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Urban Icons. Architektur und globale Bildzirkulation

2011, Informationen zur modernen Stadtgeschichte IMS 2011/2: Urban Icons, hg. von Celina Kress/Marc Schalenberg/Sandra Schürmann

Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2011 Verlagsort: Berlin 2.Halbjahresband Herausgegeben von Martin Baumeister, Christoph Bernhardt, Dorothee Brantz, Martina Heßler, Gerd Kuhn, Friedrich Lenger, Jürgen Reulecke, Ralf Roth, Axel Schildt, Dieter Schott und Clemens Zimmermann in Verbindung mit Stefan Fisch, Antjekathrin Graßmann, Adelheid von Saldern, Hans Eugen Specker und Clemens Wischermann Themenschwerpunkt Urban Icons Verantwortliche Herausgeber: Celina Kress/Marc Schalenberg/Sandra Schürmann E D I T O R I A L .............................................................................................. 5 L E I T A R T I K E L Celina Kress/Marc Schalenberg/Sandra Schürmann Spektakel, Allheilmittel, Forschungsfeld: Perspektiven auf ‚Urban Icons’. B E R I C H T E U N D A U F S Ä T Z E Z U M 7 T H E M A Christa Kamleithner/Roland Meyer Urban Icons. Architektur und globale Bildzirkulation.............................. 17 Dominik Scholz Vom Fortschrittssymbol zum städtischen Vorzeigeobjekt: das Atomium in Brüsssel........................................................................... 32 Anja Früh/Nele Günteroth Vom Statussymbol der DDR zum Wahrzeichen Berlins: Der (Ost-)Berliner Fernsehturm................................................................. 44 G. Michał Murawski From Iconicity to Domination: The Palace of Culture and Science in Contemporary Warsaw......................................................................... 56 Frank Roost Symbole des Strukturwandels von Metropolregionen: Leuchtturm-Projekte in Bilbao und dem Ruhrgebiet................................ 69 Christian Salewski Ikonischer Städtebau – Entwicklung und Folgen großmaßstäblichen symbolischen Entwerfens im globalen Kontext ....................................... 83 F O R U M Christoph Kreutzmüller Berlin 1933-1945....................................................................................... A L L G E M E I N E 95 B E R I C H T E Sebastian Haumann Tagungsbericht: GSU-Nachwuchstagung und Workshop „Stadt und Moderne“, Darmstadt vom 22.-23.9.2011.............................. 105 Tina Enders Das „Eigene“ von Städten erforschen. Tagungsbericht zur internationalen Konferenz „The Distinctiveness of Cities – Modes of Re-Production“, vom 15. bis 17. Juni 2011 in Darmstadt......... 108 Celina Kress Tagungsbericht: Queen Jane Jacobs. Jane Jacobs and paradigm shifts in urban planning and urban redevelopment, HafenCity Universität Hamburg, am 12. und 13. Mai 2011 ........................................................ 110 Rudolphus Teeuwen Tagungsbericht zur Konferenz ‘The City and the Ocean. Urbanity, (Im)migration, Memory, and Imagination’, vom 16. bis 17. Oktober 2010 in Kaohsiung, Taiwan...................................................................... 113 Nicolas Kenny Conference report: The Five Senses of the City: From the Middle Ages to the Contemporary Period. International Conference in Tours, France from 19th to 20th May 2011............................................................ 115 Nina Javette Koefoed und Åsa Karlsson Sjögren Conference report: Gender, Town and Citizenship ca. 1770-1870. The making of the Modern Town in Umeå, Sweden from 24th to 26th May 2011, organised by Gender in the European Town Network..... 120 Eric Le Bourhis Tagungsbericht: Zwischen Rekonstruktion und Modernisierung: Öffentliche Debatten über historische Stadtkerne im 20. und 21. Jahrhundert. 8. Tallinner Symposium zur Geschichte und Kultur Nordosteuropas vom 15. bis 18. September 2011 in Tallinn, Estland....... 122 M I T T E I L U N G E N ............................................................................. 125 Dieter Schott Ausschreibung des Forschungspreises für Stadtgeschichte der GSU 2012. 125 Celina Kress Sektion Städtebau- und Planungsgeschichte der GSU............................... 126 B E R I C H T E C H R I S T A U N D A U F S Ä T Z E Z U M K A M L E I T H N E R / R O L A N D T H E M A M E Y E R Urban Icons. Architektur und globale Bildzirkulation 1922 schrieb die Chicago Tribune einen Wettbewerb für ihr neues Bürohochhaus aus. Die Ausschreibung kannte nur Superlative – das schönste Bürogebäude der Welt wurde gesucht, und unverwechselbar sollte es auch sein. Um dieses Ziel zu erreichen, inszenierte die Zeitung den Wettbewerb als Medienereignis, das national und international rezipiert wurde. Architekten weltweit beteiligten sich, gleichzeitig wurde die neue farbige Sonntagsbeilage über Wochen dazu genutzt, den Wettbewerb einem breiten Publikum vorzustellen und die Leserschaft in den Prozess einzubeziehen. Sowohl in Hinblick auf Reproduktionstechniken wie auf Marketingstrategien war die Chicago Tribune auf der Höhe der Zeit – der Wettbewerb reagierte auf die Anfänge einer modernen Konsumkultur und eine sich verschärfende Aufmerksamkeitsökonomie.1 Ein Wettbewerbsbeitrag reagierte auf diese neuen Wahrnehmungsverhältnisse