René Bloch
Samuel im antiken Judentum
Für meinen Schwiegervater Allan Elkono Kviat (1937–1996)
דער זון,נאמען איז געװען אלקנה
ָ זײן
ַ װאס
ָ , ֿפון דעם געבערג ֿפון אֿפרים,צוֿפים-מאן ֿפון רמתים
ַ עס איז געװען ַא
:װײבער
ַ געהאט צװײ
ַ
האט
ָ און ער.אֿפריִמער
ַ ַאן, דעם זון ֿפון צוֿפן, דעם זון ֿפון ּתחו, דעם זון ֿפון אליהוא,ֿפון ירוחם
,געהאט קינדער
ַ
האט
ָ נאמען ֿפון דער צװײטער ּפנינה; און ּפנינה
ָ און דער,נאמען ֿפון אײנער איז געװען חנה
ָ דער
געהאט
ַ
האט קײן קינדער ניט
ָ און חנה.
Es iz geven a man fun Romosayim-Tsoyfim, fun dem geberg fun Efroim, vos zayn
nomen iz geven Elkone, der zun fun Yeroykhem, dem zun fun Elihu, dem zun fun
Toykhe, dem zun fun Tsufn, an Efroimer. Un er hot gehat tsvey vayber: der nomen
fun eyner is geven Khane, un der nomen fun der tsveyter Pnine; un Pnine hot gehat
kinder, un Khane hot keyn kinder nit gehat.
Das Judentum ist im Selbsterleben zuerst einmal eine Familiengeschichte,
keine Glaubensgeschichte. Und so beginnt auch das erste Samuelbuch, hier zitiert
nach der jiddischen Übersetzung von Yehoash1, mit einer Familiengeschichte.
Elkone und Khane werden die Eltern von Shmuel werden. Letzterer wird bald
im Zentrum des Geschehens sein, aber am Anfang steht der Blick zurück auf die
fünf früheren Generationen väterlicherseits (von den Vorfahren von Khane und
Pnine erfahren wir nichts). Mit dem weiten Blick zurück kontrastiert die unsichere
Zukunft: Pnine, die erste Frau Elkones, hat Kinder, Khane aber „hot keyn kinder
nit gehat“. Das Samuelbuch beginnt spannungsvoll mit einem Problem, das aus
der Tora bestens bekannt ist: langanhaltende Kinderlosigkeit.2
In der jüdischen Liturgie steht der Beginn der Samuelbücher an einer bemerkenswert markanten Stelle. Am ersten Tag von Rosch ha-Schana, dem
jüdischen Neujahrsfest, wird im Anschluss an die Tora-Lesung als Haftara
1Sam 1,1 – 2,10 gelesen: die Geschichte also von Hanna, deren Gebet und
Gelübde in Schilo erhört wird, die Samuel zur Welt bringt und ihn nach seiner
Entwöhnung zu Eli, dem Priester von Schilo, zurückbringt und dann erneut zu
Gott betet – zu Gott, „der tötet und lebendig macht“ (2,6: )ממית ומחיה. Samuel
steht damit ganz am Anfang: Sowohl in aschkenasischen als auch sephardischen Synagogen wird zu Beginn des neuen Jahres der Anfang des Samuelbuchs
1 Yehoash (Solomon Blumgarten, 1872–1927), Pentateuch (New York: 1938 (1926)).
2 Vgl. Walter Dietrich, Samuel. 1 Sam 1–12, Biblischer Kommentar Altes Testament VIII/1 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2010), 35–36.
