DER MENSCH ALS LEBEWESEN.
bei der Ringvorlesung zum Thema:
TH
EA
Vortrag am 11. November 2020, 18–20 Uhr (online)
UT
HO
R
ZUM ZOOLOGISCHEN DENKEN DES ARISTOTELES1
FR
OM
„Entfernte Verwandte — Mensch und Tier“
MI
SS
IO
N
am Zentrum für Klassikstudien der Universität Regensburg
OU
TP
ER
Sergiusz Kazmierski
CI
TE
WI
TH
VORBEMERKUNG
OR
Die aristotelische Bestimmung des Menschen ist ein Rätsel. Daher soll sie im
TE
Folgenden auch als ein Rätsel behandelt werden. Ziel ist es, hier nicht das bei
UO
Aristoteles finden zu wollen, was wir heute ohnehin schon über den Menschen als ein
TQ
Lebewesen wissen oder zu wissen glauben, sondern es gilt im Folgenden von
NO
Aristoteles ahnen zu lernen, was wir noch nicht wissen, wofür wir heute, in unserer
O
technisierten und wissenschaftsorientierten und digitalisierten Blickbahn vielleicht
LE
AS
ED
noch gar nicht gerüstet sind.
Ja, Sie haben richtig gehört: Wir sind für Aristoteles vielleicht noch gar nicht gerüstet,
-P
obwohl wir gerade glauben, das, was er zu sagen hat, längst überwunden zu haben.
AF
T
Somit wollen wir Aristoteles nicht nur als einen längst vergangenen Denker und
DR
Forscher hören, nicht als einen, der uns aus der Vergangenheit her heute etwas sagt,
Der folgende Text entspricht der Vortragsfassung. Inhaltliche Kürzen und Vereinfachungen, die als
Ungenauigkeiten oder Fehler verstanden werden könnten, sollen in einer Publikation ausführlicher und
genauer gefasst werden. Der Text stellt einem Entwurf dar, der die Lebendigkeit des Vortrags
wiederspiegeln soll. Die vorliegende Fassung ist aus den genannten Gründen nicht für Zitate
heranzuziehen.
1
2
sondern als einen, der aus der ― unserer ― Zukunft zu uns spricht. Wir wollen uns für
das, was Aristoteles uns noch zu sagen haben wird ― und er hat uns seit 2300 Jahren
UT
HO
R
bereits immer wieder etwas zu sagen gehabt ― denkend und lesend rüsten.
Um Aristoteles mit dieser zukunftsoffenen Haltung begegnen zu können, müssen wir
TH
EA
versuchen, nicht zunächst Antworten auf unsere Fragen zu finden, sondern zuvor die
Fragen hören, die Phänomene sehen, mit denen Aristoteles an uns herantritt, d.h.
FR
OM
lernen, dem Fragwürdigen, dem Rätselhaften und Dunklen bei Aristoteles zu
IO
N
begegnen.
TP
ER
MI
SS
1. DIE ARISTOTELISCHE BESTIMMUNG DES MENSCHEN BEI ARISTOTELES
OU
Wir kennen wahrscheinlich alle die aristotelische Bestimmung des Menschen als eines
TH
sozialen und vernunftbegabten Lebewesens. Die prominenteste Stelle hierzu findet
WI
sich am Beginn einer Schrift, die den Titel Politik trägt. Aufgabe der Politik ist die
TE
Diskussion der Bedingungen und Umstände einer Einrichtung des Menschen im
OR
CI
Dasein überhaupt (griech. φύσις, Natur), so dass diese Einrichtung dem Menschen
Selbstgenügsamkeit (griech. αὐτάρκεια, Autarkie) und potenzielles Glück (griech.
UO
TE
εὐδαιμονία, Glückseligkeit, Wohlergehen) sowie ein gutes Leben (griech. εὖ ζῆν)
TQ
gewähren kann.
NO
Die genannte Bestimmung gibt Aristoteles im ersten Buch, darin es zunächst um die
ED
O
daseins- oder naturgemäße Einrichtung des Menschen in einem Hausstand (griech.
LE
AS
οἶκος, οἰκία) geht. Das erste Buch ist somit der Ökonomie gewidmet.
Aristoteles gibt nun, noch bevor er auf die ökonomische und dann in der Folge auf die
-P
Einrichtung des Menschen in einem Staat zu sprechen kommt, die genannte
DR
AF
T
Bestimmung des Menschen. Der Text lautet wie folgt (I 2, 1253a 1–18):
ἐκ τούτων οὖν φανερὸν ὅτι τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί, καὶ ὅτι ἄνθρωοπος φύσει
πολιτικὸν ζῷον [...]. διότι δὲ πολιτικὸν ὁ ἄνθρωπος ζῷον πάσης μελίττης καὶ
παντὸς ἀγελαίου ζῴου μᾶλλον, δῆλον. οὐθὲν γάρ, ὡς φαμέν, μάτην ἡ φύσις
3
ποιεῖ· λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων· ἡ μὲν οὖν φωνὴ τοῦ λυπηροῦ
καὶ ἡδέος ἐστὶ σημεῖον, διὸ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει ζῴοις (μέχρι γὰρ τούτου ἡ
φύσις αὐτῶν ἐλήλυθε, τοῦ ἔχειν αἴσθησιν λυπηροῦ καὶ ἡδέος καὶ ταῦτα
UT
HO
R
σημαίνειν ἀλλήλοις), ὁ δὲ λόγος ἐπὶ τῷ δηλοῦν ἐστι τὸ συμφέρον καὶ τὸ
βλαβερόν, ὥστε καὶ τὸ δίκαιον καὶ τὸ ἄδικον· τοῦτο γὰρ πρὸς τὰ ἄλλα ζῷα
TH
EA
τοῖς ἀνθρώποις ἴδιον, τὸ μόνον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ
FR
OM
τῶν ἄλλων αἴσθησιν ἔχειν· ἡ δὲ τούτων κοινωνία ποιεῖ οἰκίαν καὶ πόλιν.
N
„Von daher ist also deutlich <geworden>, dass der Staat zu denjenigen
IO
<Sachen gehört>, die von Daseins überhaupt wegen <das> sind<, was sie
MI
SS
sind>, und dass der Mensch von Daseins überhaupt wegen ein
ER
staatenbildendes Lebewesen ist <[sc. wo er ja auch schon offenbar ein in
TP
Häusern lebendes Lebewesen ist von Daseins wegen]> [...]. Weshalb der
OU
Mensch <von Daseins überhaupt wegen> ein staatenbildendes Lebewesen
TH
<ist, und zwar> mehr als jede Biene oder jedes in Herden wesendes
WI
Lebewesen, ist evident <[d. h. von sich her sichtbar]>. Es tut ja, wie man
CI
TE
<so> sagt, das Dasein nichts umsonst; und die <vernunftgemäße>
OR
Mitteilung eignet als einzigem unter den Lebewesen dem Menschen; so ist
TE
zwar die Stimme der Aufweis des Unangenehmen wie Angenehmen,
UO
weshalb sie auch bei anderen Lebewesen vorherrscht (bis zu dieser
TQ
<Grenze> nämlich ist deren Dasein gekommen, dass sie die Empfindung
NO
von Unangenehmem und Angenehmem haben und dies einander
ED
O
anzeigen), die vernunftgemäße Mitteilung dient aber dazu, das Zuträgliche
und Abträgliche evident <[d. h. von sich her sichtbar]> werden zu lassen,
LE
AS
daher auch das Gerechte und Ungerechte; denn dies ist im Verhältnis zu
-P
allen anderen Lebewesen dem Menschen eigentümlich, dass er als einziger
AF
T
die Wahrnehmung von Gutem und Schlechtem, Gerechtem und
DR
Ungerechtem sowie allem anderen hat; und das Miteinandersein dieser
<Lebewesen> zeitigt Haus und Staat.“
4
Diese Tatsache, dass Aristoteles nicht zuerst feststellt, dass der Mensch in Häuern und
Städten lebt und aufgrund dessen als ein politisches und eben auch ökonomisches
UT
HO
R
Lebewesen erscheint, sondern umgekehrt, dass er den Menschen zunächst als ein
politisches, weil vernunftbegabtes Lebewesen bestimmt, um dann die bestmöglichen
Weisen seiner Einrichtung in Haus und Staat zu diskutieren, sollte uns zu denken
TH
EA
geben.
