze aber meine eigenen Akzente. 84 S. dazu mit Beispielen ibid., 261 ff. 85 S. dazu auch Cook/Cusack, Gender Stereotyping. Transnational Legal Perspectives, 2010, 9 ff.; vgl. überdies die umfangreiche Studie von Thiele, Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes, 2015. 86 Steele/Aronson, Stereotype threat and the intellectual test performance of African Americans, Journal of Personality and Social Psychology 69 (1995), 797; Steele, A threat in the air: How stereotypes shape intellectual identity and performance, American Psychologist 52 (1997), 613. 87 Hier zeigt sich eine Verwandtschaft mit dem Nocebo-Effekt bei Medikamenten. S. Heier, Nocebo: Wer’s glaubt wird krank: wie man trotz Gentests, Beipackzetteln und Röntgenbildern gesund bleibt, 2. Aufl. 2012. Ich danke Kati Danielczyk für den Hinweis. 88 Steele/Spencer/Aronson, Contending with group Image: The psychology of stereotype and social identity threat, Advances in Experimental Social Psychology 34 (2002), 379 (380 f). 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 149 erweist dies für den Bereich der Informatik, am Beispiel der acceptance rate der Beiträge von Frauen in einer open source software community. Beiträge von Frauen wurden dieser Studie zufolge sogar öfter angenommen als jene von Männern – allerdings nur dann, wenn ihr Geschlecht nicht wahrnehmbar war. Waren sie als Frauen erkennbar, dann wurden ihre Beiträge öfter verworfen.89 Gegen die unbewusste Macht von (Geschlechter-)Stereotypen etwas auszurichten ist bekanntlich enorm schwierig, sind diese doch tief in unsere Wahrnehmungen eingebaut und prägen sie von Grund auf. Die Strategien dagegen sind vielfältig und beginnen damit, (sich) überhaupt einmal bewusst zu machen, dass es solche Stereotypen gibt. Versuche, die Geschlechterkultur zu ändern, beinhalten etwa, dass in Verfahren zur Personalaufnahme bestimmte Fragen und Themen ausgeschlossen werden sollen, die zu geschlechtertypischen Platzanweisungen führen können. So gelten in vielen Frauenförderungsplänen Fragestellungen zur Familienplanung als frauendiskriminierend und sollen in Aufnahmeverfahren unterlassen werden – ebenso wie keine Kriterien herangezogen werden dürfen, „die sich an einem diskriminierenden, rollenstereotypen Verständnis der Geschlechter orientieren.“90 So lobenswert die Absicht aus Gleichstellungsperspektive ist: Bloß nicht zu fragen verändert nicht die Bilder im Kopf, und offizielle Frageverbote führen häufig dazu, dass die Beschaffung der einschlägigen Informationen und ihre Verarbeitung inoffiziell abläuft. Eine andere Strategie gegen Rollenfallen ist es, die Welt zu verändern. Wenn hinreichend viele Frauen im öffentlichen Leben – im Arbeitslebeben wie in der Politik – reüssieren, so die Annahme, dann wird irgendwann doch die Einsicht einsickern, dass Frauen nicht primär für Mutterschaft geboren sind. Erreicht werden soll dieses Ziel durch fördernde Maßnahmen wie Quotenregelungen oder spezifische Unterstützung berufstätiger Mütter, etwa in Form von leistbarer und gut erreichbarer Kinderbetreuung. Sie beruhen auf der generalisierenden Wahrnehmung, dass Frauen es als Frauen und als Mütter schwieriger haben, im öffentlichen Leben zu agieren. Freilich bewegt man sich in diesem Feld der Förderung materieller Gleichheit auf dem gefährlichen Pflaster des bereits genannten „Differenzdilemmas“.91 Es benennt die grundlegende Paradoxie der Anknüpfung an Charakteristika, um Benachteiligung aufgrund ebendieser Charakteristika zu bekämpfen. Konkret: Indem Personen als Frauen Rechte zugesprochen werden, kommt es genau über diese Anrufung der Kategorie auch zu einer festlegenden Regulierung. Brown formuliert am Beispiel des Geschlechts: „To have a right as a woman is not to be free of being designated and subordinated by gender.“92 Zur Explikation: Auf Frauen zugeschnittene Rechte stellen Antworten auf Situationen dar, in die Frauen typischerweise geraten. Die damit beispielsweise angesprochenen Regelungen bezüglich Schwangerschaft und Mutterschaft sollen Frauen davor schützen, aus solchen Gründen diskriminiert zu werden und ermöglichen die bevorzugte Inanspruchnahme weiterer daran anknüpfender Rechte (der Schutz der Vaterschaft geht gewöhnlich weniger weit). Wenn das Recht auf solche typischen Bedürfnisse eingeht, dann werden alle Frauen als potenziell davon Betroffene erfasst. Dies 89 Terrell/Kofink/Middleton/Rainear/Murphy-Hill/Parnin, Gender Bias in Open Source: Pull Request Acceptance of Women Versus Men, https://doi.org/10.7287/peerj.preprints.1733v1 (20.2.2016). 