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Das stoische Verständnis der Wahrsagung bei Cicero

Das stoische Verständnis der Wahrsagung bei Cicero Aus moderner Perspektive ist es erstaunlich, mit welcher Mühe und Ernsthaftigkeit die Stoiker sich der Frage der Wahrsagung gewidmet haben. Aufschluss über die Zukunft sollen beispielsweise der Vogelflug oder die Inspektion der Eingeweide von Opfertieren geben. Es ist jedoch zu beachten, dass nahezu alle antiken Philosophen darin übereinstimmen, dass es die Wahrsagekunst oder Mantik (μαντική) gibt. Zur Wahrsagung allgemein in der griechischen Antike siehe Hankinson 1988, 126ff. Uneinigkeit besteht lediglich in der Frage, ob einzelne Techniken mehr oder weniger erfolgversprechend sind bzw. welchen Status die angewandten Methoden haben. Die Methoden wurden auch von einigen Stoikern kritisch diskutiert, wie am Beispiel des Panaitios von Rhodos deutlich wird, auf dessen skeptische Haltung Cicero aufmerksam macht. Zur Sonderstellung des Panaitios hinsichtlich der Wahrsagung siehe Cicero, De divinatione, I.6; II.88. Jede Form der Wahrsagung weist hingegen Epikur zurück. Cicero, De divinatione, I.87: „[...] unus dissentit Epicurus.“ In I.5 nennt Cicero neben Epikur auch Xenophanes von Kolophon als Gegner der Wahrsagung. Dabei beruht seine Zurückweisung auf der für Epikurs Philosophie insgesamt bedeutsamen Annahme, dass sich die Götter nicht in die menschlichen Angelegenheiten einmischen, weshalb sie auch keine Vorsehung für diese ausüben. Dass die Stoiker in dieser Frage am heftigsten mit den Epikureern stritten, betont beispielsweise Plutarch (SVF, II.1115). Zur epikureischen Zurückweisung der Vorsehung siehe Epicurus, Ad Herodotum, 76-7; Lucretius, De rerum natura, II.646-651, 1093-4; V.165-169. Die enge Verbindung, die vor allem die Stoiker zwischen Vorsehung und Wahrsagung sehen, soll Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sein. Einen anderen Ansatz zur Erklärung der stoischen Konzeption wählt Hankinson 1988, indem er weniger die theologische Komponente als vielmehr die Nähe zu den antiken Empiristen und deren Methodik betont (etwas S. 136). Wie in anderen Bereichen der stoischen Philosophie, so steht der Interpret auch bei dem Versuch der Rekonstruktion der ursprünglichen Theorie der Wahrsagung vor erheblichen Schwierigkeiten: Nahezu alle Originaltexte der frühen und auch mittleren Stoa sind verloren. Etwas besser ist es lediglich um die Schriften der jüngeren, römischen Stoa bestellt. Wir wissen jedoch aus Zeugnissen späterer Autoren, dass sowohl Chrysipp als auch Poseidonios Bücher über die Wahrsagekunst verfasst haben. Die Hauptquelle für die Rekonstruktion ihrer Positionen ist Ciceros Werk Über die Wahrsagung Alle Übersetzungen von Ciceros Schrift sind, wenn nicht anders vermerkt, aus Schäublin 1991 entnommen. (De divinatione). Cicero hat in der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts in einer Reihe von lateinischen Abhandlungen alle wesentlichen Teile der zeitgenössischen griechischen Philosophie diskutiert. Wenn man die stoische Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik zugrunde legt, zeigt sich, dass Cicero die Logik in seinem (verlorenen) Werk Hortensius sowie in Academica behandelt, die Ethik schließlich in De finibus und Tusculanae disputationes. Schofield 1986, 48f. macht darauf aufmerksam, dass Cicero lediglich der Naturphilosophie keine eigene Abhandlung gewidmet hat und stattdessen recht ausführlich auf die Theologie eingeht. Eine mögliche Erklärung hierfür sieht er im Zeitgeist (49). Ein anderer Grund könnte aber auch in der von den Stoikern angenommenen engen Verbindung von Theologie und Naturphilosophie bestehen. Sein Text über die Wahrsagung nimmt hierbei eine gewisse Sonderstellung ein, Zur Sonderstellung von De divinatione siehe Beard 1986, 35. da dieser teils markante Unterschiede zu den anderen Büchern aufweist und mit zahlreichen, in der Forschung diskutierten Schwierigkeiten belastet ist. Unklar ist beispielsweise Ciceros eigene Position bezüglich der Wahrsagekunst und das, obwohl Cicero selbst neben seinem Bruder Quintus als Dialogpartner auftritt. Wenn daher im Folgenden von Cicero die Rede ist, meine ich den Autor der Schrift De divinatione; Quintus ist hingegen der Fürsprecher der Wahrsagung aus Buch I, wohingegen Marcus die Kritik in Buch II vorträgt. Beard 1986, 44 notiert, dass die Wahl der beiden Brüder als Dialogpartner ein Mittel Ciceros ist, um die Argumente beider Seiten nach Möglichkeit ebenbürtig zu machen. So betonen etwa Schofield und Beard, dass die in der Forschung zumeist vertretene Identifikation Ciceros mit der im zweiten Buch von ihm selber vorgetragenen Kritik und Zurückweisung der Wahrsagekunst zu kurz greift. Siehe Schofield 1986, 57; 62f. sowie Beard 1986, 35; 45f. Hiergegen spricht etwa, dass Cicero an anderer Stelle explizit die Existenz der Wahrsagung behauptet. Cicero, De legibus, II.32-33. Das wird in der Literatur dadurch erklärt, dass Cicero seine Auffassung zur Wahrsagung unter dem Eindruck der intensiven Auseinandersetzung mit den skeptischen Argumenten geändert haben könnte. Ich möchte das unentschieden lassen. Problematisch ist der Text aber auch hinsichtlich der von Cicero verwandten griechischen Vorlagen. Neben stoischem Material, welches vermutlich aus Poseidonios’ Buch entnommen ist, Siehe dazu Reinhardt 1922, 425ff.; Theiler 1982, Bd. 2, 289-307; Schäublin 1985. benutzt Cicero auch peripatetische Quellen. Moreaux 1973, 229ff.; Van der Eijk 1992. Das führt nicht nur zu einigen Unklarheiten im Aufbau, vor allem des ersten Buches, sondern hat auch inhaltliche Konsequenzen, wie ich im Folgenden darlegen werde. Zwei Fragestellungen sind hierbei von besonderem Interesse: Erstens die Frage, ob es sich bei der Wahrsagekunst um eine Wissenschaft handelt und zweitens die Frage nach ihrem Gegenstand. Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zunächst folge ich Ciceros Darstellung im ersten Buch und behandle daher an erster Stelle die Frage der Existenz der Wahrsagung. Danach diskutiere ich ihren Gegenstand, bevor im letzten Abschnitt die Frage der Wissenschaftlichkeit zu erörtern sein wird. 1. Die Existenz der Wahrsagung Zu Beginn des ersten Buches erklärt Quintus (von dem mehrheitlich angenommen wird, dass er die stoische Position vorstellt Das ist jedoch insofern bemerkenswert, als Quintus von Cicero eher der peripatetischen Philosophie zugeneigt präsentiert wird. Siehe etwa De divinatione, II.100; De finibus, V.96.), dass es ihm in erster Linie darum geht, die Existenz der Wahrsagung sicherzustellen. Weniger interessiert ihn hingegen, eine Erklärung der beschriebenen Phänomene zu geben oder anders ausgedrückt: Es soll das Dass der Wahrsagung aufgezeigt werden, die Was- oder Warum-Frage wird (vorerst! Hankinson 1988, 136 zufolge führt Quintus aus zwei Gründen keine Ursachen für die Wahrsagung an: Zum einen weil „his approach is essentially that of the Empirical doctors“ und zum anderen, weil „he is actually logically debarred from so doing by the Stoic definition of the scope of divination“. Wie wir unten sehen, liefert Quintus an späterer Stelle jedoch sehr wohl eine Begründung der Wahrsagung und diese steht auch in keinem Widerspruch zum Gegenstand der Wahrsagung: dem Zufall. ) hingegen nicht gestellt. Quintus gesteht daher zunächst offen ein, dass er die Ursache für das Eintreffen der vorausgesehenen Ereignisse nicht anzugeben vermag (I.23; 86). Bemerkenswert ist nun, dass diese methodische Unterscheidung zwischen beiden Aspekten – d. h. also der Dass- und der Warum-Frage – auf eine wichtige methodologische Überlegung der aristotelischen Philosophie verweist. Demzufolge wird zunächst mit Blick auf die Phänomene der Tatbestand selber sichergestellt. Zur sog. „phainomenological method“ siehe Shields 2013; eine ausgezeichnete Darstellung der aristotelischen Methodik im Allgemeinen liefert Freibert, Die aristotelische Logik (im Erscheinen). Dann wird dieser einer eingehenden Analyse unterzogen. Das Ergebnis wäre eine wesenhafte Bestimmung der infrage stehenden Sache. Eine modifizierte stoische Adaption dieses Vorgehens ist bei Seneca in den Briefen über die Moral an Lucilius erhalten. Seneca führt dort (im Kontext der Darstellung der Behandlung der Frage des sensus sui) aus, dass die Natur den Lebewesen ein faktisches Wissen übergeben hat, was über die Kenntnis der bloßen Existenz hinausweist, indem beispielsweise auch lebensbedrohliche Feinde oder die eigene zur Verteidigung und Flucht geeignete Konstitution erkannt werden. Der Unterschied zwischen beiden Erkenntnisweisen wird von Seneca so dargestellt, dass ein Kind zwar nicht weiß, „was ein Lebewesen ist, dass es ein Lebewesen ist, nimmt es hingegen wahr“. Seneca, Epistulae morales, 121.11: „et quid sit animal, nescit, animal esse se sentit.