FR
OM
Denn dies bedeutet für uns soviel wie, dass Aristoteles aus der Bestimmung dessen,
wer der Mensch ist, ableiten möchte, wie er sich im Dasein am besten einrichten soll,
N
sofern Haus und Staat offensichtlich selbst und als solche Entitäten darstellen, die
MI
SS
IO
naturgegeben sind.
ER
Der Mensch ist nicht ein Gemeinschaftswesen und Vernunftwesen, weil er in Häusern
TP
und Städten lebt, sondern weil er ein Gemeinschafts- und Vernunftwesen ist, lebt er in
OU
Städten und Häusern, Hausständen und Familien oder anderen Kleinstgemeinschaf-
TH
ten, die vernünftig eingerichtet sind, indem sie an Gutem und Gerechtem Anteil
WI
haben, d.h., weil Haus, Stadt und Staat, und auch Dorf, diejenigen naturgegebenen
TE
Einrichtungsformen darstellen, die der Natur des Menschen entsprechen können und
OR
CI
denen er entspricht.
TE
Dieser Punkt ist allesendscheidend, um den aristotelischen Blick auf den Menschen, ja
UO
um die Art, wie Aristoteles überhaupt denkt, zu verstehen. Denn darin spiegelt sich
TQ
die Weise eines Verfahrens, das unserer modernen Wissenschaftswelt fremd
NO
vorkommen muss, und zwar so sehr, dass sie es, wenn sie auf Aristoteles zu sprechen
O
kommt, dieses Verfahren gar nicht wahrhaben möchte. ― Wir wollen an dieser Stelle,
ED
das nicht allzu tiefgehend diskutieren, sondern es soll zunächst das Rätselhafte dieses
LE
AS
Vorgehens herausgestellt werden; wir wollen also zunächst versuchen, uns mit
-P
unserem zu erwartenden Urteil, dass ein solches Vorgehen unwissenschaftlich sei,
AF
T
zurückzuhalten.
DR
In diesem konkreten Fall bekommen wir deswegen auch keine Kopfschmerzen; denn
im Endeffekt kann es uns heute egal sein, ob Aristoteles, ausgehend wovon auch
immer, den Menschen als Gemeinschafts- und Vernunftwesen bestimmte, um dann
daraus seine vernünftigen, naturgemäßen Einrichtungen in Haus und Staat zu
5
diskutieren oder umgekehrt, was man ihm gerne unterstellt, empirische Studien
zugrundelegte, um daraus eine solche Bestimmung abzuleiten. Die Ergebnisse
UT
HO
R
sprechen ja unabhängig davon für Aristoteles. Denn seine Politik und Ökonomie
enthalten, neben einigem Antiquierten, doch auch vieles Weitsichtige, ja geradezu
Moderne oder zumindest solches, das als modern gelesen werden könnte; allerdings
TH
EA
auch solches, das sich leicht als antiquiert abtun lässt. ― Ganz gleich, ob nun
Aristoteles modern oder antiquiert erscheinen mag: Fest steht die Rätselhaftigkeit
FR
OM
seines Vorgehens, welches an vielen anderen Stellen des überlieferten Corpus
N
Ausdruck findet.
MI
SS
IO
So sagt er auch sinngemäß an einer anderen interessanten Stelle in einer Schrift, die
den, frei übersetzten, Titel „Über das leibliche Gefüge der Lebewesen“ (lat. De partibus
ER
animalium) trägt, dass der Mensch nicht das klügste Lebewesen sei, weil er durch
TP
Hände vor allen anderen Lebewesen ausgezeichnet ist, sondern, wiederum
WI
TH
OU
umgekehrt: weil er das klügste Lebewesen sei, habe er Hände (IV 10, 687a 15–17):
CI
TE
οὐ διὰ τὰς χεῖράς ἐστιν ὁ ἄνθρωπος φρονιμώτατος, ἀλλὰ διὰ τὸ
UO
TE
OR
φρονιμώτατον εἶναι τῶν ζῴων ἔχει χεῖρας.
TQ
„Nicht wegen der Hände ist der Mensch der Klügste, sondern weil er
ED
O
NO
unter den Lebewesen das klügste ist, hat er Hände.“
LE
AS
Wie Aristoteles nun dazu kommt, den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen zu
bezeichnen, wo sich am und im Menschen soviel Unvernunft und Dummheit zeigt
-P
und immer schon zeigte, kann hier nicht weiter diskutiert werden, worüber Aristoteles
AF
T
selbst ja auch wenig ausdrücklich sagt; einzig folgende zwei Hinweise müssen an
DR
dieser Stelle ausreichen:
Erstens: Wir können davon ausgehen, dass die Annahme, der Mensch sei ein
Vernunftwesen und in der Lage, der Vernunft, an der er Anteil hat, sprachlichen
Ausdruck zu verleihen, ein Urteil ist, das auf keine anderen Urteile und Grundlagen
6
und Annahmen zurückgeführt werden kann, das sich somit auch nicht durch andere
Urteile erklären lässt, außer durch sich selbst.
UT
HO
R
Zweitens: Wenn sich die Vernunftbegabung und die Fähigkeit zur sprachlichen
Mitteilung von Vernünftigem, wie z.B. Gerechtem, nur durch sich selbst erklären lässt,
TH
EA
was soviel bedeutet, wie, dass diese Fähigkeit selbstevident ist, dann ist es evident,
dass es unvernünftig wäre, anzunehmen, der Mensch sei, kein vernunftbegabtes
FR
OM
Lebewesen. Oder anders gesagt: Die Tatsache, dass der Mensch hin und wieder oder
vielleicht meistenteils unvernünftig und triebgesteuert handelt, ist nicht nur kein
N
Beweis gegen seine Vernunftbegabtheit, sondern geradezu umgekehrt ein Hinweis
MI
SS
IO
darauf, dass er nicht unvernünftig handeln könnte, wenn er nicht von Natur aus mit
ER
Vernunft ausgestattet wäre.
TP
Dass Aristoteles auch sonst immer wieder Annahmen macht, die selbstevident sind,
OU
um dann auf Ihnen eine Untersuchung zu stützen, die wiederum das, was ist,
TH
offenlegen und in seiner besten Form darstellen möchte, zeigt sich an verschiedenen
WI
anderen Stellen und Untersuchungen im überlieferten Corpus Aristotelicum.
CI
TE
Dahingehend, d.h. zur Selbstevidenz mancher Phänomene, findet sich eine
OR
interessante Stelle in seiner Physik, darin Aristoteles diejenigen, welche die
TE
Selbstevidenz solcher Phänomene, die sich nicht auf andere Phänomene zurückführen
UO
lassen, nicht zu akzeptieren in der Lage sind, lächerlich erscheinen lässt (II 1, 193a 3–
O
NO
TQ
9):
ED
ὡς δ’ ἔστιν ἡ φύσις, πειρᾶσθαι δεικνύναι γελοῖον· φανερὸν γὰρ ὅτι τοιαῦτα
LE
AS
τῶν ὄντων ἐστὶν πολλά. τὸ δὲ δεικνύναι τὰ φανερὰ διὰ τῶν ἀφανῶν οὐ
δυναμένου κρίνειν ἐστὶ τὸ δι’ αὑτὸ καὶ μὴ δι’ αὑτὸ γνώριμον (ὅτι δ’ ἐνδέχεται
-P
τοῦτο πάσχειν, οὐκ ἄδηλον· συλλογίσαιτο γὰρ ἄν τις ἐκ γενετῆς ὢν τυφλὸς
AF
T
περὶ χρωμάτων), ὥστε ἀνάγκη τοῖς τοιούτοις περὶ τῶν ὀνομάτων εἶναι τὸν
DR
λόγον, νοεῖν δὲ μηδέν.