https://doi.org/10.1515/9783110698350-003
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gelesen.3 Diese Zuteilung geht mindestens bis in rabbinische Zeit zurück, sie war
aber anfangs nicht unumstritten. Im Traktat Megilla, in dem über die Lesung der
Megillat Ester hinaus auch die Tora- und Haftara-Lesungen an den Feiertagen
über das Jahr hin diskutiert werden, heißt es:
An Rosch ha-Schana (liest man) „Im siebten Monat“ (Num 29,1) und als Haftara „Ist ein
teurer Sohn mir Ephraim“ (Jer 31,20). Und es gibt welche, die sagen (man lese) „Und der
Herr nahm sich Saras an“ (Gen 21,1) und als Haftara „Hanna“ ()ומפטירין בחנה. Heutzutage,
da es zwei Tage (Rosch ha-Schana) gibt, (lesen wir) am ersten Tag „gemäß es gibt welche,
die sagen“ und am folgenden Tag (lesen wir) „Und Gott prüfte Abraham“ (Gen 22,1) und als
Haftara „Ist ein teurer Sohn“ (Jer 31,20).4
Anfangs wurde demnach gemäß der Mehrheitsmeinung der Rabbinen am jüdischen Neujahr ein Text aus Jeremia als Haftara gelesen, während andere für
„Hanna“, also den Beginn des Samuelbuchs, plädierten. Nachdem der jüdische
Neujahrstag dann als zweitägiges Fest fixiert wurde5, hat man beide Haftarot
beibehalten und für den ersten Tag zugunsten der Minderheitsmeinung entschieden: für Samuel am ersten Tag von Rosch Ha-Schana, für Jeremia (31,1–20) am
zweiten.6
Wie kommt Samuel zu dieser Ehre, am ersten Tag des jüdischen Neujahrsfestes, zu Beginn der hohen Feiertage ()ימים נוראים, thematisiert zu werden? Womit
hat er es verdient, dass seine Geburtsgeschichte vor gefüllten Synagogen vorgelesen wird? Die Frage drängt sich auf, scheint Samuel doch in der jüdischen
Rangliste der biblischen Bezugspersonen sonst nicht ganz oben „mitspielen“
zu können. Samuel ist kein Mose, so scheint es zumindest, gewiss doch kein
Abraham, und er ist auch kein Aaron. Seine Bücher gehören zwar zu den Schriften
der Propheten ()נביאים, aber Samuel kommt sonst im Jahreszyklus der Haftarot
vergleichsmäßig selten zum Zuge. Nur an drei regulären Schabbatot wird eine
Haftara aus den Samuelbüchern gelesen: An Paraschat Schemini (2Sam 6,1–7,17
in aschkenasischer, 2Sam 6,1–19 in sephardischer Tradition), an Paraschat Korach
(1Sam 11,14–12,22) und an Paraschat Ha’asinu (2Sam 22,1–51). Zum Vergleich: Aus
den Königsbüchern wird an 11 regulären Schabbatot ein Abschnitt gelesen. Etwas
besser für die Samuelbücher sieht es aus, wenn man die speziellen Schabbatot
3 Vereinzelt wird bis zu 1Sam 2,20 gelesen. Zu den Haftarot vgl. Ismar Elbogen, Der jüdische
Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1962 [1931]),
174–184.
4 bMegilla 31a.
5 Vgl. bBeza 5a–b.
6 Als Maftir wird an beiden Tagen Numeri 29,1–6 gelesen.
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miteinbezieht wie den Schabbat vor Rosch Chodesch, an dem 1Sam 20,18–42 und
Schabbat Sachor (vor Purim), an dem 1Sam 15,1–34 (nach sephardischer Tradition,
2–34 nach aschkenasischer) und der siebte Tag Pessach, an dem 2Sam 22,1–51
gelesen wird.7
Warum wurde der Anfang des Samuelbuchs für die Prophetenlesung an
Rosch ha-Schana gewählt? Es dürften mehrere Gründe sein und man findet
einige als Vermutungen in rabbinischen Kommentaren und Machsorim-Ausgaben.8 Wesentliches bringt implizit die schon zitierte Passage aus bMegilla
31a auf den Punkt: Die Geburtsgeschichte von Samuel ergänzt elegant die Toralesung aus Gen 21. So wie Sara in hohem Alter und nach langem Warten endlich
schwanger wird und Isaak gebiert, bringt Hanna nach vielen Jahren schließlich Samuel zur Welt. Sie hatte sich bis dahin von Peninna so manche Beleidigung anhören müssen. Als ob sie Kinder hätte, sagte Peninna zu Hanna:
„Du hast für Deinen älteren Sohn einen Turban, für den zweiten ein Hemd
gekauft“.9 Morgens habe sie Hanna daran erinnert, ihre Kinder zu waschen, sie
zur Schule zu schicken und später dann von der Schule auch wieder in Empfang
zu nehmen.10
Wie Sara, Rebekka und Rachel bleibt auch Hanna vorerst unfruchtbar. Hinter
den dramatischen Geschichten steht die Angst, dass die jüdische Familiengeschichte nicht weitergehen würde. Fortpflanzung und Geburt ist dabei immer
auch eine Frage von Leben und Tod. Damit sprechen die Tora- und Haftaralesung des ersten Tages von Rosch ha-Schana (zu Sara bzw. Hanna) im Grunde die
Hauptthematik des jüdischen Neujahrsfestes an: Es ist der Beginn der 10 Tage der
Teschuwa, der Umkehr, aber auch des göttlichen Urteils darüber, wer leben und
wer sterben soll. Im Unetanne Tokef, dem zentralen Gebet von Rosch ha-Schana,
heißt es: „An Rosch ha-Schana werden sie eingeschrieben und an Jom Kippur
7 Vgl. Hanna Liss, Tanach: Lehrbuch der jüdischen Bibel. 4., völlig neubearbeitete Auflage (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019), 286–287, 466–472.
