Ciceros Staatsphilosophie
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Herausgegeben von
Otfried Höffe
Band 64
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Ciceros
Staatsphilosophie
Ein kooperativer Kommentar zu
De re publica und De legibus
Herausgegeben von
Otfried Höffe
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ISBN 978-3-11-053477-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-053622-5
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053629-4
ISSN 2192-4554
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Inhalt
Zitierweise und Abkürzungen
Vorwort
VII
IX
Otfried Höffe
1 Einleitung
1
Therese Fuhrer
2 Politiker und Philosophen: Cicero zur Interdependenz von politischer
19
Theorie und Praxis (De re publica I, 1 – 37)
René Brouwer
3 ‘Richer than the Greeks’: Cicero’s Constitutional Thought
33
Jörn Müller
4 Ciceros Archäologie des römischen Staates in De re publica II: Ein
Exempel römischen Philosophierens
47
Otfried Höffe
5 De re publica III: Über Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
Philipp Brüllmann
6 Die Einrichtung des besten Staates: De re publica, Buch IV
73
91
W. Schmidt-Biggemann
7 De legibus III
111
Ernst A. Schmidt
8 Das Somnium Scipionis im Kontext des dritten Bücherpaares
(De re publica V und VI)
133
Christoph Horn
9 Die metaphysische Grundlegung des Rechts (De legibus I)
Jed W. Atkins
10 Natural Law and Civil Religion: De legibus, Book II
149
167
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VI
Inhalt
Auswahlbibliographie
Personenregister
Sachregister
187
193
195
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Therese Fuhrer
2 Politiker und Philosophen: Cicero zur
Interdependenz von politischer Theorie
und Praxis (De re publica I, 1 – 37)
2.1 Das Proömium: Moral, Recht und Gesetz
in Theorie und Praxis
2.1.1 Zur Form: Das Proömium als ‚Dialog‘ zwischen
Cicero und Quintus?
Die Vorrede zu De re publica I hat zunächst drei Funktionen zu erfüllen: Sie leitet
die ganze Schrift ein, sie markiert, analog zu den Proömien zu Buch III und Buch V,
den Beginn eines Buchpaares, das das Gespräch eines Tages wiedergibt, und sie
spricht die Widmung des Werks an Ciceros Bruder Quintus aus.
Die Funktion der Einleitung in die ganze Schrift kann erklären, warum die
Vorrede zu Buch I nicht nur weitaus umfangreicher ist als die beiden weiteren
Proömien, die die sechs Bücher von De re publica strukturieren, sondern auch als
alle anderen Proömien zu ciceronischen Dialogen und Traktaten. Obwohl mit
dem Anfang der Palimpsest-Handschrift (V) mehr als die Hälfte der Vorrede zum
ersten Buch verloren ist, ist auch der erhaltene Teil immer noch ungewöhnlich
lang (Rep. I, 1– 13).
Ciceros Widmung des Werks an den jüngeren Bruder Quintus Tullius Cicero,
die in Form einer Anrede zu Beginn der Schrift erfolgt sein muss, ist nicht erhalten;
doch lässt der Hinweis gegen Ende des Proömiums auf ein gemeinsames Jugenderlebnis in Smyrna, nämlich den Bericht über den (im Folgenden wiedergegebenen) Dialog aus dem Munde des Publius Rutilius Rufus, den Schluss zu,
dass mit dem dort angesprochenen ‚Du‘ Quintus gemeint ist (Rep. I, 13). Jedenfalls
hat Marcus Cicero seinen Bruder Quintus, der während dieser Zeit (54 bis 51 v.Chr.)
im Dienste Caesars in der Provinz Gallia Narbonensis als Legat tätig war, über die
Entstehung von De re publica informiert: Im Oktober 54 v.Chr. berichtet er ihm von
einer Arbeit am Dialog „über die beste Staatsform und den besten Bürger“ (de
optimo statu civitatis et de optimo cive), den er ins Konsulatsjahr von Tuditanus
und Aquillius (129 v.Chr.) verlegt habe, also ins Todesjahr des Scipio Africanus, der
zusammen mit Laelius, Philus, Manilius, Publius Rutilius, Quintus Tubero und
Laelius’ Schwiegersöhnen Fannius und Scaevola als Gesprächsteilnehmer auftrete (Ad Quintum fratrem III, 5,1 f.; nicht erwähnt ist hier Spurius Mummius). Er,
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Therese Fuhrer
Cicero, habe die ersten zwei Bücher ‒ von damals geplanten neun ‒ seinem Freund
Sallustius vorgelesen, und dieser habe ihm geraten, sich doch in eigenem Namen
über den Gegenstand sprechen zu lassen: Er verfüge als ehemaliger Konsul und
erfahrener Staatsmann über andere Voraussetzungen als (der Platonschüler)
Herakleides von Pontos (der ‚Begründer‘ des Typs der Vergangenheitsdialoge),
zudem würde ein Dialog unter längst verstorbenen Persönlichkeiten sogleich als
Fiktion erkannt werden; Aristoteles habe in seinen Dialogen ebenfalls sich selbst
darlegen lassen, was er über den Staat und den besten Staatslenker geschrieben
hatte (quae de re publica et praestanti viro scribat, ipsum loqui; Zarecki 2014, 29 –
32). Cicero zeigt sich gerührt von Sallustius’ Anregung, zumal er so die Möglichkeit
hätte nutzen können, die politischen Ereignisse, die Rom gegenwärtig mehr bewegten als diejenigen des gewählten dramatischen Datums, in den Dialog einfließen zu lassen. Als Grund gegen die Versetzung der Szenerie in die Gegenwart
nennt Cicero das Risiko, jemanden zu „verletzen“ (ne offenderem quempiam); das
wolle er auch jetzt vermeiden, und daher werde er das Gespräch mit (dem im Brief
angesprochenen) Quintus führen, dem er die zwei Bücher aber doch schicken
werde, die er nur widerwillig aufgebe (Q. fr. III, 5,2). Cicero hat also zwar den Plan
des Vergangenheitsdialogs und auch die Personenkonstellation um Scipio beibehalten, wohl aber die beiden ersten Bücher nicht publiziert; an deren Stelle hat
er die Proömien mit der Widmung an den Bruder gesetzt, die ihn selbst im ‚Dialog‘
mit diesem als Zeitgenossen über die Gegenwart sprechen lassen (so auch Zetzel
2
1998, 4).
