Dr. Sonus oder
Nach Klang duftet die Stille
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Oliver Adam
̶
Veröffentlichung der Erstfassung in: Styx 96, Nr. 3: Bergschäden.
Anthologie – Kurzprosa und Lyrik. Hrsg. Caroline Rusch, Claudius Wiedemann u. a.,
Verlag Styx 96, Augsburg 1998, ISBN 3-932811-02-X, S. 18 - 29.
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Wieder ein Morgen ohne Notfallbehandlung. Keiner, der sich geschwollener
Wange und tränenverquollenen Gesichts nach Erlösung sehnte. Keine, die nach
schmerzvoll durchwachter Nacht geröteten Auges zu ihm bangend aufblickte und
deren schmerzverzerrtes Antlitz flehentlich zu morgendlicher Eile mahnte.
Das Wartezimmer noch fast leer. Nur zwei vorbestellte Patienten harren artig
und gelassen ihrer pünktlichen Behandlung. Ein Tag wie so viele, seither er seine
Zahnarztpraxis eröffnet hatte. Anfangs war es noch spannend für ihn, in immer
neuen erwartungsvoll-ängstlich aufgesperrten Mündern gegen Karies und
Zahnstein anzukämpfen. Mitfühlend setzte er den Bohrer an des Zahnes
hässliches Fäulnisschwarz, krönte golden er den Stumpf, schlug Brücke, wo die
Lücke klaffte. Über so manchen strengen Mundgeruch roch rücksichtsvoll er
hinweg, ganz der Füllung eines zuvor noch hoffnungslos verrottet scheinenden
Backenzahnes hingegeben. Natürlich übersah er bei seiner Arbeit nicht das
Drumherum eines jeden geöffneten Mundes. Die zarten Züge eines zu
demonstrativem Mutigsein erbärmlich verkrampften Jünglings, die in ängstlich
kurzem Atmen rhythmisch bebende feste Brust eines Mädchens. Zog er einen
langen
Schneidezahn
aus
dem
Munde
eines
gealterten
ächzenden
Charakterkopfes, hoffte er bisweilen heimlich, einem solchen Manne im Alter
einstmals zu gleichen, statt ein ausdrucksloses Durchschnittsgesicht in den Tod
führen zu müssen. Die Arbeit am Gebiss war schon nach seinem Geschmack.
Mochte sie eine an vergänglichem Werke sein, so befriedigte sie ihn doch
besonders dann, wenn Substanz er bewahren konnte oder ein Gesicht, wenn nicht
an Schönheit gewann, so doch einen Makel verlor. Kommt mangelnder Ausdruck
noch unvollständig daher, zieht die Zahnlücke allein alle Aufmerksamkeit auf sich.
Zahnlos ist das Bild archaischer Ohnmacht. Zufrieden sah Dr. Sonus den Patienten
an, wenn er ihm wieder Biss verliehen hatte. Ein bisschen – das Urmaß leiblichen
Weltergreifens klingt der Kleinschreibung zum Trotze noch nach – Glück schenkte
ihm die Arbeit in den Rachen der Anderen durchaus. Kein Gebiss ist dem anderen
gleich. Wie der Fingerabdruck einen Jeglichen als Einzigen verrät, ist auch die
Beißspur Signum einmaligen Lebens, Siegel eines unwiederholbar einzigartig
gezeichneten und sich fortgestaltenden Leibes.
2
Nicht von jeher hatte Zahnarzt er werden wollen. Welches Kind will schon
Zahnarzt werden? Er war in zarten Kinderjahren nur zu einer Zukunft entschlossen
gewillt. „Musiker“, hatte stets er geblärrt, wann immer ein Großer sich zu ihm hinab
geneigt und mit unverkennbar gespielter Neugier die gleichgültige oder Interesse
heuchelnde, die übliche, allzu übliche Frage gestellt hatte, was er denn werden
wolle, wenn er einmal groß sein werde.