90 § 27 Abs. 2 Frauenförderungsplan der Universität Wien, 20.12.2005, Satzung, http://www.univie.ac.at/mtbl02/2005_2006/2005_2006_94.pdf (20.2.2016). 91 Hierzu auch Schmidt in diesem Heft unter VII.1.b). 92 Brown, Suffering Rights as Paradoxes, Constellations (2000), 230 (232). 150 Elisabeth Holzleithner 2016 erzeugt das Bild, dass Frauen erstens genau in solche Situationen kommen und dann zweitens auch die entsprechenden rechtlichen Möglichkeiten wahrnehmen (werden). Spezielle Rechte für Frauen tragen also dazu bei, dass die Kategorie „Frau“ einen bestimmten Inhalt bekommt, der dann auf alle Frauen umgelegt wird. Dadurch werden Stereotypen befördert, was wiederum zur weiteren Benachteiligung beitragen kann. Keine speziellen Rechte für Frauen zu institutionalisieren ist freilich auch keine Lösung – und damit kommen wir zur zweiten Seite des Dilemmas. Denn bloß formale Gleichheit bedeutet häufig, dass der vorhandene Maßstab festgeschrieben und auf die Probleme vieler Frauen einfach nicht eingegangen wird – es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass weitere Faktoren in intersektioneller Verflechtung mit dem Geschlecht spezifische Herausforderungen erzeugen. Und damit wären wir wieder bei der Herausforderung vom Beginn dieses Textes, als es darum ging zu bestimmen, was es bedeutet, dass jede Person gleichermaßen zählen soll. Freilich ist davor zu warnen, die zweifelhaften Effekte von fördernden Maßnahmen ausschließlich innerhalb der Gruppe der Frauen zu verorten. Ein solches Verständnis zeigt sich, um nur ein prominentes Beispiel herauszugreifen, in Habermas’ Darstellung der Problematik des zeitgenössischen feministisch-emanzipatorischen Rechts: Sie liege „in überverallgemeinernden Klassifikationen von benachteiligenden Situationen und benachteiligten Personengruppen. Was die Gleichstellung von Frauen generell fördern soll, kommt oft nur einer Kategorie von (ohnehin privilegierten) Frauen auf Kosten anderer zugute, weil geschlechtsspezifische Ungleichheiten auf komplexe und undurchschaute Weise mit Unterprivilegierungen anderer Art (soziale Herkunft, Alter, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw.) korrelieren.“93 Diese Einschätzung erscheint einseitig. So wie Habermas die Problematik skizziert, haben wir es mit einem reinen Frauenthema zu tun. Männer bleiben durch die Verkomplizierung der Kategorie Frauen noch weiter außen vor. Polemisch zugespitzt scheint aus dieser Analyse hervorzugehen, dass Männer mit der Unterdrückung von Frauen gar nichts mehr zu tun haben – die Unterdrückung findet allein innerhalb der Gruppe von Frauen statt. Vielsagend ist die Kritik daran, viele Maßnahmen kämen ohnehin nur privilegierten Frauen zugute. Wenn man aber darauf verzichtet, solche Maßnahmen zu setzen, also relativ privilegierte Frauen zu unterstützen, weil dadurch möglicherweise andere, weniger privilegierte Frauen nicht berücksichtigt werden: Was ist dann mit den Privilegien der noch privilegierteren Männer? Diese bleiben unangetastet. Im Übrigen ist es auch kein Naturgesetz, dass diejenigen Frauen, die durch „begünstigende Diskriminierung“ gefördert werden, immer schon und ausschließlich die privilegiertesten sind. Es kommt auf die Art der Maßnahme selbst an.94 IV. Schlussbetrachtung Dieser Text hat versucht, den Begriff der Geschlechterrolle für aktuelle Herausforderungen im Feld der Gerechtigkeit zu öffnen und ihn über die Dichotomie von „Mann“ 93 Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, 510. 94 S. Holzleithner, Gesellschaftsauffassung und Rechtsverständnis. Zu Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Kapitel IX. Paradigmen des Rechts, in: Koller/Hiebaum (Hrsg.), Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung (Klassiker auslegen), 2016, 153 (161 ff.). 