in besonders prägnanter Weise: Adolf Loos’ Entwurf eines Hochhauses in Form einer dorischen Säule aus schwarzem Granit. Der Vorschlag blieb unberücksichtigt, er ging jedoch in die Architekturgeschichte ein. Zynisch und ernsthaft zugleich nahm Loos die Ausschreibung beim Wort. In seinem Begleittext argumentiert er, er habe versucht, ein Gebäude zu entwerfen, das vor Ort wie in Reproduktionen unvergesslich sei, ein Monument, das mit Chicago so fest assoziiert werden würde wie der Petersdom mit Rom. Seine Formenwahl begründet er nach klaren Kriterien der Distinktion: Nachdem die Höhenentwicklung in Chicago beschränkt und es daher nicht möglich sei, ein Gebäude zu errichten, das höher als das bisher höchste Gebäude – das Woolworth Building in New York – wäre, bedürfe es einer klar unterscheidbaren, außergewöhnlichen Form. Gleichzeitig sei die dorische Säule ein klassisches Element, das wechselnde Moden überdauern würde und über kulturelle Grenzen hinweg verstanden würde.2 Die Jury entschied sich für einen weniger 1 2 Vgl. hierzu wie zum Folgenden: Katherine Solomonson, The Chicago Tribune Tower Competition. Skyscraper Design and Cultural Change in the 1920s, Cambridge 2001. Ebd., S. 118-123. IMS 2/2011 17 spektakulären, neogotischen Entwurf. Hatte die den Wettbewerb begleitende Öffentlichkeitsarbeit zwischen hoch- und populärkulturellen Interventionen gependelt, fiel die Entscheidung auf eine Lösung, die den Anschluss an die historische Weltarchitektur suchte. Diese war zuvor Thema eines wöchentlichen best of gewesen, mit dem die Chicago Tribune versucht hatte, den Geschmack ihrer Leser und Leserinnen zu schulen. Diese votierten jedoch für spektakuläre Formen, die Loos’ Vorschlag noch übertrafen – die Leserbefragung förderte Pyramiden, Obelisken, Kolossalstatuen und ein Hochhaus in Form des Eiffelturms zutage und reihte den Tribune Tower damit in die Reihe antiker und moderner Wahrzeichen ein. Die Tatsache, dass das gebaute Ergebnis hinter diesen Visionen zurückblieb, tat seinem Erfolg keinen Abbruch: Der vor und nach seinem Bau von Medienkampagnen begleitete und touristisch erschlossene Tribune Tower wurde zu einem corporate icon und – temporär – auch zu einem Wahrzeichen Chicagos.3 Der Wettbewerb um den Tribune Tower stand Abb. 1: Adolf Loos, Wettbewerbsentwurf im Kontext eines zunehmenden Wettbewerbs Chicago Tribune Tower, 1922. um Sichtbarkeit. New York und Chicago konkurrierten bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Weltstädte, und dieser Wettbewerb schlug sich nicht zuletzt in einem Wettbewerb um die Skyline nieder. 4 Die Städte boten in dieser Hinsicht ganz unterschiedliche Bedingungen: Während es in Chicago bis 1923 eine fixe Höhenbeschränkung gab und damit Unterschiede nur durch die Ausbildung des Gebäudekopfes erzielt werden konnten, begannen die Hochhäuser in New York Anfang des 20. Jahrhunderts unreguliert in die Höhe zu schießen. Dort entstand eine neue Generation von Hochhäusern, die ihr Umfeld deutlich überragten. Eines der ersten war das Flatiron Building, das rasch zu einem Symbol für Manhattan wurde, gefolgt vom wesentlich höheren Singer Building, einem 3 4 18 Ebd., S. 120, 61–63, S. 52–54. Sarah Donaldson, Chicago vs. New York. Carol Willis and Kenneth T. Jackson on the Future of the Skyscraper, in: Next American City 4 (2005): Competitions and Cities, S. 26–28. IMS 2/2011 Abb. 2: Leserbeiträge zum Wettbewerb, Chicago Tribune Coloroto Magazine, 1922. IMS 2/2011 19 schlanken, hoch aufragenden Turm.5 Den Wettlauf um Höhe gewann der 1913 fertig gestellte Woolworth Tower, der für fast zwei Jahrzehnte das höchste Gebäude der Welt war. Er war nicht nur Firmensitz und Bürogebäude, sondern integrierte die neuesten Errungenschaften der Konsumkultur und sprach damit die unterschiedlichsten Publikumsschichten an. Als ‚Kathedrale des Kommerzes‘, die neogotische Architektur und modernste Lichtinszenierung verband, wurde er zu einem Star der Massenblätter und zu einer Touristenattraktion.6 Der Woolworth Tower stellte den Bezugspunkt für den Tribune Tower dar – mit ihm konnte er nicht an Höhe konkurrieren, er versuchte es aber an Eleganz und Publikumswirksamkeit. Abb. 3: Andreas Feininger, Empire State Building, 1940. Abb. 4: Filmplakat zu „King Kong“, 1933. Beide sind bis heute lokale Ikonen. Erst das Empire State Building, fertig gestellt 1931, das den Wettlauf um Höhe für vierzig Jahre für sich entschied, wurde zu einem international anerkannten urban icon.7 Als höchstes Gebäude der Welt, errich5 6 7 20 Vgl. u.a. Paul Goldberger, The Skyscraper, New York 1981. Gail Fenske, The Skyscraper and the City. The Woolworth Building and the Making of Modern New York, Chicago und London 2008. Das 1930 fertig gestellte Chrysler Building wurde nicht zuletzt wegen seiner einzigartigen Art-Déco-Spitze zwar ebenfalls ikonisch, jedoch nie in dem Maße wie das Empire State Building. Da es nicht im glei- IMS 2/2011 tet in raschester Bauzeit, war es ein Gebäude der Superlative. Über eine außergewöhnliche Architektur verfügt es nicht: Es war nicht zu Repräsentationszwecken gedacht, sondern reines Spekulationsobjekt, dessen Form sich durch die Zonierungsgesetze