„Dass es die Natur <selbst> gibt <[und nicht nur das natürlich Seiende]>,
<dies> zu versuchen zu beweisen, ist merkwürdig [wörtlich: lächerlich,
7
γελοῖον]; es ist ja offenbar, dass es ein Vielerlei von so geartetem
<natürlich> Seiendem gibt <[, das nicht dieses oder jenes natürliche Seiende
UT
HO
R
sein könnte, wenn es nicht die Natur selbst gäbe]>. Das Offenbare <[d.h.
die Natur selbst in ihrer Offenbarkeit]> durch Nicht-Offenbares <[d.h.
durch Seiendes, das noch nicht in seiner vermeintlichen Beweiskraft
TH
EA
entdeckt wurde]> zu beweisen, <ein solcher Versuch> gibt Hinweis <auf
einen Menschen>, der dasjenige, welches durch sich selbst anerkennbar ist,
FR
OM
und dasjenige, welches nicht durch sich selbst erkennbar ist, nicht zu
unterscheiden vermag (und es ist durchaus klar, dass so etwas der
IO
N
Möglichkeit nach <einem Menschen> widerfahren kann; so dürfte ja <z.B.>
MI
SS
wohl jemand, der von Geburt her blind ist, Beweise über Farben anstellen).
ER
Folglich bezieht sich notwendigerweise der Gedankenweg <[griechisch:
TP
λόγος]> bei solchen Beweisen <[die das zu zeigen versuchen, was sich von
OU
sich selbst her versteht]> auf <bloße> Wörter und keineswegs auf ein
TE
WI
TH
Einsehen <[bzw. Erkennen]>.“
OR
CI
Wir können also mit Aristoteles sagen: Die aristotelische Bestimmung des Menschen
mag zwar, aus unserer modernen Sicht, auf empirische Daten rückführbar sein;
UO
TE
allerdings belegen dieselben auch, dass der Mensch nicht nur ein Gemeinschafts- und
TQ
Vernunftwesen ist, sondern öfter sogar ein Idiot (im griechischen und nicht-
NO
griechischen Sinne) und hochgradig unvernünftig, was, davon können wir ausgehen,
O
auch Aristoteles sichtbar war.
ED
Gleichwohl trifft er diese felsenfeste Bestimmung des Menschen, die bis heute noch
LE
AS
diskutiert wird. Daher kann er offensichtlich sein Urteil nicht auf die Empirie gestützt
-P
haben, sondern es muss, da er sonst keinen Beleg liefert und die getroffene
AF
T
Bestimmung durch sich selbst evident ist, wohl auch hier für Aristoteles ein Phänomen
DR
vorliegen, das durch sich selbst (δι’ αὑτό) evident (δῆλον) ist, wie das Phänomen der
Natur im Unterschied zum Natürlichen.
Somit deutet sich an, dass für Aristoteles seine Bestimmung des Menschen zwar nicht
beweisbar, aber erkennbar, weil evident, und d.h. anerkennbar (γνώριμον), ist.
8
Dass bisher Gesehene lässt uns für die Einrichtung des aristotelischen Hauses und
Staates nun ahnen, dass das eigentliche Fundament von Haus und Staat im
UT
HO
R
aristotelischen Sinne das Vernunfturteil zu sein scheint, dass es unvernünftig, ja
lächerlich sei, anzunehmen, dass der Mensch kein vernunftbegabtes Lebewesen sei.
Und die Fähigkeit zu einem solchen aristotelischen Urteil kann selbst als ein Akt der
MI
SS
IO
N
2. DER MENSCH ALS LEBEWESEN
FR
OM
TH
EA
Vernunft gesehen werden.
Soviel zur aristotelischen Bestimmung des Menschen und ihrer Art. Hierzu wurden
ER
bereits Bibliotheken voller Bücher geschrieben. Für uns ist allerdings, wie gesehen,
TP
zunächst nur das Einfache wie Rätselhafte der aristotelischen Bestimmung des
TH
OU
Menschen von Bedeutung.
WI
Gehen wir auf diesem Weg weiter.
CI
TE
Das, was bei dieser Bestimmung des Menschen als eine von Natur aus mit
OR
Gemeinschaftssinn und Vernunft und der Fähigkeit, das Vernünftige mitzuteilen,
TE
ausgezeichneten Lebewesens oftmals und gerne überlesen wird, ist nicht die
UO
Vernunftbegabtheit und der Gemeinschaftssinn des Lebewesens Mensch, sondern
TQ
etwas, das auch wir heute in seiner Evidenz sofort akzeptieren und keine Anstalten
NO
machen, es in Frage zu stellen oder auch nur zu fragen, wie Aristoteles das gemeint
O
haben könnte. Es ist die Tatsache, dass Aristoteles den Menschen als Lebewesen erkennt.
LE
AS
ED
― ‚Was sollte der Mensch auch sonst sein?‘ können wir fragen. ―
Wir dürfen, um Aristoteles nicht etwas zuzuschreiben, von dem wir glauben, dass
-P
auch er es so gesehen haben muss, nicht annehmen, dass er diese Bestimmung
AF
T
„Lebewesen“ so gesehen haben kann, wie wir es heute sehen. Wir dürfen, ja müssen
DR
uns daher im Umkehrschluss fragen, was Aristoteles meint, wenn er von den
Lebewesen, den ζῷα, spricht. Diese Frage ist auch deswegen berechtigt, weil
Aristoteles selbst immerhin ein Drittel seines auf uns gekommenen Schaffens
demjenigen Bereich widmet, welcher im Titel dieses Vortrag als „zoologisches
9
Denken“ umschrieben wird. Und dies impliziert nicht nur eine Philosophie der
belebten Natur, sondern auch, wie wir an hunderten von Seiten Erörterungen über
UT
HO
R
Einzelphänomene aus der belebten Natur sehen können, das, was man auch im
heutigen Sinne vielenteils als Biologie oder Zoologie bezeichnen könnte und kann.
TH
EA
Dass Aristoteles somit den Menschen als Lebewesen auffasst, ist nicht dem geschuldet,
dass er diesen Begriff nebenher, unüberlegt, fallen lässt, sondern in dem Ausdruck
FR
OM
‚ζῷον‘ spiegelt sich ein gigantisches Forschungsprogramm und eine gewaltige
denkerische Leistung wieder, deren letztliches Ziel es ist, blickt man auf das gesamte
N
überlieferte Corpus Aristotelicum, den Menschen in seiner Vernunftbegabheit und
MI
SS
IO
seinem Gemeinschaftssinn, mit seinem gesamten Tun, Lassen und Dasein in das
Dasein überhaupt einzuordnen und ihm so seine Rolle in der Natur und im Kosmos
TP
ER
zuzuweisen, auf dass er seinem Wesen entsprechend sein und leben könne.
OU
Das Element ζῷον, „Lebewesen“, ist an der obengenannten Bestimmung des
TH
Menschen als eines ζῷον λόγον ἔχον und ζῷον πολιτικόν daher vielleicht zunächst
WI
wichtiger als die für das Lebewesen Mensch entscheidende Bestimmungen „λόγον
CI
TE
ἔχον“, „vernunftbegabt“, und „πολιτικόν“, „mit Gemeinschaftssinn ausgestattet“.
OR
Der Ausdruck ‚Lebewesen‘ weist somit für Aristoteles zunächst darauf hin, dass der
TE
Mensch, wie wir ja auch in der Stelle aus der Politik gesehen haben, ein Lebewesen
UO
unter anderen Lebewesen ist, aber eben ein unter diesen Lebewesen durch Vernunft
TQ
und die Fähigkeit, das Vernünftige mitzuteilen, ausgezeichnetes.
