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Markus Witte / Jan Christian Gertz
(Hg.): Hermeneutik des Alten
Testaments
Rezensiert von: Torsten Uhlig
Ausgabe: 2020-10
Markus Witte / Jan Christian Gertz (Hg.): Hermeneutik des Alten Testaments (VWGTh
47), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017, 220 S., € 48,–, ISBN 978-3-374-05092-5
Auf die von dem Berliner evangelischen Systematiker Notger Slenczka ausgelöste
Debatte um die Geltung des Alten Testaments in der Kirche (Slenczka selbst hat die
Debatte dokumentiert: www.theologie.huberlin.de/de/professuren/professuren/st/AT), antwortet der vorliegende Aufsatzband
der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, herausgegeben von den
Alttestamentlern Markus Witte (Berlin) und Jan Christian Gertz (Heidelberg).
Jeder der darin enthaltenen Aufsätze ist unbedingt lesenswert, und die meisten von
ihnen auch unbedingt zu lesen – ob zustimmend oder in kritischer
Auseinandersetzung.
Im Einzelnen handelt es sich um: Manfred Oeming: Der Kampf um das Alte
Testament. Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des
christlichen Kanons (1–40), Ludger Schwienhorst-Schönberger: Einleuchtend. Führt
das christlich-religiöse Bewusstsein zur Herabstufung des Alten Testaments? (41–55),
Thomas Söding: Im Klang des Wortes Gottes. Gesetz, Psalmen und Propheten im
Markusevangelium (56–70), Oda Wischmeyer: Paulus als Hermeneut der γραφη
(71–94), Volker Henning Drecoll: Das Alte Testament in der Alten Kirche (95–110),
Markus Wriedt: Nisi scritpurae dederimus prinipem locum. Zur Hermeneutik des
Alten Testaments bei Martin Luther und im Zeitalter der Reformation (111–132), Jörg
Lauster: Händels Auferstehung. Die affirmative Genealogie des Christentums und das
Alte Testament (133–143), Notger Slenczka: Rezeptionshermeneutik und
Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis (144–165),
Alexander Deeg: „Auch für dich“ und das messianische „heute“. Überlegungen zur
Hermeneutik des Alten Testaments aus homiletischer Perspektive (166–187), Michael
Fricke: Bedeutung und Umgang mit dem Alten Testament in der Religionspädagogik
(188–208). Ein Register zu Autoren und Bibelstellen sowie ein Verzeichnis der
Autoren beschließen den Band, der durch ein Vorwort der Herausgeber eingeleitet
wird, in dem die jeweiligen Aufsätze knapp zusammengefasst sind.
Der sehr begrenzte Raum lässt hier nur einige Stichpunkte zum Inhalt und wenige
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Hinweise zur kritischen Würdigung der Aufsätze zu, die jeder eine weit
ausführlichere Besprechung erforderten.
Der Heidelberger Alttestamentler Manfred Oeming setzt die kritischen Stimmen zum
Alten Testament in der Gegenwart („die Angreifer“) in Beziehung zu den
divergierenden Bewertungen des Alten Testaments im Neuen, fasst wichtige
Strategien und einzelne Vertreter zusammen, die für die Bedeutung des Alten
Testaments argumentieren („die Verteidiger“, insgesamt 12 Unterpunkte) und
schließt mit dem Versuch einer persönlichen Antwort auf die Aufgabe einer
Hermeneutik des Alten Testaments, die insbesondere den über die Christologie
hinausgehenden Beitrag der Gotteslehre als Pluralität der Zugänge zu Gott
herausstellt.
Neben vielen wertvollen Beobachtungen und markanten Formulierungen sei
hingewiesen auf 1) die Erinnerung (oder für viele: die Neuentdeckung) eines
Aufsatzes von Ernst Würthwein aus dem Jahre 1934, dem Oeming auch heute noch
wichtige Impulse entnehmen kann; 2) auf die mit markanten selbstkritischen
Formulierungen eingeforderte Neuausrichtung der alttestamentlichen Wissenschaft;
3) auf Oemings Aufweis (in Reaktion auf Slenczka), dass gerade auch historischkritische Exegese eben nicht (notwendig) zu den viel zu undifferenzierten
Schlussfolgerungen führt, die Slenczka zieht; 4) auf die Bestimmung zentraler
Aufgaben alttestamentlicher Wissenschaft und 5) die Forderung Oemings, „Theologie
soll Theologie sein“ und dürfe nicht exklusiv nur Christologie betreiben (39).
Der katholische Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger führt seine
bereits veröffentlichte Kritik an den Thesen von N. Slenczka fort, wonach durch die
vorgeordnete Rolle des religiösen Selbstbewusstseins, an dem sich auch der Kanon
messen muss, eine Kritik an diesem selbst nicht mehr möglich ist. Zu beachten ist
dieser Beitrag u. a., da er die sonst meist zu wenig beachtete Frage nach dem
Verhältnis von Kirche und Kanon/Heilige Schrift mit berührt.