8 Vgl. insgesamt zur rabbinischen Rezeption Samuels mit vielen Stellenangaben Louis Ginzberg,
The Legends of the Jews (Philadelphia: Jewish Publication Society, 2003 [1913]), 887–909. Vgl.
auch Mark Leuchter, Samuel and the Shaping of Tradition (Oxford: Oxford University Press, 2013),
86–97.
9 Midrasch Samuel 1,8: זבנת לברך רבה סודר ולתנינא חלוק. Hintergrund ist 1Sam 1,6–7: „Und die andere Frau, die Hanna feind war, kränkte sie dann auch noch, um sie zu erniedrigen, weil der Herr
ihren Mutterleib verschlossen hatte. Und so war es Jahr für Jahr: Jedes Mal, wenn sie zum Haus
des Herrn hinaufzog, kränkte jene sie in dieser Weise.“
10 Pesiqta Rabbati 43: אמר רבי נחמן בר אבא היתה פנינה משכמת ואומרת לחנה אין את עומדת ומרחצת פניהם
ובשש שעות היתה אומרת אין את עומדת ומקבלת את בנייך שבאו מבית הספר,של בנייך כדי שילכו לפני הספר. Auch
Pseudo-Philon, Liber Antiquitatum Biblicarum 50, malt Peninnas Hohn aus: Hanna mag schön
sein, aber was zählt, ist Nachkommenschaft.
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werden sie besiegelt: […] wer leben wird und wer sterben wird“()מי יחיה ומי ימות.11
Und das sind ja auch bereits die Worte in Hannas Loblied auf Gott nach der Geburt
Samuels: „Der Herr tötet und macht lebendig“ ()יהוה ממית ומחיה.12
Darüber hinaus bot sich der Anfang des Samuelbuchs aber auch aus anderen
Gründen als Ergänzung zur Geburtsgeschichte von Isaak und als Lesung an Rosch
ha-Schana an. Beide Geschichten thematisieren eine größtmögliche Opferbereitschaft Gott gegenüber: Abraham ist bereit, Isaak – seinen einzigen, geliebten
Sohn – Gott zu geben (die Akeda wird am zweiten Tag Rosch ha-Schana gelesen),
Hanna ihren lang ersehnten Sohn dem Priester Eli in Schilo zu überlassen (wobei
im Sinne der Familiengeschichte dann natürlich wesentlich ist, dass weder der
eine noch der andere letztlich untergeht, sondern eben weiterlebt). Erneut ist
es eine Frage von Leben und Tod: im Falle der Beinahe-Opferung Isaaks, aber
auch im Falle des Beinahe-Todes von Hanna, die verzweifelt ist, nicht mehr isst
und sich gewissermaßen in einem liminalen Bereich zwischen Leben und Tod
befindet.
Hanna, die so intensiv und gleichsam in Ekstase betet – vor und nach der
Geburt Samuels –, konnte auch als Vorlage für die gebetsintensiven hohen
Feiertage Rosch Ha-Schana und Jom Kippur dienen. Im Talmud wird aus der
biblischen Beschreibung der betenden Hanna, die in ihrem Herzen redet und
ihre Lippen bewegt, das ideale Gebet herausdividiert.13 Wer auch immer den
Anfang des Samuelbuchs geschrieben hat: Es ist ein Text entstanden, der die
Tage des göttlichen Gerichts, Rosch ha-Schana und Jom Kippur, auf geradezu
ideale Art und Weise einstimmen konnte.14 Die Wichtigkeit der Schwangerschaft
von Hanna wird im Talmud dadurch weiter betont, dass die Empfängnis mit
Rosch ha-Schana zusammenfiel – genauso wie im Falle von Sara und Rachel.