NO
Was nun der Begriff „Lebewesen“ bei Aristoteles alles impliziert, das zu zeigen, würde
ED
O
den Rahmen dieses Votrags sprengen. Im Folgenden sollen vor allem für das Thema
LE
AS
der Ringvorlesung relevante Implikationen zum Aufweis gebracht werden.
-P
Und der Titel dieser Ringvorlesung lautet: „Entfernte Verwandte – Mensch und Tier“.
AF
T
Mit Blick auf das bisher Gesagte, lässt sich nun der im Titel verwendete Ausdruck
‚entfernte‘ ganz im gekennzeichneten aristotelischen Sinne lesen: Denn der Mensch ist,
DR
durch seine Auszeichnung unter allen anderen Lebewesen, einerseits ein nur
entfernter Verwandter zum Tier (d.h. er ist letztlich kein Tier, sondern eben nur mit
dem Tier verwandt), andererseits aber zeigt diese Entfernung zum Tier eine Nähe (im
Sinne der wörtlichen Ent-Fernung, d.h. im Sinne eines Aufgehobenseins einer Ferne).
10
Im Ausdruck Verwandtschaft kommt ebenso beides, Nähe und Ferne, zum Ausdruck:
Der Mensch steht, obwohl er nach Aristoteles kein Tier ist, zugleich doch in einer
UT
HO
R
verwandschaftlichen Nähe zu ihm.
Die aristotelische Bestimmung des Menschen als eines vernunftbegabten Lebewesens
TH
EA
(denn politische, d.h. Gemeinschaften bildende Lebewesen sind auch andere, wie
Bienen oder Ameisen) zeigt, dass das menschliche Dasein nach Aristoteles durchzogen
FR
OM
ist von dem rätselhaften Unterschied zwischen Mensch und Tier, welcher Unterschied
durch das markiert wird, was Aristoteles λόγος nennt. Nicht nur ist der Mensch ganz
N
Mensch, sofern er vernunftbegabt ist und das Vernünftige mitzuteilen vermag,
MI
SS
IO
sondern er ist auch in mancherlei Hinsicht ganz Tier, obwohl er als solcher eben kein
ER
Tier ist.
TP
Biologisch bzw. zoologisch gedacht bedeutet dies, dass das Lebewesen Mensch
OU
Wesenseigenschaften hat, die es mit allen anderen Lebewesen, Tieren wie auch
TH
Pflanzen, teilt, allerdings auch solche, die nur ihm eignen.
WI
Ethisch, politisch und ökonomisch heißt dies allerdings, dass der Mensch nicht seinem
CI
TE
naturgegebenen Wesen, voll und d.h. vollendet, entsprechen kann, wenn er sein
OR
Selbstverständnis darauf stützt, was er mit allen anderen Lebewesen teilt, sondern er
TE
muss, um ethisch, politisch und ökonomisch im aristotelischen Sinne leben zu können,
UO
und das bedeutet: um ein selbstgenügsames, glückliches und gutes Leben führen zu
TQ
können, sich ganz auf den Weg des λόγος begeben, allerdings eben gerade: ohne die
NO
Eigenschaften und Merkmale, welche ihn als einen Teil der belebten Natur überhaupt
O
offenbaren, zu vergessen oder zu mißachten. Ansonsten droht der Mensch, wie
ED
Aristoteles am Ende des zierten Kapitels I 2 aus der Politik sagt, äußerster, d.h. den
AF
T
-P
LE
AS
Tieren in dieser Form unbekannter Schlechtigkeit zum Opfer zu fallen (1253a 31–37):
ὥσπερ γὰρ καὶ τελεωθεὶς βέλτιστον τῶν ζῴων ἄνθρωπός ἐστιν, οὕτω καὶ
DR
χωρισθεὶς νόμου καὶ δίκης χείριστον πάντων [...] διὸ ἀνοσιώτατον καὶ
ἀγριώτατον ἄνευ ἀρετῆς, καὶ πρὸς ἀφροδίσια καὶ ἐδωδὴν χείριστον.
11
„Denn wie der Mensch in Vollendung das beste unter den Lebewesen ist,
so auch ist er, wenn er getrennt ist von Gesetz und Recht, das schlechteste
UT
HO
R
<Lebewesen> von allen [...], daher gänzlich verkommen und sittenlos ohne
Tugend, und mit Blick auf Genußmittel und Essen, am schlechtesten <von
TH
EA
allen>.“
FR
OM
Voraussetzung dafür, das deutet sich hier an, dass der Mensch ganz Mensch sein kann,
ist, dass er seine Grenzen zum Tiersein kennt, mit dem er im genannten doppelten
IO
N
Sinne „entfernt“ verwandt ist, mit dem er in einem sowohl Nähe als auch Ferne zum
MI
SS
Ausdruck bringenden Verwandtschaftsverhältnis steht. Und um seine Grenzen in der
ER
Natur und zum Tiersein zu kennen, muss er darum wissen, was ihn von Natur aus
TP
auszeichnet und was nicht, was er mit anderen Lebewesen teilt und was nicht; kurz:
OU
er muss lernen, zwischen Mensch und Tier, Tier und Mensch zu unterscheiden. ―
TH
Zuvor aber muss er darauf gestoßen werden, welche fundamentale Bedeutung für ihn
WI
dieser Unterschied zum und die Gemeinschaft mit dem Tiersein hat und haben kann.
CI
TE
Daher scheint es das propädeutische Ziel der aristotelischen Zoologie ―seiner ein
OR
Drittel seines überlieferten Schaffens umfassenden Untersuchungen zur belebten
TE
Natur ― zu sein, den Menschen gerade in diesem Unterschied, aber auch im
UO
entsprechenden Gemeinsamen zu schulen und die Prinzipien zu lehren, in denen
TQ
Unterschiede und Gemeinsamkeiten gründen und vermitelst derer diese Unterschiede
NO
und Gemeinsamkeiten erkannt und mitteilbar gemacht werden können.
ED
O
Das bedeutet nicht, dass jeder Mensch Zoologe oder Denker werden muss, um
LE
AS
glücklich und selbstgenügsam zu leben; allerdings muss derjenige Zoologie im
aristotelischen Sinne studieren, der im vollen Umfang ermessen und mitteilen zu
AF
T
heißt:
-P
können wünscht, worin das Glück und die Selbstgenügsamkeit wahrhaft beruhen. Das
DR
Die aristotelische Zoologie und damit die Einsicht in den Unterschied von Mensch und Tier
und deren Verwandschaft ist für Aristoteles eine notwendige, aber keine hinreichende
Voraussetzung seiner Ethik, Ökonomie und Politik.
12
Dies zu formulieren und zu vollziehen ist eine der gewaltigsten Leistungen des
aristotelischen Denkens. Und sie ist für seine Zeit so ungewöhnlich, dass er auch seine
UT
HO
R
geneigten Leser daran erinnern muss, dass Vieles, was in der belebten Natur als
abstoßend und vielleicht sogar ekelerregend erscheint, gerade Göttliches bereithält
und man deswegen seine Abscheu davor verlieren müsse (De partibus animalium I 5,
FR
OM
TH
EA
645a 17―23):
καὶ καθάπερ Ἡράκλειτος λέγεται πρὸς τοὺς ξένους εἰπεῖν τοὺς βουλομένους
IO
N
ἐντυχεῖν αὐτῷ, οἳ ἐπειδὴ προσιόντες εἶδον αὐτὸν θερόμενον πρὸς τῷ ἴπνῳ
MI
SS
ἔστησαν (ἐκέλευε γὰρ αὐτοὺς εἰσιέναι θαρροῦντας· εἶναι γὰρ καὶ ἐνταῦθα
θεούς), οὕτω καὶ πρὸς τὴν ζήτησιν περὶ ἑκάστου τῶν ζῴων προσιέναι δεῖ μὴ
OU
TP
ER
δυσωπούμενον ὡς ἐν ἅπασιν ὄντος τινὸς φυσικοῦ καὶ καλοῦ.