Kein Gedanke verirrte sich in diesen frühen Jahren zu abweichendem Wunsche,
als die Trompeten der Engel noch die Natur durchklangen, Wunsch und Welt im
selben Tanze schwangen. Die Eltern, praktisch gesinnt, rieten aufdringlich
beflissen Berufe an, die stetes Sattsein sicher verbürgten, erteilten Absage an
Künstlerzukunft konsequent, sobald sie in des Kindes Wunsch unkindlichen Ernst
entdeckten. So blieb ihm Instrument entschieden verwehrt, obgleich Virtuosität auf
zwölf über eine Zigarrenkiste gespannten Gummiringen ihm nicht abzusprechen
gewesen sein mochte, sofern er den späteren Geschichten der amusischen
Verwandten Glauben schenken durfte.
Selbstgeschnitzte Flöte zerbrach in des Vaters großen Händen voller Häme.
„Erwischt!“ hieß des Vaters lakonischer Kommentar zu seinen wütenden Tränen. In
der Verwandtschaft ließ sich kein Künstler finden, kein Mensch, von dem Beistand
er hätte erflehen können. Schlug die kleine Faust verzweifelt in Ermangelung
anspruchsvollerer
Instrumente
einen
Rhythmus
auf
Topf,
Stuhlsitz
oder
Dosendeckel, setzte schallende Ohrfeige seinem Spiel abrupt ein betont
arhythmisches Ende. Ein höhnisches „Er kann´s nicht lassen“ drang ihm durch sein
trotziges Weinen. Allein aus dem Hören musikalischer Wohlklänge vermochte er
noch die Süße des Lebens und der Sinnenfreude zu saugen, deren die wachsende
junge Seele so dringend bedurfte. Kindliche Schöpferkraft blieb in enge Fesseln
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geschlagen, Wunscherfüllung in die Sphären der Phantasie und des Traumes
getrieben.
Musikalische Ausbildung beschränkte sich auf das in der Schule nicht zu
verbietende Singen, wofür, zu der Eltern triumphaler Freude, Talent ihm fehlte
ganz und gar. Die eigene Stimme versagte ihm, sich zum Instrumente bilden zu
lassen, das keiner ihm hätte entreißen können. Er übte voller Leidenschaft, nutzte
jeden
Moment
gesuchter
Einsamkeit
zur
Probe
einfacher
Lieder.
Die
Knabenstimme bot nicht, was er verlangte. „Kein Chor wird meinen Gesang in sich
dulden“, gestand er unumwunden sich ein. Diese Stimme würde nie das Ohr der
Anderen betören, den Liebhabern der Musik nie schmeicheln. Wie der Flöte kein
Geigenklang zu entlocken ist, war sein Leib nicht zum Liede zu stimmen. Früh
musste er erkennen, dass der Leib ein Schicksal ist. Nicht jedes Können ist ihm zu
entwinden. Mit tieferer Wehmut litt er die innere Grenze.
3
Als in jugendlichem Alter wild des Nachts er lustvoll in die Kirche stieg, mit
hohem Mute ins Cathedralenfenster brach, entging der Strafverfolgung er nur
knapp. Vom Priester ertappt, wollte dieser ihm nicht glauben, dass allein die Orgel
es gewesen sei, die zum Einbruche ihn habe gereizt, dass allein Herzensglut einer
nach dem Orgelspiel sich verzehrenden Seele verzweifelt Ausweg sich in
bleigefasste Butzenscheiben des Kirchenfensters geschlagen. Dass ein fern der
Instrumente gehaltenes Wesen sich am erhabensten zitternder Hand in tiefer
Nacht versuchen wollte, um musikalische Freude sich in des Kerzenscheines
Heimlichkeit zu gönnen, sollte bei einem Manne des Glaubens den Glauben nicht
finden.
Der Priester hielt verstockt an dem Verdachte fest, es habe dem Jungen der
Sinn wohl eher nach dem Altarschmucke gestanden, das Candelabrum ihn
verlockt. Wie sollte der Eine des Andern Sehnsucht nach dem Orgelspiele
nachempfinden können, dem dessen Klang gewöhnlicher Arbeitsalltag ist? Wie
sollte, wer sich gerade auf dem Gebiete menschlichen Begehrens und
menschlicher Verfehlungen für weise hält, an seinem ersten Eindrucke zweifeln?
Wie einer, der um Bedürfnisse nach Rechtfertigung weiß, nicht auch solche Rede
dafür halten? Auch ein Priesterglaube findet klare Grenze dort, wo der eigne
Nutzen sich so wenig offenbaren will.