und ökonomische Kalkulation ergab.8 Seine Bildfähigkeit ist dennoch enorm – bis heute steht es isoliert und ist von allen Seiten sichtbar. Die Aussicht von seiner Plattform ist beeindruckend. Es war auch die touristische Nutzung, die das Empire State Building in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, als ein Großteil der Büroflächen leer stand, erfolgreich machte. Anfang der 1970er Jahre wurde es von den Türmen des World Trade Center an Höhe überholt – dieses wurde zwar ebenfalls ikonisch, was spätestens der Akt seiner Zerstörung klar machte, es erlangte jedoch nie eine vergleichbare Popularität wie das Empire State Building.9 Dieser Erfolg lässt sich nur durch die mediale Präsenz des Empire State Building erklären: Er verdankt sich spektakulären Fotografien und künstlerischen Darstellungen von Andreas Feininger bis Andy Warhol, insbesondere aber seiner Präsenz in Kinofilmen und der emotionalen Aufladung, die es dabei erfahren hat. Von seinem ersten Auftritt in „King Kong“ (1933), dessen Schlussakt selbst zur Ikone wurde, über „Love Affair“ (1939) und dessen Remakes bis hin zu zahlreichen Katastrophenfilmen steht es bis heute im Mittelpunkt von Filmen. Neben dem realen New York existiert ein zweites, fiktives New York, ein imaginärer Ort, der vor allem durch das amerikanische Kino geprägt ist. Unzählige Filme haben den Mythos „New York“, seine historische und kulturelle Bedeutung, nicht nur gespiegelt, sondern vor allem angereichert und global verbreitet, so dass New York wie nur wenige Städte weltweit mit bestimmten Bildern und Geschichten verknüpft wird. Das Empire State Building spielte eine wesentliche Rolle für die Verdichtung und Verankerung dieses Mythos, darauf gründet sein ikonischer Status.10 Für eine Geschichte der urban icons und iconic buildings ist dieser Wettlauf um Höhe und Sichtbarkeit in vielerlei Hinsicht interessant. Er zeigt, dass die Ikonisierung von Architektur eng mit der massenhaften Reproduktion und Zirkulation ihrer Bilder verknüpft ist, und dass architektonische Entwürfe bereits früh auf den sich verschärfenden Wettbewerb um Aufmerksamkeit reagieren und dabei auf visu- 8 9 10 chen Maße zugänglich war, konnte es sich nicht zu einer Touristenattraktion entwickeln. Carol Willis, Form follows Finance. The Empire State Building, in: David Ward, Olivier Zunz (Hrsg.), The Landscape of Modernity. New York City 1900-1940, New York 1992, S. 160-187. Vgl. z.B. die Buchreihe „Building America“ (1995-97), die neben großen Infrastrukturprojekten den Gateway Arch, die Freiheitsstatue, den Sears Tower, die Seattle Space Needle, das Washington Monument und das Empire State Building vorstellt, nicht aber das World Trade Center. Vgl. James Sander, Celluloid Skyline. New York and the Movies, New York 2001; Mark Kingwell, Nearest Thing to Heaven. The Empire State Building and American Dreams, New Haven und London 2006. IMS 2/2011 21 elle Prägnanz setzen. Jedoch sind spektakuläre Formen keine Garantie für gesellschaftliche Sichtbarkeit – urban icons entstehen in einem komplexen Ikonisierungsprozess, in dem bestimmte Architekturen kanonisiert und im kollektiven Gedächtnis verankert werden. Die Geschichte dieser Architekturen ist nur bedingt Teil der traditionellen Architekturgeschichte, ihre Entstehung ist vielmehr durch technische Medien und die ökonomische und kulturelle Situation der Städte geprägt. Deshalb ist ihre Geschichte an der Schnittstelle von Architektur-, Stadt- und Mediengeschichte sowie der Geschichte visueller Kultur zu situieren. 11 Dieser Schnittstelle wollen wir im Folgenden nachgehen und einige Thesen zur Entstehung von urban icons entwickeln. Im Zentrum werden dabei die Zirkulation der Bilder und der Prozess der Ikonisierung sowie die Frage nach den Qualitäten und Funktionsweisen dieser Bilder stehen.12 Cultural icons Zuerst ist festzustellen, dass die Rede von icons jüngeren Datums ist. Der Begriff „Ikone“ ist erst in den letzten Jahrzehnten Teil der Alltagssprache geworden und hat dabei seinen Bedeutungsspielraum stark erweitert. Nicht mehr nur Kultbilder der orthodoxen Kirche werden darunter verstanden, sondern immer häufiger spricht man dort, wo früher von Klassikern, Legenden oder Stars die Rede war, von Ikonen. Vor allem im englischen Sprachraum sind „ icon“ und „iconic“ zu inflationär gebrauchten Schlagwörtern geworden. Alles kann inzwischen damit adressiert werden, was abbildbar ist: visuelle Gemeinplätze, historische wie popkulturelle Berühmtheiten, Markenprodukte ebenso wie Kunstwerke. 