TH
„Und wie Heraklit die Fremden angesprochen haben soll, welche ihn
WI
treffen wollten, die, nachdem sie zu ihm gekommen waren und sahen, dass
CI
TE
er sich <nackt> am Ofen wärmte, <zu ihm> traten (er hieß sie nämlich, sich
OR
nicht zu scheuen und heranzutreten, denn auch hier seien Götter), so auch
TE
ist es nötig, an die Untersuchung über ein jedes Lebewesen <und jeden
UO
seiner Teile> zu gehen, <ganz> ohne Abscheu, da ja in jedem Lebewesen
NO
ED
O
Wohlgefügtes ist.“
TQ
<und Teil desselben> etwas wesentlich der Natur Zugehöriges und
LE
AS
Wir Heutigen haben diese Abscheu vor der belebten Natur in all ihren
-P
Einzelerscheinungen weitgehend verloren; gleichwohl wurde der Verlust dieser
AF
T
Abscheu kaum durch die Einsicht ersetzt, dass die belebte Natur Göttliches bereithalte.
Die Natur dient uns heute eher als ökonomische Ressource in vielerlei Hinsicht. ― Wir
DR
können also, wenn Aristoteles den Leser seiner Schriften dazu anhält, er möge die
Abscheu vor der belebten Natur verlieren und dieselbe anschauungsorientiert,
allerdings mit Blick auf ihre Prinzipien, studieren, auf dieses Rätselhafte in der
belebten Natur, ihr Göttliches, aufmerksam werden. Und d.h. zunächst: Auch unsere
13
entfernte Verwandschaft mit dem Tiersein hält nach Aristoteles etwas Göttliches und
Wohlgefügtes für uns bereit, sofern der Mensch sich als Lebewesen im aristotelischen
UT
HO
R
Sinne zu verstehen vermag.
FR
OM
TH
EA
3. DAS LEBEWESEN UND SEINE IMPLIKATIONEN FÜR DEN MENSCHEN
Welche sind nun die Implikationen, die den Menschen als dieses rätselhafte, dem Tier
IO
N
entfernt verwandte Lebewesen im aristotelischen Sinne auszeichnen?
MI
SS
Was sind daher aber zunächst die Implikationen, welche für Aristoteles der Begriff
ER
Lebewesen bereithält? Anders: Wie bestimmt er das, was ein Lebewesen ist?
TP
Hierzu finden wir einen Text in seiner Schrift De anima („Über die Seele“), anhand
OU
dessen gezeigt werden kann, dass für Aristoteles das, was ein Lebewesen wahrhaft ist,
TH
erst dann gesehen werden kann, wenn deutlich geworden ist, inwiefern im Lebewesen
WI
so etwas wie Bewegung (κίνησις) spielt, und dann in einem weiteren Schritt: Worin die
CI
TE
spezifischen Bewegungsfähigkeiten des Menschen liegen, die er gerade nicht mit
OR
anderen Lebewesen teilt.
TQ
UO
TE
Der genannte Text lautet wie folgt (III 10, 433b 13–21):
NO
ἐπεὶ δ’ ἔστι τρία, ἓν μὲν τὸ κινοῦν, δεύτερον δ’ ᾧ κινεῖ, ἔτι τρίτον τὸ κινούμενον,
O
τὸ δὲ κινοῦν διττόν, τὸ μὲν ἀκίνητον, τὸ δὲ κινοῦν καὶ κινούμενον, ἔστι δὲ τὸ
ED
μὲν ἀκίνητον τὸ πρακτὸν ἀγαθόν, τὸ δὲ κινοῦν καὶ κινούμενον τὸ ὀρεκτικόν
LE
AS
(κινεῖται γὰρ τὸ κινούμενον ᾗ ὀρέγεται, καὶ ἡ ὄρεξις κίνησίς τίς ἐστιν, ἡ
-P
ἐνέργεια), τὸ δὲ κινούμενον τὸ ζῷον· ᾧ δὲ κινεῖ ὀργάνῳ ἡ ὄρεξις, ἤδη τοῦτο
AF
T
σωματικόν ἐστιν – διὸ ἐν τοῖς κοινοῖς σώματος καὶ ψυχῆς ἔργοις θεωρητέον
DR
περὶ αὐτοῦ.
„Sofern es aber drei <Elemente der Bewegtheit des Lebens> gibt, ist das eine
das Bewegende, das zweite das, womit <das Bewegende> bewegt, ferner
das dritte das Sich-Bewegende, das Bewegende aber zweifach, zum einen
14
das Unbewegte, zum anderen das Bewegende wie Bewegte, und es
entspricht dem Unbewegten das vollführbare Gute, dem Bewegenden wie
UT
HO
R
Bewegten das Regungsvermögen (denn es wird das Sich-Bewegende
bewegt, sofern es sich regt, und die Regung ist eine wesentliche Bewegung,
<nämlich> das Realwerden <eines vollführbaren Guten>), dem Sich-
TH
EA
Bewegenden das Lebewesen; mit <und in> welchem Organ aber die
Regungsseele <das Sich-Bewegende> in Bewegung versetzt, dies ist bereits
FR
OM
leiblicher <Natur> ― deshalb ist hierüber in den gemeinsamen
MI
SS
IO
N
Realisierungen von Leib und Seele die Betrachtung zu suchen.“
ER
Nach Aristoteles ist somit das Lebewesen zunächst und ganz einfach diejenige Entität,
TP
welche durch Selbstbewegung ausgezeichnet ist (im Unterschied zu einem Stein oder,
OU
so müsste man heute sagen, einem „Automobil“, denn das Automobil, auch das
TH
autonom fahrende, könnte sich, letztlich ohne das technische Wissen des Menschen,
WI
nicht selbst bewegen, zumindest nicht in erster Instanz.)
CI
TE
Und jedes Lebewesen bewegt sich selbst, ist durch Selbstbewegung ausgezeichnet,
OR
auch die Pflanzen, sofern sie Wachsen und sofern Aristoteles unter Bewegung nicht
TE
nur Ortsbewegung, d.h. die Verlagerung von einem Ort zum anderen, versteht,
UO
sondern auch eben das Größer- und Kleinerwerden oder die Veränderung von
TQ
Eigenschaften wie Farbe und Form, ja, wie wir sehen werden, auch das tugendhafte
NO
Handeln sowie das Denken und Erkennen, als Weisen der Bewegtheit zu verstehen
ED
O
sind.
LE
AS
Daher sind für Aristoteles Lebewesen grundsätzlich nicht nur Menschen, Tiere und
Pflanzen, sondern auch Götter, worunter und als welche er nicht zuletzt die Gestirne
-P
am Himmel begreift, die ja in aristotelischer Blickbahn ebenfalls als durch
AF
T
Selbstbewegung ausgezeichnet erscheinen (De anima I 1, 402b 6f., vgl. z.B. De cael. II
DR
12, 292a 14–28):
[...] καθάπερ ζῴου [...], οἷον ἵππου, κυνός, ἀνθρώπου, θεοῦ.
15
„[…] wie eines Lebewesens […], <also> z.B. eines Pferdes, Hundes,
UT
HO
R
Menschen, Gottes.“
Und damit der Mensch sich selbst, und jedes Tier und jede Pflanze, spontan von Natur
TH
EA
aus bewegen kann, muss jedes Lebewesen bereits in eine Bewegtheit eingelassen sein,
die wiederum 1. ein unbewegtes und 2. ein sowohl bewegtes als auch bewegendes
FR
OM
Element bereithält. Diese unbewegte Entität kann im vorliegenden Zusammenhang
als das immanente oder externe „Gute“ der spezifischen Bewegung verstanden
IO
N
werden, womit letztlich das Ziel oder der Zweck der jeweiligen Bewegung gemeint
MI
SS
ist, d.h. das Ende, auf welches die jeweilige Bewegung zuläuft, dagegen die bewegte
ER
und zugleich bewegende Instanz als das, was Aristoteles sonst auch Seele (ψυχή) nennt
TP
und die er hier und an anderen Stellen als das Realwerden (ἐνέργεια) dieses Ziels oder
OU
Zwecks kennzeichnet.