Die lange Vorrede ersetzt somit zum einen die zwei Bücher, in denen Cicero
offenbar Scipio und seine Mitunterredner über die politischen Schwierigkeiten
sprechen ließ (vgl. Rep. I, 14); zum anderen übernimmt sie die Funktion eines
aristotelischen Dialogs, in dem der Autor sich selbst eine Stimme geben und eine
Position in zusammenhängender Rede vortragen lassen kann. Tatsächlich stellt
das Proömium in der erhaltenen, d. h. um mehr als die Hälfte verkürzten Form
Themen zur Diskussion, die mehr sind als eine bloße Hinführung zum folgenden
Dialog, wie dies der Funktion dieser Paratextsorte entsprechen würde, und auch
der Bezug auf die eigenen Erfahrungen und Intentionen ist ausführlicher als ‒
auch in vollständig überlieferten Proömien ‒ üblich.
2.2 Zur Funktion von Theorie und Praxis:
Eine politische ‚Kulturentstehungslehre‘
Das Thema des ersten Proömiums von De re publica wird in der Forschung in der
Regel unter das Motto des Gegensatzes zwischen ‚Politik und Philosophie‘ gestellt,
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2 Politiker und Philosophen
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der auch im ersten Auftritt der Hauptunterredner sowie im ganzen folgenden
Dialog weiter ausgeführt werde (vgl. Blößner 2001). Allerdings führt der Gedankengang, den Cicero in den uns fassbaren Textabschnitten entwickelt, doch über
die bekannte Opposition hinaus. Gegenübergestellt werden weniger einander
ausschließende Positionen und Konzepte als vielmehr verschiedene Möglichkeiten, die Frage nach ‒ so Cicero im Brief an Quintus ‒ der „besten Staatsform und
dem besten Bürger“ zu stellen und zu beantworten. Dabei unternimmt es Cicero zu
zeigen, dass jede theoretische Reflexion über diese Frage auf praktischer Erfahrung beruht, die sich ihrerseits an naturgegebenen Gesetzen orientiert.
Der in der Palimpsest-Handschrift (V) überlieferte Text beginnt mit einer
Aufzählung von Leistungen historisch bedeutender Persönlichkeiten, an deren
Schluss Marcus Cato genannt wird, der uns gleichsam als „Vorbild zu rastloser
Tätigkeit und sittlicher Bewährung“ dient (exemplar ad industriam virtutemque),
der das unruhige Leben in der Politik immer der ungestörten Muße vorgezogen
hat (Rep. I, 1). Dies wird mit einer „natürlichen Anlage“ (natura) des Menschen
erklärt, die ihn zur „sittlichen Bewährung“ drängt (necessitas virtutis) und ihm die
„Liebe zur Verteidigung des Gemeinwohls“ eingegeben hat (amor ad communem
salutem defendendam). Dem „Wissen“ (ars, scientia) über die Tugend ist ihre
„Anwendung“ (usus) überlegen, in der sie erst ganz zur Entfaltung kommt
(Rep. I, 2: virtus in usu sui tota posita est). Indem Cicero das an der Tugend ausgerichtete menschliche Handeln als natürlichen Trieb definiert und der vita activa
den Primat über die vita contemplativa zuweist, nimmt er in der altbekannten
Debatte klar die Position Dikaiarchs ein (Zetzel 21998, 98 f.). Er führt die Hierarchisierung jedoch weiter, indem er als wertvollstes Anwendungsfeld der Tugend
die „Staatslenkung“ nennt (usus autem eius est maximus civitatis gubernatio). Der
durch den natürlichen Trieb gesteuerte Einsatz für das „Gemeinwohl“ wird hier
nun konkret mit einer leitenden Funktion im Staat in Verbindung gebracht.
Auch wenn Cicero die Formen der theoretischen Reflexion gegenüber dem
Handeln deutlich abwertet, weist er ihr dennoch einen systematischen Ort und
eine bestimmte Funktion zu: Die Tugend als ‚Technik‘ (ars) ist Gegenstand philosophischer Erörterungen, und auch wenn das ‚Tun‘ der von den Philosophen
in ihren „Winkeln“ vorgetragenen „Dinge“ (eae ipsae res) dem „Reden“ (oratio)
überlegen ist, so wird der Wert ihres Diskussionsgegenstands ‒ das an der Tugend
orientierte Handeln ‒ nicht in Frage gestellt. Denn dieser ist aus der Betätigung im
Dienst für den Staat erwachsen und entwickelt worden (partum confirmatumque,
Rep. I, 2):
„Denn alles, was die Philosophen sagen ‒ soweit, was sie sagen, recht und ehrenwert ist ‒,
haben diejenigen erarbeitet und festgelegt, die für die Staaten die Rechtsordnungen festgelegt haben.“
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Therese Fuhrer
Nihil enim dicitur a philosophis, quod quidem recte honesteque dicatur, quod ‹non› ab iis
partum confirmatumque sit, a quibus civitatibus iura descripta sunt.