Sara, Rachel und Hanna – die Mütter von Isaak, Josef und Benjamin und von
Samuel – wurden alle am jüdischen Neujahr schwanger (בראש השנה נפקדה שרה
)רחל וחנה.15 Wenn man bedenkt, dass in der jüdischen Tradition am Neujahrstag
11 Vgl. Leo Trepp, Der jüdische Gottesdienst. Gestalt und Entwicklung (Stuttgart: Kohlhammer,
1992), 120–121.
12 1Sam 2,6. Hannas Hymne ist nach Targum Schir Ha-Schirim 1 eines der zehn Lieder Israels.
13 bBerachot 31a–b. Vgl. Susanne Plietzsch, „Identification with a Woman? The Hannah Figure
in the Babylonian Talmud,“ in The Stranger in Ancient and Mediaeval Jewish tradition, ed. Géza
Xeravits, Jan Dušek (Berlin: De Gruyter, 2010), 215–227.
14 Nach bBaba Batra 15a schrieb Samuel „sein Buch“ bis zum Bericht über seinen Tod
(1Sam 28,3), abgeschlossen wurde es vom Seher Gad und dem Propheten Nathan.
15 bRosch ha-Shana 10b–11a. Gemäß Rabbi Eliezer verbindet das Motiv der Erinnerung Rahel,
Hanna und das Neujahr: Gen 30,22; 1Sam 1,19; Lev 23,24 (11a).
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auch die Welt erschaffen worden ist16, wird die Bedeutung dieses „Anfangs“ von
Samuel noch deutlicher.
Der Talmud weiß weiter, dass Samuel eine Frühgeburt war (wie auch Isaak).17
Hanna brachte Samuel nach 6 Monaten und zwei Tagen Schwangerschaft zur Welt.
Abgeleitet wird dies von 1Sam 1,20: „und im Verlauf der Tage (litekufot hajamim:
)לתקופות הימיםwurde Hanna schwanger und gebar einen Sohn.“ Die Übersetzungen geben das hebräische tekufot unterschiedlich wieder.18 Im rabbinischen
Verständnis umfasst eine tekufa drei Monate (bzw. eine Jahreszeit); der Plural
zeigt, dass es mindestens zwei mal drei Monate waren. Das Minimum des Plurals
„Tage“ sind ebenfalls zwei.19 Samuel kam demnach nach zweimal drei Monaten
und zwei Tagen zur Welt. Wie das Leben Isaaks stand auch jenes von Samuel von
Geburt an auf der Kippe. Der Talmud fragt sich, wie ein Neugeborenes nach nur
gut sechs Monaten Schwangerschaft überleben kann und im Falle Isaaks wird vermutet, dass es allenfalls ein Schaltjahr war: dann käme noch ein Monat dazu. Das
Bild des frühgeborenen Samuel (und Isaak) passt freilich zum Mythologem des
zukünftigen „Helden“, der alle Widrigkeiten rund um seine Geburt (und Kindheit)
überlebt und gestärkt aus ihnen hervorgeht. Die antiken Mythologien kennen eine
Vielzahl solcher Geschichten: von Mose, Jesus, Ödipus und eben auch von Isaak
und Samuel (und manche mehr).20 Samuel war eine Frühgeburt und, nach einer
weiteren talmudischen Stelle, noch länger ein schwächlicher Junge: Ausgehend
von 1Sam 1,22 – „Hanna aber zog nicht hinauf (um mit Elkana zu opfern), denn
sie hatte zu ihrem Mann gesagt: Bis der Knabe entwöhnt ist“ – wird die Frage aufgeworfen, warum Samuel nicht auf der Schulter seines Vaters „ritt“ (דיכול לרכוב על
)כתיפו: Elkana hätte Samuel doch so schon als Kleinkind zum Heiligtum tragen
können? Aber Hanna befürchtete, dass die Reise für Samuel zu anstrengend sein
würde. Denn sie hatte an Samuel eine „ungewöhnliche Zartheit“ ()מפנקותא יתירתא
festgemacht.21
Der Samuel der rabbinischen Literatur ist generell nicht ohne Schwächen,
auch in halachischer und ethischer Hinsicht. Seine Opferpraxis (1Sam 7,9) und
dass er als Nicht-Priester überhaupt opfert, wird kritisiert.22 Im Gespräch mit Saul,
16 Ebd.
17 bRosch ha-Shana 11a.