“ Bei Seneca wird diese erste Erkenntnis bzw. das Wissen-dass von der Natur selbst in ihrer gütigen Vorsehung für ihre Geschöpfe bewirkt. Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zu Ciceros Darstellung. Denn so, wie die Natur die Erkenntnis der lebenswichtigen Funktionen für ihre Geschöpfe in weiser Voraussicht besorgt hat, soll sie auch den Menschen einen Einblick in ihr Geschick gewähren. Und genauso wenig wie die Tiere deshalb die betreffenden Glieder in ihrer Funktion und in ihrem Zusammenhang begrifflich bestimmen können, sollen auch die Menschen nicht in der Lage sein, eine weitergehende Begründung für die Wahrsagung anzugeben. Offen zutage liegen laut Quintus lediglich Zeichen, die hingegen zuletzt auf einem übergeordneten Zusammenhang beruhen sollen (I.15). Dieser Umstand wird an anderer Stelle so ausgedrückt, dass die Ursache verborgen liegt, „[d]enn Gott wollte nicht, daß ich solches verstehe, sondern lediglich, daß ich mich dieser Erscheinungen bediene“. Cicero, De divinatione, I.35: „Non reperio causam. Latet fortasse obscuritate involuta naturae; non enim me deus ista scire, sed his tantum modo uti voluit.“ Dass die Ursache dem menschlichen Verstand verborgen ist, wird später noch relevant werden, weshalb wir hierauf zurückkommen müssen, sobald wir den Gegenstand der Wahrsagung etwas genauer ins Auge fassen. Problematisch ist nun aber, dass die von Quintus proklamierte epistemologische Beschränkung im weiteren Verlauf der Darstellung aufgegeben wird! Die Erklärung ist dann größtenteils von Poseidonios entnommen (I.125-30). Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Ciceros vorausgehende epistemologische Zurückhaltung auf Kratippos’ Vorgehen beruht. Cicero hätte demzufolge in seinem Bericht die stoische und die aristotelische Position zusammengeführt. Hierfür spricht auch die Behandlung des Zufalls, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden. Eine Erklärung für die natürliche Wahrsagung lautet, dass die Seelen der Menschen im Schlaf über besondere wahrsagende Fähigkeiten verfügen (I.70; 79; 81; 110; 113; 128-131). Siehe auch Chalcidius, In Platonis Timaeum, c. 251 sg. = FDS, 471. Hinzu kommt die spezielle Rolle einer allgemeinen Verknüpfung der Dinge, die die Stoiker Sympathie nennen. Diese wird ferner in der Form eines alles umfassenden Schicksals als Erklärungsgrund herangezogen (I.125-130). Damit ist freilich keine Begründung der Wahrsagung in dem Sinne geboten, dass damit erklärt wäre, wie die beobachteten Phänomene als Ursache oder Wirkung der geweissagten Ereignisse gelten könnten. Das wird von Marcus später noch einmal explizit herausgestrichen. Cicero, De divinatione, II.34. Oder anders ausgedrückt: Es bleibt trotz der Feststellung eines allgemeinen kausalen Zusammenhangs der Dinge offen, wie ein Einschnitt in der Leber oder die Richtung des Vogelflugs mit einem Schatzfund bzw. dem Untergang eines Schiffes verbunden sind bzw. diese hervorgerufen haben könnten. Long 2006, 133 unterscheidet hinsichtlich der Astrologie, die in der Kunst der Wahrsagung einen Sonderstatus einnimmt, zwischen „hard [...] and soft astrology“. Erstere geht davon aus, dass die Sterne die Ereignisse nicht nur anzeigen, sondern auch tatsächlich bewirken, letztere beschränkt ihren Einfluss auf die Anzeige. Auch wenn es keinen Nachweis dafür gibt, dass die frühen Stoiker vor Poseidonios die Astrologie in ihrer Konzeption aufgenommen haben, wie Long betont, kann die Unterscheidung der Sache nach auch auf andere Phänomene der Wahrsagung angewandt werden. Doch ist das auch nicht nötig, denn es handelt sich lediglich um Zeichen und nicht um Ursachen der Ereignisse. Dazu später mehr. Wie steht es nun aber um den geforderten Beweis für die Existenz der Wahrsagung? Von Quintus werden zwei unterschiedliche Beweise ausgeführt: Der erste basiert, wie gesagt, auf der Feststellung des phänomenalen Bestands der Wahrsagung. Quintus behauptet entsprechend: Wenn auch nur ein einziger Fall bekannt werden sollte, in dem es tatsächlich zu einer Wahrsagung gekommen ist, so kann dies als hinreichender Beweis ihrer Existenz gelten (I.74), da man sich andernfalls gegen die Phänomene stellen würde. Dafür, dass die Stoiker tatsächlich so verfahren haben könnten, spräche, dass laut Cicero auch Chrysipp sein Buch mit vermeintlich erfolgreichen Beispielen der Wahrnehmung angereichert hat. Denn all diese Beispiele belegen den phänomenalen Bestand der Wahrsagung. Cicero würde also in diesem Punkt einem (?) stoischen Vorbild folgen, wenn er Quintus zahlreiche, jetzt allerdings vornehmlich auf römischer Überlieferung beruhende Fälle aufführen lässt. Reinhardt 1921, 426f. differenziert die von Cicero gewählten Beispiele in solche, die seiner Ansicht nach eher auf Chrysipp zurückgehen und andere, die von Poseidonios stammen könnten. Diese methodische Überlegung erklärt auch die in der Forschung festgestellte Differenz zwischen der prägnanten und dichten Argumentation, die De fato aufweist, und der von Cicero ausgeschmückten Darstellung, die sich in De divinatione findet. Siehe Schofield 1986, 50. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Cicero dieses Vorgehen von Kratippos übernommen hat, sodass es eher aristotelisch motiviert ist. Die aristotelischen Anleihen in Ciceros Argumentation werden uns im Folgenden noch weiter beschäftigen. Etwas mehr im Hintergrund steht jedenfalls die eng ins stoische System eingepasste zweite Argumentationslinie. Diese beruht auf übergeordneten Annahmen, die Cicero (und vielleicht auch Ciceros Quelle?) an anderer Stelle ausgeführt hat, weshalb es auch nicht nötig ist, hier erneut für die Prämissen zu argumentieren. Weil diese nun als bewiesen vorausgesetzt werden können, ergibt sich die für zahlreiche der überlieferten stoischen Argumente typische Form eines Kettenschlusses. Schauen wir uns das Beispiel etwas genauer an. Cicero führt das Argument zwar als Beweis für die künstliche Wahrsagung an, doch Schäublin bemerkt meiner Ansicht nach zurecht, dass dasselbe auch für die natürliche gilt. Schäublin 1991, 325. Schäublin verweist auch auf eine rein formale Ähnlichkeit zu dem von Cicero Kratippos zugeschriebenen Syllogismus in I.71, der sich am Ende der Behandlung der natürlichen Wahrsagung findet. Für uns wichtig ist das Argument insbesondere deshalb, weil es die enge Verbindung zwischen Wahrsagung und Vorsehung verdeutlicht: „Daß es ein solches [Wahrsagevermögen; A. H.] tatsächlich gibt, läßt sich mit folgender Argumentation der Stoiker beweisen: ‚Wenn es Götter gibt und sie den Menschen die Zukunft nicht im Voraus eröffnen, dann kümmern sie sich entweder nicht um die Menschen, oder sie