Die ‚Gesetzgeber‘ ‒ zu denken ist an die griechischen Nomotheten Minos, Solon
und Lykurg ‒ stehen mit der Aufzeichnung von „Rechten“ (iura describere) am
Anfang philosophischer Reflexion, für die sie die Grundlagen geschaffen haben.
Ihre Leistung wird im Folgenden noch erweitert: Aufgezählt wird eine Reihe
von ethischen und kulturellen Werten, die in Form rhetorischer Fragen (unde aut a
quibus …? vierfaches unde …?) auf die Festlegung von Recht und Normen zurückgeführt werden:
– „Ehrfurcht vor Eltern, Kindern und Vaterland“ (pietas) und „Furcht vor den
Göttern“ (religio);
– das „bei allen Völkern geltende Recht“ (ius gentium; Zetzel 21998, 100: „general ethical standards“; Powell 2012, 19: „the common law of humanity“) und
das „Recht für die Bürger“ (ius civile);
– „Gerechtigkeit, Vertragstreue, Sinn für Verhältnismäßigkeit“ (iustitia, fides,
aequitas);
– „Ehrgefühl, Selbstbeherrschung, Scheu vor Schande, Streben nach Ruhm und
Ehrenhaftigkeit“ (pudor, continentia, fuga turpitudinis, appetentia laudis et
honestatis);
– „Tapferkeit in Mühen und Gefahren“ (in laboribus et periculis fortitudo).
Die Liste umfasst neben den definierten Kardinaltugenden Gerechtigkeit,
Selbstbeherrschung und Tapferkeit sowie einer Reihe auf sie bezogener Charaktertugenden (Stemmer 1998, 1538 f.) auch das für die Bürger eines Staates geschaffene positive Recht und das diesem übergeordnete, bei allen Völkern geltende Recht. Das an den intellektuellen und ethischen Tugenden orientierte
Normensystem ist gemäß Ciceros Darstellung in den Gesetzen eines Staates verankert. Mit den rhetorischen Fragen und der im Anschluss formulierten Antwort
(„woher …? Doch wohl von denen, die …“) schreibt Cicero seiner Aussage allerdings erst den Status einer These zu: Die durch Erziehung eingeübten Werte (haec
disciplinis informata) werden von den Staatslenkern oder Gesetzgebern einerseits
„in der Tradition (mores) verankert“, andererseits „in Gesetzen festgelegt“.
So ergibt sich insgesamt eine Art ‚Kulturentstehungslehre‘, die von drei
Phasen ausgeht und mit der Cicero die Genese politischer Kultur beschreibt: Die
menschliche Anlage ist von Natur aus auf die Ausübung der Tugenden hin ausgerichtet; darauf basiert die in kleineren sozialen Gruppen geregelte Erziehung;
staatlich geregelte Verhaltensformen und Gesetze sichern der Bürgerschaft einer
größeren Gemeinschaft die Ermöglichungsstrukturen für tugendgeleitetes Handeln. Erst in einer weiteren, vierten Phase erfolgt die theoretische Reflexion, die
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2 Politiker und Philosophen
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von den Philosophen gelehrt und in ihren Schriften vorgetragen wird. Der Philosophie werden damit die Aufgabe und auch die Funktion der Abstrahierung und
Systematisierung des praktischen Wissens zugewiesen. Sie wird damit nicht per se
abgewertet, doch wird ihr im Prozess der Genese der Werte eine sekundäre Position zugesprochen: Die von den Philosophen formulierten Verhaltensnormen
basieren auf Erfahrung, die dann reflektiert und systematisiert wird. Den Anspruch des Normativen können allein die staatlichen Gesetze erheben, die ihrerseits von dem naturgeleitet tugendorientierten Verhalten der Menschen abgeleitet sind.
2.3 Reden und Handeln
Cicero illustriert diese Hierarchisierung der Funktionen von Philosophen einerseits und Gesetzgebern und Staatslenkern andererseits mit einer Anekdote
(Rep. I, 3): Xenokrates, der Schüler Platons und später Schulleiter der Akademie,
soll auf die Frage nach dem Lernziel, das seine Schüler verfolgen sollten, geantwortet haben, dass sie „das aus freiem Willen tun sollten, wozu die Gesetze sie
zwingen“ (Rep. I, 3: ut id sua sponte facerent quod cogerentur facere legibus;
Xenokrates Frg. 3 Heinze). Daran schließt Cicero folgendes Gedankenexperiment
an: Da die Philosophen mit ihrer „Rede“ aber „nur wenige“ (vix pauci) davon
überzeugen könnten, sei derjenige „Staatsbürger“ (ille civis), der die ganze Gemeinschaft durch „Staatsgewalt und gesetzlich festgelegte Strafe“ zu einem solchen Verhalten zwingt, auch den Gelehrten überlegen, die das Phänomen erörtern
(Rep. I, 3). Die Stelle liest sich wie ein Kommentar zu Platons Ausführungen zur
Frage,wann im Staat die Mittel der Überzeugung (peithô) und des Zwangs (anánke)
angewendet werden sollen, um die Einheit zu wahren, weil die „Vielen“ zur
Einsicht in die Notwendigkeit der Kooperation nicht fähig sind (Rep. 519e-520a;
Leg. 719e; vgl. Tim. 51e; Schofield 2000, 218 f.). Allerdings formuliert Cicero die
Aussage als Konklusion eines Enthymems, das mit der Gegenüberstellung der
Konzepte ‚Freiwilligkeit‘ und ‚Zwang‘ (sua sponte ‒ cogere) und der Quantitäten
„alle“ ‒ „kaum eine Minderheit“ (omnes ‒ vix pauci) arbeitet: Wenn nur wenige
freiwillig gerecht sind, die Gesetze aber alle dazu zwingen, ist der Philosoph mit
seiner „Rede“ (oratio) weniger effizient als der Staatsmann mit dem Einsatz von
Macht und Strafe. Die Effizienz ist mit der schieren Quantität der Mitglieder der
Gemeinschaft, die sich an die Gesetze hält, begründet, nicht mit der Substanz und
Stichhaltigkeit der Argumentation. Die Konklusion wird mit einer rhetorischen
Frage bestätigt: Welche philosophische „Rede“ ist so „erlesen“, dass sie einem
aufgrund seiner Gesetze und Traditionen gut funktionierenden Staat vorzuziehen
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Therese Fuhrer
ist? (Rep. I, 3: quae est enim istorum oratio tam exquisita, quae sit anteponenda bene
constitutae civitati publico iure et moribus?).