13 Beispielsweise umfasst eine seit 2004 bei Yale University Press erscheinende Buchreihe so diverse „Icons of America“ wie Fred Astaire, Superman, den Hamburger oder die Wall Street.14 Lydia Haustein sieht Einigkeit in der heutigen Begriffsverwendung nur in Hinblick auf zwei Eigenschaften: Ikonen werden eher emotional als intellektuell rezipiert, und sie heben sich deutlich vor dem Hintergrund eines „globalen Bilderstroms“ ab.15 11 12 13 14 15 22 Eine solche Historiografie der urban icons eröffnet: Philip J. Ethington und Vanessa R. Schwartz, Introduction: An Atlas of the Urban Icons Project, in: Urban History 33 (2006), S. 5-19. Das heißt auch, dass wichtige Aspekte, die mit der Entstehung von urban icons verknüpft sind, nicht näher behandelt werden, wie etwa die touristische Praxis oder der ökonomische Wettbewerb von Städten. Vgl. Suzy Freeman-Greene, Nothing and no one are off limits in an age of iconomania, in: National Times, 15. September 2009, http://www.nationaltimes.com.au/opinion/society-and-culture/nothing-and-no-one-are-off-limits-in-an-age-of-iconomania-20090914-fntq.html. Vgl. dazu auch Dennis Hall und Susan G. Hall (Hrsg.), American Icons. An Encyclopedia of the People, Places, and Things That Have Shaped Our Culture, 2 Bände, Santa Barbara 2006. Lydia Haustein, Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität, Göttingen 2008, S. 25. IMS 2/2011 Mit christlichen Kultbildern scheinen Ikonen dieser Art nur mehr wenig zu tun zu haben. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten: Eine liegt im Moment der – unkritischen – Verehrung, eine andere im kanonischen Status dieser Bilder. Die orthodoxe Ikone ist eine authentifizierte Kopie, sie ist nicht individueller Ausdruck eines Künstlers, sondern folgt klar definierten Konventionen und einem Kanon, der die Motive stark einschränkt. Die Verehrung gilt nicht dem von Künstlerhand geschaffenen Bildwerk, sondern dem Urbild, das in möglichst unveränderlicher Form bewahrt werden soll. Ikonen werden, und dies gilt auch für aktuelle Ikonen, immer wieder reproduziert – und dadurch bestätigt.16 Eine weitere Übereinstimmung liegt darin, dass Ikonen etwas Undarstellbares bild- und zeichenhaft verkörpern – sie sind mehr als bloß Darstellungen Christi, Marias oder der Heiligen. In der orthodoxen Lehre eröffnen sie einen Zugang zur geistigen Welt. Auch aktuelle Ikonen rufen ein unbestimmtes, aber als bedeutsam verstandenes Feld von Assoziationen auf; sie stehen für kulturelle Vorstellungen, die sich als solche nicht abbilden lassen. 17 Über diese Eigenschaften lässt sich auch eine Verbindung zu icons herstellen, die als reduzierte Piktogramme die Interaktion mit grafischen Benutzeroberflächen ermöglichen. Auch sie symbolisieren Undarstellbares, etwa Befehle oder Dateistrukturen, und dies in einer streng reglementierten Weise. Auf urban icons treffen viele dieser Eigenschaften zu – sie verfügen über ein breites Spektrum an Bild- und Zeichenhaftigkeit und können gleichermaßen als Piktogramm wie als kulturell bedeutsame Ikone fungieren. Der Eiffelturm etwa ist ein emotional und mythisch aufgeladenes Symbol, das zunächst lange für Fortschritt und Modernität stand und später, als Treffpunkt verliebter Paare und unumgängliches Ziel einer (Hochzeits-)Reise nach Paris, mit Romantik assoziiert wurde und immer noch wird. Ebenso lässt er sich aber auch auf ein grafisches Kürzel reduzieren und kann dann als einprägsames Logo nicht nur die Stadt Paris, sondern sogar ganz Frankreich denotieren. Die NachAbb. 5: Logo der Kampagne „France Bon Appétit!“ frage nach Ikonen in diesem zweifachen Sinn ist in den des französischen Landwirtletzten Jahrzehnten massiv gestiegen – Wiedererkennbarschaftsministeriums. keit und emotionale Bindung sind in einer globalisierten Aufmerksamkeitsökonomie Qualitäten von wachsendem Wert. Damit verändern 16 17 Vgl. das Kapitel „Romantische, historische und semiotische Sicht der Ikone“, in: Verena Krieger, Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der russischen Avantgarde, Köln, Weimar und Wien 1996, S. 4649. Vgl. den Abschnitt „Image Icons“, in: Marita Sturken und Lisa Cartwright, Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture, New York und Oxford 2009, S. 36-46. IMS 2/2011 23 sich auch Bedeutung und Einsatz älterer ikonischer Architekturen und städtischer Wahrzeichen. Zirkulation und Kanonisierung Kulturelle Ikonen, wie sie der bild- und medienwissenschaftliche Diskurs beschreibt, sind Bilder, die aus der ‚Flut‘ massenmedialer Bildproduktion herausragen. Die Rede von Ikonen schwankt dabei zwischen dem Bezug auf konkrete Bilder, Bildmotive oder dem Abgebildeten – Ikonen sind „komplexe Verdichtungen von Wirklichkeit und Bild“18, Überlagerungen verschiedener Bilder ein- und desselben Objekts in einem mentalen Bild, das sich in einem komplexen Verdichtungs- und Kanonisierungsprozess im kollektiven Gedächtnis einschreibt. An diesem Prozess ist eine Vielzahl heterogener Akteure beteiligt, Fotografen und Filmemacherinnen, Bildredakteure und Fernsehzuschauerinnen, Kulturwissenschaftler und Marketingexpertinnen, die sich über einen längeren Zeitraum auf bestimmte Bilder und Bildgegenstände einigen, indem sie sie wiederholt verwenden und mit Aufmerksamkeit belegen. Während der Prozess der Kanonisierung im Bereich der Hochkultur an Spezialdiskurse wie Kunstkritik und Kunstgeschichte gebunden ist, ist die Ikonisierung populärer Bilder hingegen ein nichtinstitutionalisierter, dezentrierter Prozess, der meist ohne Argumente auskommt, dessen Ergebnisse aber ein hohes Maß an Akzeptanz finden.19 Reinhold Viehoff hat diesen Vorgang als dichtes Ritual der Wiederverwendung und Bestätigung beschrieben. Er unterscheidet eine Reihe idealtypischer Verwertungsschritte, in denen Bilder durch Re-Inszenierungen