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#Akzeleration
Herausgegeben und mit einem Prolog versehen
von Armen Avanessian
Merve Verlag Berlin
Originalausgabe
Redaktorat: Bernd Klöckener, Tom Lamberty, Danilo Scholz
© 2013 Merve Verlag Berlin
Printed in Germany
Druck- und Bindearbeiten: Dressler, Berlin
Umschlagentwurf: Jochen Stankowski, Dresden
ISBN 978-3-88396-350-1
www.merve.de
INHALT
EINLEITUNG ......................................................................7
KRITIK AM TRANSZENDENTALEN MISERABILISMUS............ 16
#ACCELERATE
MANIFEST FÜR EINE AKZELERATIONISTISCHE POLITIK ....... 21
DAYS OF PHUTURE PAST:
KAPITALISMUS, ZEIT, AKZELERATION............................... 40
BEFRAGUNG DES AKZELERATIONISMUS AUS SICHT DES
KÖRPERS ...................................................................... 50
DIE ARBEIT DER ABSTRAKTION
SECHS VORÜBERGEHENDE THESEN ZU MARXISMUS UND
AKZELERATIONISMUS ..................................................... 61
KRISE – KRITIK – AKZELERATION .................................... 71
KOSMOGENETISCHE AKZELERATION:
ZUKÜNFTIGKEIT UND ETHIK............................................. 78
TEXTNACHWEISE............................................................ 95
EINLEITUNG
ARMEN AVANESSIAN
»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse,
also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (...) Die Bourgeoisie hat durch
ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und
Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie
hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet
worden und werden noch täglich vernichtet.«
Karl Marx und Friedrich Engels,
Manifest der kommunistischen Partei
»Aber welcher ist der revolutionäre Weg? [...] Sich vom
Weltmarkt zurückziehen [...]? Oder den umgekehrten
Weg einschlagen? Das heißt mit noch mehr Verve sich
in die Bewegung des Marktes, der Decodierung und
Deterritorialisierung stürzen? Denn vielleicht sind die
Ströme [...] noch zuwenig decodiert und deterritorialisiert? Nicht vom Prozeß sich abwenden, sondern unaufhaltsam weitergehen, ›den Prozeß beschleunigen‹,
wie Nietzsche sagte: wahrlich, in dieser Sache haben
wir noch zu wenig gesehen.«
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus
»The story goes like this: Earth is captured by a technocapital singularity as renaissance rationalization and
oceanic navigation lock into commoditization take-off.
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Logistically accelerating techno-economic interactivity
crumbles social order in auto-sophisticating machine
runaway. As markets learn to manufacture intelligence,
politics modernizes, upgrades paranoia, and tries to
get a grip.«
Nick Land, Meltdown
» Marx war klar, dass der Kapitalismus nicht als Akteur
einer wahren Beschleunigung gelten kann. In ähnlicher
Weise ist auch die Beschreibung der linken Politik als
Antithese zur technosozialen Beschleunigung, zumindest teilweise, eine massive Verkehrung der Tatsachen. Wenn die politische Linke eine Zukunft haben
soll, muss es eine sein, in der sie ihre Neigung zum
Akzelerationismus nicht länger unterdrückt, sondern
sie im Gegenteil so bereitwillig wie möglich aufgreift.«
Nick Srnicek und Alex Williams, #Accelerate
Manifest für eine akzelerationistische Politik
Die Faszination linker Denker für das Thema Beschleunigung reicht, wie die hier an den Anfang gestellten Zitate
zeigen, von Marx/Engels’ Kommunistischem Manifest
über Deleuze/Guattaris anti-ödipalen Nietzscheanismus
und Nick Lands apokalyptische Deterritorialisierungsphantasien bis zu dem im Sommer 2013 online publizierten Manifesto for an Accelerationist Politics. Aus dem
Umkreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus kommend, haben Nick Srnicek und Alex
Williams, die Autoren dieses hier erstmals auf Deutsch
abgedruckten Manifests, frischen Wind in den festgefahrenen und oft sterilen Diskurs der politischen Linken
gebracht, der sich gerne in beschaulichem Lokalismus
oder apokalyptischem Voluntarismus gefällt.