TH
Jedes Lebewesen, sofern es durch Selbstbewegung ausgezeichnet ist, vollzieht ja nach
WI
Aristoteles diese Selbstbewegung im Sinne eines Realwerdens „guter“ Ziele und
CI
TE
Zwecke dieser Bewegungen. Das Wohlgefügte (καλόν) aus dem obigen Zitat zu
OR
Heraklit meint gerade diese Zielorientiertheit, dieses Unterwegssein auf ein Gutes und
TE
ein Ende zu. Das Göttliche des Phänomens „Lebewesen“ scheint daher, so rätselhaft
UO
dies erscheinen mag, in dieser zielorientierten Endlichkeit aller Selbstbewegung zu
TQ
beruhen.
NO
Anders betrachtet: Sofern die Seele und ihre Bewegtheit nie ohne ein Ziel sind, wird
ED
O
die Seele, indem sie auf ein Ziel absieht, von diesem unbewegten Ziel bewegt und
LE
AS
bewegt damit zugleich das jeweilige Lebewesen in dieser oder jener Hinsicht bzw. auf
-P
diese oder jene Weise.
AF
T
Ein weiteres Element am Lebewesen, ist dabei der Leib, der hier nicht übergangen
werden soll, mit dem sich das Lebewesen bewegt; der Leib dient daher dem
DR
Lebewesen als Organ, d.h. als Werkzeug seiner Selbstbewegung (De anima I 3, 407b
25f., vgl. ΙΙ 1, 412b 10ff.):
16
δεῖ […] τὴν μὲν τέχνην χρῆσθαι τοῖς ὀργάνοις, τὴν δὲ ψυχὴν τῷ σώματι.
UT
HO
R
„Notwendigerweise gebraucht das Handwerk Werkzeuge, die Seele aber
TH
EA
den Leib.“
FR
OM
Und (De anima II 4, 415b 18ff.):
TP
ER
MI
SS
οὕτω καὶ τὰ τῶν φυτῶν, ὡς ἕνεκα τῆς ψυχῆς ὄντα.
IO
N
πάντα […] τὰ φυσικὰ σώματα τῆς ψυχῆς ὄργανα, καὶ καθάπερ τὰ τῶν ζῴων,
OU
„Alle naturgegebenen Leiber sind <insgesamt jeweils> Werkzeuge der
TH
Seele, und sie existieren, wie die der Tiere, so auch die der Pflanzen, um der
CI
TE
WI
Seele willen.“
OR
Es ist daher in der aristotelischen Blickbahn gerade nicht so, dass der Leib das Sich-
TE
bewegende ist, sondern die Selbstbewegung der Lebewesen wird nur mithilfe des
UO
Leibes vollzogen, sofern das Lebewesen aus Leib und Seele besteht. Der Leib von
TQ
Mensch und Tier steht im Dienst der Seele und ihrer endlichen Bewegtheit; Mensch
NO
und Tier vollziehen diese Bewegtheit mithilfe des Leibes als Selbstbewegung. So kann
ED
O
Aristoteles die ganze belebte Natur als im genannten Sinne beseelt erscheinen.
LE
AS
Die Weisen der Bewegung sind folglich Resultat verschiedener Arten seelischer,
beseelter Tätigkeiten, welche Aristoteles auch als Teile der Seele begreift. So macht
-P
einen Seelenteil derjenige aus, welcher allen diesseitigen Lebewesen eignet, nämlich
AF
T
Pflanzen, Tieren, Menschen, und der das Lebewesen seine Selbstbewegtheit im Sinne
DR
von Ernährung und Wachstum vollziehen lässt. Damit ist also nach Aristoteles
derjenige Seelenteil gemeint, welcher das Vermögen eines jeden Lebewesens, sich zu
nähren und zu wachsen, real werden lässt (vgl. den Ausdruck ἐνέργεια). Diesen Teil der
Seele, anders: das Sich-realisieren von Ernährung und Wachstum nennt Aristoteles die
17
Nährseele, die sog. θρεπτικὴ ψυχή bzw. das sog. θρεπτικόν. Die Tatsache, dass jedes
Lebewesen von Natur aus in der Lage ist, sich zu nähren und zu ernähren und zu
UT
HO
R
wachsen, ist folglich zu verstehen als das Sich-realisieren von Wachstum (αὔξησις) und
Ernährung (τροφή). ― Wie ist das anschaulich zu begreifen? ―
TH
EA
Gemeint ist damit, dass jedes Lebewesen, auch das Lebewesen Mensch, mit Blick auf
Wachstum und Ernährung gehalten ist von der Natur; auch der Mensch kann sich ja
FR
OM
nur Nahrung zuführen; das Göttliche und Wundersame und Rätselhafte scheint
dagegen zu sein, dass er dann von selbst wächst und sich nährt. Jedes Lebewesen
N
erscheint daher als von Wachstum und Ernährung gehalten. Dasselbe gilt
MI
SS
IO
selbstverständlich für die Fortpflanzung (γέννησις, anders: γένεσις) der Lebewesen.
Alle Lebewesen, auch der Mensch, tun das ihre dazu; gleichwohl sind sie nicht selbst
ER
das Wachstum und Gedeihen des Fötus im Mutterleib, sondern vertrauen sich ganz
TP
der Natur an und sind gehalten und aufbewahrt in der Natur und dem natürlichen
TH
OU
Sich-realisieren dieses Wachstums und Gedeihens.
WI
An einer Stelle in De anima, die hier nicht zitiert ist, bezeichnet Aristoteles die Tatsache,
TE
dass alle Lebewesen an Zeugung, Fortpflanzung und Werden Anteil haben, als ihren
OR
CI
jeweiligen Anteil am Göttlichen. ― Wir brauchen dazu nicht unbedingt die Geburt des
eigenen Kindes zu betrachten (spätestens dann sehen wir es), um dies durchaus
UO
TE
nachvollziehen zu können. ― Und da das zoologische Letztziel allen Sich-realisierens
TQ
in der belebten Natur auf die Zeugung und das Werden hinausläuft, und die damit
NO
einhergehende Erneuerung des Lebens und Bestätigung des Daseins, ist alles, auch
O
das kleinste und unbedeutendste Ereignis in der belebten Natur potenzieller
ED
Ausdruck dieser göttlichen Erneuerung des Werdens und im Werden und der
LE
AS
Göttlichkeit des Daseins selbst.
-P
Als einen weiteren Seelenteil, welcher nur den Tieren und dem Menschen eignet, nicht
AF
T
den Pflanzen, stellt Aristoteles die Wahrnehmung fest, die αἴσθησις (der entsprechende
DR
Seelenteil ist die αἰσθητικὴ ψυχή, die Wahrnehmungsseele, auch als αἰσθητικόν
bezeichnet). Indem Menschen und Tiere wahrnehmen, realisieren sie die Fähigkeit zu
sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen.
18
Schließlich realisiert die Denkseele (griech. die διανοητικὴ ψυχή, das νοητικόν bzw.
λογιστικόν), welche nur dem Menschen eignet, das Denken in seinen verschiedenen
UT
HO
R
Formen (νόησις, διάνοια, λόγος), aber auch den sprachlichen Ausdruck, der in der Lage
ist, wie in der Stelle aus der Politik zu Beginn gesehen, u.a. Recht und Unrecht
sowie
weitere
Formen
der
sprachlichen
verschiedensten Arten zu vollziehen.
unterscheidet
Aristoteles
einige
weitere,
für
den
in
ihren
Lebensvollzug
FR
OM
Daneben
Mitteilung
TH
EA
mitzuteilen,
grundlegende Seelenteile wie die sowohl Tieren als auch Menschen eignende
N
Einbildungskraft (φαντασία) und das im obigen Textbeispiel aus De anima erwähnte
MI
SS
IO
Regungsvermögen (ὄρεξις). Wichtig ist für uns hier lediglich festzuhalten, dass die
drei- bis vierteilige Struktur der Selbstbewegung des Lebewesens jeweils dieselbe ist,
ER
gleich um welche Weise der Beseeltheit, d.h. des Sich-Realisierens oder Realwerdens
OU
TP
eines Ziels und Endes es sich dabei handelt.
