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Ciceros Staatsphilosophie

2017, Politiker und Philosophen: Cicero zur Interdependenz von Empirie und Theorie (De re publica 1,1-37), in: O. Höffe (Hg.), Ciceros Staatsphilosophie. Ein kooperativer Kommentar zu ‘De republica’ und ‘De legibus’ (Berlin/Boston 2017) 19-32

Ciceros Staatsphilosophie Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 Klassiker Auslegen Herausgegeben von Otfried Höffe Band 64 Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 Ciceros Staatsphilosophie Ein kooperativer Kommentar zu De re publica und De legibus Herausgegeben von Otfried Höffe Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 ISBN 978-3-11-053477-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053622-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053629-4 ISSN 2192-4554 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 Inhalt Zitierweise und Abkürzungen Vorwort VII IX Otfried Höffe 1 Einleitung 1 Therese Fuhrer 2 Politiker und Philosophen: Cicero zur Interdependenz von politischer 19 Theorie und Praxis (De re publica I, 1 – 37) René Brouwer 3 ‘Richer than the Greeks’: Cicero’s Constitutional Thought 33 Jörn Müller 4 Ciceros Archäologie des römischen Staates in De re publica II: Ein Exempel römischen Philosophierens 47 Otfried Höffe 5 De re publica III: Über Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit Philipp Brüllmann 6 Die Einrichtung des besten Staates: De re publica, Buch IV 73 91 W. Schmidt-Biggemann 7 De legibus III 111 Ernst A. Schmidt 8 Das Somnium Scipionis im Kontext des dritten Bücherpaares (De re publica V und VI) 133 Christoph Horn 9 Die metaphysische Grundlegung des Rechts (De legibus I) Jed W. Atkins 10 Natural Law and Civil Religion: De legibus, Book II 149 167 Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 VI Inhalt Auswahlbibliographie Personenregister Sachregister 187 193 195 Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Heruntergeladen am | 23.07.17 11:19 Therese Fuhrer 2 Politiker und Philosophen: Cicero zur Interdependenz von politischer Theorie und Praxis (De re publica I, 1 – 37) 2.1 Das Proömium: Moral, Recht und Gesetz in Theorie und Praxis 2.1.1 Zur Form: Das Proömium als ‚Dialog‘ zwischen Cicero und Quintus? Die Vorrede zu De re publica I hat zunächst drei Funktionen zu erfüllen: Sie leitet die ganze Schrift ein, sie markiert, analog zu den Proömien zu Buch III und Buch V, den Beginn eines Buchpaares, das das Gespräch eines Tages wiedergibt, und sie spricht die Widmung des Werks an Ciceros Bruder Quintus aus. Die Funktion der Einleitung in die ganze Schrift kann erklären, warum die Vorrede zu Buch I nicht nur weitaus umfangreicher ist als die beiden weiteren Proömien, die die sechs Bücher von De re publica strukturieren, sondern auch als alle anderen Proömien zu ciceronischen Dialogen und Traktaten. Obwohl mit dem Anfang der Palimpsest-Handschrift (V) mehr als die Hälfte der Vorrede zum ersten Buch verloren ist, ist auch der erhaltene Teil immer noch ungewöhnlich lang (Rep. I, 1– 13). Ciceros Widmung des Werks an den jüngeren Bruder Quintus Tullius Cicero, die in Form einer Anrede zu Beginn der Schrift erfolgt sein muss, ist nicht erhalten; doch lässt der Hinweis gegen Ende des Proömiums auf ein gemeinsames Jugenderlebnis in Smyrna, nämlich den Bericht über den (im Folgenden wiedergegebenen) Dialog aus dem Munde des Publius Rutilius Rufus, den Schluss zu, dass mit dem dort angesprochenen ‚Du‘ Quintus gemeint ist (Rep. I, 13). Jedenfalls hat Marcus Cicero seinen Bruder Quintus, der während dieser Zeit (54 bis 51 v.Chr.) im Dienste Caesars in der Provinz Gallia Narbonensis als Legat tätig war, über die Entstehung von De re publica informiert: Im Oktober 54 v.Chr. berichtet er ihm von einer Arbeit am Dialog „über die beste Staatsform und den besten Bürger“ (de optimo statu civitatis et de optimo cive), den er ins Konsulatsjahr von Tuditanus und Aquillius (129 v.Chr.) verlegt habe, also ins Todesjahr des Scipio Africanus, der zusammen mit Laelius, Philus, Manilius, Publius Rutilius, Quintus Tubero und Laelius’ Schwiegersöhnen Fannius und Scaevola als Gesprächsteilnehmer auftrete (Ad Quintum fratrem III, 5,1 f.; nicht erwähnt ist hier Spurius Mummius). Er, DOI 10.1515/9783110536225-002 Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 20 Therese Fuhrer Cicero, habe die ersten zwei Bücher ‒ von damals geplanten neun ‒ seinem Freund Sallustius vorgelesen, und dieser habe ihm geraten, sich doch in eigenem Namen über den Gegenstand sprechen zu lassen: Er verfüge als ehemaliger Konsul und erfahrener Staatsmann über andere Voraussetzungen als (der Platonschüler) Herakleides von Pontos (der ‚Begründer‘ des Typs der Vergangenheitsdialoge), zudem würde ein Dialog unter längst verstorbenen Persönlichkeiten