wissen nicht, was eintreten wird, oder sie glauben, es komme für die Menschen nicht darauf an, die Zukunft zu kennen, oder sie sind der Meinung, es entspreche nicht ihrer Würde, im voraus den Menschen die Zukunft zu bezeichnen, oder nicht einmal sie selbst, die Götter, verfügen über die Macht, Zeichen zu geben. Das genaue Gegenteil ist wahr: sie kümmern sich um uns (denn sie sind wohltätig und Freunde des Menschengeschlechts), und sie kennen genau, was sie selbst geordnet und eingerichtet haben, und es kommt für uns darauf an, die Zukunft zu kennen (wir werden uns nämlich besser vorsehen, wenn wir sie kennen), und sie halten etwas Derartiges nicht für unvereinbar mit ihrer Würde (denn nichts ist hervorragender als Wohltun), und sie verfügen sehr wohl über die Macht, die Zukunft im voraus zu erkennen. Also kann es nicht sein, daß es Götter gibt und daß sie die Zukunft nicht bezeichnen; es gibt aber Götter: also bezeichnen sie sie. Und wenn Sie sie bezeichnen, so kann es nicht sein, daß Sie uns keine Wege zu einer Wissenschaft ihrer Zeichengebung vermitteln (sonst würden sie die Zukunft nämlich zwecklos bezeichnen); und wenn sie denn Wege vermitteln, so kann es nicht sein das es kein Wahrsagervermögen gibt: es gibt also ein Wahrsagervermögen!“ Cicero, De divinatione, I.82-83: „Quam quidem esse re vera hac Stoicorum ratione concluditur: Si sunt di neque ante declarant hominibus, quae futura sint, aut non diligunt homines aut, quid eventurum sit, ignorant aut existumant nihil interesse hominum scire, quid sit futurum, aut non censent esse suae maiestatis praesignificare hominibus, quae sunt futura, aut ea ne ipsi quidem di significare possunt; at neque non diligunt nos (sunt enim benefici generique hominum amici) neque ignorant ea, quae ab ipsis constituta et designata sunt, neque nostra nihil interest scire ea, quae eventura sunt, (erimus enim cautiores, si sciemus) neque hoc alienum ducunt maiestate sua (nihil est enim beneficentia praestantius) neque non possunt futura praenoscere; non igitur sunt di nec significant futura; sunt autem di; significant ergo; et non, si significant, nullas vias dant nobis ad significationis scientiam (frustra enim significarent), nec, si dant vias, non est divinatio; est igitur divinatio.” Ebenso II.101-102; siehe auch die kürzeren Versionen des Arguments in I.9 und 10. Zur göttlichen Fürsorge siehe inbesondere I.32-3. Der Schluss wird von Cicero explizit sowohl auf Chrysipp als auch auf Diogenes und Antipater zurückgeführt, weshalb von Arnim diesen in seiner Fragmentsammlung unter die Zitate Chrysipps eingeordnet hat (SVF, II.1192). Wir haben oben bereits bemerkt, dass Cicero ansonsten Poseidonios folgt. Pease vermutet daher, dass Cicero hier lediglich vergessen haben könnte, Poseidonios anzuführen bzw. das Argument bereits von Poseidonios zitiert worden sein könnte. Pease 1920, 245. Reinhardt 1921, 426ff. vermutet dagegen, dass Cicero über eine Zusammenstellung von Lehrsätzen des Chrysipp bzw. Antipater verfügt haben könnte. Theiler 1982, 297 bemerkt kurz, dass das ganze Stück nicht aus Poseidonios entnommen sei, weil „am Schluß der Name des Poseidonios fehlt“. Sicher scheint jedenfalls zu sein, dass das Argument auf die frühe Stoa zurückgeht, was sich auch darin zeigt, dass die äußere Form mit zahlreichen anderen in diesem Kontext für Zeno und Chrysipp überlieferten Argumenten übereinstimmt. Cicero selbst hat die ersten Prämissen des Arguments, wie gesagt., an anderer Stelle ausgeführt, und zwar im vorausgehenden Dialog Über das Wesen der Götter (De natura deorum). Auf diesen Dialog bezieht sich Quintus, bevor er mit seiner Darstellung beginnt. So erinnert er an Lucilius Balbus’ Verteidigung der stoischen Position, und er versichert, dass er diese als zureichend („satis“) betrachtet (I.8-9). In De natura deorum heißt es nun, dass es die Götterlehre vornehmlich mit zwei Problemen zu tun habe, und zwar erstens der Frage nach der Existenz sowie der Beschaffenheit der Götter und zweitens ihrer Beziehung zu den Menschen, d. h. ihrer Vorsehung. Beide Punkte sind, wie unser Argument zeigt, für die Frage der Wahrsagung relevant, handelt es sich doch um die zwei Hauptprämissen des Syllogismus, weshalb es sich hier lohnt, einen etwas genaueren Blick auf die in De natura deorum vorgebrachte Argumentation zu werfen: Ciceros Darstellung zufolge soll die Existenz der Götter evident sein, weshalb es in dieser Frage auch eine allgemeine Übereinstimmung zwischen den Menschen gibt. Dessen ungeachtet führt Lucilius Balbus zahlreiche Gründe hierfür an. Neben der Existenz der Wahrsagung (die dort als Beweis für die Existenz der Götter gilt) Das signalisiert die enge Beziehung, die die Stoiker zwischen den einzelnen systematischen Punkten sehen, weshalb sie im Umkehrschluss auch von der Existenz der Götter und ihrer Vorsehung auf die Existenz der Wahrsagung schließen. Andere Stellen, an denen die enge Verbindung zwischen der Existenz der Götter, ihrer Vorsehung und der Wahrsagung zum Vorschein kommen sind: De natura deorum, II.6-7; II.12. soll dies auch die persönliche Gegenwart der Götter belegen. Laut Balbus haben Kastor und Pollux (die Zwillingssöhne von Leda und Zeus) im Heer der Römer gekämpft und diesem zum Sieg verholfen (De natura deorum, II.6). Kleanthes soll ferner auf die zahlreichen Vorteile verwiesen haben, die dem Menschen etwa durch das Klima oder die Fruchtbarkeit des Bodens zuteil werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass seiner Ansicht nach ebenso das Gegenteil hiervon, also die natürlichen Schrecken und Zerstörungen durch Unwetter oder andere Naturkatastrophen die göttliche Macht bezeugen. Als vierten Grund führen die Stoiker die Schönheit des Kosmos (κόσμος) und die gleichmäßige Bewegung des Himmels an. Diese Bewegungen können nach stoischer Ansicht nicht planlos entstanden sein, sondern beruhen auf vernünftiger Lenkung und Berechnung, was mit der Schönheit für den göttlichen Ursprung spricht. Denn eine solche Ordnung kann nur von einer planenden Kraft herrühren. Cicero, De natura deorum, II.15-17. Vor allem die Schönheit befördert die Einsicht, dass es sich bei dieser Welt um die bestmögliche, ja im höchsten Maße vollkommene handeln muss. Siehe SVF, II.1121 (= Seneca, De beneficiis, II.29); Cicero, De natura deorum, II.86. Diese ordnende bzw. planende Kraft wird von den Stoikern laut Sextus Empiricus auch als Vorsehung bezeichnet. Sextus Empiricus, Pyrrhonicae hypotyposes, I.151.4: : [...] προνοίᾳ θεῶν διοικεῖσθαι τὰ καθ' ἡμᾶς [...].Stobaeus, Eclogae, I.79.1 W8 (= SVF, II.945): <Χρύσιππος> δύναμιν πνευματικὴν τὴν οὐσίαν τῆς εἱμαρμένης, τάξει τοῦ παντὸς διοικητικήν. Gellius, Noctes Atticae, VII.2 (= SVF, II.1000): In <libro>8 <περὶ προνοίας> quarto εἱμαρμένην esse dicit <φυσικήν τινα σύνταξιν τῶν ὅλων ἐξ ἀϊδίου τῶν ἑτέρων τοῖς ἑτέροις ἐπακολουθούντων καὶ μεταπολουμένων ἀπαραβάτου οὔσης τῆς τοιαύτης ἐπιπλοκῆς>. Zum Zusammenhang von διοίκησις und Schicksal (εἱμαρμένη) siehe Bergjan 2002, 71ff. Bedenkt man nun, dass diese ebenfalls für die angeführten Nutzen verantwortlich sein soll, folgt daraus, dass sich nur ein unabhängiger Grund für die Existenz der Götter ergibt, und zwar die Schönheit des Kosmos, die dann erneut als Zeichen der Vorsehung gedeutet wird. Vor diesem Hintergrund ist auch der Appell von Marcus am Ende des zweiten Buches zu lesen. So ruft auch er die Schönheit und Ordnung des Kosmos auf, was eine gewisse Nähe zur stoischen Position signalisiert und die vermeintliche Distanzierung Ciceros von seiner emphatischen Bejahung der Wahrsagung in seiner früheren Schrift De legibus zusätzlich in Frage stellt (II.148; sowie De legibus, II.32-33). 