Gegenübergestellt sind also wiederum nicht zwei Konzepte ‒ Philosophie
versus Politik oder Praxis ‒, sondern die philosophische „Rede“ und der auf Recht
und Konvention basierende ‚real existierende‘ Staat, mithin zwei unterschiedliche
Kategorien der Argumentation, die sich nicht ausschließen, sondern sich zueinander komplementär verhalten. Allerdings ist das Verhältnis klar hierarchisiert:
Denn der Staat sei, so Cicero, Gegenstand der philosophischen „Rede“, die sich
aus der Erfahrung informiere; umgekehrt sei die philosophische Rede für die
Lenkung zumal „großer und mächtiger Städte“, wie Cicero mit einem poetischen
Zitat unterstreicht (Ennius, Annales 590 Skutsch), ohne praktischen Nutzen.
Dass zwar mit Gegenüberstellungen, jedoch nicht mit sich ausschließenden
Dichotomien gearbeitet wird, zeigt auch ein in den älteren kritischen Editionen
dem überlieferten Text vorangestellter Verweis bei Laktanz (Div. Inst. 3,16,5,
Frg. 1,1e Ziegler): Cicero habe die „Erörterungen dieser Leute“ mit den „Taten und
Leistungen“ anderer verglichen. „Sittliches Handeln und Wissen“ (virtus et
scientia) sind als „Quellen“ (fontes) schriftlicher Abhandlungen weniger von
Nutzen für die „Taten und Leistungen der Menschen“ (actis perfectisque rebus) als
für die Lektüre zum Vergnügen in Zeiten der „Muße“ (otio). Die Aussage ist klar:
Philosophische Schiften auf dem Gebiet der Ethik bieten keine Anleitung zum
Handeln im täglichen „Wirken“ (negotium); vielmehr dienen sie der reflektierten
Auseinandersetzung in der „Mußezeit“ (otium). Dieser Position entspricht die
Ausgestaltung der Szenerie des folgenden Dialogs, den Cicero ausdrücklich in den
Feriae Latinae stattfinden lässt.
So stellt sich die Frage, welche Funktion Cicero seinem staatsphilosophischen
Werk De re publica zuweist ‒ einer Schrift, die, gemäß dem Erklärungsmodell
seiner politischen ‚Kulturentstehungslehre‘, selbst keine normative, sondern allein eine reflexive Funktion und einen bloß sekundären Status haben kann. Tatsächlich wirken die Gespräche, die er die Gesellschaft an drei Tagen in ihrer
Freizeit führen lässt, wie eine Inszenierung der in Rep. I, 2 beschriebenen Phase
der philosophischen Reflexion über das Handeln der Gesetzgeber und Staatslenker; da jedoch zumindest ein Teil der Dialogteilnehmer selbst an der Führung
des Staates beteiligt ist, reflektieren sie gleichzeitig das eigene Tun und damit
konkret den römischen Staat ihrer Zeit und seine Geschichte (Atkins 2013, 30 f.:
„philosophical knowledge supplements and completes knowledge gained from
experience“).
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2.4 Die ‚Weisheit‘ der Staatslenker
Cicero spricht denjenigen, die die Staaten „mit Klugheit und Ansehen“ (consilio
et auctoritate) lenken, einen höheren Grad an ‚Weisheit‘ zu als den „Unbeteiligten“
(expertes), zu denen die oben beschriebenen Philosophen gehören. An dieses Lob
der praktischen Vernunft schließt er einen Aufruf zum beharrlichen Bemühen um
das Wohl der Gemeinschaft an (Rep. I, 3). Im Folgenden wendet sich Cicero gegen
philosophische Positionen ‒ im Visier steht offenbar die epikureische Lehre ‒, die
als Voraussetzung für die Ataraxie die Abstinenz von der Politik empfehlen, die
dementsprechend die Staatsphilosophie nicht zum Gegenstand ihrer Lehre machen und höchstens dann den Einsatz für den Staat erlauben, wenn dieser in Not
ist (Rep. I, 4; 9; 11). Dabei stellt er auch seine eigene politische Tätigkeit, sein
Bemühen um das Wohl des Staates, seine Erfolge auf dem Höhepunkt der Karriere
als Konsul und auch sein Scheitern zur Diskussion, das er jedoch produktiv interpretiert, da ihm auch daraus Ansehen und „Freude“ erwachsen seien (Rep.