Die Eltern legten der guten Worte geduldig viele ein, um Priesters Toben im Ruf
nach Polizei zu bremsen. Wer glaubt schon den Eltern eines ruchlosen
Kirchenschänders? Wer traut dem, der wie ein Dieb in der Nacht kommt, musische
Motive zu? So schlossen die Eltern den Pakt mit dem Priester, büßten des Sohnes
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groben Fehltritt mit Messbesuchen ab, was für den Sohn nicht ohne Eindruck blieb.
Aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen bedrängte er sie nicht länger mit
unheilbringendem Verlangen nach Musikinstrumenten, entschloss voll innerer
Qual, doch endgültig sich zum Berufe des Dentisten, auf dass solide er sich durch
das Leben beiße.
4
Um musikalisches Wollen in sich ganz zu bannen, verbot er sich den Kontakt zu
jeglichem Instrument. Kaum gab er brennendem Verlangen nach. Er litt wie einst,
als er sich des Willens zum Gesange entschlagen musste, ganz grässlich. Er floh
die Orte, wo Instrumente sich verführerisch boten.
Seinem besten Freunde gab er den unverdienten Abschied. Verschwiegen
blieb, dass ein Klavier den Anlass geboten, in dessen Nähe ihn ein Streben zu den
Tasten so unwiderstehlich hingezogen, dass oft willenlos er unterlegen war.
Sein Leiden zu mindern, widmete er sich um so mehr dem Hören. Geliebte alte
Arien, Ouvertüren, aber gleichwohl die Musik der Gegenwart, flossen seinem
Innern ein, zogen reine Spuren. Der Zustand, in dem er viele Stücke, manche nur
einmal erhört, innerlich vernehmen konnte und Unabhängigkeit von äußerer
Tonquelle erlangte, war bald erreicht. Geschlossenen Auges saß er des Morgens
auf dem Weg zur Universität in der Straßenbahn, nutzte die zehnminütige Fahrt,
den Tag mit den „Martern aller Arten“ aus Mozarts „Entführung“ würdig
einzustimmen. Klar und rein vernahm er die Callas aus seinem Innern. Mitunter
war ihm, als könnten die um ihn Sitzenden mithören, wenn sie nur wollten.
Aber bald erwachte das unstillbare Verlangen nach einem Instrument erneut mit
bisher ungekanntem Drange. Stets um den Rückfall bangend, mied er nun
jeglichen Kontakt zu wohlklingenden Tönen. Dem Innern versuchte er erbittert
Einhalt zu gebieten. In schmerzlichster Anstrengung verordnete er innerem
Verlangen hart die Stille. Es gelang, ein reiches Innenleben entschlossen zu
veröden.
Er
war
erfolgreich,
mochte
auch
in
Momenten
verminderter
Selbstkontrolle bisweilen noch „Addio del Passato“ aufklingen, so überwand er
auch diese letzte Schwäche.
Auf der Klaviatur der Sinnenlüste ging er daran neue Töne anzustimmen,
besuchte Kunstausstellungen anfangs nur der Ablenkung wegen, las sich in die
Weltliteratur ein, schlief mit so mancher Schönen, die einen musikflüchtigen
Sonderling in seiner Seltenheit zu genießen wusste, fand an all den neu
entdeckten Sinnenfreuden der Nicht-Musik reichen Genuss. Den Besuch einer
Vernissage mit Musikprogramm verweigerte er strikt, was eine Freundin ihm
verübelte. Er nahm es mit Gleichmut. Wie sollte sie seine Leiden ermessen?
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5
Eines sonnenüberfluteten Frühlingsmorgens brach er voller Übermut mit ihr zu
einem Waldspaziergang auf. Als sie auf einer Lichtung aneinander liebesgierig
hinabglitten und alle Saiten der Wollust virtuos erklingen ließen bis der Lüste Spiel
erlösend erschlaffte, folgte seinem orgasmischen Zucken ein panischer Schrecken
konvulsiver Plötzlichkeit. Er hatte im Lustgestöhn „Children of the Revolution“
vernommen und ein Farbenspiel erlebt, wie T-Rex es nie in seiner frühesten
Jugend geboten. „Bin ich ein Synästhet?“, durchschrak es ihn. Scheu um sich
blickend fragte er, ob auch sie der Geräusche gewahr geworden. Sie sah
verständnislos ihn an: „Ach, Vögel nur. Was hast du?“
Hastig bekleidet, rannte er einem Verfolgten gleich ziellos hinweg. Während er
dem Gestrüpp und den Bäumen des Waldes mühsam stolpernd auswich, vernahm
er ganz deutlich Purcells kaltes Lied „What Power art thou/ Who from below/ Hast
made me Rice...“ Schweiß rann in die Augen, doch die Farben und Düfte ließen
sich nicht stören.