TH
Folgen wir nun weiter dem Weg der Rätselhaftigkeit dessen, was Aristoteles als
WI
Lebewesen begreift, dann zeigt sich, dass der Kulminationspunkt der Rätselhaftigkeit
TE
darin zu suchen ist, was Aristoteles als ebendieses Sich-realisieren und Realwerden
OR
CI
versteht. Auch hier müssen wir uns auf wenige Hinweise beschränken, insofern
Aristoteles mit der ἐνέργεια (oder auch ἐντελέχεια) einen Begriff geprägt hat, der als
UO
TE
der Grundbegriff seines gesamten Denkens und Forschens gelten darf.
TQ
Soviel sei nur an dieser Stelle gesagt, dass Aristoteles in anderen Passagen (so v.a. De
NO
an. II 1 in Zusammenhang mit Phys. III 1) die Seele selbst als dieses Sich-realisieren
O
bzw. Realwerden kennzeichnet ― und damit als Musterbeispiel jeglicher natürlicher
ED
Bewegung, nicht nur der im Bereich der belebten Natur. Vereinfacht gesagt bedeutet
LE
AS
dies wiederum: Die Beseeltheit der belebten Natur, an der jedes Lebewesen durch
-P
Selbstbewegung Anteil hat, versteht Aristoteles als das Sich-realisieren oder
AF
T
Realwerden von Vermögen bzw. dessen, was möglich ist, worunter dann die
DR
genannten „guten“ Ziele oder Zwecke der jeweiligen Bewegungen zu verstehen sind.
Dabei unterscheidet Aristoteles am Lebewesen solche Bewegungsformen, welche in
sich abgeschlossen und fertig sind, deren „gute“ Ziele und Zwecke bereits in der
Bewegung selbst impliziert sind und solche, die unabgeschlossen und unfertig
19
erscheinen. Auch hierzu sei zunächst vereinfacht gesagt, dass mit den in sich
geschlossenen Bewegungsformen diejenigen gemeint sind, welche letztlich Tiere und
UT
HO
R
Menschen (und z.T. auch Pflanzen) von Natur aus und von selbst vollziehen, die sie
auch nicht erlernen müssen, wie zum Beispiel das Atmen und Verdauen, den
Herzschlag oder die spontane Sinneswahrnehmung; in sich abgeschlossen und fertig
TH
EA
meint, dass wir z.B. den Zweck der Atmung, nach Aristoteles die Kühlung des Leibes,
bereits vollziehen, während wir atmen, oder das in Sicht stehende bereits bei Sehen
FR
OM
sehen und nicht erst am Ende des Realisierungsprozesses des Sehens. Der
als
die
offenen,
unfertigen
IO
erscheinen
und
unabgeschlossenen
MI
SS
Dagegen
N
Realisierungsprozess ist in sich selbst bereits „im Ziel“ (ἐν τέλῳ)
Bewegungsformen solche, die nicht in sich selbst bereits ihr Ziel und Ende enthalten,
ER
gleichwohl von vorne herein von einem Ziel und Ende getragen sind, das in diesen
TP
Bewegungsformen bereits von vorne herein „am Werk“ (ἐν ἔργῳ) ist, wie z.B. das
OU
tugendhafte Handeln, dessen Ziel, die gute Tat, zwar bereits in der Handlung
WI
TH
gegenwärtig, jedoch erst am Ende erreicht ist. Und diese offenen oder unfertigen
TE
Formen der Bewegung, die insb., aber nicht nur, dem Menschen eignen, müssen die
OR
CI
Menschen zumeist erst erlernen.
Dahingehend unterscheidet Aristoteles alle an den Lebewesen und an deren
UO
TE
Leiblichkeit feststellbaren Bewegungsformen nach nicht willkürlichen (οὐχ ἑκουσίαι
TQ
κινήσεις), unwillkürlichen (ἀκούσιαι κινήσεις) sowie willkürlichen (ἑκούσιαι κινήσεις)
NO
und bei letztgenannten solche, die wider die Überlegung (παρὰ τὸν λογισμόν)
O
erfolgen, und solche, die der Überlegung gemäß vollzogen werden (κατὰ τὸν
ED
λογισμόν).
LE
AS
Zu den nicht willkürlichen gehören die oben genannten in sich abgeschlossenen
-P
Selbstbewegungsformen, wie die Atmung, Ernährung, das Wachstum, der
AF
T
regelmäßige Herzschlag, ständiges unwillentliches Wahrnehmen von etwas etc.
DR
Zu den unwillkürlichen zählt Aristoteles solche in sich geschlossenen und fertigen
sowie unabgeschlossenen Arten der Bewegung, die im Regungsvermögen und vor
allem der Einbildungskraft gründen, so die sexuelle Erregung, Furcht oder Wut bei
Mensch wie Tier und die dementsprechenden bewegungsmäßigen Reaktionen, wie
20
das Erröten, die Fluchtbewegung, der erhöhte Herzschlag. Allerdings realisieren sich
einzig beim Menschen diese Bewegungsformen aus einem Zukunftsbezug bzw. einer
UT
HO
R
Vorstellung von der Zukunft heraus, bei den Tieren aus einem Gegenwartsbezug bzw.
einer Vorstellung von der Gegenwart; ferner gehören zu diesen unwillkürlichen
TH
EA
Bewegungsformen verschiedene psychosomatische Reaktionen.
Zu den willkürlichen Bewegungsarten rechnet Aristoteles solche παρὰ τὸν λογισμόν,
FR
OM
also wider die Überlegung, Vernunft, Einsicht (bei Tieren wie beim Menschen: z.B.
Suchtverhalten beim Menschen oder anderweitiges Sich-gehen-lassen oder Begehren
N
von Nahrung bei Tier und Mensch, obwohl bereits eine Sättigung besteht, sowie solche
MI
SS
IO
κατὰ τὸν λογισμόν, nach Maßgabe von Überlegung beim Menschen: Musizieren,
Spazierengehen, tugendhaftes Handeln etc., welche alle unabgeschlossen sind, darin
TP
ER
somit auch die Freiheit des Menschen zu suchen ist.
OU
Leicht eingesehen werden kann, an Tieren wie an Menschen (wovon Aristoteles nicht
TH
spricht, was sich aber ableiten lässt): Der Mensch ist eingelassen in den Vollzug nicht
WI
willkürlicher (und unwillkürlicher) Bewegungsarten, und zwar ständig, auch dann,
TE
wenn er die Selbstbewegtheit in willkürlicher Art vollzieht; diese Mischung garantiert
OR
CI
dem Menschen auch seine Natürlichkeit und letztlich z.B. Gesundheit; ansonsten
UO
TE
würde der Menschen sich bewegen, handeln und denken wie eine Maschine.
O
NO
TQ
4. DAS LEBEWESEN MENSCH UND SEINE LEBENSVOLLZÜGE
ED
Die genannten seelenbedingten Bewegungsarten und Seelenteile bilden in
LE
AS
verschiedenen Kombinationen zugleich die Lebensweisen der Tiere, die nach
-P
Aristoteles ausschließlich den βίος γεννητικός („Fortpflanzungsleben“) und den βίος
AF
T
θρεπτικός (das „Ernährungsleben“) vollziehen, welche beiden Lebensvollzüge beim
DR
Menschen zum βίος οἰκονομικός (dem „häuslichen Dasein“) gehören und in diesem
aufgehoben sind, für den Aristoteles anders (d.h. weniger auf die Einrichtung des
Menschen im Dasein, eher auf das menschliche Dasein selbst blickend) den βίος
ἀπολαυστικός (das „Genußleben“), den βίος πολιτικός (das „tugend- und
vernunftorientierte
Gemeinschaftsleben“)
und
den
βίος
θεωρητικός
(das
21
„geistesorientierte Erkenntnisleben“) feststellt: So haben die Wissenschaften z.B. und
der universitäre, zur Zeit stark eingeschränkte akademische Lebensvollzug vor allem
UT
HO
R
Anteil an den beiden letztgenannten Lebensweisen.