I, 6 f.; I, 10). Cicero stellt sich damit selbst dem Modell des (epikureischen) ‚Weisen‘
gegenüber, der sich nicht freiwillig „zu den Staatsgeschäften herablasse“ (I, 11:
descendere ad rationes civitatis), und diesem wiederum den Typ des ‚Weisen‘, der
zumindest über ein „Wissen von den Staatsdingen“ (rerum civilium scientia) verfügt und damit jederzeit auf Situationen vorbereitet ist, in denen er daraus
„Nutzen“ (uti) ziehen kann und muss.
Cicero unterscheidet somit drei Modelle der ‚Weisheit‘, die er klar hierarchisiert: An erster Stelle steht der erfahrene Staatsmann ‒ repräsentiert von den
Sieben Weisen (Rep. I, 14) ‒, der dem Philosophen, der sich lediglich auf einer
abstrakten Ebene mit Staatstheorien befasst hat, überlegen ist. Letzterer wiederum verfügt immerhin über das theoretische Wissen, das ihn auf einen Einsatz für
den Staat vorbereitet. Zu dieser Kategorie zählt Cicero die Verfasser staatsphilosophischer Schriften, die selbst nie mit der Leitung eines Staates betraut waren ‒
zu denken ist in erster Linie an Platon und Aristoteles ‒, denen er aber immerhin
eine Leistung im Dienst um den Staat zuerkennt, die mit einem „Staatsamt“
vergleichbar ist (Rep. I, 11: functos esse aliquo rei publicae munere). An letzter Stelle
steht der Philosoph, der um der Seelenruhe willen zur politischen Abstinenz rät.
Am eigenen Beispiel zeigt Cicero, dass für den Einsatz für den Staat im
Ernstfall neben theoretischem Wissen auch der Umstand entscheidend ist, dass
man eine durch die „Laufbahn“ (vitae cursus) erarbeitete Machtposition innehat
(Rep. I, 10: eo loco sis, ut tibi id facere liceat). Gleichzeitig verfügt er auch über
theoretisches Wissen, so dass er mit seiner Doppelkompetenz ‒ sowohl „durch
Erfahrung“ (usu) als auch „durch Studium und Lehre“ (studio discendi et docendi)
‒ als „Autor“ (auctor) der vorliegenden Schrift qualifiziert ist (Rep. I, 13). Damit
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Therese Fuhrer
modelliert er sich selbst als Typ des ‚Weisen‘ sowohl der ersten als auch der
zweiten Kategorie, mithin sowohl den Sieben Weisen als auch Platon und Aristoteles überlegen.
Das Proömium deklariert den folgenden Dialog gewissermaßen als ein Produkt der zuvor in der ‚Kulturentstehungslehre‘ beschriebenen Wirkungszusammenhänge zwischen praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion, die
nun dadurch miteinander verquickt werden, dass „Rede“ (oratio) über den Staat
und „Erfahrung“ (usus) im Staat ohne Hierarchisierung ineinander übergehen.
Der Orator Cicero reflektiert und schreibt über einen Gegenstand, den er selbst
aufgrund seiner Erfahrung als römischer Senator und Konsul beurteilen kann, an
dessen Geschichte und Entwicklung er selbst mitgewirkt hat und von dem er selbst
ein Teil geworden ist.
2.5 Das Vorgespräch: (Natur‐)Philosophie
und politische Praxis
2.5.1 Die Gesprächsteilnehmer: die Inszenierung politischer
Kompetenz und intellektueller Neugierde
Der Beginn des Gesprächs übernimmt zunächst die einleitende Funktion der
Vorrede, indem Personal, Ort und Zeit der folgenden Gespräche vorgestellt werden. Als Quelle seiner Informationen nennt Cicero Publius Rutilius Rufus, der ihm
in jungen Jahren bei einer Begegnung in Smyrna, im Beisein des angeredeten
Quintus, von dem Gespräch berichtet habe, bei dem er selbst anwesend gewesen
sei (Rep. I, 13). Das Gespräch wird in Scipios Villa außerhalb Roms lokalisiert
und ist auch durch die Terminierung an den drei Feiertagen der Feriae Latinae in
einen für philosophische Erörterungen adäquaten Raum verlegt: Die neun Dialogteilnehmer, die alle politisch tätig sind, treffen sich in ihrer Freizeit und abseits
des Forums. Durch die Choreographie ihres sukzessiven Eintreffens formieren sich
zwei Gruppen à vier bzw. fünf Personen, deren Protagonisten, die älteren und
erfahrenen Staatsmänner Scipio und Laelius, eine bereits sprichwörtlich gewordene Freundschaft verbindet (zur Prosopographie der Gesprächsteilnehmer:
Büchner 1984, 28 – 36; Zetzel 21998, 9 – 12).
