Academia.eduAcademia.edu

Verbal/Non-Verbal

2016

Abstract

Diese Masterarbeit beschäftigt sich mit texttheatralen Elementen im Theaterstück Jeff Koons des Autors Rainald Goetz. Der explizit als Stück ausgewiesene Theatertext, in dem traditionelle Dramenkonventionen absent sind, wie etwa Rollenzuteilung oder die Unterscheidung in Sprech- und Zusatztext, lässt einen alternativen Zugang zum Genre Theatertext und Theatralität vermuten. Der genretrotzende Pop-Autor Goetz nutzt Theatralität als Metapher für sein der Aktualität und Körperlichkeit zugewandtes Schreiben. Es wird also der Frage nachgegangen, was hier zur Aufführung kommt und es wird versucht, jene textuellen Strukturen ausfindig zu machen, welche sinnliche und performative Qualitäten aufweisen und per se nicht mit dem Medium der Schrift assoziiert werden. Die Analyse zeigt, dass Goetz' Text stark von Polaritäten bestimmt wird und der Schriftsteller sich dabei intertextueller, intermedialer sowie performativer Verfahrensweisen bedient, um eine Vielfalt an diskursiven Räumen zu dur...

MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS Titel der Masterarbeit / Title of the Master‘s Thesis „Verbal/Non-Verbal: Theater-Texturen im PopStück Jeff Koons von Rainald Goetz“ verfasst von / submitted by Kathrin Blasbichler BA angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of Master of Arts (MA) Wien, 2016 / Vienna 2016 Studienkennzahl lt. Studienblatt / degree programme code as it appears on the student record sheet: A 066 582 Studienrichtung lt. Studienblatt / degree programme as it appears on the student record sheet: Theater-, Film- und Medientheorie Betreut von / Supervisor: Ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister 2 7. Das Glück the rhythm, the message, the colour, the funk the music, the city, the sound of words the concept, the art, destruction of time the echo, the dark, the mean and the dirty the true and the real, the real and the slow the fuckers, the suckers, the dick and the pussy the sex and the flesh, the kiss and the ass the clean and the true, the truth and the lie the open and closed, the end and another begin of beginnings, the death and the dark the heavy, the slow, the lower, the higher the better, the last, the rhythm, the messages the colour, the funk, the music of word, the word of the words, the music of time of time, time, time, of time, time, time time, time, time, time1 1 Goetz, Rainald, Jeff Koons. Stück, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 12002 (Orig. 1998), S. 62f. Im Folgenden: JK. 3 4 Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG 7 2 VORGEHENSWEISE 15 2.1 ZUM VERHÄLTNIS VON KÖRPERLICHKEIT UND SCHRIFT BEI RAINALD GOETZ 15 2.2 FORSCHUNGSSTAND 17 2.3 PROBLEMSTELLUNG UND ZIELSETZUNG 23 2.4 METHODIK 27 3 THEORETISCHE VORAUSSETZUNGEN 30 3.1 SCHREIBWEISEN DES POP: GEGENWART, VOLLZUG, KÖRPER 3.1.1 DAS POP-DEBÜT SUBITO UND DER AUFTRITT IN KLAGENFURT (1983) 3.1.2 RHETORIK UND STRATEGIEN DES POP 3.1.3 VITALISTISCH-SOZIALROMANTISCHE POPUTOPIE VS. „ASOZIALITÄTSKUNST SCHRIFT“ 3.2 TEXT, TEXTUR, INTERTEXTUALITÄT 3.3 INTERMEDIALITÄT 3.3.1 ZUM KONZEPT DER INTERMEDIALITÄT 3.3.2 THEATRALITÄT ALS INTERMEDIALES DISPOSITIV 3.3.3 TEXTTHEATRALITÄT 3.3.3.1 Mittelbare Texttheatralität 3.3.3.2 Unmittelbare Texttheatralität 3.4 TEXTSYSTEME UND AUTORSCHAFT 30 31 35 4 EINFÜHRENDES ZUM STÜCK JEFF KOONS (1998) 72 41 46 54 55 59 65 66 67 68 4.1 DER ZYKLUS HEUTE MORGEN UND SEINE TEXTLICHEN TEILSYSTEME 72 4.2 FORMALES UND INHALTLICHES VON JEFF KOONS IM ÜBERBLICK 77 4.2.1 SUJET 77 4.2.2 AUFBAU UND GLIEDERUNG 79 4.2.3 SERIALITÄT, VERFLECHTUNG UND RÄUMLICHKEIT ALS STRUKTURGEBENDE FORMPRINZIPIEN 84 4.2.4 ZUSAMMENFASSUNG 87 5 SZENOGRAPHIE: ZUR VERQUICKUNG VON SZENE UND SPRACHE 90 5.1 GENEALOGIE EINER SZENOGRAPHIE ALS SPRACH- UND THEATERUTOPIE 91 5.2 THEATER UND LITERATUR ALS ORTE KRITISCHER SPRACHPRAXIS 99 5.2.1 BARTHES’ SZENISCHE SEMIOTIK 100 5 5.2.2 THEATRALE DEKONSTRUKTION ALS VERRÄUMLICHUNG 5.3 FAZIT 103 107 6 TEXTTHEATRALE FORMEN UND STRUKTUREN IM STÜCK JEFF KOONS 110 6.1 INTERTEXTUELLE VERWEISE 110 6.2 EXKURS: JEFF KOONS UND DIE KOMMERZIELLE KÜNSTLERROMANTIK – EIN DUNKLES POP-MÄRCHEN 113 6.3 DIE VERSCHRÄNKUNG VON POP, KOONS UND KUNST IM STÜCK 121 6.3.1 SOZIALE GRAUZONEN: KÜNSTLERTUM UND PREKARIAT 122 6.3.2 AFFIRMATIVE, AFFEKTIVE POP-ETHIK Á LA KOONS ALS ANTWORT? 124 6.4 NICHTLINEARITÄT UND ABSTRAKTE PERFORMATIVITÄT 130 6.4.1 KIPPFIGUREN UND VEXIERBILDER 131 6.4.1.1 Rede / Schrift 131 6.4.1.2 Kunstgenese / Theater / Schreiben 133 6.4.2 BILDKÜNSTLERISCHE VERFAHREN 140 6.4.2.1 Skulptur und Installation 140 6.4.2.2 Skizze 144 6.4.2.3 Holzschnitt 145 6.4.2.4 Wall of Words 147 6.4.2.5 Das Bild und die Vision 150 7 CONCLUSIO 154 8 MEDIOGRAPHIE 160 8.1 LITERATURVERZEICHNIS 8.2 VIDEO-AUFZEICHNUNG IM INTERNET 8.3 BILDERVERZEICHNIS 8.4 SYMPOSIUM 160 170 170 170 ANHANG 171 DANKSAGUNG ABSTRACT LEBENSLAUF 171 172 174 6 1 Einleitung Diese Arbeit befasst sich mit dem Spannungsfeld Theater und Text beziehungsweise Theatralität und Schrift im Schaffen von Rainald Goetz auf Grundlage des theaterästhetischen Entwurfs im Stück Jeff Koons (1998). In Goetz’ literarischer Auseinandersetzung mit Schrift werden Performativität und Theatralität zu Modellen für Körperlichkeit, was sich nicht nur anhand seiner dramatischen Entwürfe zeigt, sondern sich durch das gesamte gattungsübergreifende Oeuvre zieht, das der Autor über die letzten dreißig Jahre geschaffen hat. Mit diesem Körperlichkeitskonzept verknüpft ist ein Literaturverständnis, Wirklichkeit nicht als Abbild einer außerhalb des Textes existierenden Realität, sondern als autonome Sphäre an einem sinnlich erfahrbaren, textlichen Gegenstand zu erzeugen. Der Autor mit attestiertem „unbedingte[m] Willen zur Zeitgenossenschaft”2 erhebt mit seiner beharrlichen Umsetzung der performativen Maxime des unmittelbaren Vollzugs den Anspruch das Schreiben als Kulturtechnik zu verstehen, um Gegenwart zu erschließen und zugleich mit herzustellen. Nach etlichen Auszeichnungen und Preisen (u.a. Berliner Literaturpreis 2012, Mühlheimer Dramatikerpreis für alle drei seiner bisher geschriebenen Stücke Krieg (1988), Katarakt (1993) und Jeff Koons (2000)) würdigte die Darmstädter Jury in der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015 Goetz als einen Autor, „der sich mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur gemacht hat [...]