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Anknüpfend an Alberto Toscano und Ray Brassier,
die jüngst die mythologische Figur des Prometheus
wieder in die Diskussion eingebracht haben, kann von
einem prometheischen Ansatz gesprochen werden. Er
erleichtert den zuletzt von Alain Badiou und Slavoj Žižek
popularisierten Rationalismus um seine dezisionistische
oder voluntaristische Attitüde (die Beschwörung leerer
Ereignisse) und bringt ihn stattdessen mit konkreten historischen, ökonomischen und biologischen Entwicklungen in Verbindung. Hauptsächlich wendet sich der Akzelerationismus jedoch gegen diverse Kardinaluntugenden
einer gemütlichen und selbstzufriedenen Linken: die Fetischisierung basisdemokratischer Prozesse und die damit
verbundene Authentizitätsnostalgie.
Ähnlich wie der rationalistische Flügel des Spekulativen Realismus, der sich in prometheischer Aufklärungsaffirmation an der folk psychology (Alltagspsychologie)
abarbeitet, wenden sich auch Srnicek und Williams
gegen diverse Formen von folk politics (so der Titel eines
gemeinsamen Buchprojekts), von folkloristischem Lokalismus-Kitsch. Ihre Polemik ist dabei von so erfrischender
Klarheit, dass man glauben könnte, sie hätten ihre politischen, ökonomischen und philosophischen Studien in
Berlin-Kreuzberg absolviert und nicht im rauen London.
Der Kapitalismus ist – das ist gegen jeden voluntaristischen, dezisionistischen oder kommunitaristischen
Ansatz festzuhalten – ein Objekt höchster Abstraktion.
Sowohl die neoliberalen Macht- und Regierungsformen
als auch die damit verbundenen Produktionsweisen sind
in einer Weise zugleich abstrakt und allgegenwärtig, dass
ein alternatives politisches Subjekt nur auf einem ent-
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sprechenden Komplexitäts- bzw. Abstraktionsniveau konzipiert werden kann.
Statt einer rückwärtsgerichteten Verlangsamung bedarf progressives politisches Denken und Handeln heute
einer epistemischen Akzeleration: Ohne eine entsprechende kognitive Karte, ein cognitive mapping auf der
Höhe des wissenschaftlichen, technologischen und medialen Status quo ist politisches Handeln nicht möglich – es
sei denn, man verwechselt Politik mit dem, was, so Rancière polemisch, eher als gouvernementale Administration oder polizeiliche Praxis zu verstehen ist.
Jedem akzelerationistischen Denken liegt die Einschätzung zugrunde, dass den Widersprüchen (des Kapitalismus) mit einer Zuspitzung zu begegnen ist, wobei an
dieser Stelle zwei miteinander zusammenhängende Risiken zu vermeiden sind: einerseits ein zynisches Vertrauen in eine politique du pire, andererseits die idealistische
Hoffnung, dass die Intensivierung der krisenhaften Phänomene des Kapitalismus im gegenwärtigen Neoliberalismus – nach dem Muster einer doppelten Negation – zur
Aufhebung von dessen inneren Widersprüchen, ja zu seiner völligen Implosion führen würde. Gleichwohl macht
erst eine auf die Zukunft orientierte Beschleunigungspolitik, so jedenfalls die Autoren des Manifests, ein wahrhaft progressives Denken und Handeln möglich – und
eröffnet einen spekulativen Blick auf zukünftige politische
Systeme.
Mit dem Begriff der Zukunft ist eines der entscheidenden Schlagworte der Debatte pro und contra Akzelerationismus gefallen. Denn die unterschiedlichen (immer wieder auch zeitphilosophischen) Diskussionen zeigen, dass
die Debatte um Geschichte und Zukunft des Akzeleratio-
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nismus eine offene ist – und auch noch länger bleiben
wird.
Was die drei (oder, mit Marx, vier) Phasen des Akzelerationismus verbindet, die mit den eingangs zitierten
Autoren markiert sind, ist ein Wille zur Zukunft, ein
Zukunftsbegehren, das sich im Falle des aktuellen Akzelerationismus gegen die Imaginationsschwäche und den
Negativismus der Occupy-Bewegung richtet. Der »capitalist realism« (Mark Fisher) bedarf dringend alternativer
Direktionen und entsprechender Fluchtgeschwindigkeiten
des Denkens – escape velocities, um den Titel eines im
November 2013 in New York abgehaltenen Symposiums
zum Akzelerationismus zu zitieren.