In dem Vorgespräch (Rep. I, 14– 37) lässt Cicero die Figuren je unterschiedliche
Haltungen einnehmen, nun allerdings nicht in der Frage nach der Bedeutung
der Staatsphilosophie und damit eines Bereiches der Ethik, sondern in der Diskussion über den Wert der Naturphilosophie und damit des philosophischen
Teilgebiets der Physik. Als Scipio seinen Neffen Quintus Tubero, der vor allen
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2 Politiker und Philosophen
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anderen eingetroffen ist, auffordert, die freie Zeit für die Erörterung wissenschaftlicher Themen zu nutzen, schlägt dieser vor, das Phänomen der Doppelsonne zu diskutieren (Rep. I, 14 f.); er repräsentiert damit den Typus des jüngeren,
mit intellektueller Neugierde ausgestatteten Angehörigen der sozialen Elite. Scipio
reagiert zunächst zurückhaltend und verweist einerseits auf den kompetenteren,
jedoch abwesenden Panaitios und andererseits auf Sokrates, der die Fragen der
Naturphilosophen als zu kompliziert oder irrelevant abgetan habe. Als Tubero ihm
den platonischen Sokrates entgegenhält, der laut Platon durchaus an naturwissenschaftlichen Studien interessiert gewesen sei, gibt ihm Scipio erstaunlich
schnell recht und lenkt ein (Rep. I, 16). Zudem erinnert er den hinzukommenden
Rutilius, den erwähnten ciceronischen Gewährsmann, daran, wie sie beide vor
den Mauern der belagerten Stadt Numantia ähnliche Fragen erörtert hätten
(Rep. I, 17). In Scipio sind auf diese Weise gleichsam zwei Typen verschiedener
Haltungen gegenüber der Naturphilosophie vereint: einerseits der PhilosophieSkeptiker, andererseits der philosophisch Gebildete, der weiterer Belehrung gegenüber stets aufgeschlossen ist. Er bittet deshalb Lucius Furius Philus, der zusammen mit Rutilius gekommen war, seine Meinung zu diesem Thema darzulegen.
Das Gespräch der Vierergruppe um Scipio wird durch die Ankunft des zweiten Protagonisten, Laelius, begleitet von Spurius Mummius und seinen zwei
Schwiegersöhnen, unterbrochen, und bald darauf trifft auch der ältere Jurist
Manius Manilius ein. Im Gespräch zwischen Laelius und Philus wird nun die
Haltung des Skeptikers gegenüber naturphilosophischen Fragen nochmals
pointiert herausgestellt: Laelius zieht eine Erörterung von Fragen zu „Haus und
Staat“ (quae ad domos nostras quaeque ad rem publicam pertineant) vor. Doch
lässt auch er sich umstimmen durch Philus’ Argument, dass „die ganze Welt“
(mundus hic totus) ‚unsere‘ Wohnstatt und Heimat sei (Rep. I, 19).
Die unterschiedlich modellierten Figuren verkörpern und illustrieren sowohl
durch ihre Äußerungen als auch durch ihr Verhalten denkbare und zu erwartende
Reaktionen auf den im Folgenden erörterten Gegenstand (Sauer 2013, 179 – 195;
Powell 2012, 22 f.). Indem Cicero die beiden älteren Persönlichkeiten Scipio und
Laelius ihre zunächst konservative und ablehnende Haltung explizit aufgeben
lässt, stellt er eine Art Lese- und Verstehensanleitung an den Anfang, mit der er
sein Lesepublikum einlädt, der philosophischen Spezialdiskussion zu folgen, die
von ebendiesen zunächst skeptischen römischen Staatsmännern selbst geführt
wird.
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2.5.2 Scipio über die Globalisierung des Wissens
So erhält Philus die Gelegenheit, sein Wissen über den von Archimedes gebauten
und bei der Eroberung von Syrakus von den Römern erbeuteten „Himmelsglobus“
(sphaera) vorzutragen, den der Astronom Galus im Hause des Enkels des Eroberers
von Syrakus, Marcus Marcellus, vorgeführt hatte (Rep. I, 21). Cicero lässt in Philus’
Erzählung Galus einen wissenschaftshistorischen Vortrag halten, in dem er die
Konstruktion des Globus auf Thales zurückführt und erklärt, dass der Platonschüler Eudoxos von Knidos ihn mit der Sternenkarte bemalt und der Dichter Arat
ihn für die Beschreibung der Sterne benutzt habe (Rep. I, 22).
Nun entwickelt sich das Gespräch ‒ unterbrochen von drei Lücken im überlieferten Text ‒ in eine Richtung, die den Gedanken des Proömiums wiederaufnimmt und weiterführt. Zunächst hält Scipio eine längere Rede, in der er eine
Begebenheit aus seiner Jugend erzählt. Als er mit seinem Vater Aemilius Paulus in
der Zeit seines Konsulats in Makedonien im Feldlager weilte, trat eine Mondfinsternis ein, die bei den Soldaten zu einer Panikreaktion führte. Der Astronom
Galus, der als Legat (und designierter Konsul) im Lager war, konnte die Angst der
Soldaten mit einer allgemein verständlichen naturwissenschaftlichen Erklärung
beschwichtigen (Rep. I, 23 f.). Ähnliches weiß Scipio über Perikles zu berichten,
der bei einer Sonnenfinsternis während des Peloponnesischen Krieges die Athener
mit der Erklärung beruhigte, die er von Anaxagoras gelernt hatte. Dieses auf
Thales zurückgehende Wissen sei in Rom durch Ennius vermittelt worden, der die
beim Tod des Romulus erfolgte Sonnenfinsternis datierte, indem er sie, wie auch
schon die Bücher der priesterlichen Annalen, in der Reihe der regelmäßig stattfindenden und astronomisch berechenbaren Finsternisse verortete (Rep. I, 24 f.;
Enn. Ann. 153 Skutsch).