Sich wiedergefunden in der Welt geordneter Koordinaten, wissend, wo er sich
befand, rang den hohen Entschluss er sich ab, fortan die bewusst erzeugten
Sinnenlüste in Gänze zu schmähen, Unausweichlichem unumgänglich ausgesetzt,
selbst dieses weithin abzudämpfen und einzudämmen. Des Synästheten Schicksal
ist, dass die Sinne unerklärliche Korrespondenzen miteinander pflegen, sich
eigenwillig zu komplexen Wahrnehmungen verbünden. Farben verströmen
Gerüche, Klänge verschwistern sich mit Zahlen, Gerüche mit Bildern; Formen oder
Zahlen erklingen. – Eine pythagoreische Passion in schwingenden Sphären. Hier
gähnt die Gefahr, droht die Wiederkunft aufsteigender Töne. Ein Stolz straffte
seinen Körper angesichts seines so radikalen Entschlusses; zufrieden lächelnd
dachte er an seinen weißen Zahnarztkittel und die wundervoll klinisch-unsinnliche
Atmosphäre seiner Praxis.
Die im Walde Zurückgelassene sah er nie wieder. Jeder Ausschweifung
entsagend, durchherrschte eherne Pflicht der Enthaltsamkeit den Alltag fortan
gründlich. Er bildete eine eigentümliche Stumpfheit aus, die ihm als Ausdruck
höchster Selbstdisziplin galt. Nur manchmal, wenn er seiner Zahnarzthelferin die
Ziffern der behandelten Zähne eines Patienten oder einer Patientin diktierte,
drängte sich die eine oder andere Farbe auf, dieser und jener Duft. Das ließ
nachdenklich und wachsam werden, aber nicht verzweifeln.
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6
Dieser
Sonnentag,
bar
jeder
von
klingendem
Gewinsel
begleiteten
Notfallbehandlung, versprach Alltag pur. Der Sonne Schein allein schied diesen
Tag anfangs zu geringfügig von anderen Tagen. Die Mitarbeiterin hatte sich krank
gemeldet. Wohlüberlegt hatte einst er eine besonders fade und zumindest in
seinen Augen überaus reizlose Person zur Zahnarzthelferin erwählt, was ihm so
leicht nicht gefallen war, wie er sich offen eingestand. Von ihr sollte ihm keine
Gefahr drohen, nicht von ihr, nicht aus solcher Nähe, gar unvermittelt aus der
Gewöhnlichkeit des Gewohnten heraus. Darüber nachzusinnen, schenkte ein
Gefühl von Sicherheit, eine selbstzufriedene Gewissheit.
Routiniert behandelte er die ersten bestellten Patienten – wie stets voller
Empfindsamkeit in höchsten Konzentration der dentogenen Gestaltungsaufgabe
hingegeben. Angesichts der Zahnreihen bedrängte ihn ein störender Gedanke an
jenen französischen Komponisten, der sich einst ganz in Weiß kleidete und in der
Öffentlichkeit nur weiße Speisen zu essen pflegte. Lächelnd fand er zur
Selbstbeherrschung zurück, denn dessen exotische Tonsysteme, die auch
Vogelrufe in die Musik zogen, mochte er kaum. „Der – o Verzeihung – die Nächste
bitte!“, rief er aus der schalldämpfend gepolsterten Tür ins Wartezimmer.