Der katholische Neutestamentler Thomas Söding sieht in Anknüpfung an Joseph
Ratzinger eine wesentliche Aufgabe darin, eine Hermeneutik der Bibel von einer
Theologie des Wortes Gottes her zu rekonstruieren, bei der das Wort Gottes nicht mit
der Theologie der Bibel gleich zu setzen ist, sondern wo das Wort Gottes „polyphon“
in der Theologie der Bibel anklingt. In seinem Durchgang durch das
Markusevangelium erweist sich für Söding dessen Bezug auf Gesetz, Psalmen und
Propheten als konstitutiv und schließt daraus, dass im Markusevangelium die
Verkündigung Jesu konfliktreich auf die Bibel Israels bezogen ist, ohne diesen aber
„in der Luft hinge“, denn Gott ist mit sich selbst identisch (vgl. 69). Damit bringt
Söding in die Debatte den differenzierten Bezug auf das Alte Testament bei Markus,
den Wert der vielgestaltigen Zeugnisse von Gott, das notwendig konfliktreiche
Verhältnis der kanonischen Schriften ein sowie das Plädoyer, die Bibel nicht auf
„theologische Inhalte“ zu reduzieren.
Einen weiteren, wichtigen Beitrag zum differenzierten Gebrauch des Alten
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Testaments im Neuen Testament liefert die Erlanger emeritierte Neutestamentlerin
Oda Wischmeyer. Ihrer Skizze zum Schriftgebrauch bei Paulus (die Septuaginta ist
ihm selbstverständliche Anrede Gottes, benötigt den Schriftbezug aber nicht in allen
Argumentationen; sein Evangelium basiert auf „der Schrift“ aber überbietet sie auch;
Verhältnis von Buchstabe und Geist) stellt sie maßgebliche Positionsbestimmungen
voran zum Verhältnis von Kirche und Theologie, den unterschiedlichen
theologischen Disziplinen und wie diese zur Frage nach der Bedeutung des Alten
Testaments in der Kirche betroffen sind sowie in Bezug auf die verschiedenen
Kanongestalten in den unterschiedlichen Konfessionen. Beide Teile sind der
intensiven Beschäftigung anbefohlen.
Dass bei der Frage nach der Kanonizität des Alten Testaments an einer gründlichen
historischen Arbeit kein Weg vorbeiführt (so wenig sie freilich darin aufgeht!), zeigt
der Beitrag des Kirchenhistorikers Volker Henning Drecoll. Er erweist die pauschalen
Urteile über Markion, die Gnosis und die Manichäer als zu simpel, hebt die Pluralität
des Judentums zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments hervor und die dem
entsprechende Pluralität der Heiligen Schriften (mit bedenkenswerten Implikationen
für das Verhältnis von Judentum und Christentum und die Kanongeschichte). Mit
einigen Hinweisen zur großen Bedeutung des Alten Testaments in der Alten Kirche
in seinem Gebrauch im Gottesdienst und seiner Bedeutung in der Theologie und
Exegese und auswertenden Überlegungen schließt Drecoll.
In den durchaus mannigfaltigen Bezugnahmen auf Luther in der Debatte bietet
Markus Wriedt wichtige Orientierungshilfen. Diese bestehen vor allem darin, dass er
den dynamischen Charakter der Verhältnisbestimmungen Luthers wahrt und
hervorhebt, und zwar was das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament
betrifft wie die Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Wriedt schließt seine Skizze
mit Überlegungen zum Beitrag Luthers in gegenwärtigen Debatten.
Dass sich das Schleiermacher’sche Theologiemodell auch mit einer positiveren
Haltung zum Alten Testament verbinden ließe, versucht Jörg Lauster zu zeigen. Dies
gelänge dann, wenn man die alttestamentlichen Gehalte als Repräsentationen von
Gotteserfahrung sieht (so interpretiert Lauster das personale Gottesverständnis im
Alten Testament; vgl. 138) und die Ideengeschichte hinter der Entstehung der
alttestamentlichen Texte rekonstruiert. Er kombiniert damit den
Schleiermacher’schen religiösen Subjektivismus mit einem geschichtstheologischen
Ansatzpunkt. Demnach würde das Alte Testament wichtige „Anfangsimpulse“ setzen
für die Ideengeschichte und deren begriffliche Durchdringung im Christentum.
Dieser Beitrag reizt schon angesichts der Voten von Söding und Oeming (Bibel darf
nicht auf „theologische Inhalte“ reduziert werden; Pluralität der Zugänge zu Gott)
zum Widerspruch.