Es folgen knappe Ausführungen über die Bedeutung des Ruhms, der mithilfe
des Wissens über die geringe Größe der Erde und den beschränkten Umfang ihrer
bewohnbaren und von Menschen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen besiedelten Zonen relativiert werde (in Vorwegnahme von VI, 15 – 25 Ziegler = VI, 19 –
29 Powell), und im Anschluss daran generell über den relativen Wert äußerer
Güter; als Exempla für den richtigen Umgang mit diesen werden Scipios Adoptivgroßvater und der ältere Cato genannt: Sie wussten auch mit ihrer ‚Freizeit‘
umzugehen, in der sie nie untätig waren (I, 26 f.; vgl. De officiis III, 1). Im Zusammenhang mit der Frage nach der ‚Tätigkeit während scheinbarer Untätigkeit‘
kommt Scipio nochmals auf Archimedes zu sprechen: Er habe mit dem Bau des
Himmelsglobus seinen Mitbürgern größere Dienste erwiesen als Dionysios, der
Tyrann von Syrakus, der „seinen Mitbürgern die Freiheit raubte“ (Rep. I, 28). Damit
kehrt Scipio die Wertung der Leistungen von Politik und Wissenschaft geradezu
um, und im Folgenden definiert er den Wert menschlicher Bildung und ‚Weisheit‘
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an ihrer Ausrichtung am „Ewigen und Göttlichen“ (sempiternum et divinum); auch
dieser Gedanke wird im Somnium weiter ausgeführt (VI, 25 Ziegler = VI, 29 Powell;
VI, 28 f. Ziegler = VI, 32 f. Powell).
Scipios Rede schließt mit einer Anekdote, die er vorsichtig auf Platon bezieht:
Als dieser nach einem Schiffbruch an die Küste eines unbekannten Landes verschlagen worden sei, habe er im Sand geometrische Zeichen entdeckt und diese
als Spuren einer entwickelten menschlichen Kultur gedeutet; damit habe er seine
verängstigten Mitreisenden zu ermutigen versucht (Rep. I, 29; sie wird anderswo
Aristipp zugewiesen). Mit dieser kleinen ‚Robinsonade‘ werden (natur‐)philosophisches Wissen und Politik nun ‒ will man nicht Platon in erster Linie als Verfasser der Politeia verstehen ‒ gänzlich getrennt; die Anekdote dient allein dazu,
das Wesentliche des „Menschseins“ (humanitas, Rep. I, 28) zu definieren.
Hier wird mit großem erzählerischen Aufwand eine Verbindung hergestellt
zwischen weit auseinanderliegenden Zeitstellungen sowie zwischen unterschiedlichen geographischen und kulturellen Bereichen: von Thales über Anaxagoras, Platon, Eudoxos, Archimedes und Arat bis Galus; von der römischen
Annalistik bis Ennius; von Perikles über Romulus und Dionysios bis Marcellus,
den älteren Scipio und Cato maior, Aemilius Paulus, den jüngeren Scipio und
wiederum Galus; von Makedonien über Athen und Sizilien (und auch unbekannte
Küsten) nach Rom. So entsteht das Bild eines kontinuierlichen und globalisierten
Wissenstransfers, für den der Himmelsglobus gleichsam symbolisch steht: für die
Öffnung der Fragestellungen zu einer weltumspannenden Sicht, die im Schlussteil, dem Somnium Scipionis, auf die transzendente Ebene gehoben wird (König
2007, 38).
Im Anschluss an das Narrativ der ‚Kulturentstehungslehre‘, die Cicero im
Proömium in eigenem Namen vorstellt, hat Scipios Rede insofern eine komplementäre Funktion, als sie wiederum auf die erste Phase verweist: auf das dem
Menschen von der Natur eingegebene und ihn leitende Streben nach der Tugend
(Rep. I, 1). Das Beispiel des Tyrannen Dionysios von Syrakus zeigt, dass ein
Rechtssystem, das ursprünglich der Ermöglichung genuin tugendhaften Strebens
und Handelns dienen sollte, auch Missbrauch zulässt. Scipios Rede ist jedoch kein
Plädoyer für den Rückzug in die Wissenschaft, obwohl Archimedes’ Leistung in
seiner „scheinbaren Untätigkeit“ gegenüber den ‚Leistungen‘ des Politikers Dionysios positiv bewertet wird. Die Rede ist vielmehr eine grundsätzliche Reflexion
über das System menschlicher Werte, die Cicero in seiner ‚Kulturentstehungslehre‘
auf der vierten Stufe ansiedelt und den Philosophen zuweist, die aber aus dem
Munde des Feldherrn und Staatsmanns Scipio als Plädoyer für die kontinuierliche Rückbindung menschlicher Wertvorstellungen an göttliche und überzeitlich
gültige Maßstäbe zu verstehen ist (Rep. I, 28). Sie nimmt damit die im Modell der
römischen Mischverfassung immanente Vorstellung vorweg, dass diese sich nicht
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aus einem zyklischen Wechsel von guten und entarteten Staatsformen entwickelt
hat, sondern von Anfang an an den Interessen der Menschen, der Mitglieder einer
Gemeinschaft, der Staatsbürger (des populus) orientiert war und sich ‒ in Ciceros
Formulierung ‒ an der Naturanlage der necessitas virtutis ausrichtete (Gildenhard
2013).