Eine hoch aufgewachsene Schönheit betrat den Raum, sich ihrer Reizesfülle
gewiss, schritt sie zum Behandlungsstuhl. Dr. Sonus suchte nach Worten. Sein
Blick vermaß der Proportionen aufreizende Sinnlichkeit, die wohlverteilten
Rundungen, wobei er peinlich mied von ihr beobachtet zu werden. Strömende
Unruhe durchwallte ihn, als er den Behandlungsstuhl in die nötige Schräglage
stellte, die ausgestreckten drallen Schenkel in so ungemein greifbare Nähe
gerieten. Geöffneten Mundes lag sie erwartungsvoll vor ihm. Er rang mit sich die
Behandlung zu verweigern – und schwieg. Er richtete das Licht auf ihr Antlitz.
Schwarze Locken umspielten die Kopflehne und große dunkle Augen schauten ihn
an. Bei der Kontrolle des Gebisses vernahm er aus den metallischen Klängen
einen unbeabsichtigten Rhythmus, dem sich eine leise Melodie zugesellte. Die
Hände zitterten. Eine winzige schwarze Stelle, kaum, dass er sie deutlich erkannte,
boten die sonst makellosen vollständigen Zahnreihen. Es ist als wäre es ihr erster
Zahnarztbesuch, dachte er noch und gewahrte ihres Leibes Duft. Schnell war der
Bohrer zur Hand. Kaum an den Zahn geführt, nahten sich Klänge ihm,
Farbenspiele umgleißten ihre Wangen und er spürte wie violetter Fliederduft sich
im Weiß stiller Narzissenkühle verlor. Da war er wieder, der Cold Song, das kalte
Lied. Leis´ hob es an, zu reinem Blau stieg Klaus Nomis Countertenor. – „What
Power art thou / Who from below“ – Schrill drang der Bohrer in und durch das
Schwarz ins Weiß. Wie die Kunst ihn aus dunkelster Tiefe ergriff. – „Hast made me
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Rise / Unwillingly and slow“ – Des Zahnbohrers Klang – ein feines Instrument in
den Händen des Geübten. Nerv schnitt purpurnen Schmerzenston ins grelle Weiß,
Ton um Ton. Der Musiker auf eigenstem Instrumente. Dass gesunder Zahn zum
Klang nicht schlechter tauge als der so wenig kranke, war schnell erkannt. – „From
beds of Everlasting Snow!“ – Kalter Schweiß auf der Stirn. – „See`st thou not how
stiff / And wondrous old“ – Der Töne ganze Macht lockte er hervor, bohrte lustvoll
ins Gezähn. Ganz Synästhesie, die Klänge sphärisch in aparten Farben, die hohen
Töne
sauber
geschieden
von
azurnem
Hintergrund-Gewinsel.
Das
Erbarmensgewimmer verschmachtender Patientin fein vom Gewollten dentogener
Melodik getrennt. – „Far unfit to bear the bitter Cold / In can scarcely move“ – Er
wurde aus Duftnebeln weitester Fernen ihres aufreizend nahen Leibes gewahr, der
sich gequält in engem Kleide anmutig wand. Ihre schönen dunklen Augen in
panischem Schrecken geweitet. Der Leib so anziehend. Die erhabenen Züge
schmerzverzerrt. Ihr Haupt, den Bohrer fliehend in die Kopfstütze gepresst. Der
Mund angstvoll offen. Kein roher Schrei, nur gebanntes Entsetzen. – „Or draw my
Breath“ – Heiß durchfuhr ihn der Schrecken bodenloser eigener Abgründigkeit
seiner tiefsten Lust, seines erlöschenden höchsten Glücks. Hochrotes Erglühen
der Wangen. Des Atems Stocken. Versinken-Wollen. – „Let me, let me. / Let me,
let me. / Let me, let me. / Freeze again to Death.“ – Nur ein plötzliches Sterben
schien ihm noch angemessener, einzig verzeihlicher Ausweg. Ein Wie-konnte-ich
stand im Gesichte ihm. Entkräftet sank reuig er in die Knie vor dem
Behandlungsstuhl, dem hohen Throne seines Opfers. Kläglich flehende Laute aus
seinem Munde gestoßen.
Die schöne Patientin hatte sich schneller erholt als zu erwarten gewesen wäre.