sogleich als Fiktion erkannt werden; Aristoteles habe in seinen Dialogen ebenfalls sich selbst darlegen lassen, was er über den Staat und den besten Staatslenker geschrieben hatte (quae de re publica et praestanti viro scribat, ipsum loqui; Zarecki 2014, 29 – 32). Cicero zeigt sich gerührt von Sallustius’ Anregung, zumal er so die Möglichkeit hätte nutzen können, die politischen Ereignisse, die Rom gegenwärtig mehr bewegten als diejenigen des gewählten dramatischen Datums, in den Dialog einfließen zu lassen. Als Grund gegen die Versetzung der Szenerie in die Gegenwart nennt Cicero das Risiko, jemanden zu „verletzen“ (ne offenderem quempiam); das wolle er auch jetzt vermeiden, und daher werde er das Gespräch mit (dem im Brief angesprochenen) Quintus führen, dem er die zwei Bücher aber doch schicken werde, die er nur widerwillig aufgebe (Q. fr. III, 5,2). Cicero hat also zwar den Plan des Vergangenheitsdialogs und auch die Personenkonstellation um Scipio beibehalten, wohl aber die beiden ersten Bücher nicht publiziert; an deren Stelle hat er die Proömien mit der Widmung an den Bruder gesetzt, die ihn selbst im ‚Dialog‘ mit diesem als Zeitgenossen über die Gegenwart sprechen lassen (so auch Zetzel 2 1998, 4). Die lange Vorrede ersetzt somit zum einen die zwei Bücher, in denen Cicero offenbar Scipio und seine Mitunterredner über die politischen Schwierigkeiten sprechen ließ (vgl. Rep. I, 14); zum anderen übernimmt sie die Funktion eines aristotelischen Dialogs, in dem der Autor sich selbst eine Stimme geben und eine Position in zusammenhängender Rede vortragen lassen kann. Tatsächlich stellt das Proömium in der erhaltenen, d. h. um mehr als die Hälfte verkürzten Form Themen zur Diskussion, die mehr sind als eine bloße Hinführung zum folgenden Dialog, wie dies der Funktion dieser Paratextsorte entsprechen würde, und auch der Bezug auf die eigenen Erfahrungen und Intentionen ist ausführlicher als ‒ auch in vollständig überlieferten Proömien ‒ üblich. 2.2 Zur Funktion von Theorie und Praxis: Eine politische ‚Kulturentstehungslehre‘ Das Thema des ersten Proömiums von De re publica wird in der Forschung in der Regel unter das Motto des Gegensatzes zwischen ‚Politik und Philosophie‘ gestellt, Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 21 der auch im ersten Auftritt der Hauptunterredner sowie im ganzen folgenden Dialog weiter ausgeführt werde (vgl. Blößner 2001). Allerdings führt der Gedankengang, den Cicero in den uns fassbaren Textabschnitten entwickelt, doch über die bekannte Opposition hinaus. Gegenübergestellt werden weniger einander ausschließende Positionen und Konzepte als vielmehr verschiedene Möglichkeiten, die Frage nach ‒ so Cicero im Brief an Quintus ‒ der „besten Staatsform und dem besten Bürger“ zu stellen und zu beantworten. Dabei unternimmt es Cicero zu zeigen, dass jede theoretische Reflexion über diese Frage auf praktischer Erfahrung beruht, die sich ihrerseits an naturgegebenen Gesetzen orientiert. Der in der Palimpsest-Handschrift (V) überlieferte Text beginnt mit einer Aufzählung von Leistungen historisch bedeutender Persönlichkeiten, an deren Schluss Marcus Cato genannt wird, der uns gleichsam als „Vorbild zu rastloser Tätigkeit und sittlicher Bewährung“ dient (exemplar ad industriam virtutemque), der das unruhige Leben in der Politik immer der ungestörten Muße vorgezogen hat (Rep. I, 1). Dies wird mit einer „natürlichen Anlage“ (natura) des Menschen erklärt, die ihn zur „sittlichen Bewährung“ drängt (necessitas virtutis) und ihm die „Liebe zur Verteidigung des Gemeinwohls“ eingegeben hat (amor ad communem salutem defendendam). Dem „Wissen“ (ars, scientia) über die Tugend ist ihre „Anwendung“ (usus) überlegen, in der sie erst ganz zur Entfaltung kommt (Rep. I, 2: virtus in usu sui tota posita est). Indem Cicero das an der Tugend ausgerichtete menschliche Handeln als natürlichen Trieb definiert und der vita activa den Primat über die vita contemplativa zuweist, nimmt er in der altbekannten Debatte klar die Position Dikaiarchs ein (Zetzel 21998, 98 f.). Er führt die Hierarchisierung jedoch weiter, indem er als wertvollstes Anwendungsfeld der Tugend die „Staatslenkung“ nennt (usus autem eius est maximus civitatis gubernatio). Der durch den natürlichen Trieb gesteuerte Einsatz für das „Gemeinwohl“ wird hier nun konkret mit einer leitenden Funktion im Staat in Verbindung gebracht. Auch wenn Cicero die Formen der theoretischen Reflexion gegenüber dem Handeln deutlich abwertet, weist er ihr dennoch einen systematischen Ort und eine bestimmte Funktion zu: Die Tugend als ‚Technik‘ (ars) ist Gegenstand philosophischer Erörterungen, und auch wenn das ‚Tun‘ der von den Philosophen in ihren „Winkeln“ vorgetragenen „Dinge“ (eae ipsae res) dem „Reden“ (oratio) überlegen ist, so wird der Wert ihres Diskussionsgegenstands ‒ das an der Tugend orientierte Handeln ‒ nicht in Frage gestellt. Denn dieser ist aus der Betätigung im Dienst für den Staat erwachsen und entwickelt worden (partum confirmatumque, Rep. I, 2): „Denn alles, was die Philosophen sagen ‒ soweit, was sie sagen, recht und ehrenwert ist ‒, haben diejenigen erarbeitet und festgelegt, die für die Staaten die Rechtsordnungen festgelegt haben.“ Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 22 Therese Fuhrer Nihil enim dicitur a philosophis, quod quidem recte honesteque dicatur, quod ‹non› ab iis partum confirmatumque sit, a quibus civitatibus iura descripta sunt. Die ‚Gesetzgeber‘ ‒ zu denken ist an die griechischen Nomotheten Minos, Solon und Lykurg ‒ stehen mit der Aufzeichnung von „Rechten“ (iura describere) am Anfang philosophischer Reflexion, für die sie die Grundlagen geschaffen haben. Ihre Leistung wird im Folgenden noch erweitert: Aufgezählt wird eine Reihe von ethischen und kulturellen Werten, die in Form rhetorischer Fragen (unde aut a quibus …? vierfaches unde …?) auf die Festlegung von Recht und Normen zurückgeführt werden: – „Ehrfurcht vor Eltern, Kindern und Vaterland“ (pietas) und „Furcht vor den Göttern“ (religio); – das „bei allen Völkern geltende Recht“ (ius gentium; Zetzel 21998, 100: „general ethical standards“; Powell 2012, 19: „the common law of humanity“) und das „Recht für die Bürger“ (ius civile); – „Gerechtigkeit, Vertragstreue, Sinn für Verhältnismäßigkeit“ (iustitia, fides, aequitas); – „Ehrgefühl, Selbstbeherrschung, Scheu vor Schande, Streben nach Ruhm und Ehrenhaftigkeit“ (pudor, continentia, fuga turpitudinis, appetentia laudis et honestatis); – „Tapferkeit in Mühen und Gefahren“ (in laboribus et periculis fortitudo). Die Liste umfasst neben den definierten Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung und Tapferkeit sowie einer Reihe auf sie bezogener Charaktertugenden (Stemmer 1998, 1538 f.) auch das für die Bürger eines Staates geschaffene positive Recht und das diesem übergeordnete, bei allen Völkern geltende Recht. Das an den intellektuellen und ethischen Tugenden orientierte Normensystem ist gemäß Ciceros Darstellung in den Gesetzen eines Staates verankert. Mit den rhetorischen Fragen und der im Anschluss formulierten Antwort („woher …? Doch wohl von denen, die …“) schreibt Cicero seiner Aussage allerdings erst den Status einer These zu: Die durch Erziehung eingeübten Werte (haec disciplinis informata) werden von den Staatslenkern oder Gesetzgebern einerseits „in der Tradition (mores) verankert“, andererseits „in Gesetzen festgelegt“. So ergibt sich insgesamt eine Art ‚Kulturentstehungslehre‘, die von drei Phasen ausgeht und mit der Cicero die Genese politischer Kultur beschreibt: Die menschliche Anlage ist von Natur aus auf die Ausübung der Tugenden hin ausgerichtet; darauf basiert die in kleineren sozialen Gruppen geregelte Erziehung; staatlich geregelte Verhaltensformen und Gesetze sichern der Bürgerschaft einer größeren Gemeinschaft die Ermöglichungsstrukturen für tugendgeleitetes Handeln. Erst in einer weiteren, vierten Phase erfolgt die theoretische Reflexion, die Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 23 von den Philosophen gelehrt und in ihren Schriften vorgetragen wird. Der Philosophie werden damit die Aufgabe und auch die Funktion der Abstrahierung und Systematisierung des praktischen Wissens zugewiesen. Sie wird damit nicht per se abgewertet, doch wird ihr im Prozess der Genese der Werte eine sekundäre Position zugesprochen: Die von den Philosophen formulierten Verhaltensnormen basieren auf Erfahrung, die dann reflektiert und systematisiert wird. Den Anspruch des Normativen können allein die staatlichen Gesetze erheben, die ihrerseits von dem naturgeleitet tugendorientierten Verhalten der Menschen abgeleitet sind. 2.3 Reden und Handeln Cicero illustriert diese Hierarchisierung der Funktionen von Philosophen einerseits und Gesetzgebern und Staatslenkern andererseits mit einer Anekdote (Rep. I, 3): Xenokrates, der Schüler Platons und später Schulleiter der Akademie, soll auf die Frage nach dem Lernziel, das seine Schüler verfolgen sollten, geantwortet haben, dass sie „das aus freiem Willen tun sollten, wozu die Gesetze sie zwingen“ (Rep. I, 3: ut id sua sponte facerent quod cogerentur facere legibus; Xenokrates Frg. 3 Heinze). Daran schließt Cicero folgendes Gedankenexperiment an: Da die Philosophen mit ihrer „Rede“ aber „nur wenige“ (vix pauci) davon überzeugen könnten, sei derjenige „Staatsbürger“ (ille civis), der die ganze Gemeinschaft durch „Staatsgewalt und gesetzlich festgelegte Strafe“ zu einem solchen Verhalten zwingt, auch den Gelehrten überlegen, die das Phänomen erörtern (Rep. I, 3). Die Stelle liest sich wie ein Kommentar zu Platons Ausführungen zur Frage,wann