18 Vgl. Dietrich, Samuel. 1 Sam 1–12, 20.
19 bRosch ha-Shana 11a: מיעוט תקופות שתים ומיעוט ימים שנים.
20 Vgl. Otto Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung (Leipzig: Franz Deuticke, 1922).
21 bChagiga 6a.
22 Midrasch Tehilim 27,6. Samuel wird im biblischen Bericht nicht explizit Priester genannt.
Nach 1 Chr 6,12–13 ist Samuel ein Nachkomme Levis.
Samuel im antiken Judentum
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nachdem er von der Totenbeschwörerin von Endor vom Tod auferweckt worden
ist, gesteht Samuel, dass er zu Lebzeiten gelogen hatte.23 Das rabbinische Bild von
Samuel kennt also durchaus Ambivalenzen.24 Insgesamt jedoch wuchs Samuel zu
einem ähnlich großen spirituellen Anführer heran wie Mose. Schon im Psalm geht
Samuel auf den Spuren von Mose und Aaron:
Mose und Aaron von seinen Priestern, und von denen, die seinen Namen anrufen, Samuel,
sie riefen zum Herrn, und er erhörte sie.
משה ואהרן בכהניו ושמואל בקראי שמו קראים אל־יהוה והוא יענם.25
Samuel steht hier parallel zu Mose und Aaron. Alle drei kommunizieren direkt
mit Gott.26 Die Rabbinen verweisen auf diesen Psalmvers, um zu zeigen, dass
Samuel Mose und Aaron in nichts nachstand.27 Samuel konnte Mose sogar übertreffen. Denn während Mose zu Gott gehen musste, um von ihm zu hören, ist es
bei Samuel umgekehrt: Gott tritt zu Samuel.
So finden wir, dass Mose und Samuel einander gleich waren, wie es heißt: „Mose und
Aaron von seinen Priestern, und von denen, die seinen Namen anrufen, Samuel“ (Ps 99,6).
Komm und sieh, wieviel zwischen Mose und Samuel ist. Mose ging hinein (in das Stiftszelt:
Num 7,89) und kam zu Gott, um das gesprochene Wort zu hören, zu Samuel aber kam der
Heilige, gepriesen sei er, wie es heißt: „Und der Herr kam und stellte sich hin“ (1Sam 3,10).
בא וראה, שנאמר )תהלים צט( משה ואהרן בכהניו ושמואל בקוראי שמו,וכן מצינו משה ושמואל שוין כאחת
משה היה נכנס ובא אצל הקב“ה לשמוע הדבור ואצל שמואל היה הקב“ה בא שנאמר,כמה בין משה לשמואל
)ש“א =שמואל א‘= ג( ויבא ה‘ ויתיצב.28
„Samuel, Samuel“ hat gemäß dem biblischen Bericht Gott gerufen, und zwar „wie
die früheren Male“ (1Sam 3,10). Gott trat kontinuierlich an Samuel heran: Spätere
Kommentatoren sehen darin einen Unterschied zu Mose, der zu Beginn auch von
Gott angesprochen wird (Ex 3,4).29 Samuel – der zukünftige Königmacher von
Saul und David – ist ein Prophet (1Sam 3,20), und nach dem Talmud stammte er
23 Wajiqra Rabba 26,7. Zu ähnlichen Ambivalenzen in der christlichen Deutung der SamuelFigur vgl. den Beitrag von Katharina Heyden in diesem Band (2.1 und 2.4).
24 Liss, Tanach, 289.
25 Psalm 99,6.
26 Vgl. auch Jer 15,1: „Und der Herr sprach zu mir: Selbst wenn Mose und Samuel vor mich träten,
diesem Volk würde ich mich nicht zuwenden!“
27 Berakhot 31b; Ta‘anit 5b; Rosch ha-Shana 25b sowie die nachfolgend zitierte Stelle aus Schemot Rabba.
28 Schemot Rabba 16,4.
29 Midrash Rabbah. Shemos/Exodus. Vol. 1, ed. Nosson Scherman und Meir Zlotowitz (Brooklyn,
N.Y.: Mesorah Publications, 2013) ad loc.