2. Der Gegenstand der Wahrsagung Nachdem sich bereits die enge argumentative Verbindung zwischen Vorsehung und Wahrsagung abgezeichnet hat, soll diese im Folgenden weiter herausgearbeitet werden, indem wir den Gegenstand der Wahrsagekunst genauer fassen. Die Bestimmung des Gegenstandes ist auch für die Erfassung des wissenschaftlichen Charakters der Wahrsagung wesentlich. Entscheidend ist hierbei, dass es einen eigentümlichen Gegenstand für die Wahrsagung gibt, wie aus Marcus’ Kritik deutlich wird. Prinzipiell gilt nämlich, dass die anderen Wissenschaften ebenso Aussagen über künftige Ereignisse treffen. Denn selbst Ärzte, Bauern oder Steuermänner sehen nicht nur sehr vieles voraus, sondern sind darin wahrscheinlich auch besser als Wahrsager: So kann den Ausgang einer Krankheit am besten der Arzt bestimmen und die Entwicklung des Wetters sieht am sichersten der Steuermann voraus (I.112; II.12). Marcus grenzt deshalb die möglichen Objekte der Wahrsagekunst ein, indem er solche Gegenstände ausschließt, die bereits von anderen Wissenschaften bzw. der Philosophie behandelt werden oder aber unter gar keine bekannte Wissenschaft fallen (II.12). So sind auch die Stoiker der Ansicht, dass man all das, was sich „aufgrund einer Kunstlehre oder methodischen Überlegens oder der Erfahrung oder einer Deutung“ voraussagen lässt, nicht den Wahrsagern übertragen sollte, sondern den jeweiligen Sachverständigen (II.14). Zu Marcus’ Überraschung geben die Stoiker dann als mögliche Gegenstände des Vorausahnens solche Dinge an, „die zufällig seien“. Cicero, De divinatione, II.13: „[...] quae essent fortuitae.“ Neben fortuna spricht Cicero auch von fors, casus und eventus. Siehe II.15. Pease 1920, 68 bemerkt, dass es im Lat. „putantur” heißt. Das soll dafür sprechen, dass sich Quintus von der Bestimmung distanziert. Weil das nun aber mit späteren Stellen im zweiten Buch konfligiert, sieht Pease hierin einen Beleg für eine Entwicklung der stoischen Position. Dass nämlich der Zufall Gegenstand der Wahrsagung sei, soll nur Chrysipp bzw. Antipater behauptet haben, wohingegen Poseidonios aufgrund der skeptischen Einwände bemerkt haben könnte, dass dies mit der Auffassung eines kausalen Determinismus in Konflikt gerät. Die meisten Kommentatoren haben sich dieser haarsträubenden These angeschlossen. Siehe Repici 1995, 179, Timpanaro 1988 and Wardle 2006, 122. Das wirft jedoch zahlreiche Fragen auf, die von Marcus im Folgenden diskutiert werden. Ich möchte die Aufmerksamkeit vor allem auf zwei Kritikpunkte lenken, die wir etwas genauer fokussieren müssen: Zuerst macht Marcus darauf aufmerksam, dass auch die Voraussagen des Arztes, des Steuermanns und des Feldherrn prinzipiell zufällige Dinge betreffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Wetter, das der Steuermann voraussieht. Die Stoiker sollen jedoch erklärt haben, dass die Wettervorhersage nicht zum Geschäft des Wahrsagers gehöre (II.14). Ihre Zurückweisung ist deshalb sonderbar, weil sich Wetterphänomene dadurch auszeichnen, von einer Vielzahl von Faktoren verursacht worden zu sein, wobei der Komplexitätsgrad ihrer Verschränkung dazu führt, dass sie dem menschlichen Verstand größtenteils verborgen bleiben. Vorausgesetzt, dass der Zufall Gegenstand der Wahrsagung ist, würde das bedeuten, dass die Stoiker den Zufall gerade nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) so verstehen wollen, dass es sich um eine Vielzahl von unterschiedlichen wirksamen Ursachen handelt. Oder anders ausgedrückt, die dem „menschlichen Verstand verborgene Ursache“, SVF, II.966: „[...] ἄδηλον αἰτίαν ἀνθρωπίνῳ λογισμῷ [...].“ Siehe auch SVF, II.965; 970-973. die die Stoiker der Überlieferung zufolge mit dem Zufall identifizieren, wäre nicht nur einfach die Summe von zahlreichen kleinen, teils verdeckten Einflüssen. Wir kommen gleich hierauf zurück. Bemerkenswert ist nämlich auch die von Cicero beigebrachte Erklärung, weshalb er die Wetterereignisse als Beispiele für zufälliges Geschehen heranzieht. So sollen diese „nur in der Regel, nicht ausnahmslos eintreffen“ (II.14). Cicero, De divinatione, II.14: „plerumque enim, non semper eveniunt.“ Damit stellt Cicero das Wetter in den Bereich des prinzipiell kontingenten Geschehens, das nach Aristoteles im Allgemeinen die Sphäre des Sublunarischen (d. h. also des irdischen Geschehens) kennzeichnet. Das signalisiert wiederum eine gewisse Vertrautheit Ciceros mit der aristotelischen Philosophie. In dieselbe Richtung weisen auch die von Cicero herangezogenen Beispiele solcher Ereignisse, die dann tatsächlich Gegenstand der Wahrsagung sein sollen. Hierunter fällt etwa, dass jemand zufällig einen Schatz findet bzw. bei einem Schiffbruch ums Leben kommt (II.14; 18). Von diesen Ereignissen gilt nach Cicero, dass sich kein Grund erkennen lässt, weshalb sie eingetreten sind. „Eben dann nämlich sprechen wir doch von ‚Zufall’ [....].“ Cicero, De divinatione, II.15: „quid est enim aliud fors, quid fortuna, quid casus, quid eventus, nisi cum sic aliquid cecidit, sic evenit, ut vel non cadere atque evenire, ut vel aliter cadere atque evenire potuerit?“ Weil Cicero nun aber, wie etwa aus seiner Behandlung der epikureischen Position in De fato ersichtlich wird, Cicero, De fato, IX. die Möglichkeit eines gänzlich unverursachten Geschehens ausschließt, muss man ihn hier so verstehen, dass es keine Ursache geben soll, die an sich dieses Ereignis hervorgerufen haben könnte. Das bedeutet indes nicht, dass es keine akzidentelle Ursache hierfür gäbe, wie durch die ummittelbar anschließende Ausführung noch einmal unterstrichen wird: „[...] wenn etwas so eingetreten, so herausgekommen ist, daß es wohl auch anders hätte eintreten und herauskommen können. Wie sollte es also möglich sein, das vorauszuahnen und vorauszusagen, was planlos geschieht [...]?“ Cicero, De divinatione, II.15: „quo modo ergo id, quod temere fit caeco casu et volubilitate fortunae, praesentiri et praedici potest?“ Nimmt man die letzte Bestimmung hinzu, dass nämlich das zufällige Geschehen an sich planlos verläuft, dann ergibt sich zusammen mit der ersten Aussage, wonach der Zufall dem Bereich des Kontingenten zugeordnet werden müsse, eine fast vollständige aristotelische Bestimmung des Zufalls, wie man sie in Aristoteles’ Physik und Metaphysik finden kann. Aristoteles, Physica, 196a24ff.; Metaphysica, 1025a24ff. Zur aristotelischen Konzeption des Zufalls siehe Hahmann 2007. Hinzu käme lediglich, dass es sich um potentiell zielgerichtete Vorgänge handelt, d. h. also, dass das Zufällige durchaus als mögliche Absicht eines Handelnden gelten könne. Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass Cicero notwendigerweise die aristotelische Physik oder Metaphysik gekannt hätte. Möglich ist hingegen auch, dass die Bestimmung aus einer der Cicero bekannten (und heute leider verlorenen) exoterischen Schriften des Aristoteles entnommen worden ist Sicher hat Cicero den aristotelischen Protreptikos, der als Vorlage für den ebenfalls verlorenen Hortensius diente, sowie den Dialog Eudemos gekannt. Interpreten vermuten auch in de De divinatione Hinweise auf diesen beiden aristotelischen Schriften. Zu aristotelischen Elementen in De divinatione siehe Van der Eijk 1993, zu Cicero Wissen von Aristoteles siehe auch Fortenbaugh & Steinmetz 1989. oder aber von einem Nachfolger des Aristoteles im Peripatos (so etwa Theophrast). Hinzu kommt, dass Cicero mit dem Peripatetiker Kratippos, dem Lehrer seines Sohnes, persönlich bekannt war, dessen Schrift über die Wahrsagung als eine Vorlage von De divinatione gelten muss. Zu Ciceros Bekanntschaft mit Kratippos siehe Moraux 1973, 223-256. Doch auch hierzu später mehr. Wenden wir uns zuvor dem zweiten Kritikpunkt zu. Dieser schließt jetzt unmittelbar an die durch die stoische Physik und Logik gegebenen Voraussetzungen an. Noch einmal: Cicero wendet sich mit seiner an Aristoteles angelehnten Konzeption des Zufalls an die stoische Naturphilosophie und stellt fest, dass diese keinen Raum für zufälliges Geschehen lässt. Denn bekanntlich sind die Stoiker der Ansicht, dass ausnahmslos jedes Ereignis durch eine den ganzen Kosmos durchwaltende Gesetzmäßigkeit bestimmt wird: Am Ende seiner Rede wird dies von Quintus sogar als Begründung für die Möglichkeit der Wahrsagung herangezogen. Siehe Cicero, De divinatione, I.125-128. Theiler 1982, II., 300f. rechnet die ganze Passage dem Werk des Poseidonios zu. „Wenn aber die genannten Ereignisse und allgemein, was der gleichen Art zugehört, tatsächlich irgendeinem solchen unabwendbaren Gesetz folgen, was gäbe es da schließlich noch, wovon wir annehmen könnten, es breche einfach so herein oder geschehe aus barem Zufall? Denn nichts ist der Berechnung und der Regelmäßigkeit so sehr entgegengesetzt wie der Zufall, so daß es, wie mir scheint, nicht einmal für Gott zutrifft, daß er weiß, was einfach so hereinbrechen und was zufällig sein wird. Weiß er es nämlich, so wird es unbedingt eintreffen; wird es aber unbedingt eintreffen, so gibt es keinen Zufall; es gibt aber einen Zufall: also gibt es keine Vorahnung zufälliger Dinge.“ Cicero, De divinatione, II.18: „quodsi haec eaque, quae sunt eiusdem generis, habent aliquam talem necessitatem, quid est tandem, quod casu fieri aut forte fortuna putemus? nihil enim est tam contrarium rationi et constantiae quam fortuna, ut mihi ne in deum quidem cadere videatur, ut sciat, quid casu et fortuito futurum sit. si enim scit, certe illud eveniet; sin certe eveniet, nulla fortuna est; est autem fortuna; rerum igitur fortuitarum nulla praesensio est.“ Siehe auch II.19. Der erste Punkt weist auf die Unvereinbarkeit der Annahme eines alles bestimmenden Schicksals mit dem von Aristoteles für Zufall vorausgesetzten kontingenten Geschehen hin: Schicksal und Zufall schließen sich also, wenn man wie Cicero hier offenkundig Aristoteles folgt, gegenseitig aus. Das bedeutet aber wiederum, dass man den kausalen Zusammenhang der Welt, der uns oben bereits unter einer anderen Perspektive als Sympathie begegnet ist, nicht als eine Begründung der Wahrsagung anführen kann, wenn sich die Wahrsagung doch wesentlich auf zufällige Ereignisse richten soll. Der zweite Punkt, den Cicero deshalb betont, zielt auf die Unvereinbarkeit des Zufälligen mit dem Vorauswissen Gottes ab (II.25). Denn nicht einmal Gott soll das Kontingente vorauswissen können, da es schlichtweg der Natur des Zufälligen widerspricht (impliziert wird freilich, dass auch Gott das Unmögliche nicht zu leisten vermag). Wenig später ergänzt Marcus diese Kritik durch den Hinweis, dass unter der Voraussetzung einer Schicksalsfügung kein Nutzen durch die Wahrsagung bereitet wird (II.20). Setzt man nun voraus, dass Cicero mit der aristotelischen Konzeption des Zufalls arbeitet, ist bezeichnend, dass sich alle drei Kritikpunkte bei Alexander von Aphrodisias und dessen systematischer Auseinandersetzung mit der stoischen Konzeption des Schicksals wiederfinden lassen. Alexander von Aphrodisias, De fato, 200.12-204.5. Auch wenn Alexander Ciceros Darstellung wahrscheinlich nicht gekannt hat, liegt jedoch die Kritik aus einer aristotelischen Perspektive nahe. Problematisch ist das für unsere Untersuchung deshalb, weil dadurch der Blick auf die stoische Konzeption in gewisser Weise verstellt wird. Klar ist nämlich, dass die Stoiker eben aufgrund der zitierten naturphilosophischen Voraussetzungen den Zufall gerade nicht aristotelisch verstehen können. D. h. also, die Stoiker knüpfen den Zufall nicht an den Bereich des prinzipiell Kontingenten oder akzidentellen Geschehens. Das folgt freilich auch daraus, dass die Stoiker nicht in gleicher Weise wie Aristoteles zwischen wesentlichen und akzidentellen Eigenschaften unterscheiden können. Wichtiger ist aber noch zu sehen, dass die weitere aristotelische Voraussetzung, dass der Zufall nämlich dem planlosen Geschehen zuzuordnen sei, für die Stoiker unhaltbar wäre; zeichnet sich doch der Kosmos bzw. dessen schicksalhafte Ordnung gerade durch die alles umfassende Zweckhaftigkeit aus, die unmittelbar aus der ordnenden Kraft der Vorsehung hervorgeht, wie wir im vorausgehenden Abschnitt gesehen haben. Was verstehen die Stoiker dann jedoch unter dem Zufall, den sie zum Gegenstand der Wahrsagung machen? Stellt man in Rechung, dass der größte Teil von Ciceros Darstellung durch ein aristotelisches Verständnis des Zufalls dominiert wird, kann der Blick auf diejenigen Passagen frei geräumt werden, an denen Cicero tatsächlich der stoischen Konzeption nahe kommt. Eine vorsichtige Trennung der aristotelischen von den stoischen Elementen ermöglicht sogar die Entwicklung einer Position, die den oben dargelegten Einwänden Ciceros nicht (unmittelbar) zum Opfer fällt. So zitiert Cicero an einer Stelle Chrysipps Definition des Wahrsagevermögens: Demnach handelt es sich um „die Fähigkeit, welche die Zeichen erkenne, sehe und erkläre, die von den Göttern den Menschen dargeboten würden. Und seine Aufgabe besteht darin, im Voraus zu erkennen, wie die Götter den Menschen gegenüber gesinnt seien, was sie mit den Zeichen ankündigten und mit welchen Maßnahmen eine Sühnung bewirkt werden könne“. Cicero, De divinatione, II.130 (= FDS, 464): „vim cognoscentem et videntem et explicantem signa, quae a dis hominibus portendantur; officium autem esse eius praenoscere, dei erga homines mente qua sint quidque significent, quem ad modumque ea procurentur atque expientur.” Schon zuvor hat Marcus erwähnt, dass die Stoiker der Ansicht sind, der Zufall stehe mit dem „Willen der Götter in Verbindung“. Cicero, De divinatione, II.39: „[...] cum deorum voluntate coniunctam [...].“ Andere Stellen, an denen die enge Verbindung zwischen göttlichem Willen und Vorsehung anklingt, sind. II.47; 67; 131. Marcus hat freilich für diese Ansicht nur Spott übrig und fühlt sich darin durch die epikureische Kritik bestätigt. Wir erinnern uns, dass der Gegenstand der epikureischen Kritik vor allem die stoische Konzeption der Vorsehung ist. Diese umfasst als solche sowohl den göttlichen Willen (in der Form der Fürsorge für seine Geschöpfe) als auch dessen Voraussicht (nämlich der selbst angeordneten Ereignisse). Bedenkt man nun, dass die Stoiker den Zufall schließlich sogar mit dem Schicksal identifizieren, wie aus Alexanders von Aphrodisias hervorgeht, Alexander von Aphrodisias, De fato, 173.23-26 (in: SVF, II.968): οὕτως μὲν γὰρ οὐδὲν κωλύσει λέγειν ταὐτὸν εἱμαρμένην τε εἶναι καὶ τύχην καὶ τοσοῦτον ἀποδεῖν τοῦ τὴν τύχην ἀναιρεῖν, ὡς καὶ πάντα τὰ γινόμενα γίνεσθαι λέγειν [οὐκ] ἀπὸ τύχης. und das Schicksal wiederum mit der Vorsehung gleichsetzen (SVF, II.913), so bietet sich eine andere Interpretation der stoischen Bestimmung des Zufalls (als einer dem „menschlichen Verstand verborgenen Ursache“) an: Verborgen wäre demzufolge keine vorausgehende Ursache und auch kein Schwarm von Ursachen (wogegen, wie gesagt, schon die stoische Zurückweisung des Wetters als Gegenstand der Wahrsagung spricht), sondern eben der göttliche Wille bzw. der übergeordnete (teleologische) Plan des Geschehens. So betont Quintus, dass „omnia [...] divina mente notata“ (De divinatione, I.17). Ausgeführt wird der Plan durch das Schicksal („[...] haec fixa gravi fato ac fundata [...].