“.3 Thematisch gesprochen geht es seit Erscheinung seines Erstlingswerks, dem Roman Irre (1983), bei Goetz um Sujets, wie etwa der institutionalisierte 2 o.A., Jurybegründung Berliner Literaturpreis 2012, www.fuberlin.de/presse/informationen/fup/2011/fup_11_358/, Stand: 21.11.2011, 22.10.2015. 3 o.A., Jurybegründung Büchner-Preis 2015, www.deutscheakademie.de/de/akademie/presse/2015-07-08/buechner-preis-2015-geht-anrainald-goetz, Stand: 08.07.2015, 22.10.2015. 7 Umgang mit psychisch Kranken in der Gesellschaft, die mediale Erinnerungskultur in Deutschland nach 1945 und generell um Kommunikation und Wahrnehmung von Wirklichkeit im Medienzeitalter, wie etwa die Generierung neuer Rede- und Schreibweisen durch das Internet. Weitere Interessensgebiete sind die Utopie Techno, das System Kunst und, wie zuletzt im Roman Johann Holtrop (2012), die Zusammenhänge von Subjektentwürfen und Macht im postfordistischen Zeitalter des Kapitalismus. Neben der Gegenwartsfixierung wird mit dem Namen Rainald Goetz seit seinem skandalträchtigen Debüt bei den Ingeborg-Bachmann-Literaturtagen 1983 vor allem auch der Begriff Pop und damit eine radikale und forsche Durchmischung von Codes und Schreibweisen verbunden. Dem Autor Maxim Biller zufolge, etablierte Goetz mit dem Roman Irre (1983) eine neue literarische Epoche, die von Biller als „Ich-Zeit“4 bezeichnet wird. Charakteristisch für diese Popliteratur sei „das extreme Ineinandergreifen von Werk und Leben des Autors”5. In diesem Sinne können sowohl die aufsehenerregenden Auftritte eines leidenschaftlich polemisierenden Goetz als auch seine ichbezogenen und von Hasstiraden erfüllten Texte als Ausdruck eines öffentlichkeitswirksame Autorenverständnisses Zurschaustellung des gelten, eigenen dessen Lebens der Inszenierung eines Popstars ähnelt. Waren Goetz’ Texte in den 80ern noch stark polarisierend, ist in den 90ern eine Wende hin zur Weltbejahung erkennbar. Das 1998 erschienene Stück Jeff Koons wird von Goetz selbst als „Pop-Märchen“6 bezeichnet. Der explizit als „Stück“7 ausgewiesene Text für das Theater kann demnach, wie 4 Biller, Maxim, Ichzeit, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/unsereliterarische-epoche-ichzeit-11447220.html, Stand: 01.10.2011, 19.08.2015. 5 Ebd. 6 Goetz, Rainald, Jahrzehnt der schönen Frauen, Berlin: Merve 2001, S. 118. 7 „Jeff Koons ist ein Theaterstück über Kunst [...] Ein Stück in sieben Akten schön knapp abgepackt“. Goetz, JK, Index. 8 auch die Assoziation zum zeitgenössischen Pop-Künstler Jeff Koons im Titel suggeriert, als paradigmatische Umsetzung seines Pop-Programms und konzeptorientierten Zugangs zum Genre und Kontext Theater gesehen werden. Aus Sicht des Pop-Autors Goetz, der eine ambivalente Position zwischen Ablehnung und Zugehörigkeit gegenüber bürgerlichen Domänen einnimmt8, gehen von der Bühne als tradiertem Ort der Bürgerlichkeit zugleich „Faszination und Abscheu“9 aus. Diese Zerrissenheit gibt zugleich auch Anreiz gerade Theatertexte zu schreiben: Zum einen stellt das Theater als Inbegriff für „Bürgerlichkeit“10 und „Exklusivität“11 für die Anti-Haltung im Pop-Gestus ein hermetisches System dar, das es zu durchbrechen gilt. Die Verschränkung verschiedener Kontexte, wie etwa Literatur, Bildende Kunst und Theater im Fall des Stücks Jeff Koons, resultiert aus dem PopAnspruch, diskursfähige Reibungsflächen bewusst aufzusuchen und so den Dissens zu fördern. Zum anderen hat er das Theater als „Ort, wo Worte Körper werden und Bedeutungen agiert werden, wo Zeichen dicht und sinnlich greifbar sind“12 und gleichzeitig „die Perfidie des Scheins am weitesten getrieben“13 wird, auf einer innerästhetischen Ebene als intermediales und körperliches Modell für sein Schreiben vor Augen. Die Schrift soll an möglichst körperliche, gegenwartsbezogene und multisinnliche Schreibweisen herangeführt werden. Als scheinbar diametral gegenübergestellte Medien stehen Theater und Schrift in einem dialektischen Verhältnis – auf gegenseitiger Anziehung 8 Vgl. Geer, Nadja, Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Westwärts. Studien zur Popkultur 1, Göttingen: V&R Unipress 2012, S. 149. 9 Winkels, Hubert, „Krieg den Zeichen. Rainald Goetz und die Wiederkehr des Körpers“, in: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre, Hg. Hubert Winkels, Köln: Kiepenheuer & Witsch 11991 (Orig. 1988), S. 221-267, hier S. 254. 10 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 120. 11 Ebd., S. 142. 12 Winkels, „Krieg den Zeichen“, S. 254. 