im Staat die Mittel der Überzeugung (peithô) und des Zwangs (anánke) angewendet werden sollen, um die Einheit zu wahren, weil die „Vielen“ zur Einsicht in die Notwendigkeit der Kooperation nicht fähig sind (Rep. 519e-520a; Leg. 719e; vgl. Tim. 51e; Schofield 2000, 218 f.). Allerdings formuliert Cicero die Aussage als Konklusion eines Enthymems, das mit der Gegenüberstellung der Konzepte ‚Freiwilligkeit‘ und ‚Zwang‘ (sua sponte ‒ cogere) und der Quantitäten „alle“ ‒ „kaum eine Minderheit“ (omnes ‒ vix pauci) arbeitet: Wenn nur wenige freiwillig gerecht sind, die Gesetze aber alle dazu zwingen, ist der Philosoph mit seiner „Rede“ (oratio) weniger effizient als der Staatsmann mit dem Einsatz von Macht und Strafe. Die Effizienz ist mit der schieren Quantität der Mitglieder der Gemeinschaft, die sich an die Gesetze hält, begründet, nicht mit der Substanz und Stichhaltigkeit der Argumentation. Die Konklusion wird mit einer rhetorischen Frage bestätigt: Welche philosophische „Rede“ ist so „erlesen“, dass sie einem aufgrund seiner Gesetze und Traditionen gut funktionierenden Staat vorzuziehen Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 24 Therese Fuhrer ist? (Rep. I, 3: quae est enim istorum oratio tam exquisita, quae sit anteponenda bene constitutae civitati publico iure et moribus?). Gegenübergestellt sind also wiederum nicht zwei Konzepte ‒ Philosophie versus Politik oder Praxis ‒, sondern die philosophische „Rede“ und der auf Recht und Konvention basierende ‚real existierende‘ Staat, mithin zwei unterschiedliche Kategorien der Argumentation, die sich nicht ausschließen, sondern sich zueinander komplementär verhalten. Allerdings ist das Verhältnis klar hierarchisiert: Denn der Staat sei, so Cicero, Gegenstand der philosophischen „Rede“, die sich aus der Erfahrung informiere; umgekehrt sei die philosophische Rede für die Lenkung zumal „großer und mächtiger Städte“, wie Cicero mit einem poetischen Zitat unterstreicht (Ennius, Annales 590 Skutsch), ohne praktischen Nutzen. Dass zwar mit Gegenüberstellungen, jedoch nicht mit sich ausschließenden Dichotomien gearbeitet wird, zeigt auch ein in den älteren kritischen Editionen dem überlieferten Text vorangestellter Verweis bei Laktanz (Div. Inst. 3,16,5, Frg. 1,1e Ziegler): Cicero habe die „Erörterungen dieser Leute“ mit den „Taten und Leistungen“ anderer verglichen. „Sittliches Handeln und Wissen“ (virtus et scientia) sind als „Quellen“ (fontes) schriftlicher Abhandlungen weniger von Nutzen für die „Taten und Leistungen der Menschen“ (actis perfectisque rebus) als für die Lektüre zum Vergnügen in Zeiten der „Muße“ (otio). Die Aussage ist klar: Philosophische Schiften auf dem Gebiet der Ethik bieten keine Anleitung zum Handeln im täglichen „Wirken“ (negotium); vielmehr dienen sie der reflektierten Auseinandersetzung in der „Mußezeit“ (otium). Dieser Position entspricht die Ausgestaltung der Szenerie des folgenden Dialogs, den Cicero ausdrücklich in den Feriae Latinae stattfinden lässt. So stellt sich die Frage, welche Funktion Cicero seinem staatsphilosophischen Werk De re publica zuweist ‒ einer Schrift, die, gemäß dem Erklärungsmodell seiner politischen ‚Kulturentstehungslehre‘, selbst keine normative, sondern allein eine reflexive Funktion und einen bloß sekundären Status haben kann. Tatsächlich wirken die Gespräche, die er die Gesellschaft an drei Tagen in ihrer Freizeit führen lässt, wie eine Inszenierung der in Rep. I, 2 beschriebenen Phase der philosophischen Reflexion über das Handeln der Gesetzgeber und Staatslenker; da jedoch zumindest ein Teil der Dialogteilnehmer selbst an der Führung des Staates beteiligt ist, reflektieren sie gleichzeitig das eigene Tun und damit konkret den römischen Staat ihrer Zeit und seine Geschichte (Atkins 2013, 30 f.: „philosophical knowledge supplements and completes knowledge gained from experience“). Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 25 2.4 Die ‚Weisheit‘ der Staatslenker Cicero spricht denjenigen, die die Staaten „mit Klugheit und Ansehen“ (consilio et auctoritate) lenken, einen höheren Grad an ‚Weisheit‘ zu als den „Unbeteiligten“ (expertes), zu denen die oben beschriebenen Philosophen gehören. An dieses Lob der praktischen Vernunft schließt er einen Aufruf zum beharrlichen Bemühen um das Wohl der Gemeinschaft an (Rep. I, 3). Im Folgenden wendet sich Cicero gegen philosophische Positionen ‒ im Visier steht offenbar die epikureische Lehre ‒, die als Voraussetzung für die Ataraxie die Abstinenz von der Politik empfehlen, die dementsprechend die Staatsphilosophie nicht zum Gegenstand ihrer Lehre machen und höchstens dann den Einsatz für den Staat erlauben, wenn dieser in Not ist (Rep. I, 4; 9; 11). Dabei stellt er auch seine eigene politische Tätigkeit, sein Bemühen um das Wohl des Staates, seine Erfolge