zunächst in kulturellen Teilbereichen, dann in der massenmedialen Berichterstattung und schließlich durch die Verbreitung in der Alltagskultur stufenweise kanonisiert werden.20 In diesen „Feedback-Loops“ bestätigt jede Kopie die Bedeutung des Originals. Ikonen durchwandern dabei nicht nur verschiedene Medien, sondern auch Zeiten, Räume und Kulturen, wobei sie wiedererkennbar bleiben, ihre Bedeutung sich aber verändern kann.21 18 19 20 21 24 Haustein, Global Icons, S. 33. Die Bestätigung populärer Ikonen kann dann wiederum als Ranking-Show inszeniert werden, wie in der Fernsehsendung „Unsere Besten“ (ZDF), die als Lieblingsorte der Deutschen den Kölner Dom und das Brandenburger Tor bestätigt hat. Reinhold Viehoff, Programmierte Bilder. Gedanken zur ritualisierten Zirkelstruktur von Wahrnehmung und Inszenierung durch die Bild(schirm)medien, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Programm und Programmatik. Kultur- und medienwissenschaftliche Analysen, Konstanz 2005, S. 113-131. Haustein, Global Icons, S. 31. IMS 2/2011 Auch urban icons entstehen in einem solchen nachträglichen Prozess der Ikonisierung. Ihre architektonische Gestalt kann zu ihrem Erfolg beitragen, ebenso gezieltes Marketing. Ikonisierung ist jedoch ein Prozess, der sich nicht planen lässt. Er gelingt da, wo Architekturen über reproduzierbare Bilder und deren massenhafte Distribution in einen Verwertungskreislauf der Sichtbarkeit eintreten und dort über längere Zeit erfolgreich zirkulieren. Eine Firma, ein Medium, eine Stadt alleine kann diesen Kreislauf zwar befördern, aber nicht monopolisieren. Icons stabilisieren sich im Wechsel der Kontexte, in der wiederholenden Variation. Die Bilder und auch die Architekturen verändern dabei ihren Charakter: Sie werden aus dem lokalen Zusammenhang herausgelöst und im Zuge dieser Dekontextualisierung auch semantisch entleert. Sie verlieren ihre konkrete historische Bedeutung, werden mythisch überhöht und in neuer Weise imaginär verortet. Dekontextualisierung Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung urbaner Ikonen ist die massenhafte Verfügbarkeit von Bildern. Der Aufstieg der Fotografie im 19. Jahrhundert ist daher, wie Philipp Ethington und Vanessa Schwartz zeigen, ein Schlüsselmoment ihrer Geschichte.22 Nachdem bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte viele Fotografenateliers Mappen mit Architekturfotografien für ein entstehendes touristisches Publikum anboten, entstanden mit dem Aufkommen neuer Druckverfahren um 1900 Reproduktionsanstalten, die auf Vorrat Bilder berühmter Bauwerke produzierten.23 Diese massenhafte Verfügbarkeit hat seit der Digitalisierung von Fotografien einen weiteren Sprung gemacht. Bildagenturen wie Corbis oder Getty Images halten Millionen von stock-photographs für den Einsatz in Werbung und Journalismus in ihren Online-Verzeichnissen bereit.24 Wer hier nach „landmarks“ sucht, dem erscheint schon auf der ersten Seite eine Auswahl, die vom Eiffelturm zum Grand Canyon, vom Taj Mahal zu den Petrona Towers reicht. Solche Datenbanken realisieren, was schon die frühesten Fototheoretiker als Versprechen des neuen Mediums sahen: fotografische Bibliotheken, die die sichtbare Welt für jedermann verfügbar machen.25 Spätere Theoretiker sahen diese Inventarisierung schon im fotografischen Akt selbst am Werk. Die Fotografie greift in die 22 23 24 25 Philipp J. Ethington und Vanessa R. Schwartz, Introduction: An Atlas of the Urban Icons Project. Rolf Sachsse, Photographie als Medium der Architekturinterpretation. Studien zur Geschichte der deutschen Architekturphotographie im 20. Jahrhundert, München u.a. 1984, S. 51, S. 116-117. Vgl. dazu Matthias Bruhn, Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit, Weimar 2003. Oliver Wendell Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (1859), in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie, Bd. 1: 1839-1912, München 1980, S. 114-121. IMS 2/2011 25 Realität ein, sie ist immer eine Auswahl, ein Schnitt durch Raum und Zeit.26 Sie zersplittert, so Susan Sontag, jegliche Kontinuitäten, doch im selben Moment „füttert [sie] die Splitter in ein endloses Dossier ein“. 27 Indem sie die Vielfalt der Körper und Dinge auf zwei Dimensionen reduziert, wahlweise vergrößert oder verkleinert und in einen Rahmen einpasst, schafft die Fotografie neue Vergleichsmöglichkeiten, sei es im kunsthistorischen Bildband, auf der Illustriertenseite oder im digitalen Bildarchiv. Die Gesamtheit dieser Medien bilden, mit Siegfried Kracauer gesprochen, so etwas wie ein „Generalinventar“.28 Erst auf Basis dieses Inventars treten so entfernte Gebäude wie der Eiffelturm und das Taj Mahal als entkontextualisierte Bilder in direkte Nachbarschaft und in Konkurrenz um Sichtbarkeit. Eine frühe Form des globalen Archivs, die dieses unverbundene Nebeneinander konkret erfahrbar machte, waren die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. Als Schaufenster der ganzen Welt, die Waren, Architekturen, ganze Dörfer und Stadtteile versammelten, waren sie der Versuch einer panoramatischen Gesamtschau, die Anschaulichkeit und imaginäre Vollständigkeit versprach.29 Gleichzeitig