13 Ebd. 9 und Reibung basierend. Mittels der Annäherung an andere Medien und Zeichensysteme, wie etwa das Theater, die weniger an Nachträglichkeit und Referentialität und mehr an gegenwartsbezogene Intensitäten gebunden sind, werden hiermit andere Ausdrucksweisen innerhalb der Schrift erprobt. Mit diesen Voraussetzungen öffnet sich ein breites Feld an möglichen Zugängen zum vorliegenden Theatertext Jeff Koons, der aufgrund seiner intermedialen Ausrichtung eine genuine Schnittmenge aus den Feldern Literatur-, Theater-, Medien und Performativitätstheorien erzeugt. Im Zuge der Lektüre von Jeff Koons, Goetz’ bis dato letztem Stück, bin ich erstmals in Berührung mit einem dramatischen Text des Autors gekommen. Nachdem im Rahmen des Seminars Verhandlungen des Subjekts - Das Subjekt im Wandel: Goethes Torquato Tasso und die Künstlerproblematik in der europäischen Kultur das Stück Jeff Koons unter dem Aspekt veränderter Produktionsbedingungen von Kunst im postfordistischen Zeitalter behandelt worden war, wählte ich zunächst den naheliegenden Zugang zum Theaterstück über die Diskursanalyse von Subjektentwürfen und Kunstproduktion im Zeitalter eines spekulativ gewordenen Kunstmarktes anhand des Prototypen Jeff Koons. Im Zuge meiner Auseinandersetzung mit anderen Texten von Rainald Goetz, wie etwa Abfall für alle (1999), Irre (1983) und Hirn (1986) eröffneten sich über Diskursanalysen hinausgehend grundsätzlichere Fragestellungen zu Ästhetik, Sprachpraktiken und Medien. Bei seinen Theatertexten schien mir Theatralität als Denkmodell zu fungieren, das es ihm erleichtert, Sprache im Prozess des Niederschreibens auf allen qualitativen Ebenen möglichst szenisch zu denken; das heißt, stets eine Leserschaft als Publikum so vor Augen zu haben, dass der Verlust an Unmittelbarkeit durch den Abstand zwischen Niederschrift und Lektüre möglichst gering bleibt. 10 In Hinblick auf den Theatertext Jeff Koons interessiert zum einen, welche theatralen und performativen Strukturen darin anzutreffen sind, die Ausdruck eines Versuchs der Abstrahierung, medialen Überschreitung und Vergegenwärtigung sein könnten. Des Weiteren war diese Arbeit auch von der Frage geleitet, wie sich Goetz als dezidierter Pop-Autor gegenüber der Pop-Auffassung eines Jeff Koons positionieren würde. Damit einher gingen Fragen nach den Wesensmerkmalen einer Tradition von Pop als diskursive Form und als ästhetischer Ausdruck sowie nach dessen subversiven Potenzial als Sprachpraxis und Ästhetik jenseits der virulenten Begriffsverwendung von Pop für Praktiken oder Schreibweisen, die mit der Pop-Gesinnung von Goetz wenig gemein zu haben scheinen. Vor dem Hintergrund der Debatte rund um Labels wie etwa Postdramatik und der Re-Definition der Dramentheorie und -praxis ist aus theaterwissenschaftlicher Sicht vor allem Goetz’ kühne, künstlerische Unterwanderung eben genannter Kategorien spannend, die der Autor anhand seiner übergreifenden literarischen Methode der Vernetzung der Diskurse, Sprech- und Redeweisen erzielt. Gleichzeitig stellte diese ästhetische Vorgehensweise wegen der hohen Verweisdichte und genreübergreifenden Schreibweise die Herausforderung dar, Diskurse und Fragestellungen abzugrenzen. Eben diese hohe Anzahl der Querverweise, deren Relevanz zunächst schwer einzuordnen war, machen einen klaren methodischen Ansatz unumgänglich. Dabei schien vor allem der von der französischen Theoriebildung geprägte Ansatz der ‚écriture corporelle’ geeignet, da Goetz’ Zugang zur Theatralität vor allem auf dem programmatischen Anspruch basiert die Schrift auf ihre intermedialen Kompetenzen hin zu testen und sie im Sinne einer Theatralisierung als Spiel der Zeichen aus dem Korsett der Referentialität zu heben und die Signifikanten als eigenständige Körperzeichen freizusetzen. 11 Die folgende Arbeit gliedert sich in insgesamt sieben Kapitel, von denen die Kapitel 2-5 theoretische und poetologische Voraussetzungen sowie methodische Fragen und Ansätze erfassen und diskutieren. Anschließend wird im Kapitel sechs das Stück Jeff Koons als exemplarischer Untersuchungsgegenstand für Goetz’ intermediale Popmethode der Vernetzung und Durchkreuzung am Beispiel Theater für eine Analyse herangezogen. Darin wird nicht der Anspruch erhoben all jenen Fragen nachzugehen, welche im Rahmen der theoretischen und historischen Darlegungen aufgeworfen werden. Lediglich soll die zuvor erfolgte Kontextualisierung eine fundierte analytische Lektüre ermöglichen, um das Verhältnis von Körperlichkeit und Sprache im Rahmen der Diskurse Pop, Text und Theater im Fall des vorliegenden Textes zu bestimmen. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen, welche theatralen Strukturen der Theatertext aufweist, um zu eruieren, wie Theatralität hier gedacht wird. Genauer gesagt wird zunächst im zweiten Kapitel die Vorgehensweise dargelegt. Nach einem Überblick zum derzeitigen Forschungsstand zu Goetz’ Literatur wird auch auf die Problemstellung, Zielsetzung und Methodik der vorliegenden Arbeit eingegangen werden. Das dritte Kapitel schließt daran an und legt theoretische Voraussetzungen zum Konnex von Schrift und Körperlichkeit bei Rainald Goetz dar. Im Rahmen dessen folgt ein Unterkapitel zum Thema Pop und Popliteratur, welches die deutsche Pop-Intellektuellen-Szene, ihre Rhetorik, Codes und Darstellungsweisen beschreibt. Dies ist Voraussetzung, um anschließend speziell Goetz’ Popbegriff und die Charakteristika seiner Popliteratur zu umreißen. Daraufhin werden jene Begriffe eingeführt und theoretischen Konzepte näher definiert, welche für diese Arbeit verwendet werden und in Bezug auf Goetz’ Verfahrensweisen und Methoden relevant sind, wie etwa Textur, Intertextualität, Intermedialität und Textsysteme. Goetz’ interdisziplinäres und gattungsübergreifendes Vorgehen bedeutet für die Herangehensweise in 12 dieser Arbeit, auch dramentheoretische Instrumente und Kategorien vorab zu