38
René Bloch
auch von Propheten ab. Hanna ist eine der sieben Prophetinnen und auch Elkana
war ein Prophet: Dessen Herkunftsort Ramatajim-Zophim (1Sam 1,1) wird in der
rabbinischen Lesung als „200 Seher“ ((ra)matajim/zophim) interpretiert, die „für
Israel prophezeiten“.30 Und der aramäische Targum Jonathan „übersetzt“ den
Anfang des Samuelbuchs ganz entsprechend: „Und es war ein Mann aus Ramah
von den Schülern der Propheten“ ()והוה גברא חד מרמתה מתלמידי נביאיא.31
Viele rabbinische Notizen über Samuel wurden im Midrasch Samuel gesammelt: Der Midrasch umfasst 32 Kapitel und hat einen deutlichen Schwerpunkt
auf 1Sam 1. Leopold Zunz datierte den Midrasch ins 11. Jahrhundert, wobei das
Material zu großen Teilen älter sein dürfte.32 Im Midrasch Samuel wird auch früh
auf Samuels Tod verwiesen, wobei die Erklärung bemerkenswert ist. Hannas
intensives Gebet hatte nicht nur zu Samuels Geburt geführt, sondern auch zu
seinem frühen Tod, gemäß den Rabbinen im Alter von 52 Jahren:
Dadurch, dass Hanna so viel betete, kürzte sie die Tage Samuels, denn sie sprach: „Und er
bleibe dort bis zu einem Olam (1Sam 1,22: )עד עולם.“ Unter einem Olam bei den Leviten sind
nur 50 Jahre zu verstehen. Das ist, was geschrieben steht (Num 8,25): „Und im Alter von
50 Jahren trete er aus der Reihe des Dienstes“ usw. Siehe, es sind doch aber 52 Jahre (die
Samuel gelebt hat)? Nach Rabbi Josse bar Rabbi Abin sind die zwei Jahre, in denen sie ihn
entwöhnte, nicht mit in der Zahl inbegriffen.
אין עולמן של לוים אלא חמשים, שאמרה וישב שם עד עולם,חנה על ידי שרבתה בתפלתה קצרה ימיו של שמואל
אמר רבי יוסי בר, והא אינון חמשין ותרתין,( הדא הוא דכתיב ומבן חמשים שנה ישוב וגו‘ )במדבר ח‘ כ“ה,שנה
רבי אבין שתים שגמלתו אינן מן המנין.33
Der frühe Tod Samuels überrascht, denn nach 1Sam 8,1 ist Samuel ja „alt“ geworden. Aber Gott hat Samuel früh ergreisen lassen, damit er den Tod des von ihm
gekrönten Saul nicht erleben müsste.34 An sich, so eine weitere Talmudstelle, ist
ein Tod im Alter von 50 ein „Tod der Ausrottung“ ()מיתת כרת, ein gottgesandter
frühzeitiger Tod. Obwohl Samuel mit 52 starb, fällt er nicht in diese Kategorie.
Samuel stirbt sozusagen hors concours: „Wenn jemand mit fünfzig Jahren stirbt,
30 bMegilla 14a: ;אחד ממאתים צופים שנתנבאו להם לישראלebenda die sieben Prophetinnen Israels:
Sara, Mirjam, Debora, Hanna, Avigail, Hulda und Esther.
31 Targum Jonathan Sam 1,1,1.
32 Leopold Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt. Ein Beitrag
zur Altertumskunde und biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte (Frankfurt a.M.:
Asher, 18922), 281–283; Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: C.H.
Beck, 20119), 361–362. Die kritische Ausgabe stammt von Salomon Buber (Krakau, 1893). Eine
deutsche Übersetzung findet sich bei August Wünsche, Aus Israels Lehrhallen, Bd. V (Hildesheim:
Georg Olms, 1967 [1910]).
33 Midrasch Samuel 3,3 (Übersetzung Wünsche).
34 bTa‘anit 5b.
Samuel im antiken Judentum
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so ist dies der Tod der Ausrottung, mit zweiundfünfzig Jahren, so ist dies der Tod
des Ramatiten Samuel“ ( חמשים ושתים שנה – זו היא,מת בחמשים שנה – זו היא מיתת כרת
)מיתתו של שמואל הרמתי. Aus „Hochachtung“ ( )משום כבודו של שמואל הרמתיzählt der
Talmud Samuel nicht zu jenen, die zwischen 50 und 60 gestorben sind.35
Auch wenn also die Samuelbücher in der jüdischen Liturgie nicht allzu präsent
sind, kommt der Samuelfigur dann, wenn sie thematisiert wird, wiederholt eine
große Bedeutung zu. Geburt und Tod werden besonders markiert. Augenfällig ist
dabei die starke Zeichnung von Hanna: schon im biblischen Bericht und noch
mehr dann in der rabbinischen Exegese. Samuel kann seinerseits sogar mit Mose
mithalten, ja ihn sogar übertreffen. Wie sein Vater Elkana, der auch ein Prophet
war, und seine Mutter Hanna, deren frommes Gebet erhört wird, steht Samuel
nahe bei Gott. Sowohl das biblische Buch als auch Rabbinen und jüdisch-hellenistische Autoren bringen Samuels Namen in Verbindung mit seiner Gottesnähe.