“ De divinatione, I.20). Die theologische Komponente des stoischen Begriffs des Zufalls betont auch Simplicius in SVF, II.965. Bemerkenswert ist auch, dass Aristoteles die Existenz eines solchen Plans durch seine Konzeption des Zufalls bestreitet. Von einer aristotelischen Perspektive aus betrachtet wäre die stoische Konzeption des Zufalls tatsächlich völlig unverständlich, da für die Stoiker der Zufall eben nicht das bloß potentiell Zweckhafte ist – was also an sich ohne Ursache eintritt, auch wenn es eine akzidentelle Ursache aufweist – sondern die dem Menschen verborgene Ursache, die das Zusammentreffen der einzelnen Kausalketten angeordnet hat bzw. mit der Verkettung der einzelnen Kausalketten letztlich sogar identisch sein muss. Denn in der zielgerichteten Zusammenführung der einzelnen Kausalketten (die deshalb auch einen Kosmos ausmachen) äußert sich die teleologische Ordnung bzw. der vorsehende Plan Gottes. Dazu passt auch, dass Marcus spitz bemerkt, dass: „frage ich Chrysipp selbst nach den Ursachen aller dieser Erscheinungen, so wird er selbst doch ein Vorkämpfer der Wahrsager niemals behaupten, sie hätten sich zufällig eingestellt; vielmehr wird er für alle eine natürliche Erklärung geben: nichts kann nämlich ohne Ursache entstehen“. Cicero, De divinatione, II.61: „Quorum omnium causas si a Chrysippo quaeram, ipse ille divinationis auctor numquam illa dicet facta fortuito naturalemque rationem omnium reddet: ' Nihil enim fieri sine causa potest […].“ Gemeint ist damit nämlich, dass auch für Chrysipp jedes Ereignis eine vorausgehende, natürliche Ursache haben muss oder in aristotelischer Darstellung: Es gibt sowohl eine zeitlich vorausgehende Wirkursache dafür, dass der Schuldner morgens auf den Markt geht als auch dafür, dass sich sein Gläubiger dort aufhält. Für beide Ereignisse ließe sich also eine natürliche Erklärung finden, was Chrysipp freilich nicht bestreiten würde. Das Zusammentreffen beider Kausalketten ist jedoch an sich ohne anführende Ursache; es sei denn, man würde einen übergeordneten Plan voraussetzen. Und genau darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen Aristoteles und den Stoikern. Denn während Aristoteles dies bestreitet, gibt es für Letztere neben den natürlichen Ursachen auch diese übernatürliche (oder besser eine die gesamte Natur umfassende und zugleich teleologisch ordnende) Ursache und das ist die göttliche Vorsehung bzw. Absicht: Diese Ursache ist den Menschen jedoch dunkel, wie Marcus selber im Kontext der Behandlung der natürlichen Wahrsagung, etwa im Fall von Träumen zugibt. So sollen die Träume nicht nur selbst dunkel sein, sondern gerade durch ihre Dunkelheit einen Einblick in die Gesinnung der Götter vermitteln (II.131-132.). Der Hinweis darauf, dass auch Chrysipp für die geweissagten Ereignisse natürliche Ursachen anzugeben weiß, macht aber noch einen weiteren Punkt deutlich: Die oben angeführte Kritik berührt die stoische Theorie nämlich überhaupt nicht. Denn vorausgesetzt, die stoische Konzeption zielt auf die Verknüpfung der einzelnen Kausalketten ab, hat also die göttliche Vorsehung zu ihrem Gegenstand, so wäre der Zufall nicht nur kompatibel mit einem kausalen Determinismus, sondern würde diesen sogar voraussetzen, sozusagen als Ausführung der intendierten Ordnung. Dass es Cicero sehr gut bekannt war, dass die Stoiker einen wichtigen Unterschied zwischen einem bloßen natürlichen Mechanismus und einer zweckhaften Verbindung gesehen haben, wird erneut aus De natura deorum deutlich. In einer vor dem obigen Hintergrund umso bemerkenswerteren Passage lässt Cicero den Stoiker Lucilius Balbus Aristoteles dafür loben, als erster einen Unterschied zwischen der bloßen Natur und einer durch einen göttlichen Geist gelenkten Natur erkannt zu haben. Cicero, De natura deorum, II.44; zur Unterscheidung zwischen Natur, Zufall und göttlichem Verstand siehe auch II.88: „[...] hi autem dubitant de mundo, ex quo et oriuntur et fiunt omnia, casune ipse sit effectus aut necessitate aliqua an ratione ac mente divina [...].“ In zahlreichen Variationen findet sich diese Alternative bei Marcus Aurelius, Ad se ipsum, IV.3.2.7-8; IV.27.1.1-2; XI.18.1.4; XII.14.1.1-7; XII.24.1.2-4. Mit der bloßen Natur meinen die Stoiker jedoch einen unbarmherzigen kausalen Mechanismus, der sich von einer durch eine weise Vorsehung gelenkten Ordnung dadurch unterscheidet, dass letztere eine teleologische und damit zum Wohl der Menschen sowie aller anderen Geschöpfe bestimmte Ordnung aufweist. Unsinnig wäre es für die Stoiker nun auch anzunehmen, dass Gott den Zufall nicht voraussehen könnte. Immerhin handelt es sich um die durch seine Absicht selbst hergestellte Ordnung. Dass es Gott also prinzipiell unmöglich sein könnte, das zufällige Geschehen vorauszusehen, wie Marcus und nach ihm Alexander aus aristotelischer Perspektive durchaus plausibel einwenden, trifft für die Stoiker dezidiert nicht nur nicht zu, sondern ergibt sich lediglich aus eben dieser aristotelischen Perspektive. Das an sich kontingente bzw. akzidentelle Geschehen kann es unter den naturphilosophischen Voraussetzungen der Stoiker indes nicht geben und wäre auch in Ansehung ihrer übergeordneten theologischen Ausrichtung nicht wünschenswert. Schließlich lässt sich aus den stoischen Ausführungen eine Antwort auf die Frage ablesen, was für einen Nutzen die Wahrsagung bereiten kann, wenn alles durch ein Schicksal festgelegt ist. Rufen wir uns dazu noch einmal Chrysipps Bestimmung der Wahrsagung ins Gedächtnis: So soll es sich um ein Vermögen handeln, „welche die Zeichen erkenne, sehe und erkläre, die von den Göttern den Menschen dargeboten würden. Und seine Aufgabe besteht darin, im Voraus zu erkennen, wie die Götter den Menschen gegenüber gesinnt seien, was sie mit den Zeichen ankündigten und mit welchen Maßnahmen eine Sühnung bewirkt werden könne“. Cicero, De divinatione, II.130. Siehe oben Anm. 45. Wir wissen jetzt, dass mit der Erkenntnis der göttlichen Gesinnung gegenüber den Menschen der Zufall gemeint ist, und zwar insofern dieser die zweckhafte Verbindung der einzelnen Kausalketten bezeichnet. Wie lässt sich aber eine Gesinnung vermitteln? Indem man sich mitteilt. Das geschieht wiederum durch Zeichen, die deshalb auch nicht Ursache der bezeichneten Dinge zu sein brauchen, sondern lediglich eine Bedeutung transportieren können müssen. Wenn Gott etwa seine Absicht, den anbahnenden Hochmut eines ausgezeichneten Sportlers dadurch zu unterbinden, dass er ihm mit einer Virusinfektion vor den entscheidenden Wettkämpfen straft, durch die Lenkung der Vögel offenbart, dann sind die Vögel offensichtlich nicht Ursache der Infektion, auch wenn ihr Flug das Ereignis und die dahinter stehende Gesinnung bezeichnen können. Die unmittelbare Ursache der Infektion war hingegen die Aufnahme der Erreger sowie eine geschwächten Immunabwehr. Der Nutzen des Sportlers kann (zumindest aus der aufgeklärten Perspektive des Stoikers Zum Nutzen der Wahrsagung siehe unten Abschnitt 3.) nicht darin bestehen, dass er sich, durch die Ankündigung unterrichtet, warm anzieht, um der Ansteckung zu entgehen. Denn alle vorausgehenden Ursachen sind tatsächlich bestimmt und es wird mit Notwendigkeit zur Infektion kommen (seine eventuelle Einflussnahme ist von Gott ja bereits vorausgesehen und in den Verlauf eingeplant). Der Nutzen wird für die Stoiker vielmehr darin bestehen, zu erfahren, dass dieses Ereignis gottgewollt und deshalb auch Teil eines höheren Planes ist, der zuletzt nur das Beste für die Menschen beabsichtigt. Das einzusehen und sich dieser göttlichen Absicht zu versichern, verspricht dem Stoiker tatsächlich den größten Nutzen, bestärkt es ihn doch darin, das durch Gottes Willen Gebotene freiwillig anzunehmen und mit unerschütterlicher Haltung zu ertragen. Der wahre Vorteil läge also nicht darin, dem Unheil zu entgehen (vorausgesetzt, die Götter hätten es nicht ebenso bestimmt, dass man diesem entgeht), sondern besteht vielmehr in der Einsicht, dass sich alles der Vorsehung gemäß ereignet und damit auch zum Wohl des Einzelnen und des ganzen Kosmos. Einschränkend muss man allerdings sagen, dass dieser Nutzen leider auf eine kleine Gruppe ausgezeichneter Stoiker beschränkt bleibt. So kann etwa Ödipus, wie Alexander von Aphrodisias in seiner Kritik spitz bemerkt, keinen Nutzen aus der Weissagung ziehen. Ihm fehlt es schlicht an Einsicht bzw. der richtigen Philosophie, die seine Verfassung in Übereinstimmung mit dem natürlichen Verlauf der Welt gebracht hätte. Aus diesem Grund betonen die Stoiker auch, dass letztlich nur der Weise ein guter Wahrsager sein werde. Das versteht sich nun in gewisser Hinsicht von selbst. Denn nur der Weise hat sich in seiner Verfassung Gott angeglichen, weshalb dessen Gedanken ihm auch nicht länger dunkel erscheinen sollten. Zur Gottgleichheit des Weisen siehe Seneca, De constantia sapientis, VI.7; VIII.2; Epistulae morales, 75.18; 124.11; Cicero, De legibus, I.23-25; Cicero, Tusculanae disputationes, I. 38, 91; 30, 74; 31,76; SVF, III, 544-684. 