hinterfragen und auszuloten. Dementsprechend erfolgt in diesem Kapitel zur methodischen Abklärung und theoretischen Fundierung gewissermaßen auch eine kurze Bestandsaufnahme zu Theatralität als intermedialer Vorlage und (Zeichen)-Modell für körper- und gegenwartsbezogenes Schreiben sowie zum Konzept der Texttheatralität. Die Einführung zum Stück Jeff Koons im darauffolgenden vierten Kapitel soll anhand der Beschreibung der kontextuellen, formalen und inhaltlichen Aspekte des Stücks zum Theatralitätskonzept als Szenographie im Sinne einer körperlich, szenisch-graphischen Schreibweise überleiten. Indem das Stück Jeff Koons in der Tradition dieses Schriftkonzepts und dieser Sprachpraxis verortetet wird, kann eine Verknüpfung zwischen Pop, Schrift und Theater hergestellt werden. Deshalb wird im fünften Kapitel Szenographie als texttheatrales Sprachkonzept näher erläutert, wobei auf Genealogie dieses Ansatzes und insbesondere auf Roland Barthes’ Etablierung einer szenischen Semiotik als Basis von Sprach- und Ideologiekritik sowie Julia Kristevas Fortführung und Ausweitung derselben eingegangen wird. Anhand des Konzeptes der ‚écriture corporelle’, die bis zu Mallarmés Konzeption einer poetischen Schreibweise zurückreicht, soll die Bedeutung von Theatralität und Theatralisierung für die Zeichenproduktion und Bedeutungskonstitution von Sprache veranschaulicht werden. Die szenisch gedachte Semiotik und das Konzept der Szenographie sollen relevante Erkenntnisse für Goetz’ Körperkonzept und seine intermedialen und performativen Pop- Verfahrensweisen in der Schrift mit sich bringen. Daraufhin werden im sechsten Abschnitt die aus dem theoretischen Teil gezogenen Erkenntnisse für die Lektüre und Analyse des Stücks Jeff Koons herangezogen, bei dem das Stück auf intermediale und performative Strukturen befragt werden wird, um speziell auch die Umsetzung seiner 13 „Popsemantik“14 als theatrales Konstrukt mit entsprechenden Verfahrensweisen anhand gehaltvoller Beispiele zu illustrieren. Vor allem soll das Kenntlichmachen sprachlicher Figuren und Mittel aufzeigen, wie und wo es zu theatralen Figurationen kommt. Des Weiteren soll auch reflektiert werden, was diese aufgefundenen szenischen Mittel in Bezug auf den aktuellen Forschungsstand in der Dramen- und Literaturtheorie aussagen. Die Schlussbemerkungen (Kapitel 7) liefern ein Resümee der Erkenntnisse, die aus Kontextualisierung und Textanalyse hervorgehen und schließen damit die Untersuchung ab. 14 Geer, Sophistication, S. 150. 14 2 Vorgehensweise Zunächst erscheint es sinnvoll, wesentliche Züge von Goetz’ Körperkonzept für die Schrift im Rahmen seiner poetologischen Ausrichtung darzulegen. Ausgehend davon werden anschließend Forschungsstand, Problemstellung und Zielsetzung poetologische dieser Arbeit Fragen thematisiert, bezüglich um des ästhetische und vorliegenden Untersuchungsgegenstandes, das Stück Jeff Koons, zu formulieren und mit bisherigen Erkenntnissen zu Goetz’ Poetologie und zur Literatur- bzw. Dramentheorie in Beziehung zu setzen. 2.1 Zum Verhältnis von Körperlichkeit und Schrift bei Rainald Goetz Theater und Text haben in der Literatur von Rainald Goetz ein besonderes, scheinbar paradoxes Verhältnis zueinander. Als „der einzige Kunstort, für den wirklich das LEBEN die Form der Kunst ist, [...] der Atem und die Spucke, der Geruch der Körper und der Husten der Langeweile [Hervorh. im Orig.]“15, geht von der Bühne eine große Faszination für seine Beschäftigung mit der Schrift aus: „Dass also die Bühne, und damit der Text fürs Theater, der schriftinternen Totheit der Schrift, nicht auf der Ebene des Lebens, sondern genau auf der der KUNST, wie vorhin gesagt, eine Lebendigkeits-Aufgabe stellt, die, wie es mir immer vorkommt, doch eigentlich JEDEN Schreiber unendlich faszinieren muss“ [Hervorh. im Orig.].16 Wie im Zitat beschrieben ist es die Gegensätzlichkeit der beiden Zeichensysteme oder genauer gesagt die Lebendigkeit und Gegenwartsbezogenheit der Bühne, die auf die Literatur eine starke Anziehung ausübt. Nach Carsten Rohde resultiert diese Sehnsucht der 15 Goetz, Rainald, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 12003 (Orig. 1999), S. 271. 16 Ebd., S. 273. 15 Literatur nach der Hinwendung zu anderen, vermeintlich sinnlicheren Künsten und Sphären aus folgendem Dilemma: “Literature does not want to be literature because it suffers from its own peripherality and the inadequacy of abstract expression. This causes the flight to something else – in other supposedly more sensual arts, to nature, to ‘simple’ folk, to religion, to politics. Goetz’s writing would only then be quite completed if, in what appears to be a paradox, it stopped being literature.”17 Die im Zitat angesprochene Unzulänglichkeit der Schrift in Sachen Sinnlichkeit und Abstraktion ist bezeichnender Fluchtpunkt und konstante Grundfrage bei Rainald Goetz. In seiner Hinwendung zu einer performativen Literatur gewinnt Goetz abseits vom selbstreferentiellen fiktionalisierenden Schreiben ein Alleinstellungsmerkmal in der experimentellen Literatur der Postmoderne, so Stricker.18 Literatur soll demnach über Text hinausreichen, Schreiben soll einen Überschuss an Leben enthalten, zum „Sound“19 und „Rhythmus“20 werden, sich entgegen ihrer Tendenz zum Geschlossenen und Starren den körperlichen Aspekten zuwenden und „die ganze Musik der Sprache, die Worte, der Rhythmus, Melodie und Sinn [...]