Noch vor seiner Geburt wurde Samuels Name von einer himmlischen Stimme verkündet, weiß der Midrasch zu berichten. Ein Gerechter (zaddik) namens Samuel
würde nächstens geboren werden – und entsprechend viele Jungen mit dem
Namen Samuel kamen damals zur Welt:
Eine Himmelsstimme ging hervor und zirpte durch die ganze Welt und sprach: Einst wird
ein Gerechter erstehen, dessen Name Samuel ist. Jede Frau, die einen Knaben gebar, gab
ihm den Namen Samuel.
כל אשה שהיתה יולדת,בת קול יוצאה ומפוצצת בכל העולם כולו ואומרת עתיד צדיק אחד לעמוד ושמו שמואל
בן היתה מוציאה שמו שמואל.36
Auf die enge Verbindung Samuels mit Gott weist bereits auch sein Name hin. Wie
das Samuelbuch sagen würde: „Wie sein Name lautet, so ist er“.37 Nur: Wie genau
ist Samuels Name zu verstehen? Die biblische Etymologie in 1Sam 1,20 ist etwas
seltsam: „und sie [Hanna] gab ihm den Namen Samuel: Denn vom Herrn habe ich
ihn erbeten“ ()ותקרא את־שמו שמואל כי מיהוה שאלתיו. Der biblische Text spielt mit
hebräisch scha’al (fragen, bitten) und ’el (Gott). Eine ähnliche Etymologie bietet
der jüdisch-römische Historiker Flavius Josephus: Unter Samuel könne man den
„von Gott Erbetenen“ – θεαίτητος – verstehen.38 Im Hebräischen hängt bei dieser
Etymologie nun allerdings der Buchstabe „m“ (Samuel) in der Luft. Es überrascht
35 bMo‘ed Qatan 28a.
36 Midrasch Samuel 3 (Übersetzung Wünsche).
37 1Sam 25,25 (über Nabal).
38 Josephus, Antiquitates Iudaicae 5,346: ὃν Σαμουῆλον προσαγορεύουσι· θεαίτητον ἄν τις
εἴποι. Dadurch wird Samuel für einen Moment zum Homonym des platonischen Dialogs über
die Erkenntnistheorie (Theätet). Zu Josephus’ Paraphrase der Samuelbücher vgl. Michael Avioz,
Josephus’ Interpretation of the books of Samuel (London: Bloomsbury T&T Clark, 2015).
40
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entsprechend nicht, dass sich eine Reihe weiterer etymologischer Versuche ganz
unterschiedlicher Provenienz findet: Im mittelalterlichen Kommentar zu den
Haftarot von Eleasar ben Juda von Worms wird der Name Samuels von schemo
schel ’el ‘eljon ()שמו של אל עליון, „sein Name ist von Gott, dem Höchsten“, abgeleitet.39 Indem das hebräische Wort für „Name“ (schem) ins Spiel gebracht wird,
kommt man näher zu Samuel als in der biblischen Etymologie. Ähnliches gilt für
den jüdisch-hellenistischen Philosophen und Theologen Philon von Alexandrien.