auf dem Höhepunkt der Karriere als Konsul und auch sein Scheitern zur Diskussion, das er jedoch produktiv interpretiert, da ihm auch daraus Ansehen und „Freude“ erwachsen seien (Rep. I, 6 f.; I, 10). Cicero stellt sich damit selbst dem Modell des (epikureischen) ‚Weisen‘ gegenüber, der sich nicht freiwillig „zu den Staatsgeschäften herablasse“ (I, 11: descendere ad rationes civitatis), und diesem wiederum den Typ des ‚Weisen‘, der zumindest über ein „Wissen von den Staatsdingen“ (rerum civilium scientia) verfügt und damit jederzeit auf Situationen vorbereitet ist, in denen er daraus „Nutzen“ (uti) ziehen kann und muss. Cicero unterscheidet somit drei Modelle der ‚Weisheit‘, die er klar hierarchisiert: An erster Stelle steht der erfahrene Staatsmann ‒ repräsentiert von den Sieben Weisen (Rep. I, 14) ‒, der dem Philosophen, der sich lediglich auf einer abstrakten Ebene mit Staatstheorien befasst hat, überlegen ist. Letzterer wiederum verfügt immerhin über das theoretische Wissen, das ihn auf einen Einsatz für den Staat vorbereitet. Zu dieser Kategorie zählt Cicero die Verfasser staatsphilosophischer Schriften, die selbst nie mit der Leitung eines Staates betraut waren ‒ zu denken ist in erster Linie an Platon und Aristoteles ‒, denen er aber immerhin eine Leistung im Dienst um den Staat zuerkennt, die mit einem „Staatsamt“ vergleichbar ist (Rep. I, 11: functos esse aliquo rei publicae munere). An letzter Stelle steht der Philosoph, der um der Seelenruhe willen zur politischen Abstinenz rät. Am eigenen Beispiel zeigt Cicero, dass für den Einsatz für den Staat im Ernstfall neben theoretischem Wissen auch der Umstand entscheidend ist, dass man eine durch die „Laufbahn“ (vitae cursus) erarbeitete Machtposition innehat (Rep. I, 10: eo loco sis, ut tibi id facere liceat). Gleichzeitig verfügt er auch über theoretisches Wissen, so dass er mit seiner Doppelkompetenz ‒ sowohl „durch Erfahrung“ (usu) als auch „durch Studium und Lehre“ (studio discendi et docendi) ‒ als „Autor“ (auctor) der vorliegenden Schrift qualifiziert ist (Rep. I, 13). Damit Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 26 Therese Fuhrer modelliert er sich selbst als Typ des ‚Weisen‘ sowohl der ersten als auch der zweiten Kategorie, mithin sowohl den Sieben Weisen als auch Platon und Aristoteles überlegen. Das Proömium deklariert den folgenden Dialog gewissermaßen als ein Produkt der zuvor in der ‚Kulturentstehungslehre‘ beschriebenen Wirkungszusammenhänge zwischen praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion, die nun dadurch miteinander verquickt werden, dass „Rede“ (oratio) über den Staat und „Erfahrung“ (usus) im Staat ohne Hierarchisierung ineinander übergehen. Der Orator Cicero reflektiert und schreibt über einen Gegenstand, den er selbst aufgrund seiner Erfahrung als römischer Senator und Konsul beurteilen kann, an dessen Geschichte und Entwicklung er selbst mitgewirkt hat und von dem er selbst ein Teil geworden ist. 2.5 Das Vorgespräch: (Natur‐)Philosophie und politische Praxis 2.5.1 Die Gesprächsteilnehmer: die Inszenierung politischer Kompetenz und intellektueller Neugierde Der Beginn des Gesprächs übernimmt zunächst die einleitende Funktion der Vorrede, indem Personal, Ort und Zeit der folgenden Gespräche vorgestellt werden. Als Quelle seiner Informationen nennt Cicero Publius Rutilius Rufus, der ihm in jungen Jahren bei einer Begegnung in Smyrna, im Beisein des angeredeten Quintus, von dem Gespräch berichtet habe, bei dem er selbst anwesend gewesen sei (Rep. I, 13). Das Gespräch wird in Scipios Villa außerhalb Roms lokalisiert und ist auch durch die Terminierung an den drei Feiertagen der Feriae Latinae in einen für philosophische Erörterungen adäquaten Raum verlegt: Die neun Dialogteilnehmer, die alle politisch tätig sind, treffen sich in ihrer Freizeit und abseits des Forums. Durch die Choreographie ihres sukzessiven Eintreffens formieren sich zwei Gruppen à vier bzw. fünf Personen, deren Protagonisten, die älteren und erfahrenen Staatsmänner Scipio und Laelius, eine bereits sprichwörtlich gewordene Freundschaft verbindet (zur Prosopographie der Gesprächsteilnehmer: Büchner 1984, 28 – 36; Zetzel 21998, 9 – 12). In dem Vorgespräch (Rep. I, 14– 37) lässt Cicero die Figuren je unterschiedliche Haltungen einnehmen, nun allerdings nicht in der Frage nach der Bedeutung der Staatsphilosophie und damit eines Bereiches der Ethik, sondern in der Diskussion über den Wert der Naturphilosophie und damit des philosophischen Teilgebiets der Physik. Als Scipio seinen Neffen Quintus Tubero, der vor allen Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 27 anderen eingetroffen ist, auffordert, die freie Zeit für die Erörterung wissenschaftlicher Themen zu nutzen, schlägt dieser vor, das Phänomen der Doppelsonne zu diskutieren (Rep. I, 