“21 erschließen. Das Programm der Verlebendigung von Schrift als „autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel [...], Atem“22 lässt sich deutlich am Einbezug von authentischen und performativen Elementen erkennen. In seiner Abkehr vom fiktionalisierenden Schreiben wendet er sich autobiographischem und vorgefundenem Material zu. Der Distanz der Schrift und dramatischen Mimesis wird eine performative, vom Furor getriebene Schreibweise gegenübergestellt, 17 wobei das Körperliche, Rohde, Carsten, „German Pop Literature – Rolf Dieter Brinkmann and what came after“, in: German-Language Literature Today – International and Popular? Hg. Arthur Williams et al., Oxford: Lang 2000, S. 295-308, hier S. 303. 18 Vgl. Stricker, Achim, Text-Raum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz, Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH 2007, S. 270. 19 Goetz, Abfall für alle, S. 522. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Goetz, Rainald, Rave. Erzählung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 72013 (Orig. 1998), S. 262. 16 insbesondere der eingeschriebene Hass und Schmerz gegenüber dem Text Evidenz von Wirklichkeit stiften soll.23 Die paradoxe Spannung zwischen Textlichem und Lebendigem bringt ihn damit offensichtlich in die Nähe theatraler Gegebenheiten, deren charakteristische Intensitäten auf die „Asozialitätskunst“24 Schrift einwirken sollen: „Hier wird ein Text leibhaftig. Hier ist die große Täuschung, Sinn könne Körper werden, Grundgesetz.“25 Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit werden hier dazu eingesetzt, um Sprache als „Sprechereignis“ [Hervorh. im Orig.]26 zu verwirklichen. 2.2 Forschungsstand Die ältere, wie auch neuere Goetz-Rezeption greift die intermedialen und performativen Verfahrensweisen der medialen Überkreuzung und energetischen Intensivierung in der Schrift des Autors auf. Dies lässt sich oft auch an der Wahl des Vokabulars zur Beschreibung seiner Ästhetik erkennen, um den Verknüpfungen und Anleihen zu literaturfremden Rekursverfahren und Künsten Folge zu leisten. Unter den zahlreichen Studien zur Bestimmung und Ausrichtung der neueren deutschen Popliteratur, die sich im Speziellen ausführlich und kontinuierlich mit Goetz’ Ästhetik seit Anbeginn seines literarischen Schaffens gewidmet haben, seien exemplarisch die fundierten Ausführungen des Literaturwissenschaftlers Eckhard Schuhmacher zu Goetz genannt. Schuhmacher geht vor allem in Zusammenhang mit Goetz’ Gegenwartsobsession auf dessen Verfahren der Serialisierung ein. Dieses Prinzip sei besonders gut anhand des Internet-Tagebuchs Abfall für alle (1999) erkennbar, in dem die stetige Verwendung und Wiederholung des 23 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 268f. Goetz, Abfall für alle, S. 127. 25 Winkels, „Krieg den Zeichen“, S. 261. 26 Ebd., S. 258. 24 17 deiktischen Verweises „JETZT“27 in Großbuchstaben als zeitstrukturierendes Element zum Einsatz kommt.28 Dadurch soll der Moment als eine Art „Snapshot“29 schreibend eingefangen werden und Zeit als permanentes Präsens wahrgenommen werden. Dadurch wird erkennbar, wie sich die Textproduktion einer Praxis des Fotografierens annähert, welche Goetz auch selbst aktiv betreibt, zumal er eigenes Fotomaterial auch in seine Texte und Bücher einbaut. So wie Fotos als Indizien für eine unmittelbare Momentaufnahme fungieren, soll auch der Schrift diese Qualität zuteilwerden. Ohne sie als direktes Zitat anzuführen knüpft Goetz mit seinen gattungsund medien- und diskursübergreifenden Schreibformen an die deutschen Popliteraten erster Stunde, Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann an, die solche Wege bereits in den 60ern bestritten.30 Betrifft das Verfahren der Serialisierung vor allem die Bewusstseinswerdung von Zeitlichkeit, wird für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit vor allem die Konzeption und Erfahrbarkeit von Räumlichkeit im Text relevant sein, die insbesondere Assoziationen zu Brinkmanns literarischen Popentwürfen herstellt.31 Brinkmann plädiert in seinem Manifest für Pop-Literatur Der Film in Worten (1982) für die Vermischung von Schreibweisen und Gattungen sowie für eine lustbetonte, gegenwartsbezogene Literatur, die an das schreibende Subjekt und das profane Erleben und sinnliche Empfinden gekoppelt ist, wie es Pop-Art und die Beat-Autoren vorgemacht haben. In seinem programmatischen Sammelband spricht er vom „Raumzeitalter“32 27 „Jedes ‚JETZT’ ist immer nur und immer schon Teil einer Serie, ein Moment des Textes, das auf Vergangenes verweist und zugleich Fortsetzungen und Wiederholungen nach sich zieht.“ Schuhmacher, Eckhard, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 128. 28 Vgl. Ebd., S. 124. 29 Goetz, Abfall für alle, S. 200. 30 Schuhmacher, Gerade Eben Jetzt, S. 126. 31 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 273f. 32 Brinkmann, Rolf Dieter, Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos Collagen 1965-1974, Reinbek: Rowohlt 11982, S. 245. 18 der Literatur, das sich in den USA vorzeitig durchgesetzt habe, während es von europäischen Intellektuellenkreisen noch missbilligt werde. Seit Mitte der 50er Jahre diene Literatur nicht mehr nur der Erhaltung akademisierter Gattungen sowie nationaler Traditionen und Diskurse, sondern habe sich stark erweitert:33 „Während die theoretischen Kritiker im Kreise gehen und ihre Gedanken von Satz zu Satz fortschreiten, drückt sich das ‚andere’ Denken real in der Benutzung des ungeheuren Formenreichtums aus, der heute zur Verfügung steht und entstanden ist aus der Vermischung verschiedener Gebiete und Gattungen.