Philons Bibel ist im Wesentlichen der Pentateuch. Gelegentlich öffnet er aber den
Blick auf den ganzen Tanach und überrascht mit Einordnungen, die sonst nur
in Bezug auf Mose vorstellbar wären: An einer Stelle präsentiert sich Philon als
Schüler des Propheten Jeremia.40 Und in seinem Traktat über die Trunkenheit (De
Ebrietate) wird Samuel als „der größte der Könige und Propheten“ (ὁ καὶ βασιλέων
καὶ προφητῶν μέγιστος Σαμουὴλ) bezeichnet. Was Philon in diesem Zusammenhang zu dieser sonst Mose vorbehaltenen Charakterisierung Samuels führt, ist
dessen Verzicht auf Wein und berauschenden Trank (Philon zitiert 1Sam 1,11 nach
der Septuaginta).41 Damit stellt sich Samuel ganz auf die Seite des Heiligen und
Reinen. Samuel ist nach Philon kaum noch Mensch: Er hat sich von seiner Körperlichkeit gelöst und ist ganz „Geist, der sich ausschließlich über Gottes Dienst
und Verehrung freut; [Samuel] bedeutet nämlich: ‚Gott Zugeordneter‘ (τεταγμένος
θεῷ).“42 Diese Etymologie geht offenbar auf das Hebräische zurück: Hier wird das
Verb sam (שים: setzen, stellen, legen) mit dem Gottesnamen ’el ( )אלverbunden.43
Alle diese Etymologien haben gemeinsam, dass sie Samuel eng (z. T. stärker als
39 Eleasar ben Juda ben Kalonymos (Worms), Rimze Haftarot, Rosch ha-Shana (Warschau, 1875,
S. 17). Vgl. Ginzberg, Legends, 890. Ähnlich die Etymologie bei Hieronymus, Liber de nominibus
hebraicis, passim: nomen eius Deus.
40 Philon, De Cherubim 39. Vgl. René Bloch, „Philo and Jeremiah: A Mysterious Passage in De
Cherubim (Response to Gregory Sterling),“ in Jeremiah’s Scriptures. Production, Reception, Interaction, and Transformation, ed. Hindy Najman, Konrad Schmid (Leiden: Brill, 2016), 431–442.
41 Philon, De Ebrietate 143: διὰ τοῦτο ὁ καὶ βασιλέων καὶ προφητῶν μέγιστος Σαμουὴλ „οἶνον
καὶ μέθυσμα“, ὡς ὁ ἱερὸς λόγος φησίν, „ἄχρι τελευτῆς οὐ πίεται“. Das Septuaginta-Zitat ist nicht
ganz exakt.
42 Philon, De Ebrietate 144: ὡς νοῦς λατρείᾳ καὶ θεραπείᾳ θεοῦ μόνῃ χαίρων· ἑρμηνεύεται γὰρ
τεταγμένος θεῷ […]. Ebenso Quod Deus 5 und De Somniis 1,254.
43 Vgl. Carl Siegfried, Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments (Jena: Dufft, 1875),
33–34; Lester L. Grabbe, Etymology in Early Jewish Interpretation: The Hebrew Names in Philo (Atlanta: Scholars Press, 1988), 200. Zur Frage nach Philons Hebräisch-Kenntnissen vgl. René Bloch,
„How much Hebrew in Jewish Alexandria?,“ in Alexandria – Hub of the Hellenistic World, ed.
Benjamin Schliesser et al. (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), 261–278. Den Namen Hannas erklärt
Philon als „Gnade“ (χάρις, Ebr. 145, dahinter steht die hebräische Wurzel )חנן.
Samuel im antiken Judentum
41
der biblische Text) mit Gott verbinden.44 Und so wird aus dem frühgeborenen,
zarten Samuel eine große Prophetenfigur, an deren Anfänge Jüdinnen und Juden
jährlich zu Beginn der hohen Feiertage erinnern.
44 Ähnlich verläuft die offensichtlich ebenfalls auf das Hebräische zurückgehende Etymologie
Samuels bei Origines (in libr. Sam. 1, hom. 5): ibi ipse deus (scham/’el). Schwierig einzuordnen ist
Pseudo-Philon, Liber Antiquitatum Biblicarum 51: Samuel bedeute „Starker (quod interpretatur
fortis), gemäß dem, wie Gott seinen Namen genannt hatte, als er ihn weissagte.“ Das hebräische
Original ist verloren, aber die Bedeutung „stark“ scheint davon abgeleitet zu werden, dass es Gott
war, der Samuel den Namen gab. Möglicherweise wird Samuel hier wie bei Eleasar ben Juda (und
Hieronymus) mit hebräisch schem („Name“) verbunden. Auch Josephus kennt die Etymologie
„stark“ (ἰσχυρός) für Samuel. Vgl. Ginzberg, Legends, 890 sowie Howard Jacobson: A Commentary on Pseudo-Philo’s „Liber antiquitatum biblicarum“. With Latin Text and English Translation
(Leiden: Brill, 1996), 1095–1096.