Von diesem Drang in Richtung Zukunft ist auch der
hier abgedruckte, bereits vor fast zehn Jahren entstandene Beitrag von Nick Land, dem – aufgrund seiner Publikationen der letzten Jahre – unter neoliberalem Obskurantismus-Verdacht stehenden Vordenker des Spekulativen Realismus, getragen. Darin heißt es – durchaus im
Sinne Marx’ –, die Zeit selbst habe inzwischen den Weg
des Kapitalismus eingeschlagen. Lands Vorwurf gegen
den »transzendentalen Miserabilismus« der Frankfurter
Schule, die mit der Zeit insgesamt auch die Zukunft verdamme, betrifft das defätistische Eingeständnis, dass der
Kapitalismus allen seinen Konkurrenten an Innovationskraft und Progressivität überlegen bleibt. Darin sieht Land
ein Versagen der politischen Imagination, das politisches
Handeln nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig
zu machen scheint.
Dass Land nicht ausreichend zwischen neoliberaler
Geschwindigkeit und Akzeleration unterschieden habe,
dieser Vorwurf von Srnicek/Williams ist ein ebenso zeitpolitischer wie zeitphilosophischer. Der wiederum gegen
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sie gerichtete Einwand von Benjamin Noys, der in seinem
Buch The Persistence of the Negative (2010) den Begriff
accelerationism in die politische Diskussion einführte, hat
ebenfalls eine doppelte Stoßrichtung: Erstens falle das
Manifest überall dort, wo es konkrete Forderungen erhebt
(Aufbau einer intellektuellen Infrastruktur, radikale
Medienreform etc.) hinter die akzelerationistischen Prämissen zurück und erinnere eher an Gramscis Hegemoniemodell; zweitens sei fraglich, ob der Kapitalismus wirklich mit seinen eigenen Waffen einer zunehmenden
Dynamisierung und Beschleunigung zu schlagen ist.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Franco ›Bifo‹ Berardi
mit seinen Zweifeln an der Reichweite und Substanz
akzelerationistischer Politik. Im Sinne des italienischen
Postoperaismus (dem neben Bifo etwa Maurizio Lazzarato, Christian Marazzi, Antonio Negri oder Paolo Virno
zuzurechnen sind), der sich vor allem für die immateriellen Arbeit im kognitiven Kapitalismus interessiert, weist
Bifo darauf hin, dass sich die Macht des Kapitals keineswegs einer Stabilität verdankt. Die quasi-immanenzpolitische Strategie des Akzelerationismus beruhe daher
paradoxerweise »auf einer speziellen Interpretation der
Behauptung Baudrillards [...], dass ›die einzigmögliche
Strategie katastrophisch, nicht dialektisch‹ sei«. Paradox
ist das nicht zuletzt deshalb, weil der gegenwärtige politische Akzelerationismus ja gerade sowohl gegen den blinden Geschwindigkeitsrausch Nick Lands als auch gegen
das antritt, was man postmodernen Dromonihilismus
nennen könnte – sei es in Form der Geschwindigkeitsphantasien der (Neo-)Liberalen oder der darauf reagierenden Exodus-Phantasien, wie sie etwa Paul Virilio formuliert hat.
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Den Versuch, den Akzelerationismus mit Ansätzen
des frühen Operaismus zu verbinden, unternimmt Matteo
Pasquinelli, Autor von Animal Spirits. A Bestiary of the
Commons (2008). Er radikalisiert und rekontextualisiert
die Funktion der Abstraktion für die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und stellt das transformative
Potenzial des Akzelerationismus heraus, um die Möglichkeit einer auch epistemischen Beschleunigung denkbar
zu machen.
Patricia MacCormack, die zu Themen wie Cinemasochism (2009), Necrosexuality (2010) oder Post-human
Ethics (2012) veröffentlicht hat, nimmt den jüngst von
Steven Shaviro ins Spiel gebrachten Aspekt einer akzelerationistischen Ästhetik auf. Angesichts der »Erschöpfung
des Jetzt« befragt MacCormack ein »Zukunfts-Jetzt« und
versucht die Möglichkeiten auszuloten, wie Akzeleration
ein Neues artikulieren kann, das der kapitalistischen
Erschöpfung des Jetzt widersteht: Akzelerationistisches
Denken entspricht ihr zufolge exakt einer nicht wahrnehmbaren, kosmischen, immanenten Zukunft.