“34 Brinkmanns Verfahren der literarischen Raumdurchkreuzungen anhand der Zusammenführung verschiedener Schreibweisen sind zusammen mit den Transkriptionen Andy Warhols, den literarischen Schnipseln, den ‚Cut-ups’, von William S. Burroughs oder den Methoden der Dekontextualisierung und Überlagerung von Wolf Vostell offenkundige Vorläufer von Goetz. Deren Hinwendung zum vorgefundenen Material anstelle des imaginativen, fiktionalen Schreibens, das sich in der Methode des Aufschreibens, Transkribierens, sowie des Samplings und der Materialmontage äußert, stellt bereits das in Aussicht, was Goetz der Realismus verpflichteten deutschen Autorengeneration der 68er entgegensetzt35: Das „einfache wahre Abschreiben der Welt.“36 Als Extrembeispiele für die konsequente Verfolgung oder vielmehr Radikalisierung dieser Ästhetik des Montierens und Aufschreibens gilt sein 1500 Seiten-langer Materialband 1989. Material (1993) und das 864 Seitenlange Internet-Tagebuch, beziehungsweise in Buchform erschienene Abfall 33 Vgl. Brinkmann, Der Film in Worten, S. 227. „Das heißt: Dass es eine Bewegung ist, die nicht mehr hauptsächlich durch Literarisierung bestimmt wird, doch auch keineswegs Literarisches ausschließt. Vermischungen finden statt – Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild-(Vorstellungs-)zusammenhängen, Schallplattenalben, aufgemacht wie Bücher...etc.“ Ebd., S. 227f. 34 Ebd., S. 232. 35 Vgl. Buchwaldt, Martin, Ästhetische Radikalisierung. Theorie und Lektüre deutschsprachiger Theatertexte der achtziger Jahre, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2007, S. 13. 36 Goetz, Hirn. Schrift, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 12003 (Orig. 1986), S. 19. 19 für Alle (1999). Während er bei erst Genanntem formal kaum in das Prinzip des Ab- und Aufschreibens öffentlicher Diskurse eingreift, führt Abfall für alle nach Schuhmacher mit seinen bereits erwähnten strukturierenden zeitdeiktischen Formeln (Minutenindex, „JETZT“-Vokabel) und Samplings anhand der Rhythmisierung und Montage der transkribierten Notationen öffentlicher Diskurse vor, wie dem vermeintlich nicht originellen Material in dieser Neuordnung sinnliche Qualitäten zukommen.37 In seinem „Haltungsfanatismus und seinem Romantizismus“38 wird Goetz oft als direkter Nachfolger von Brinkmann gesehen. Im Unterschied zu seinem Pop-Vorläufer seien intermediale Entgrenzungen und performative Verdichtungstaktiken bei Goetz aber Ausdruck einer bewusst gelenkten medialen Inszenierung.39 Ein neuerer Teil der Forschungsliteratur zu Rainald Goetz beschäftigt sich im Zuge von Goetz’ Körperfixierung und seinem Faible für popkulturelle Phänomene, wie etwa Techno, eingehend mit der Utopie Pop als diskursive wie ästhetische Form mit kritischer und subversiver Implikation in Bezug auf gewandelte politische Machtkonstellationen und Subjektwerdung. Christoph Hägele beispielsweise, der primär Goetz’ Romane Irre (1983), Kontrolliert (1988) und Abfall für Alle (1999) zum Gegenstand seiner Analyse macht, geht darin den popkulturellen Aneignungen von Punk und Techno auf den Grund. Im Anschluss an die Überlegungen von Deleuze und Guattari bezeichnet er die literarischen Verfahren der Rhythmisierung und Serialisierung als „deterritorialisierende Soundästhetiken“40, deren Ereignisse und Intensitäten zum „Treibmittel der Autonomie und authentischen Subjektivität“41 werden. 37 Vgl. Schuhmacher, Gerade Eben Jetzt, S. 134f. Geer, Sophistication, S.17. 39 Vgl. Ebd. 40 Hägele, Christoph, Politische Subjekt- und Machtbegriffe in den Werken von Rainald Goetz und Thomas Meinecke, Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 141. 41 Ebd., S. 261. 38 20 Was die Rezeption seiner Theatertexte angeht, ist der Bestand an Forschungsliteratur sehr viel überschaubarer. Franziska Schößler wählt in ihrer Betrachtung der Raum- und Zeitfigurationen in den ersten beiden Theaterstücken Krieg (1986) und Festung (1993) mit „Sampling“42 und „Überlappung der Tonspuren“43 Bezeichnungen aus dem Fachjargon der neueren Popmusik beziehungsweise elektronischen Musik, deren Produktionsweisen und Verfahren. Johannes Windrich erkennt in seinem Versuch, Goetz’ und Thomas Bernhards Stücke und andere Texte anhand der Subjekttheorie von Niklas Luhmann zu lesen, in den Produktionsweisen von Techno, insbesondere im Sampling der Tracks, strukturelle Parallelen zu Luhmanns Überlegungen zur Latenz und zur Konstellation des Subjekts. Im Speziellen sieht er in Goetz’ konzeptuellen und intermedial angelegten Theatertexten einen Moment der Offenheit, wodurch die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung gegeben sei. Windrich versucht zu veranschaulichen, dass es sowohl bei Luhmann als auch bei Goetz um die These gehe, dass Kommunikation nicht primär vom Transport von Bedeutung handelt, sondern durch das wechselseitige Durchkreuzen von Beobachtungen entsteht.44 Bereits in der Erzählung Rave (1998) zeige sich Goetz’ Affinität zur Techno-Musik und Clubkultur, in dem er jener Ästhetik des kollektiven, berauschenden Rhythmus auch literarisch einen Ausdruck verliehen habe.45 Es interessiert Goetz bei Techno vor allem das Entstehen endlos neu kombinierbarer Techno-Tracks, die nur scheinbare Wiederholungen seien, sowie das Wechselspiel von Abspielen der Nummern durch den DJ und die darauffolgende Reaktion der Tänzer, die wiederum auf den DJ wirke. Diese 42 Schößler, Franziska, „Zeit und Raum in Dramen der 1990er Jahre – Elfriede Jelinek, Rainald Goetz und Marlene Streeruwitz“, in: Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Hg. Georg Mein/Markus Rieger-Ladich, Bielefeld: transcript 2004, S. 235-257, hier S. 243. 