14 f.); er repräsentiert damit den Typus des jüngeren, mit intellektueller Neugierde ausgestatteten Angehörigen der sozialen Elite. Scipio reagiert zunächst zurückhaltend und verweist einerseits auf den kompetenteren, jedoch abwesenden Panaitios und andererseits auf Sokrates, der die Fragen der Naturphilosophen als zu kompliziert oder irrelevant abgetan habe. Als Tubero ihm den platonischen Sokrates entgegenhält, der laut Platon durchaus an naturwissenschaftlichen Studien interessiert gewesen sei, gibt ihm Scipio erstaunlich schnell recht und lenkt ein (Rep. I, 16). Zudem erinnert er den hinzukommenden Rutilius, den erwähnten ciceronischen Gewährsmann, daran, wie sie beide vor den Mauern der belagerten Stadt Numantia ähnliche Fragen erörtert hätten (Rep. I, 17). In Scipio sind auf diese Weise gleichsam zwei Typen verschiedener Haltungen gegenüber der Naturphilosophie vereint: einerseits der PhilosophieSkeptiker, andererseits der philosophisch Gebildete, der weiterer Belehrung gegenüber stets aufgeschlossen ist. Er bittet deshalb Lucius Furius Philus, der zusammen mit Rutilius gekommen war, seine Meinung zu diesem Thema darzulegen. Das Gespräch der Vierergruppe um Scipio wird durch die Ankunft des zweiten Protagonisten, Laelius, begleitet von Spurius Mummius und seinen zwei Schwiegersöhnen, unterbrochen, und bald darauf trifft auch der ältere Jurist Manius Manilius ein. Im Gespräch zwischen Laelius und Philus wird nun die Haltung des Skeptikers gegenüber naturphilosophischen Fragen nochmals pointiert herausgestellt: Laelius zieht eine Erörterung von Fragen zu „Haus und Staat“ (quae ad domos nostras quaeque ad rem publicam pertineant) vor. Doch lässt auch er sich umstimmen durch Philus’ Argument, dass „die ganze Welt“ (mundus hic totus) ‚unsere‘ Wohnstatt und Heimat sei (Rep. I, 19). Die unterschiedlich modellierten Figuren verkörpern und illustrieren sowohl durch ihre Äußerungen als auch durch ihr Verhalten denkbare und zu erwartende Reaktionen auf den im Folgenden erörterten Gegenstand (Sauer 2013, 179 – 195; Powell 2012, 22 f.). Indem Cicero die beiden älteren Persönlichkeiten Scipio und Laelius ihre zunächst konservative und ablehnende Haltung explizit aufgeben lässt, stellt er eine Art Lese- und Verstehensanleitung an den Anfang, mit der er sein Lesepublikum einlädt, der philosophischen Spezialdiskussion zu folgen, die von ebendiesen zunächst skeptischen römischen Staatsmännern selbst geführt wird. Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 28 Therese Fuhrer 2.5.2 Scipio über die Globalisierung des Wissens So erhält Philus die Gelegenheit, sein Wissen über den von Archimedes gebauten und bei der Eroberung von Syrakus von den Römern erbeuteten „Himmelsglobus“ (sphaera) vorzutragen, den der Astronom Galus im Hause des Enkels des Eroberers von Syrakus, Marcus Marcellus, vorgeführt hatte (Rep. I, 21). Cicero lässt in Philus’ Erzählung Galus einen wissenschaftshistorischen Vortrag halten, in dem er die Konstruktion des Globus auf Thales zurückführt und erklärt, dass der Platonschüler Eudoxos von Knidos ihn mit der Sternenkarte bemalt und der Dichter Arat ihn für die Beschreibung der Sterne benutzt habe (Rep. I, 22). Nun entwickelt sich das Gespräch ‒ unterbrochen von drei Lücken im überlieferten Text ‒ in eine Richtung, die den Gedanken des Proömiums wiederaufnimmt und weiterführt. Zunächst hält Scipio eine längere Rede, in der er eine Begebenheit aus seiner Jugend erzählt. Als er mit seinem Vater Aemilius Paulus in der Zeit seines Konsulats in Makedonien im Feldlager weilte, trat eine Mondfinsternis ein, die bei den Soldaten zu einer Panikreaktion führte. Der Astronom Galus, der als Legat (und designierter Konsul) im Lager war, konnte die Angst der Soldaten mit einer allgemein verständlichen naturwissenschaftlichen Erklärung beschwichtigen (Rep. I, 23 f.). Ähnliches weiß Scipio über Perikles zu berichten, der bei einer Sonnenfinsternis während des Peloponnesischen Krieges die Athener mit der Erklärung beruhigte, die er von Anaxagoras gelernt hatte. Dieses auf Thales zurückgehende Wissen sei in Rom durch Ennius vermittelt worden, der die beim Tod des Romulus erfolgte Sonnenfinsternis datierte, indem er sie, wie auch schon die Bücher der priesterlichen Annalen, in der Reihe der regelmäßig stattfindenden und astronomisch berechenbaren Finsternisse verortete (Rep. I, 24 f.; Enn. Ann. 153 Skutsch). Es folgen knappe Ausführungen über die Bedeutung des Ruhms, der mithilfe des Wissens über die geringe Größe der Erde und den beschränkten Umfang ihrer bewohnbaren und von Menschen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen besiedelten Zonen relativiert werde (in Vorwegnahme von VI, 15 – 25 Ziegler = VI, 19 – 29 Powell), und im Anschluss daran generell über den relativen Wert äußerer Güter; als