2016 Gerechtigkeit und Geschlechterrollen 151 und „Frau“ hinaus operationalisierbar zu machen. Angesichts dessen, dass Geschlecht sowohl in seiner biologischen als auch in seiner sozialen Dimension heute als Performance, als Zitieren von Normen, verstanden wird, scheint auch die Rede von der Geschlechterrolle weiterhin Sinn zu ergeben: als Rolle, die wir aufgrund geschlechtlicher Zuschreibungen und Identifikationen „spielen“ – in einem (Schau-) Spiel, das überaus ernst ist und in dem das Versagen von Anerkennung bis hin zu sexistischer, von Feindseligkeit gegenüber LGBTIQ-Personen getragener, bisweilen tödlicher Gewalt sowie distributive Marginalisierung bis hin zur völligen sozio-ökonomischen Devastierung drohen. Geschlechterrollen und die mit ihnen verbundenen Stereotypisierungen bewirken somit erhebliche Ungerechtigkeiten, sie suchen aber auch jene Maßnahmen heim, die um mehr Gerechtigkeit im Geschlechterverhältnis bemüht sind: Das Feld ist dilemmatisch, und die Komplexität der Problematik verheißt keine einfachen Auswege – weder in der Theorie, noch in der Praxis. Jene Herausforderungen, die Geschlechterrollen für die Idee der Gerechtigkeit sind, werden ebenso virulent wie umstritten bleiben. Es ist höchste Zeit, dass sie in Mainstream-Konzeptionen von Gerechtigkeit Eingang finden und dort ernsthaft verhandelt werden. Elisabeth Holzleithner, Universität Wien, E-Mail: elisabeth.holzleithner@univie.ac.at Herausgeber PD. Dr. Alexander Aichele, Halle Prof. Dr. Martin Borowski, Heidelberg Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Halle Prof. Dr. Simone Zurbuchen, Lausanne unter Mitarbeit von Prof. Dr. Wolfgang Ertl, Keio University Tokyo Univ.Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner, Universität Wien Prof. Dr. Jean François Kervégan, Université Panthéon-Sorbonne (Paris 1) Prof. Dr. Christian Krijnen, Vrije Universiteit Amsterdam Prof. Dr. Joachim Lege, Universität Greifswald Prof. Dr. Georg Mohr, Universität Bremen Prof. Dr. Stanley L. Paulson, Universität Kiel Prof. Dr. Beate Rössler, Universiteit van Amsterdam Prof. Dr. Kurt Seelmann, Universität Basel Schriftleitung Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie Universitätsplatz 6, D-06108 Halle (Saale), Tel. 0345/5523130 E-Mail: Joachim.Renzikowski@jura.uni-halle.de Verantwortlich für den Textteil: Prof. Dr. Joachim Renzikowski ISSN 2364-1355 RphZ Zeitschrift für Grundlagen des Rechts Manuskripte: Manuskripte werden – möglichst in elektronischer Form – an die Schriftleitung erbeten. Die Annahme zur Veröffentlichung muss schriftlich erfolgen, wobei auf das Erfordernis der elektronischen Signatur verzichtet wird. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für die Zeit bis zum Ablauf des Urheberrechts. Eingeschlossen ist insbesondere auch die Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung zu gewerblichen Zwecken im Wege eines photomechanischen oder eines anderen Verfahrens. Dem Autor verbleibt die Befugnis, nach Ablauf eines Jahres anderen Verlagen eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen; ein Honorar hieraus steht dem Autor zu. Urheber- und Verlagsrechte: Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Das gilt auch für die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen und ihre Leitsätze, denn diese sind geschützt, soweit sie vom Einsender oder von der Schriftleitung erarbeitet oder redigiert worden sind. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen verwendbare Sprache, übertragen werden. Verlag: C.H.Beck oHG, Wilhelmstr. 9, D-80801 München, Postanschrift: Postfach 400340, 80703 München, Tel.: 089/38189-0, Telefax: 089/38189398, Postbank München IBAN: DE82 7001 0080 0006 2298 02, BIC: PBNKDEFFXXX. Der Verlag ist oHG. Gesellschafter sind Dr. Hans Dieter Beck und Dr. Jonathan Beck, beide Verleger in München. Erscheinungsweise: Vier Hefte jährlich. Bezugspreis 2016: Normalpreis jährlich € 139,00 (inkl. MwSt.), Einzelheft: € 39,00 (inkl. MwSt.). Jeweils zuzüglich Versandkosten. Bestellungen über jede Buchhandlung und beim Verlag. Abo-Service: Tel.: 089/38189-750, Fax 089/38189-358, E-Mail: bestellung@beck.de. Abbestellungen müssen 6 Wochen vor Jahrgangsende erfolgen. Adressenänderungen: Bei Adressenänderungen muss neben dem Titel der Zeitschrift die neue und alte Adresse angegeben werden.