43 Ebd. 44 Vgl. Windrich, Johannes, Technotheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard, Paderborn: Wilhelm Fink 2007, S. 263f. 45 Vgl. Knörer, Ekkehard, „Virtuosenstück der Bejahung. Rainald Goetz’ Theaterstück ‚Jeff Koons’“, www.jump-cut.de/rainaldgoetz.html, 22.10.2015. 21 interaktive Komponente sowie die permanente Abwechslung von sinnlicher Ekstase bei gleichzeitiger Absenz von Diskursivität, sind nach Windrich grundlegende Charakteristiken in Goetz’ Ästhetik des Wechselspiels von Konkretion und Abstraktion.46 Achim Stricker hingegen setzt sich in seiner ausführlichen Untersuchung zu theaterästhetischen Raumentwürfen in den „nichtdramatische[n] Theatertexten“47 von Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab und Rainald Goetz ähnlich wie Schößler auf „referentielles Rauschen“48, das als Resultat der Überlagerung von Kontexten eine hermeneutische Lektüre von Sinn und Bedeutung bewusst verweigere. Stricker sieht in Rainald Goetz‘ alternativen dramatischen Figurationen eine Konzeption von Intermedialität im Sinne einer „Entgrenzung des textuellen Zeichensystems“49 und plädiert im Fall von Goetz für die These einer Texttheatralität als „Verräumlichung von Text“50, wonach äußerer und innerer Bezugsrahmen ununterscheidbar werden. In Anlehnung an Gerda Poschmanns Versuch der Differenzierung der Theatralität in Texten als „impliziter szenischer Theatralität“51 einerseits und Texttheatralität als „Eigenschaft der Sprache“52 andererseits, welche die „performativen Dimensionen von Sprache“53 freilege, versucht er jene Elemente ausfindig zu machen, wo Texttheatralität als Raum entstehen kann, in welchem durch die „Interaktion von visuellen und sonoren Signifikanten die Bewegung eines körperlichen Denkens“54 erkennbar wird. Insofern will Stricker jene „Suchfelder“55 ausfindig machen, wo 46 Vgl. Windrich, Technotheater, S. 413. Stricker, Text-Raum, Titel. 48 Ebd., S. 272. 49 Ebd., S. 271. 50 Ebd., S. 65. 51 Poschmann, Gerda, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: de Gruyter 1997, S. 44. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Finter, Helga, Der subjektive Raum. Band. 2. ... der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll: Antonin Artaud und die Utopie des Theaters, Tübingen: Gunter Narr 1990, S. 6. 55 Stricker, Text-Raum, S. 325. 47 22 Texttheatralität durch intermediale und semiotische Sinngebungsmodalitäten im Text resultiert. 2.3 Problemstellung und Zielsetzung Die vorliegende Untersuchung ist vor allem von der Frage geleitet, welcher Entwurf von Theatralität anhand des Stücks Jeff Koons hervorgeht und welche performativen, bildlichen und musikalischen Komponenten hinsichtlich Texttheatralität hierfür eine Rolle spielen. Theatertexte, deren dramatische Struktur sich nicht anhand des Dialogs der Figuren ausdrückt, sondern wo sich das Dramatische auf die sprachliche Konstellation und „auf den theatralen Repräsentations- und Wahrnehmungsprozess“56 verlagert, befragen auch das Verhältnis zwischen Literatur und Bühne. Dahingehend, dass Goetz’ Handlung klar zuzuordnenden Rollen sowie der klassischen Aufteilung in Haupt- und Nebentext eine Absage erteilt, fordert er die gegenwärtige Bühnenpraxis auch dazu heraus, Theatralität zu hinterfragen. Mit den genannten Suspendierungen im Stück lenkt der Autor den Blick folglich weg von gattungsspezifischen Kategorisierungen und hin auf die Frage, inwiefern ein Text theatral ist, sprich was hier zur Aufführung kommt. Wie Theresia Birkenhauer erläutert war die Gattungsabgrenzung dramatisch von rhetorisch und episch bereits in symbolistischen und lyrischen Theatertexten des 19. Jahrhunderts obsolet geworden. Die Texte Maeterlincks, beispielsweise, richteten ihre Wirksamkeit nicht primär auf den Rollentext, sondern hauptsächlich auf eine autopoetische Funktion, und wären so wegweisend für Alternativen der sprachlichen Darstellung und Haltung gegenüber einer Darstellungspraxis und Rezeption lange vor einer postdramatischen Epoche gewesen.57 Insofern sind Dramentheorie und Literaturwissenschaft herausgefordert, den weitläufigen Theatralitätsbegriff 56 Vgl. Birkenhauer, Theresia, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Čechov. Genet, Beckett, Müller, Berlin: Vorwerk 8 2005, S. 16. 57 Vgl. Ebd., S. 16f. 23 mit Blick auf zeitgenössische Dramatiker fortwährend einer Revision zu unterziehen und Versuche der Einteilung wie etwa dramatisch und postdramatisch oder die von Gerda Poschmann geprägte Kategorie der „Texttheatralität“58 stets induktiv zu untersuchen.59 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung des Theatertexts Jeff Koons, der auf den ersten Blick jegliche szenischen Verweise auf eine mögliche Bühnenumsetzung zu ignorieren scheint, soll sich die Analyse vor allem auf texttheatrale Strategien, sprich performative Gestaltungen im Text anhand einer verbal-textuell geleiteten dramaturgischen Analyse fokussieren, um in der textuellen Zeichenpraxis theatralische Potentiale zu eruieren. Es geht also darum, zu zeigen, wo solch theatrale Wirkung im Text selbst verortet werden kann; „in seiner Ordnung, Gestaltung und Funktionsweise als Textmaschine.