Exempla für den richtigen Umgang mit diesen werden Scipios Adoptivgroßvater und der ältere Cato genannt: Sie wussten auch mit ihrer ‚Freizeit‘ umzugehen, in der sie nie untätig waren (I, 26 f.; vgl. De officiis III, 1). Im Zusammenhang mit der Frage nach der ‚Tätigkeit während scheinbarer Untätigkeit‘ kommt Scipio nochmals auf Archimedes zu sprechen: Er habe mit dem Bau des Himmelsglobus seinen Mitbürgern größere Dienste erwiesen als Dionysios, der Tyrann von Syrakus, der „seinen Mitbürgern die Freiheit raubte“ (Rep. I, 28). Damit kehrt Scipio die Wertung der Leistungen von Politik und Wissenschaft geradezu um, und im Folgenden definiert er den Wert menschlicher Bildung und ‚Weisheit‘ Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 29 an ihrer Ausrichtung am „Ewigen und Göttlichen“ (sempiternum et divinum); auch dieser Gedanke wird im Somnium weiter ausgeführt (VI, 25 Ziegler = VI, 29 Powell; VI, 28 f. Ziegler = VI, 32 f. Powell). Scipios Rede schließt mit einer Anekdote, die er vorsichtig auf Platon bezieht: Als dieser nach einem Schiffbruch an die Küste eines unbekannten Landes verschlagen worden sei, habe er im Sand geometrische Zeichen entdeckt und diese als Spuren einer entwickelten menschlichen Kultur gedeutet; damit habe er seine verängstigten Mitreisenden zu ermutigen versucht (Rep. I, 29; sie wird anderswo Aristipp zugewiesen). Mit dieser kleinen ‚Robinsonade‘ werden (natur‐)philosophisches Wissen und Politik nun ‒ will man nicht Platon in erster Linie als Verfasser der Politeia verstehen ‒ gänzlich getrennt; die Anekdote dient allein dazu, das Wesentliche des „Menschseins“ (humanitas, Rep. I, 28) zu definieren. Hier wird mit großem erzählerischen Aufwand eine Verbindung hergestellt zwischen weit auseinanderliegenden Zeitstellungen sowie zwischen unterschiedlichen geographischen und kulturellen Bereichen: von Thales über Anaxagoras, Platon, Eudoxos, Archimedes und Arat bis Galus; von der römischen Annalistik bis Ennius; von Perikles über Romulus und Dionysios bis Marcellus, den älteren Scipio und Cato maior, Aemilius Paulus, den jüngeren Scipio und wiederum Galus; von Makedonien über Athen und Sizilien (und auch unbekannte Küsten) nach Rom. So entsteht das Bild eines kontinuierlichen und globalisierten Wissenstransfers, für den der Himmelsglobus gleichsam symbolisch steht: für die Öffnung der Fragestellungen zu einer weltumspannenden Sicht, die im Schlussteil, dem Somnium Scipionis, auf die transzendente Ebene gehoben wird (König 2007, 38). Im Anschluss an das Narrativ der ‚Kulturentstehungslehre‘, die Cicero im Proömium in eigenem Namen vorstellt, hat Scipios Rede insofern eine komplementäre Funktion, als sie wiederum auf die erste Phase verweist: auf das dem Menschen von der Natur eingegebene und ihn leitende Streben nach der Tugend (Rep. I, 1). Das Beispiel des Tyrannen Dionysios von Syrakus zeigt, dass ein Rechtssystem, das ursprünglich der Ermöglichung genuin tugendhaften Strebens und Handelns dienen sollte, auch Missbrauch zulässt. Scipios Rede ist jedoch kein Plädoyer für den Rückzug in die Wissenschaft, obwohl Archimedes’ Leistung in seiner „scheinbaren Untätigkeit“ gegenüber den ‚Leistungen‘ des Politikers Dionysios positiv bewertet wird. Die Rede ist vielmehr eine grundsätzliche Reflexion über das System menschlicher Werte, die Cicero in seiner ‚Kulturentstehungslehre‘ auf der vierten Stufe ansiedelt und den Philosophen zuweist, die aber aus dem Munde des Feldherrn und Staatsmanns Scipio als Plädoyer für die kontinuierliche Rückbindung menschlicher Wertvorstellungen an göttliche und überzeitlich gültige Maßstäbe zu verstehen ist (Rep. I, 28). Sie nimmt damit die im Modell der römischen Mischverfassung immanente Vorstellung vorweg, dass diese sich nicht Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 30 Therese Fuhrer aus einem zyklischen Wechsel von guten und entarteten Staatsformen entwickelt hat, sondern von Anfang an an den Interessen der Menschen, der Mitglieder einer Gemeinschaft, der Staatsbürger (des populus) orientiert war und sich ‒ in Ciceros Formulierung ‒ an der Naturanlage der necessitas virtutis ausrichtete (Gildenhard 2013). 