Ziel wiederum der beiden letztgenannten nur dem Menschen eignenden
ist
das
Glück,
die
εὐδαιμονία,
welche
Aristoteles
als den
TH
EA
Lebensweisen
Realisierungsvollzug der Seele nach Maßgabe von Tugend (ἐνέργεια ψυχῆς κατ’ ἀρετὴν
FR
OM
τελείαν, vgl. Nikomachische Ethik I 13, 1102a 5f.: [...] εὐδαιμονία ψυχῆς ἐνέργειά τις κατ’
ἀρετὴν τελείαν [...]. ― „[…] Glück ist ein <wesentlicher> Realisierungsvollzug der Seele
N
nach Maßgabe vollendeter Tugend […] <[d.h. guten, weil Gemeinschaft stiftenden
MI
SS
IO
Tuns]>.“) ― und damit des guten, weil gemeinschaftsstiftenden Tuns ― bestimmt,
wobei wiederum die sog. ethischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Besonnenheit,
ER
Freigiebigkeit etc. und die Verstandestugenden wie das Können, Wissen oder
TP
Erkennen zu unterscheiden sind (zu letzteren siehe einen Text aus dem 6. Buch
WI
TH
OU
wiederum der Nikomachischen Ethik VI 3, 1139b 15–18):
CI
TE
ἔστω δὴ οἷς ἀληθεύει [zu ἀλήθεια: „Unverborgenheit“, „Offenbarkeit“] ἡ
OR
ψυχὴ τῷ καταφάναι ἢ ἀποφάναι, πέντε τὸν ἀριθμόν· ταῦτα δ’ ἐστὶ τέχνη
TE
ἐπιστήμη φρόνησις σοφία νοῦς· ὑπολήψει γὰρ καὶ δόξῃ ἐνδέχεται
TQ
UO
διαψεύδεσθαι.
NO
„Es sei <die Annahme gemacht>, dass es fünf <Arten der Haltung> sind, in
ED
O
denen die <menschliche> Seele, durch Zuspruch und In-Abrede-Stellen,
LE
AS
das, was in Wahrheit ist, vollzieht: dies sind Können, Erkennen, Sichbesinnen, Wissen und geistiges Vernehmen; <hinzu kommen> Annehmen
DR
AF
T
-P
und Meinen, <wodurch> es ja auch möglich ist, sich zu täuschen.“
Unabhängig also davon, welchem Lebensvollzug wir uns vornehmlich widmen ―eher
dem an den Verstandestugenden orientierten Erkenntnisleben oder eher dem an den
sog. ethischen Tugenden orientierten Gemeinschaftsleben oder beidem gleichermaßen
―, in jedem Fall vollziehen wir das glückverheißende oder glückliche Leben als ein
22
Realwerden möglichen Erkennens und möglicher Gerechtigkeit, Besonnenheit, d.h.
nach Maßgabe von Überlegung in freier, somit unabgeschlossener Weise.
UT
HO
R
Zu versuchen, z.B. die Freiheit dem Menschen aufzuzwingen, im politischen wie
erzieherischen Sinne, dürfte somit nach Aristoteles an der Sache ― dem Realwerden
TH
EA
eines freien, gerechten Gemeinwohls ― vorbeizielen.
Aber auch das Aufzwingen von Bildungsinhalten ― geistiger, musischer,
FR
OM
gymnastischer Natur ― durch die Vorgabe von zu erzielenden Kompetenzen, zum
Zweck der Vorbereitung auf die steuerbare, transparente Ausübung von Berufen, dürfte
IO
N
für Aristoteles letzten Endes ein No-Go gewesen sein, da Kompetenzen gerade nicht
MI
SS
der Unabgeschlossenheit und Offenheit der Bewegung des Wissens entsprechen,
ER
sondern eher an in sich abgeschlossene Wissens- und Kenntnisvollzüge erinnern. ― ―
TP
Vielleicht ist ja, so deutet es sich jedenfalls nun an, auch die Tatsache, wie wir
OU
Aristoteles lesen ― auf der einen Seite zukunftsoffen und unabgeschlossen, am
TH
Fragwürdigen und Rätselhaften orientiert, auf der anderen an dem orientiert, was wir
WI
bereits glauben, über ihn heute und für alle Zeit zu wissen, also vielleicht
CI
TE
kompetenzorientiert ―, vielleicht ist die Art der Aristoteles-Lektüre das Ergebnis
OR
dessen, wie sehr wir bereit sind, uns auf Aristoteles selbst einzulassen, ja auf das, was
TE
und wie Aristoteles aus dem Gedächtnis der Menschheit zu uns spricht, noch bevor
NO
TQ
UO
wir eine seiner Schriften aufgeschlagen haben. ― ―
LE
AS
ED
O
5. ABSCHLUSS: UNTERSCHIED VON MENSCH UND TIER
Der Mensch kann den Unterschied zwischen Mensch und Tier und damit seinen
-P
Verwandtschaftsgrad zum Tier nicht erkennen, solange er nicht begriffen hat, wer er
AF
T
ist und was ihn auszeichnet, nämlich ein Sinn für den λόγος (d.h. letztlich für den Sinn
DR
selbst, also ein Sinn für den Sinn selbst) und sofern der λόγος für das Menschsein eine
positive Grenze zum Tiersein markiert. Sobald der Mensch dies verstanden hat, kann
für ihn die Beschäftigung mit der belebten Natur, wie wir gesehen haben eine
Möglichkeit bieten, sich in der Einsicht in diesen Unterschied einzuüben und diesen
23
Unterschied denkend und handelnd zu vollziehen, aber auch zu erkennen, inwiefern
und inwieweit er an ihm selbst dem Tiersein zugehört und zugehören kann, ohne dass
UT
HO
R
er selbst ein Tier ist.2 Die φύσις weist ihm so eine negative Grenze seines Wesens, derer
er eingedenkt sein muss, um sich in einem tugendhaften, potenziell glücklichen,
TH
EA
selbstgenügsamen und guten Leben in Haus und Staat einrichten zu können.
Die entfernte Verwandschaft von Mensch und Tier scheint daher für Aristoteles die
FR
OM
Sache einer Entscheidung für den Unterschied und die Unterscheidung zwischen
Mensch- und Tiersein zu sein, wie verschiedene Passagen in den Ethiken und der
N
Politik uns lehren. Diese Entscheidung scheint über die ethischen Tugenden
MI
SS
IO
hinauszugehen und auch die sogenannten Verstandestugenden zu betreffen, ja
ER
überhaupt jeglichen denkenden und handelnden Lebensvollzug.
TP
Daher können wir abschließend mit Aristoteles sagen:
DR
AF
T
-P
LE
AS
ED
O
NO
TQ
UO
TE
OR
CI
TE
WI
TH
OU
Sag mir, wie Du das Verhältnis von Mensch und Tier siehst, und ich sage Dir, wie Du lebst.
Vgl. hierzu z.B. Nikomachische Ethik III 13, 1118b 1–3: κοινοτάτη δὴ τῶν αἰσθήσεων καθ’ ἣν ἡ ἀκολασία·
καὶ δόξειεν ἂν δικαίως ἐπονείδιστος εἶναι, ὅτι οὐχ ᾗ ἄνθρωποί ἐσμεν ὑπάρχει, ἀλλ’ ᾗ ζῷα. ― „Folglich ist
es die allgemeingültigste <Form> unter den Wahrnehmungen <[gemeint ist der Tastsinn]>, welche sich
die Zuchtlosigkeit zum Maß <nimmt>; auch darf sie zurecht als die schimpflichste gelten, weil sie bei
uns nicht, sofern wir Menschen sind, vorherrschen kann, sondern, sofern wir Tiere <sind>.“
2