sandten sie Bilder ihrer Attraktionen in alle Welt. Am Beispiel des Eiffelturms zeigt Vanessa Schwartz, wie eng die Geschichten der Weltausstellungen, der Reproduktion von Bildern und der urban icons miteinander verknüpft sind: Die Bildpostkarten vom Eiffelturm, die als Souvenir auf der Weltausstellung von 1889 verkauft wurden, zählen zu den ersten massenhaft verbreiteten Ansichtskarten.30 Schon früh folgten diesen fotografischen Reproduktionen dreidimensionale, weltweit existieren Dutzende Repliken und Nachbauten. Der Blackpool Tower (1894) ist einer der ersten, weitere finden sich in Disneyland oder vor Hotelkomplexen wie dem Paris in Las Vegas, und in Dubai ist zurzeit ein Immobilienprojekt geplant, das – konzipiert als eine Art Weltausstellung urbaner und nationaler Ikonen – neben dem Eiffelturm auch Repliken der Pyramiden, des schiefen Turms von Pisa und des Taj Mahal umfasst. Als gebautes Montagebild wird dort an einem Ort zusammengefügt, was im globalen Imaginären bereits in einem gemeinsamen Raum des Vergleichs zirkuliert. 26 27 28 29 30 26 Vgl. Philippe Dubois, Der Schnitt. Zur Frage von Raum und Zeit, in: ders., Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam und Dresden 1998, S. 155-213. Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980, S. 149. Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a. M. 1977, S. 21-39, hier: S. 37. Heinz-B. Heller, Das Prinzip Weltausstellung und frühes Kino(-Programm), in: Fischer, Programm und Programmatik, S. 198-209. Vgl. dazu auch Beat Wyss, Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889,, Frankfurt am Main 2010. Vanessa Schwartz, The Eiffel Tower, Eintrag im Multimedia-Companion zu Urban History 33 (2006): http://journals.cambridge.org/fulltext_content/supplementary/Urban_Icons/atlas/intro.htm IMS 2/2011 Mythisierung und Entleerung Prozesse der Ikonisierung gehen nicht nur mit Dekontextualisierung, sondern auch mit symbolischer Verallgemeinerung einher. Dieser Prozess ist zugleich einer der Entleerung und semantischen Öffnung. Ikonische Bilder beginnen ein Eigenleben im mediatisierten kollektiven Gedächtnis zu führen – selbst etwa bekannte Fotografien des Vietnamkriegs werden häufig nicht mehr als historische Dokumente, sondern als enthistorisierte Allegorien von Krieg und Gewalt wahrgenommen.31 Als „flexible Ikonen“ sind sie vielseitig einsetzbar und mythisch aufladbar, sie „leben“ in einer gleichsam „symbiotischen“ Beziehung zu imaginären Bildwelten.32 Dies gilt umso mehr für Architektur, deren Bedeutung schwer zu fixieren ist. Und tatsächlich scheint es sich bei urban icons um besonders bedeutungsoffene Architekturen zu handeln, die sich leicht in neue Erzählungen einbinden und zu Trägern sekundärer Botschaften machen lassen. Der Eiffelturm oder das Empire State Building sind dafür gute Beispiele. Das Empire State Building, das selbst mythisch verklärt wurde, ist Träger eines älteren Mythos, den es ideal verkörpert. Wie Mark Kingwell emphathisch beschreibt, steht es dafür, dass alles möglich ist. Entstanden aus der Idee zweier Männer, die sich aus bescheidenen Verhältnissen hochgearbeitet hatten, wurde es zur Verkörperung des amerikanischen Traums, ein Symbol für Abenteuergeist und Willensstärke. Lewis Hines‘ berühmte Fotoserie, die Arbeiter in Schwindel erregender Höhe zeigt, trug zu diesem Bild bei. Es versprach eine offene Zukunft und es stellte die Möglichkeit in Aussicht, daran zu partizipieren.33 Seine Entstehungsgeschichte wurde im Laufe seiner Ikonisierung überhöht, sie wurde zu einer zeitlosen Aussage, zum Mythos. Der Mythos ist, so Roland Barthes, eine enthistorisierte Aussage: Er beraubt seinen Gegenstand seiner spezifischen Geschichte und belegt ihn mit einer sekundären allgemeinen Bedeutung. Diese ist anpassungsfähig und vage – insofern ist er eine leere Form mit instabilem Inhalt.34 Darin ähnelt er dem, was Barthes später am Beispiel des Eiffelturms als „leeres Zeichen“ beschrieben hat. Wollte Barthes in den „Mythen des Alltags“ aus den 1950er Jahren in der entleerten Form des Mythos dessen gesellschaftliche Funktion aufdecken, scheint sich diese Ideologiekritik zehn Jahre später erübrigt zu haben. Barthes feiert in seinem Essay den Eiffelturm als leeres Zeichen mit offenem Bedeutungshorizont, das in beinahe beliebiger Weise angeeignet werden kann.35 Da er für 31 32 33 34 35 Bruhn, Bildwirtschaft, S. 171. Haustein, Global Icons, S. 70. Kingwell, Nearest Thing, S. 1–53. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1996, S. 85–88. Roland Barthes, Der Eiffelturm, München 1970. Der Text ist 1964 entstanden, im selben Jahr, in dem IMS 2/2011 27 keine besondere Nutzung konzipiert war und sein Entwurf nicht auf Vorbilder zurückgriff, konnten mit ihm verschiedenste Vorstellungen verknüpft werden. Der Eiffelturm war ein Symbol für Modernität, Fortschritt, für touristisches Vergnügen, und wurde schließlich das Symbol für Paris schlechthin. Als solches hat er sich aller konkreten Inhalte entledigt. Ein solcher Prozess der Bedeutungsverschiebung und Entleerung lässt sich auch beim Empire State Building – allein anhand seiner Filmgeschichte – nachzeichnen. Sein erster Auftritt in „King Kong“ baute seinen Mythos zuallererst auf. Weniger als zwei Jahre nach seiner Eröffnung wurde es Schauplatz eines spektakulären Showdowns: Der riesenhafte Affe aus der Südsee, Verkörperung roher Naturgewalten und als „achtes Weltwunder“ angekündigt, nimmt auf seiner Flucht das Empire State Building, das selbst als Weltwunder gehandelt wird, als seinen Berggipfel in Besitz. In seiner Hand: Fay Wray, das Gegenüber einer abseitigen Romanze, die er bis zuletzt vor seinen Angreifern verteidigt. Die folgende Filmografie konnotierte das Empire State Building dann fest mit Romantik. In „An Affair to Remember“ (1957), dem ersten Remake von „Love Affair“, wartet Cary Grant über Stunden auf Deborah Kerr, die dann doch nicht kommt. Dennoch wurde das Empire State Building für Jahrzehnte zum Ort romantischer Treffen. Dieser Mythos wird wiederum in „Sleepless in Seattle“ (1993) zitiert – und ins Klischee verkehrt. Meg Ryan und Tom Hanks finden schließlich auf der Aussichtsplattform zueinander, worauf das Empire State Building in der Schlusseinstellung zu strahlen beginnt und in Lichtspiele übergeht.36 Die mythische Kraft des klassischen Hollywood-Kinos ist hier weitgehend verloren gegangen, das post-klassische Kino zehrt jedoch noch von ihr und seiner eigenen Geschichte, die es nostalgisch aufbereitet und verklärt. Globale Ortsmarkierungen Im Blockbuster-Kino der Gegenwart tauchen urban icons vor allem dort auf, wo mit großem Aufwand an Spezialeffekten die Zerstörung der Welt durch Außerirdische oder Naturkatastrophen in Szene gesetzt wird. Das Plakat von „Independence Day“ (1996) etwa zeigt ein riesiges Raumschiff, das über Manhattan schwebt und die Spitze des Empire State Building mit einem hellen Strahl erfasst. Dieses fällt der Zerstörungsorgie im Film ebenso zum Opfer wie das Weiße Haus und andere, vornehmlich amerikanische landmarks. In „Mars Attacks!“ aus demselben Jahr sind es 36 28 der Eiffelturm unter Denkmalschutz gestellt wurde – vgl. Henri Loyrette, Der Eiffelturm, in: Pierre Nora (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 113-133. Der Aufsatz scheint für eine Theorie der urban icons zentral zu sein – sowohl Schwartz bezieht sich auf ihn wie auch Kingwell. Vgl. Kingwell, Nearest Things, S. 163–165. IMS 2/2011 globale Ikonen wie unter anderem der Eiffelturm, Big Ben und das Taj Mahal, die von Außerirdischen in die Luft gejagt werden. 37 Filme dieser Art setzen einen Kanon bekannter urban icons voraus, deren effektvolle Zerstörung die globale Dimension der Katastrophe vermittelt. Urban icons verweisen hier noch auf ihren alten Mythos, erfüllen aber vor allem in semantisch entleerter Art und Weise die Funktion der Ortsmarkierung. Vertraut sind solche Markierungen aus dem Fernsehen, wo sie Orientierung im medialen Raum globaler Gleichzeitigkeit stiften. Ob im Hintergrund von Nachrichten-Korrespondenten, in den Trailern internationaler Sportereignisse wie den Olympischen Spielen oder der alljährlichen Montage von Silvesterfeiern rund um den Globus: Urban icons wie der Eiffelturm oder das Sydney Opera House funktionieren in solchen stereotypen Fernsehbildern als schnell erfassbare Zeichen, die im flow des Fernsehprogramms den Zuschauern und Zuschauerinnen signalisieren, wo auf der Welt gerade etwas passiert. 38 In diesem Sinne funktionieren sie ähnlich wie die establishing shots des Kinos, die uns mit dem Schauplatz der Handlung vertraut machen. Wo jedoch im Film über Orte häufig auch Stimmungen und Atmosphären vermittelt werden, geht es im Fernsehen lediglich darum, Orte im schnellen Wechsel anzuzeigen. Umso mehr bedarf es des Rückgriffs auf vertraute, unhinterfragte Bildformeln: Bilder wie die von Korrespondentinnen vor dem Weißen Haus, dem Londoner Big Ben oder einer roten Telefonzelle. Anders als das Kino schafft das Fernsehen kaum noch mythische Orte. Wo urban icons zum Schauplatz welthistorischer Ereignisse werden, können sie – wie das Brandenburger Tor – Ikonen im starken Sinne werden. Die meisten funktionieren jedoch eher als Piktogramm, wie etwa das Sydney Opera House, das während der Olympischen Spiele 2000 eine maximale Sichtbarkeit durch seine weltweite Wiedererkennbarkeit erlangte, ohne dass sich daran Emotionen oder Narrationen geknüpft hätten.39 Schon diese Wiedererkennbarkeit ist heute aber von höchstem Wert – ohne sie wären die Städte, für die die urban icons stehen, medial unsichtbar 37 38 39 „Independence Day“ war der Auftakt einer Reihe von Weltzerstörungsfilmen, die im Laufe der 1990er Jahre die immer ausgefeiltere digitale Tricktechnik zur leinwandfüllenden Zerstörung diverser urban icons einsetzten, u.a. „Armageddon“, „Deep Impact“ und „The Day After Tomorrow“. Vgl. dazu Max Page, The City’s End. Two Centuries of Fantasies, Fears, and Premonitions of New York’s Destruction, New Haven und London 2008. Diesen „flow“, der alle Programmelemente in einem Kontinuum verschweißt, hat Raymond Williams in einem klassischen Aufsatz als den wesentlichen Modus der Fernsehproduktion und -rezeption beschrieben, vgl. Raymond Williams, Programmstruktur als Sequenz oder flow (1975), in: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2002, S. 