Isoliert man die drei Dimensionen der Zeit, dann lassen sich, Reza Negarestanis Überlegungen bei der
schon angeführten New Yorker Tagung aufnehmend, drei
insuffiziente politische Temporalitäten benennen: 1) mit
Blick auf die Vergangenheit: eine politische Nostalgie, die
den Bruch mit der unerträglich gewordenen Gegenwart
nur noch in der ausgeleierten Matrix vergangener Revolutionen denken kann; 2) mit Blick auf die Gegenwart: ein
kurzsichtiger Aktivismus; 3) mit Blick auf die Zukunft: eine
weltvergessene politische Eschatologie.
Wie aber können Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit
anders gedacht, in ein anderes, ein rekursives (statt bloß
reflexives oder metareflexives) Verhältnis zueinander
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gesetzt werden? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt
meines Beitrags, in dem der narzisstischen Beschaulichkeit – die sich rasant in der ästhetisierten Universität und
der akademisierten Kunstwelt, aber nicht nur dort, ausbreitet – ständiger und lähmender kritischer Selbstreflexionsexzesse die ›Rekursion‹ entgegengesetzt wird.
Wie kann man den nirgendwohin bzw. zu nichts Neuem
führenden Meta-Reflexionen von Kritik, critique, criticality
entkommen? Wie viel Fluchtgeschwindigkeit braucht es,
um aus dem hegemonialen Denkmodell kritischer
Reflexivität auszubrechen, das in scheinbarer Alternativlosigkeit alles – außer natürlich seinen eigenen kritischen
Zustand – als unkritisch verdammt?
Dieser MERVE-Band versteht sich als spontaner Beitrag
zum gegenwärtigen politischen Diskurs, ein Diskurs, der
nicht unangekränkelt ist vom unheimlichen politischen
Stillstand im gegenwärtigen Deutschland: eine an der
Oberfläche milde Sozialdemokratie, die gelähmt oder
zynisch dabei zusieht, wie der Neoliberalismus Europa
verschlingt und den Rest der (Um-)Welt in den Ruin treibt.
Bis auf den Aufsatz von Nick Land sind alle Beiträge
in diesem Jahr (2013) entstanden, und mit Ausnahme
des Textes von Matteo Pasquinelli handelt es sich um
Aufsätze, die für andere Kontexte geschrieben wurden –
symptomatischerweise überwiegend im Kunstkontext.
Mein Dank gilt zunächst den Übersetzern Jan Georg
Tabor, Samir Sellami, Frederik Tidén, Ulrike Stamm,
Serhat Karakayali und Thomas Atzert sowie besonders
Danilo Scholz und Bernd Klöckener für ihre zugleich
redaktionelle Umsicht, sodann Gean Moreno, dem Herausgeber der »Accelerationist Aesthetics«-Nummer bei
e-flux, ebenso wie den e-flux-Herausgebern (Julieta
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Aranda, Brian Kuan Wood und Anton Vidokle), ganz
besonders aber diesmal Tom Lamberty, mit dem gemeinsam kurz vor der deutschen Stillstandswahl die spontane
Idee zu einem Akzelerationismus-Buch entstand, das
bereits einige Wochen später, während der großkoalitionären Zementierung ebendieses Stillstands, vorliegt.
Die Perspektive des Akzelerationismus zielt auf die
Zukunft. Aber vielleicht nicht nur, wie Benjamin Noys
schreibt, als ein Zurück in die Zukunft, sondern als ein
Zurück aus der Zukunft. Denn die Gegenwart erhält nur
dann ihre Kontingenz und Offenheit (zurück), wenn sie
von einer erst zu entwerfenden Zukunft aus in den Blick
genommen werden kann.
Heute ist Zeit für Antizipation und Akzeleration, es ist
Zeit, dem gegenwärtigen Katastrophismus einen Wechsel entgegenzusetzen. Der Moment ist gekommen für einen Zeitenwechsel. Für Akzelerationismus und Anastrophismus.
Los Angeles, November 2013
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