Geschmeidig erhob sie sich. Majestätisch blickte sie auf ihn hinab, ihre
ausgestreckte Linke wies gebietend mit dem Zeigefinger eindeutig auf den leeren
Behandlungsstuhl. Seinem fragenden Blicke antwortete sie schneidig: „Platz, Herr
Doktor!“ Er folgte gedankenlos wie einer, der sein Urteil nicht verstünde. Ehe er zu
sich kam, hatte sie seine Arme schon am Behandlungsstuhl befestigt. Er bemerkte
einen dezent grausamen Zug um ihren leicht nur lächelnden erotischen Mund,
derweil sie die Funktionsweise des Bohrers erkundete. Es ängstigte ihn und er
glaubte Henry Purcells fragende Stimme zu vernehmen, ob wir das kalte Lied noch
einmal spielen wollen, es sei doch wahrlich schön gewesen. Wer ließe diesen
duftenden Kelch an sich vorüberziehen? Leise setzte es aus höchsten Höhen ein.
Erstarrend sah er den vertrauten Bohrer in seinen angstvoll offenen Mund gleiten,
schloss die Augen ... Farben, Töne, himmlischer Gesang erklang zur irdischen
Passion. Ein kühles Rosa brach ins Türkis. Er spürte den Hauch ihres Atems. Eine
Orgie
der
Sinnesempfindungen
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untermalt
von
markdurchdringendem
wie
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aufglänzendem Schmerz. Ein amodaler Empfindungskosmos – ganz der seine. –
„Far unfit to bear the bitter Cold / In can scarcely move“ – Er lauschte auch sich,
dem lebendigen Instrument in den Händen der Schönen, die tief ins Gezähn zu
fühlen verstand. Seine ausweglosen Schreie drangen blanken Klingen gleich aus
fernem, blutdunklem Nebel blitzend zu ihm hinüber. Gerüche von frischem Moos
und zartem Moder durchwogten Kornblumenduft. – „Let me, let me. / Freeze again
to Death.“ – Heißen Hauchs verklang das kalte Lied.
Als er wieder zu sich kam, lag er in ihrem Arm. Mit feuchtem Mull aus der Praxis
kühlte sie ihm Wangen und Stirn. „Wissen Sie, ich wünschte mir immer schon:
Einmal Zahnärztin spielen! Schon als Kind schien mir das Doktorspiel allzu
unzulänglich. Wenn Sie mir nicht Schmerz bereitet hätten, nie hätte ich mich
getraut, nie das Vollbrachte gewagt. So aber war es selige Rache. Doch erzählen
Sie, weshalb Sie solche Freude hatten, mir weh zu tun!“ Er hauchte Erbarmen
heischend: „Ich liebe Sie.“ Er fühlte den trivialen Ton dieser innigen Worte und
seine ganze Erbärmlichkeit. Sein Kopf sank kraftlos in ihren Arm zurück. Sie kühlte
erneut sein Gesicht: „Heute könnten wir am Abend ins Theater gehen. Mögen Sie
Kleist?“ – „Warum nicht?“ – „Die Frage gefällt mir...“
7
Sie sahen Penthesilea. In der Zahnarztpraxis erklingt seither leise Musik, was
feinsinnige Patienten zu schätzen wissen. Später nahmen sie sich eine
gemeinsame Wohnung. Sie lehrte ihn Noten und Farbtheorien. Klavier übte er mit
mäßigem Erfolg. Er schrieb jedoch ein Werk, das sogar den Rang eines
jugendgefährdenden Buches erstieg. Seine inzwischen strenggläubigen Eltern
enterbten ihn zugunsten der Kirche.
Die Wand seines Wartezimmers schmückt ein kalligraphisch gestaltetes Zitat
aus Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung und gibt manchen Patienten zu
denken: „Die Leidenschaften und Begierden v e r n i c h t e n , bloss um ihrer
Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint
uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die
Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne a u s r e i s s e n , damit sie nicht mehr
weh thun ...“
Wenn Dr. Sonus und die Schöne einander begehren, lassen sie bisweilen das
kalte Lied erklingen. Manchmal wird er ihres Bisses in seinem Fleische gewahr, der
Spur eines einzigartigen Leibes, der Lust vollkommenstem Instrument, das zu
stimmen und zu spielen beileibe … Übrigens gilt beider Vorliebe der Tragödie. Wie
allen niveauvollen Menschen sind auch ihnen Texte und Stücke mit Happy-End
zutiefst zuwider.
Oliver Adam ̶ Dr. Sonus oder Nach Klang duftet die Stille
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