33–43. Die Silhouette des Sydney Opera House, zum grafischen Kürzel verdichtet, bildete das Logo der Bewerbung Sydneys zur Olympiastadt und fand sich auch im späteren offiziellen Logo der Spiele wieder. IMS 2/2011 29 und für ein weltweites Fernsehpublikum ein weißer Fleck auf der Landkarte des global village. Bildarchitekturen Die signature architecture, die sich Peking angesichts der Olympischen Spiele von 2008 geleistet hat – das Stadion von Herzog & de Meuron und das CCTV-Building von Rem Koolhaas –, soll genau diesen Zweck erfüllen: Peking mit wiedererkennbaren Bildern auszustatten. Seit Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao es geschafft hat, eine zuvor touristisch wenig bedeutsame Stadt zur internationalen Destination zu machen, werden weltweit Stararchitekturen eingesetzt, um Städte sichtbar zu machen. Der Architekturdiskurs kommentiert diese Architekturen kritisch bis euphorisch: Für Hal Foster sind es populistische Bildarchitekturen40, ebenso für Georg Franck, der sie als marktkonforme Antworten auf die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit beschreibt.41 Beide führen ihre Anfänge auf die postmoderne Architektur zurück, die sich der Bildwelt der kommerziellen Massenkultur zuwandte und auf die Symbolkraft der Architektur setzte. Demgegenüber tritt Charles Jencks, bereits Wortführer des postmodernen Diskurses, als ihr Fürsprecher auf. Er beschreibt die neueren Stararchitekturen als ausdrucksstarke iconic buildings, deren Geschichte er bis in die Moderne, etwa auf Frank Lloyd Wrights Guggenheim-Museum, zurückführt42, und in die man auch Loos’ Entwurf für den Chicago Tribune Tower einreihen könnte. Iconic buildings sind für ihn Architekturen, die ihr Publikum adressieren, enigmatic signifiers mit einem breiten Spektrum an Bedeutungen, darin dem Eiffelturm in Barthes’ Essay verwandt. Jedoch macht sie dies nicht notwendig zu populären Ikonen, die sich mit einem Ort verknüpfen – urban icons entstehen da, wo Architekturen sich mit Geschichten aufladen und sich ebenso mit der Kultur einer Stadt wie dem massenmedialen Imaginären verknüpfen. Die Geschichte der urban icons kam lange ohne signature architecture aus, und es ist offen, inwieweit sich die Stararchitekturen der Gegenwart als urbane Ikonen etablieren können. Deren Verhältnis ist prekär, wie zwei jüngere Kinofilme zeigen. Die Eröffnungssequenz des James Bond-Films „The World Is Not Enough“ (1999) beginnt in Bilbao, und es ist offensichtlich, dass der Schauplatz lediglich wegen des Wiedererkennungseffekts von Gehrys Museumsbau gewählt wurde. Für den Plot sind Gebäude wie Stadt völlig irrelevant, ebenso der Millenium Dome in London, 40 41 42 30 Hal Foster, Image Building, in: Artforum, Oktober 2004, S. 271-311. Georg Franck, Medienästhetik und Unterhaltungsarchitektur, in: Merkur 615 (2000), S. 590-604. Charles Jencks, The Iconic Building. The Power of Enigma, London 2005. Einen solchen historischen Bogen zieht auch Anthony Vidler (Hrsg.), Architecture between Spectacle and Use, Williamstown/Mass. 2008. IMS 2/2011 an dem die Eröffnungssequenz endet. Noch entleerter ist der Einsatz gegenwärtiger Stararchitekturen in Tom Tykwers Thriller „The International“ (2009), der nach dem Vorbild der Bond-Filme eine weltweite Jagd rund um den Globus schildert. Große Teile des Films wurden in der Wolfsburger Autostadt gedreht, die jedoch als Schauplatz nicht vorkommt. Ihre Eingangshalle wird stattdessen zum Foyer einer Luxemburger Bank, im Film das Zentrum einer weltweiten Verschwörung, und das Phaeno-Museum von Zaha Hadid, das Hauptquartier eines Waffenhändlers, wird gar digital in eine italienische Landschaft versetzt. Der actionreiche Höhepunkt des Films findet dagegen an einem Ort statt, der unverkennbar nicht nur für sich, sondern auch für die Stadt New York steht – in der Rotunde von Frank Lloyd Wrights Guggenheim-Museum, deren einprägsame Spiralform auch für die Marketingkampagne verwendet wurde. Der Film nutzt die aktuelle signature architecture, um die ortlose Glätte der globalen Finanzwelt zu charakterisieren, als erkennbare und bedeutsame Schauplätze kommen jedoch nur Städte wie New York oder Istanbul in Betracht. Sie werden durch urban icons wie das Guggenheim-Museum oder die Blaue Moschee repräsentiert, lassen sich aber nicht auf diese reduzieren, vielmehr statten sie ihre urban icons mit einem Resonanzraum vielschichtiger historischer wie fiktiver Narrative aus. Abbildungsnachweise Abb. 1: Katherine Solomonson, The Chicago Tribune Tower Competition. Skyscraper Design and Cultural Change in the 1920s, Cambridge/UK 2001, S. 119. Abb. 2: Ebd., S. 63. Abb. 3: Andreas Feininger Archive, c/o Zeppelin Museum Friedrichshafen. Abb. 4: Max Page, The City’s End. Two Centuries of Fantasies. Fears, and Premonitions of New York’s Destruction, New Haven/London 2008, S. 73. Abb. 5: Das Logo ist Eigentum der französischen Regierung, vertreten durch das französische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Fischerei. Christa Kamleithner, Universität der Künste Berlin, chk@udk-berlin.de, Roland Meyer, Universität der Künste Berlin, rmeyer@udk-berlin.de IMS 2/2011 31