3. Die Wissenschaftlichkeit der Wahrsagung Kommen wir schließlich zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Wahrsagung. Es macht wenig Sinn, die stoische Konzeption der Wahrsagung vor dem Hintergrund eines modernen Verständnisses von Wissenschaftlichkeit zu diskutieren. Das sieht Hankinson 1988, 123 anders. Er motiviert seine Fragestellung ausgehend von Poppers Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Auch wenn sich Hankinson von dieser Einteilung distanziert, will er doch zeigen, dass „divination was [...] the result of careful reflection on the nature and structure of the universe“ (125). Seine Untersuchung lässt somit das prinzipiell Andere des antiken Ansatzes nicht zu, sondern erkennt nur das Vormoderne hierin. Aus demselben Grund betont er auch die besondere Rolle von Naturgesetzen bzw. Kausalerklärungen. Erstere finden sich jedoch nicht in der geforderten und beschriebenen Weise bei den Stoikern und Letzteres ist umstritten. Zum Begriff des Naturgesetztes in der Stoa siehe hingegen Kullmann 2010. Dagegen spricht nicht zuletzt auch der Gegenstand der Wahrsagung. Stattdessen gilt es, diese anhand der von den Stoikern selbst beigebrachten Kriterien zu bewerten. Prinzipiell unterscheiden die Stoiker zwischen Wissen und Nicht-Wissen, wobei sie die Meinung zum Nicht-Wissen rechnen. Zwischen Meinung und Wissen setzen sie die Erkenntnis (oder κατάληψις) an. Die Erkenntnis kann (muss aber nicht) zum Wissen werden. Entscheidend ist hierbei der Grad der Zustimmung (συγκατάθεσις), d. h. die Festigkeit, mit der ein Urteil über den Gehalt einer erkenntnistauglichen Vorstellung gefällt wird. Cicero illustriert die stoische Unterscheidung anhand eines Beispiels, das auf Zenon zurückgehen soll: „Und eben dies pflegte Zenon mit einer Geste zu unterstreichen. Denn er hielt einem die Hand mit ausgestreckten Fingern entgegen und sagte: "Von dieser Art ist die Vorstellung"; anschließend zog er die Finger ein wenig zusammen und erklärte: "Von dieser Art ist die Zustimmung"; wenn er sie dann fest zusammengepreßt und eine Faust gemacht hatte, sagte er, dies sei die Erkenntnis (,Erfassung') (conprensio), von welcher Illustration her er die Sache auch mit dem Namen κατάληψις betitelte, den es vorher nicht gab; schließlich nahm er die linke Hand dazu, umfaßte damit eng und kräftig die Faust und erklärte, solcherart sei das Wissen [...], über das [...] niemand anderes als allein der Weise verfüge.“ Cicero, Academica priora, 47,145 (= FDS, 369): „et hoc quidem Zeno gestu conficiebat. nam cum extensis digitis adversam manum ostenderat, ,visum' inquiebat ,huius modi est'; dein cum paulum digitos contraxerat, ,adsensus huius modi'; turn cum plane conpresserat pugnumque fecerat, conprensionem illam esse dicebat, qua ex similitudine etiam nomen ei rei, quod ante non fuerat, κατάληψιν imposuit; cum autem laevam manum admoverat et illum pugnum arte vehementerque conpresserat, scientiam talemesse dicebat, cuius compotem nisi sapientem esse neminem.“ (Übersetzung: Karlheinz Hülser) Von der Sonderrolle des Weisen haben wir bereits gehört; hier interessiert uns vor allem, dass der Unterschied zwischen bloßer Zustimmung (aus der die Meinung hervorgeht), Erkenntnis und Wissen nicht durch den Gegenstand der Vorstellung, sondern durch die Disposition des Vorstellenden bewirkt wird. Entscheidend ist somit die Verfassung (habitus / ἕξις) des Erkennenden. Mit der Verfassung des Erkennenden meinen die Stoiker auch eine besondere Spannkraft des Führungsvermögens. Sextus Empiricus, Pyrrhoniae hypotyposes, III.188 = FDS, 379. In eine ausgezeichnete Verfassung bringt den Menschen nun die Wissenschaft, die mithin etwas erzeugt, und zwar indem sie methodisch voranschreitet. Deshalb wird sie von den Stoikern auch als Kunst (ars/τέχνη) betrachtet. Die gewünschte Verfassung stellt sich also ein, wenn durch eine gemeinsame, methodische Einübung ein System von Erkenntnissen erzeugt wird. Die Wissenschaft gleicht dabei dem Wissen darin, dass sie sich aus einzelnen Erkenntnissen zusammensetzt, weshalb die Stoiker nach Sextus die Wissenschaft als ein System von Erkenntnissen definieren (σύστημα ἐκ καταλήψεων). Siehe Sextus Empiricus, Pyrrhoniae hypotyposes, III.241 = FDS, 378. Geschieht dies zum Nutzen des Trägers handelt es sich um eine gute Kunstfertigkeit. David, Prolegomena philosophiae, 14 p. 43.30-44,17 = FDS, 393 A. Laut Chrysipp soll die „Wissenschaft [...] folglich ein Habitus sein, der mit Methode unter Vorstellungen voranschreitet“ (Übersetzung: Karlheinz Hülser, modifiziert). Olympiodorus, In Platonis Gorgiam, 12.1 p. 69sq = FDS, 392: Κλεάνθης τοίνυν λέγει ὅτι ‘τέχνη ἐστὶν ἕξις ὁδῷ πάντα ἀνύουσα’. ἀτελὴς δ' ἐστὶν οὗτος ὁ ὅρος, καὶ γὰρ ἡ φύσις ἕξις τίς ἐστιν ὁδῷ πάντα ποιοῦσα· ὅθεν ὁ Χρύσιππος προσθεὶς τὸ ‘μετὰ φαντασιῶν’ εἶπεν ὅτι ’τέχνη ἐστὶν ἕξις ὁδῷ προϊοῦσα μετὰ φαντασιῶν’. Hieraus ergeben sich somit die drei vorrangig von den Stoikern als Kriterien für Wissenschaftlichkeit angesehenen Eigenschaften: An erster Stelle steht der systematische Charakter, der zweitens die Folge einer methodisch geführten gemeinschaftlichen Einübung sein soll, d. h. auf Erfahrung beruht. David, Prolegomena philosophiae, 14 p. 43,30-44,17 = FDS, 393 A; Olympiodorus, In Platonis Gorgiam, 2,2, p.17 = FDS, 393. Drittens geschieht das zum Nutzen des Wissenden. Wenn diese Punkte auch für die Wahrsagung bestätigt werden können, erklärt sich, weshalb die Stoiker sie als Wissenschaft betrachtet haben. Schauen wir uns zunächst die ersten beiden Kriterien an: die Systematik und die methodische Einübung in der Erfahrung. Relevant in der Beurteilung der Wahrsagung ist in diesem Fall, dass die Stoiker zwischen einer künstlichen und einer natürlichen Wahrsagung differenziert haben sollen. Erstere zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf einer Kunstfertigkeit beruht, wohingegen Letztere in gewisser Weise aus der Natur selbst hervorgeht. Cicero, De divinatione, I.11; I.34. Hankinson 1988, 126 hebt den platonischen Ursprung der Unterscheidung hervor (siehe Apologie, 22b-c, Menon, 99b-d; Phaidros, 243c-d). Cicero selbst spricht von einer sehr alten Auffassung („antiquissimam sententiam“ De divinatione, I.11). Siehe auch unten Anm. 65. Beide unterscheiden sich also zunächst durch den Ursprung der gedeuteten Zeichen. Die künstliche oder kunstmäßige Wahrsagung stützt sich auf natürliche bzw. beobachtbare Phänomene, wohingegen die natürliche Wahrsagung ihre Zeichen aus einer unmittelbaren göttlichen Beeinflussung erhält (I.11; 70). Hierzu gehören Visionen, die die Menschen in Träumen oder Zuständen des Wahnsinns bzw. Rausches erfahren. Die Frage ist nun, ob die Zeichen in jedem Fall gedeutet werden müssen und ob diese Deutung eine gewisse Expertise voraussetzt. Letztere setzte Systematik und vielfache Erprobung (d. h. Erfahrung) voraus, was somit die ersten beiden