2.5.3 Laelius und die sokratische Wende Laelius gelingt es in seiner Antwort, die durch eine Lücke im überlieferten Text unterbrochen ist, ausgehend von einem Zitat aus Ennius’ Tragödie Iphigenie (Frg. 185 – 187 Jocelyn), nun aber doch, das Gespräch von den „Gefilden des Himmels“ (caeli plagae) auf das, „was vor den Füßen“ (ante pedes) oder „vor den Augen“ (ante oculos) liegt, zu lenken (Rep. I, 30 f.). Dies erinnert an die von Platon überlieferte Anekdote von der thrakischen Magd, die den zum Himmel blickenden Thales, der in einen Brunnen fiel,verspottet habe: „Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen liege, habe er keine Ahnung“ (Plat. Tht. 174a). Cicero lässt Laelius damit zugleich einen Gedanken aufnehmen, den er später weiter ausführen wird: dass Sokrates die Philosophie vom Himmel herunter in die Häuser der Menschen geholt habe (Tusc. IV, 10). Nach dieser Inszenierung der ‚sokratischen Wende‘ kann der Dialog auf das Thema von De re publica zusteuern. Indem Laelius darauf verweist, dass es für das Phänomen der Doppelsonne naturwissenschaftliche Erklärungen geben müsse, die jedoch keinen sittlichen Wert generieren (Rep. I, 32), spricht er dieser Fragestellung den lebensweltlichen Bezug ab, wie ihn Scipio in seiner Rede für die Erklärung von Mond- und Sonnenfinsternis geltend gemacht hatte. Er stellt dem Problem der Doppelsonne dasjenige der Uneinigkeit in Senat und Volk gegenüber (Rep. I, 33) und leitet damit über zu den Fragen, denen er explizit eine praktische Relevanz für die Gemeinschaft der Bürger zugesteht (Rep. I, 34: ut usui civitati simus) und mit denen die Anwesenden die Ferientage mit einem Gespräch zum „größten Nutzen für den Staat“ verbringen können (ut hae feriae nobis ad utilissimos rei publicae sermones conferantur). Während im Gespräch mit Scipio und in dessen Rede die Naturwissenschaft in den Bereich der politischen Praxis integriert wurde, schließt sie Laelius nun wieder aus. Mit der Analogie zwischen Doppelsonne und Spaltung von Senat und Volk verengt er auch die zeitlich, geographisch und kulturell offene und globalisierte Perspektive und beschränkt sie auf Rom und dabei auf die durch das dramatische Datum 129 v.Chr. bestimmte Zeitstellung und ein damals aktuelles politisches Problem. Die sokratische Wende droht damit auf eine Spezialisierung und die zeitbezogene Beschränkung philosophischer Fragestellungen hinzufüh- Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 2 Politiker und Philosophen 31 ren. Doch hebt Laelius mit der Bitte an Scipio, seine Meinung „über die beste Verfassung des Staates“ vorzutragen (Rep. I, 33: quem explicet esse optimum statum civitatis) das Thema doch auf eine allgemeine und damit eine theorierelevante Ebene. Das wird durch einen Verweis auf Scipios ‚Quellen‘ Polybios und Panaitios unterstrichen, mit denen er oft diskutiert habe (Rep. I, 34; zum historischen Kontext Büchner 1984, 118). 2.6 Fazit: Entwurf einer praktischen Philosophie Mit der Rückbindung des Gesprächsgegenstands an das Kriterium der praktischen, insbesondere der politischen Relevanz schließt sich in der Antwort des Laelius und der Aufforderung an Scipio der Kreis zu Ciceros Ausführungen im Proömium: Die Frage nach der besten Staatsform wird in der Person des erfahrenen Staatsmanns Scipio, der seine persönliche Meinung vorträgt, sowie mit der Beteiligung der weiteren Anwesenden, die ebenfalls Träger politischer Ämter sind, auf die ‚Empirie‘ gegründet. Sie alle haben ‒ wie nach ihnen Cicero ‒ die Möglichkeit, bei der Erörterung staatsphilosophischer Fragen sowohl auf ihre Erfahrungen als auch auf philosophische Bildung zu rekurrieren, wie dies Scipio explizit für sich in Anspruch nimmt und was von Philus bestätigt wird (Rep. I, 36 f.), und damit den Prozess zu reflektieren und nachzuvollziehen, den Cicero in seinem Abriss einer ‚Kulturentstehungslehre‘ einerseits den Nomotheten und andererseits der „Rede“ der Philosophen (Rep. I, 37: oratio) zuweist. Das im Proömium von De re publica skizzierte Vorhaben lässt sich als Entwurf einer praktischen Philosophie im Anschluss an Aristoteles verstehen: einerseits in Abgrenzung von dem Ziel der Zweckfreiheit, das die theoretische Philosophie verfolgt, und andererseits in der Orientierung am zweckgebundenen politischen Handeln, das auf den Beobachtungen realen Geschehens und der praktischen Erfahrung aufbaut und selbst Gegenstand der Beobachtung war und ist. Der im Vorgespräch inszenierte ‚Umweg‘ über die Frage des Nutzens und der Anwendungsmöglichkeiten von naturphilosophischem Wissen lässt sich auf zweifache Weise erklären: Zum einen wird damit der Teilbereich der Philosophie, die Physik, explizit in das Wissenssystem integriert, das gebildeten Römern zugänglich und vertraut ist, auch wenn dieser Gegenstand im Folgenden ebenso explizit wieder ausgeschlossen wird. Zum anderen wird damit die Perspektive auf den transzendenten Bereich vorweggenommen, den Scipio im Traum eröffnet, in dem er das theoretische Wissen und – daraus abgeleitet – auch die politische Praxis, die Cicero in seiner Vorrede ebenfalls auf die natura gründet, verankert sein lässt. Angemeldet | t.fuhrer@lmu.de Autorenexemplar Heruntergeladen am | 23.07.17 11:18 32 Therese Fuhrer Literatur Atkins, J.W. 2013: Cicero on Politics and the Limits of Reason, Cambridge. Blößner, N. 2001: Cicero gegen die Philosophie. Eine Analyse von ‚De re publica‘ 1 ,1 – 3, Göttingen. 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