2.5.3 Laelius und die sokratische Wende
Laelius gelingt es in seiner Antwort, die durch eine Lücke im überlieferten Text
unterbrochen ist, ausgehend von einem Zitat aus Ennius’ Tragödie Iphigenie
(Frg. 185 – 187 Jocelyn), nun aber doch, das Gespräch von den „Gefilden des
Himmels“ (caeli plagae) auf das, „was vor den Füßen“ (ante pedes) oder „vor den
Augen“ (ante oculos) liegt, zu lenken (Rep. I, 30 f.). Dies erinnert an die von Platon
überlieferte Anekdote von der thrakischen Magd, die den zum Himmel blickenden
Thales, der in einen Brunnen fiel,verspottet habe: „Er strenge sich an, die Dinge im
Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen liege, habe er keine
Ahnung“ (Plat. Tht. 174a). Cicero lässt Laelius damit zugleich einen Gedanken
aufnehmen, den er später weiter ausführen wird: dass Sokrates die Philosophie
vom Himmel herunter in die Häuser der Menschen geholt habe (Tusc. IV, 10). Nach
dieser Inszenierung der ‚sokratischen Wende‘ kann der Dialog auf das Thema von
De re publica zusteuern. Indem Laelius darauf verweist, dass es für das Phänomen
der Doppelsonne naturwissenschaftliche Erklärungen geben müsse, die jedoch
keinen sittlichen Wert generieren (Rep. I, 32), spricht er dieser Fragestellung den
lebensweltlichen Bezug ab, wie ihn Scipio in seiner Rede für die Erklärung von
Mond- und Sonnenfinsternis geltend gemacht hatte. Er stellt dem Problem der
Doppelsonne dasjenige der Uneinigkeit in Senat und Volk gegenüber (Rep. I, 33)
und leitet damit über zu den Fragen, denen er explizit eine praktische Relevanz für
die Gemeinschaft der Bürger zugesteht (Rep. I, 34: ut usui civitati simus) und mit
denen die Anwesenden die Ferientage mit einem Gespräch zum „größten Nutzen
für den Staat“ verbringen können (ut hae feriae nobis ad utilissimos rei publicae
sermones conferantur).
Während im Gespräch mit Scipio und in dessen Rede die Naturwissenschaft
in den Bereich der politischen Praxis integriert wurde, schließt sie Laelius nun
wieder aus. Mit der Analogie zwischen Doppelsonne und Spaltung von Senat und
Volk verengt er auch die zeitlich, geographisch und kulturell offene und globalisierte Perspektive und beschränkt sie auf Rom und dabei auf die durch das
dramatische Datum 129 v.Chr. bestimmte Zeitstellung und ein damals aktuelles
politisches Problem. Die sokratische Wende droht damit auf eine Spezialisierung
und die zeitbezogene Beschränkung philosophischer Fragestellungen hinzufüh-
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ren. Doch hebt Laelius mit der Bitte an Scipio, seine Meinung „über die beste
Verfassung des Staates“ vorzutragen (Rep. I, 33: quem explicet esse optimum
statum civitatis) das Thema doch auf eine allgemeine und damit eine theorierelevante Ebene. Das wird durch einen Verweis auf Scipios ‚Quellen‘ Polybios und
Panaitios unterstrichen, mit denen er oft diskutiert habe (Rep. I, 34; zum historischen Kontext Büchner 1984, 118).
2.6 Fazit: Entwurf einer praktischen Philosophie
Mit der Rückbindung des Gesprächsgegenstands an das Kriterium der praktischen, insbesondere der politischen Relevanz schließt sich in der Antwort des
Laelius und der Aufforderung an Scipio der Kreis zu Ciceros Ausführungen im
Proömium: Die Frage nach der besten Staatsform wird in der Person des erfahrenen Staatsmanns Scipio, der seine persönliche Meinung vorträgt, sowie mit der
Beteiligung der weiteren Anwesenden, die ebenfalls Träger politischer Ämter sind,
auf die ‚Empirie‘ gegründet. Sie alle haben ‒ wie nach ihnen Cicero ‒ die Möglichkeit, bei der Erörterung staatsphilosophischer Fragen sowohl auf ihre Erfahrungen als auch auf philosophische Bildung zu rekurrieren, wie dies Scipio explizit für sich in Anspruch nimmt und was von Philus bestätigt wird (Rep. I, 36 f.),
und damit den Prozess zu reflektieren und nachzuvollziehen, den Cicero in seinem
Abriss einer ‚Kulturentstehungslehre‘ einerseits den Nomotheten und andererseits
der „Rede“ der Philosophen (Rep. I, 37: oratio) zuweist.
Das im Proömium von De re publica skizzierte Vorhaben lässt sich als Entwurf
einer praktischen Philosophie im Anschluss an Aristoteles verstehen: einerseits
in Abgrenzung von dem Ziel der Zweckfreiheit, das die theoretische Philosophie
verfolgt, und andererseits in der Orientierung am zweckgebundenen politischen
Handeln, das auf den Beobachtungen realen Geschehens und der praktischen
Erfahrung aufbaut und selbst Gegenstand der Beobachtung war und ist. Der im
Vorgespräch inszenierte ‚Umweg‘ über die Frage des Nutzens und der Anwendungsmöglichkeiten von naturphilosophischem Wissen lässt sich auf zweifache
Weise erklären: Zum einen wird damit der Teilbereich der Philosophie, die Physik,
explizit in das Wissenssystem integriert, das gebildeten Römern zugänglich und
vertraut ist, auch wenn dieser Gegenstand im Folgenden ebenso explizit wieder
ausgeschlossen wird. Zum anderen wird damit die Perspektive auf den transzendenten Bereich vorweggenommen, den Scipio im Traum eröffnet, in dem er
das theoretische Wissen und – daraus abgeleitet – auch die politische Praxis, die
Cicero in seiner Vorrede ebenfalls auf die natura gründet, verankert sein lässt.
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