Notger Slenczka selbst geht in seinem Aufsatz dem ambivalenten Verhältnis von
Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip nach und bietet einen bedenkenswerten
Versuch, das Anliegen in der Hermeneutik Luthers mit zentralen Einsichten der
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Rezeptionsästhetik zu verbinden.
Vieles ist zu würdigen an diesem Aufsatz: Da ist die Intensität, mit der sich S.
Entwicklungen in den Bibelwissenschaften aneignet und durchdringt und diese den
Erfordernissen nach systematischen Klärungen und Präzisierungen aussetzt bzw.
mit diesen konfrontiert (siehe auch Oemings Votum im Blick auf die „Zunft der
Alttestamentler“). Da ist die Problematisierung einer vereinfachenden Übernahme
der Intertextualitätshermeneutik. Da ist die klärende Bestimmung des Kanons als
Begrenzung von Pluralität. Da ist die hilfreiche Klärung des Verhältnisses von
Luthers Hermeneutik (passive Rolle) und der Einsicht in die konstitutive Rolle des
Lesers (aktive Beteiligung). Da ist die bedenkenswerte Differenzierung zwischen
Haupttext und Nebentexten in der Intertextualitätshermeneutik und die Aufnahme
von Ricœurs Hermeneutik. Anzufragen wäre in Bezug auf den Kanonbegriff, ob in
diesem nicht die Argumente für die „Mitte der Schrift“ an die Stelle ihres
kanonischen Umfangs tritt und ob die ausschließliche Orientierung an der
„Selbstdeutung des Lebens“ nicht mindestens in der Gefahr steht, weitere Themen
der Theologie aus dem Blick zu verlieren, die nicht an der Selbstdeutung zu messen
sind (Bsp. Hymnus/Lobpreis).
Der Praktische Theologe Alexander Deeg (Leipzig) skizziert, wie er sich die Predigt
des Alten Testaments als „Predigt im Angesicht des Judentums“ (Rudolf Bohren)
vorstellen kann als Neuakzentuierung der homiletischen Hermeneutik Luthers. Geht
es Luther beim Predigen um „die Ansage und Zusage der Relevanz der biblischen
Botschaft“ – und zwar „für dich“ (also individuell und persönlich) und „heute“ (also:
in der jeweiligen Lebenssituation), sollte dies im Kontext des jüdisch-christlichen
Dialogs dahingehend verändert werden, dass die alttestamentlichen Texte „auch für
dich“ (neben dem Judentum) und in das „messianische heute“ (d. h. in Erwartung
und Hoffnung, dass sich die biblischen Zusagen als Erfahrung der Gegenwart Gottes
erfüllen) sprechen.
Schließlich verdient der Aufsatz von Michael Fricke mit seiner Bestandsaufnahme
zur Stellung des Alten Testaments in der Religionspädagogik Beachtung, da in diesem
gut sichtbar wird, welche Auswirkungen hermeneutische Entscheidungen in der
Praxis haben und wie diese wiederum eine Klärung der Hermeneutik erfordern.
Wer sich den hier vorgetragenen Überlegungen, historischen Rekonstruktionen und
nuancierten hermeneutischen Problemen stellt, wird die Sensibilität für die
Fragestellung und das hohe Maß an selbstkritischen Reflexionen begrüßen und mit
pauschalen Verurteilungen ebenso vorsichtig sein müssen wie mit vollmundigen
Lösungsversuchen.
Eindrücklich führt der Band vor Augen, dass historisch-kritisches Arbeiten
vielgestaltiger ist, als es in den Argumentationen Slenczkas wahrgenommen ist, dass
sich jegliche Hermeneutik des Alten Testaments der Vorfindlichkeit verschiedener
Kanongestalten stellen muss, dass schon die neutestamentlichen Autoren durchaus
vielgestaltig auf die „Schrift“ Bezug genommen haben, der Beitrag der katholischen
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Exegese und hermeneutischen Klärungen enorm an Bedeutung gewonnen hat, und
vor allem eine Hermeneutik des Alten Testaments ohne Reflexion über die
divergierende Rezeption im Judentum (in der Zeit der Entstehung des Christentums
wie in der Gegenwart) schlechterdings nicht möglich ist.
Es bleibt die Aufgabe, mehrere spannungsvolle Beziehungen ernst zu nehmen und
zu integrieren: die spannungsvolle Bezugnahme von Judentum und Christentum auf
sich überschneidende Kanones (die hebräische Bibel und die griechische
Septuaginta), eine als dynamisch zu fassende Verhältnisbestimmung von Kirche und
Kanon, und die von Altem und Neuem Testament (wie den einzelnen Schriften) als
Verhältnis sowohl der Kontinuität und Einheit als auch der Diskontinuität und
Verschiedenheit.
Prof. Dr. Torsten Uhlig, Professor für Altes Testament an der Evangelischen
Hochschule Tabor, Marburg
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