Kriterium der Wissenschaftlichkeit erfüllen würde. Für die künstliche Wahrsagung soll dies ohne Einschränkung gelten (I.25). Den Zusammenhang mit der kausalen Ordnung der Welt betont Watson 1980, 58. Nicht eindeutig ist hingegen Ciceros Darstellung der natürlichen Wahrsagung. So will Quintus zunächst nicht ausschließen, dass diese der Expertise nicht bedarf („sine ratione et scientia“). Cicero, De divinatione, I.4; ebenso I.12. Hankinson zufolge sollen die Stoiker deshalb nur die künstliche Wahrsagung als wissenschaftlich betrachtet haben, da nur diese auf einem System von Erklärungen beruht (S.137f.). Nach Diogenes Laërtius, VII.149 sowie Cicero, De natura deorum, II.166-7 und De divinatione, II.115-116 setzt jedoch auch die natürliche Wahrsagung eine spezielle Kunst der Deutung voraus. Quintus Einschätzung könnte jedoch darauf zurückgeführt werden, dass er sein Material sowohl aus stoischer als auch aus aristotelischer Quelle geschöpft hat. So wissen wir, dass Kratippos die Möglichkeit einer künstlichen Wahrsagung prinzipiell ablehnt und stattdessen lediglich die natürliche gelten lässt. Für letztere liefert er eine Begründung, die einen platonischen Ursprung erkennen lässt und eine Gemeinschaft des rationalen Seelenteils mit dem überindividuellen Nous bedingt. Folgt aus der Gemeinschaft, dass tatsächlich keine zusätzliche Deutung der Ereignisse nötig sein sollte, da aufgrund der unmittelbaren Verbindung keine Zeichen für die göttliche Gesinnung vermittelt werden müssen, dann bräuchte diese Form der Wahrsagung entsprechend auch nicht systematisch zu verfahren. Folglich könnte es sich nicht um eine Wissenschaft im stoischen Sinn handeln. An anderer Stelle wird jedoch betont, dass Träume ebenfalls eine Deutung nötig haben, da auch hier lediglich Zeichen gegeben werden, die auf ein Bezeichnetes bezogen werden müssen (I.115-117). D. h., die Zeichen würden wiederum mit Ereignissen korrelieren und ergeben daher zusammen ein sprachliches System, aus dem sich die göttliche Absicht mehr oder weniger gut ablesen lässt. Das Ganze ist erneut abhängig von einem gelehrten Deuter. Cicero bringt explizit Chrysipp (bzw. Antipater) mit dieser Auffassung in Verbindung (so etwa I.39). Später wird auch Poseidonios genannt (De divinatione, I.127f.). Dies spricht wiederum dafür, dass auch hier – wie bei der Behandlung des Zufalls – eine Vermischung zwischen stoischen und aristotelischen Gedanken vorliegt. Das macht es zumindest fraglich, ob die Stoiker der natürlichen Wahrsagung die Wissenschaftlichkeit abgesprochen haben, vorausgesetzt sie haben überhaupt die klassische Einteilung übernommen. Theiler 1982, Bd. 2, 292 schließt nicht aus, dass zumindest Poseidonios auch andere Einteilungen genutzt haben könnte. Wenden wir uns mit diesem ambivalenten Ergebnis dem letzten Kriterium zu, welches den Nutzen der Wahrsagung betrifft. Auch hier muss man differenzieren, und zwar zwischen dem Nutzen, den die Wissenschaft allgemein bietet und einem solchen, den speziell der Stoiker hieraus ziehen kann. So liegt der allgemeine Nutzen der Wahrsagung auf der Hand. Denn, so fragt Quintus, welchen größeren Nutzen kann es für den Menschen geben, als die Zukunft vorauszuwissen? Ein Vorauswissen erlaubt eine Vorbereitung bzw. Vermeidung geweissagter Übel. Zum Nutzen der Mantik siehe Cicero, De divinatione, I.38.82-39.84 = FDS, 466: „neque nostra nihil interest scire ea quae eventura sint: erimus enim cautiores si sciemus […].” Zur Wissenschaftlichkeit der Mantik siehe Diogenes Laërtius, VII. 149 = FDS, 463. Letzteres wäre unter den stoischen Voraussetzungen jedoch, wie gesagt, in letzter Konsequenz unmöglich. Aufgrund des vorherbestimmten Ablaufs der Ereignisse müsste sowohl die Weissagung als auch die einsetzende Änderung des Verhaltens von Gott bereits zu Beginn der Welt eingeplant worden sein. Der Ablauf selbst ist nämlich nicht nur notwendig, sondern überdies auch bestmöglich, erlaubt mithin keine Korrekturen. Daraus ergibt sich nun der Nutzen der Wahrsagung speziell für den Stoiker: Insofern nämlich die Wahrsagung auch das Vorausahnen der Einstellung der Götter gegenüber den Menschen betrifft, entspricht sie in gewisser Weise dem göttlichen Vorherwissen der Zukunft. Das folgt zum einen daraus, dass für Gott die Zukunft zugleich Vergangenheit ist, weil er aufgrund der zyklischen Zeitauffassung unendlich oft dieselbe Welt gesehen hat. Zum anderen sieht Gott als Schöpfer der Welt sein Werk im Geist voraus, bevor er daran geht, seinen wohlwollenden Willen in die Tat umzusetzen. Siehe dazu Alexander von Aphrodisias, De providentia, (nur in arabischer Übersetzung erhalten) 6: „Denn sie behaupten, nichts entstehe ohne Vorsehung, alles sei von Gott erfüllt und er durchdringe alles Existierende. Deshalb hänge die Entstehung aller Dinge von dem Entschluß der Götter ab, insofern sie für die Dinge sorgten und ein jedes von ihnen leiteten.“ (Übersetzung: H. J. Ruland) Mit Blick auf den durch die Wahrsagung erzeugten Habitus würde daraus aber folgen, dass sie schließlich die Angleichung des menschlichen Sinnes an das Göttliche bewirkt und damit dazu beiträgt, die höchste den Menschen gestellte Aufgabe zu erfüllen: sich einem Gott anzugleichen. Hierauf spielt Cicero gleich zu Beginn seiner Schrift in der Lobpreisung der Wahrsagekunst an (De divinatione, I.1): „magnifica quaedam res et salutaris [...] quaque proxime ad deorum vim naturam mortalis possit accedere.“ 4. Ergebnis Ich fasse zum Schluss die Ergebnisse der Untersuchung kurz zusammen. Wir haben gesehen, dass die Existenz der Wahrsagung von den Stoikern eng an die vorsehende Aktivität Gottes geknüpft wird. In der Erkenntnis der göttlichen Absicht liegt auch der Gegenstand der Wahrsagung, da sich die Absicht dem Menschen als dunkle und zugleich zufällige Ursache präsentiert. Wird die Wahrsagung wissenschaftlich betrieben, erzeugt sie durch das methodische Einüben der Erkenntnis göttlicher Zeichen einen Habitus, der zur Einsicht in die göttliche Vorsehung befähigt. Denn die Kenntnis der gottgewollten Ereignisse ist für die Stoiker von entscheidender Bedeutung. Ein gutes Beispiel hierfür liefert Kleanthes’ Zeushymnus, der die naturgemäße Haltung vor allem in der Annahme der göttlichen Vorsehung sieht (SVF, I.537). Vorausgesetzt, die Wahrsagung hätte es primär mit eben dieser Vorsehung zu tun, so würde daraus folgen, dass die Wahrsagung für die Stoiker zur ersten Wissenschaft gerechnet werden muss, die in ihrem Rang der Philosophie zumindest gleichgestellt ist. Denn insofern sie es mit dem vorsehenden Willen Gottes zu tun hat, wäre sie das menschliche Pendant zum göttlichen Plan, der hinter der Schöpfung selbst steht. Damit würde die Wahrsagung aber einen wirklichen Einblick gewähren in die Gedanken Gottes vor der Schöpfung. Im Unterschied etwa zu Hegel, der in seiner Logik lediglich „die Darstellung Gottes [sieht; A. H.], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ (Wissenschaft der Logik l; Einl., S. 44), erfasst. Literatur Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, übersetzt und kommentiert von Andreas Zierl, Berlin 1995. Alexander von Aphrodisias, Über die Vorsehung, aus dem arab. übersetzt und hrsg. von H. J. Ruland, Diss. Saarbrücken 1976. Beard, Mary, „Cicero and Divination: The Formation of a Latin Discourse“, in: The Journal of Roman Studies, 76 (1986), 33-36. Bergjan, Silke-Petra, Der fürsorgende Gott. Der Begriff der Pronoia Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche, Berlin, New York 2002. Cicero, Marcus Tullius, Über die Wahrsagung / De divinatione, hrsg., übersetzt und erläutert von C. Schäublin, München, Zürich 1991. Cicero, Marcus Tullius, On Divination / De Divinatione. Book I. 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