“60 58 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 242. Poschmann proklamiert in der seit den 1960er Jahren entwickelten Begriffsdebatte rund um die Polemik Drama vs. Theatertext die Neu-Ausrichtung des Verhältnisses Theater und Text und plädiert im Zuge gewandelter Schreibweisen und Aufführungspraktiken für neue Begriffe rund um die Konzepte und Formkriterien von Drama und Theatralität. Sie schlägt ‚Textträger’ anstatt der Bezeichnung ‚Figuren’ vor oder ‚Sprech- und Zusatztext’ anstatt ‚Haupt- und Nebentext’; auch bemüht sie sich um eine Klassifizierung verschiedener Arten von Texttheatralität, die der Re-Theatralisierung von Literatur und Entliteralisierung des Theaters Rechnung tragen wollen; allerdings zeigt sich, dass auch Poschmanns Dichotomie ‚dramatisch’ und ‚nicht mehr dramatisch’ zu kurz greift und wiederum die vermeintlich zeitliche Sukzession und damit Überwindung des Dramas suggeriert, was die Problematik des Begriffs ‚postdramatisch’ wiederum untermauert. Kritiker bemängeln dabei, dass diese Kategorien eine grundsätzlichere Untersuchung des Verhältnisses von Literatur und Aufführung sowie fallspezifische Analysen des Umgangs mit theatralen Darstellungskonventionen, wie etwa die doppelte Achse Bühne-Zuschauerraum in der Literatur und dem daraus entstehenden Spannungsverhältnis, vernachlässigen würden. 59 Im Rahmen des Symposiums Sinn egal. Körper zwecklos. Postdramatik – Reflexion & Revision. Veranstaltet von der Forschungsplattform Elfriede Jelinek in Kooperation mit dem Elfriede Jelinek-Forschungszentrum, den Wiener Festwochen und der Kunsthalle Wien, 14.-18. Mai 2014, das den Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Text und Theater, Autor und Bühne setzte, zeigte sich vor allem in den Diskussionen rund um die Begriffe ‚Drama’, ‚Theatertext’ und ‚Texttheatralität’ die Enge dieser Begriffe als ästhetische Kategorien aufgrund der im Wandel begriffenen Auffassungen von Bühnenpraktiken und Theatralität allgemein. 60 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 324. 24 Für diese Untersuchung von Goetz’ Theatertext Jeff Koons soll Achim Strickers These einer „Sprach-Ausstellung“61 im Auge behalten werden, wonach Intermedialität in dem Fall wesentlich durch die Annäherung der Schrift an bildkünstlerische Prozesse und Darstellungsformen zu ergründen wäre. Nach Stricker handle es sich bei den Szenen und Akten um nebeneinander gereihte Sprach-Bilder, die aus der kontemplativen Innenschau von Sprache entstehen und ihr Sinnpotenzial in Rhythmik, Bild und Klang aufgehen lassen.62 Was die intertextuellen Verweise und Adaption bildkünstlerischer Verfahren betrifft, soll anstelle des vollständigen Nachvollzugs erwägt werden, welche Wirkung aus dem Spiel mit der Zitatfülle und Intermedialität hervorgeht.63 Im Zuge eines untergeordneten Diskurses soll in der Analyse auch auf den Pop-Begriff und die Pop-Kunst des Künstlers Jeff Koons eingegangen werden, dessen Kunst und Werdegang Goetz als diskursiven Hallraum für sein Stück benutzt. Insofern kann diese thematische Ausrichtung eine Positionierung seitens Goetz zum Feld Pop, populäre Kultur und Kunstkontext vermuten lassen. Was interessiert Goetz am Künstler Koons? Ist dessen dominante Position in der Kunstszene die eines souveränen Künstlersubjekts oder Effekt geschickt genutzter medialer Inszenierung und damit Prototyp für den Selbstinszenierungs-Zeitgeist und Triumpf des Kommerzes? Welche Pop- und Kunstposition stellt Goetz dem Gegenwartssubjekt Jeff Koons gegenüber, dessen selbstbestimmter und vom Anspruch der Selbstverwirklichung geleitetes Lebensprinzip- und Stil im gegenwärtig postfordistischen gesellschaftlichen Zeitalters Allgemeinplatz und geworden ist? 61 Stricker, Text-Raum, S. 287. Vgl. Ebd., S. 295. 63 Vgl. Ebd., S. 274. 62 25 zum auserkorenen unfreiwilligen Statussymbol In Bezug auf Pop und seiner Nähe zu theatralen und performativen Verfahren und Formen stellt sich die Frage, wie Goetz den Pop-Anspruch der Durchkreuzung von ‚high’ und ‚low’, Heiligem und Profanem am Modell Theater und am Genre Theatertext zur Geltung bringt. Zentrale Aspekte der ästhetischen Pop-Verfahrensweise von Goetz wurden bereits anhand der Ausführungen Schuhmachers in Hinblick auf den Umgang mit Zeit anhand der Verfahrensweisen der ‚Jetzt’-Serialisierung sowie der Überlagerung von Kontexten und Sprechweisen beschrieben. Diese Gegenwartsfixierung und Emphase auf Vollzug, Vorführung und Selbstbespiegelung tangiert damit auch die Konzepte Performance und Performativität, welche als Instrumentarien der Kulturwissenschaft seit den 90ern im Zuge einer zunehmenden Medialisierung von Gesellschaft in der Forschungsliteratur virulent sind.64 Zumal der Fokus dieser Arbeit auf der Beschreibung und Analyse von Goetz’ theaterästhetischer Figuration liegt, werden diese Konzepte theoretisch hier nicht näher theoretisch debattiert, da sie in dieser Untersuchung lediglich zur Beschreibung der Wirkung von ästhetischen Verfahrensweisen zum Einsatz kommen.65 64 Vgl. Hempfer, Klaus W./Jörg Volbers (Hg.), „Vorwort“, in: Theorien des Performativen, Bielefeld: Transcript 2011, S. 7f. Exemplarisch für eine Vielzahl von Literatur zur Ästhetik des Performativen sei dieser Sammelband genannt, in dem sich die Autoren um eine kritische Bestandsaufnahme jener Konzepte als gängige kulturwissenschaftliche Analysetools bemühen und die Anwendung dieser Konzepte an konkreten Beispielen anbieten, um die Pluralität der Theorien aufzuzeigen. Es sei auch auf die Ausführungen von Sybille Krämer verwiesen, welche die Beziehungen zwischen Medialität und Performativität untersucht und das Performative als diskursive Praxis, die auch Materialität und Körperlichkeit umschließt, begreift. Siehe Krämer, Sybille (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004. 65 Mersch führt die breite Diskussion rund um das Paradigma des Performativen darauf zurück, dass es als Konzept die Beziehung zwischen Praxis und Handlung in ein neues Licht stellt, zumal es sie um die „Aspekte der Auf- und Vorführung, der Präsentation und des Vollzugs“ zusätzlich zum Symbolischen, dem Medium und der Medialität erweitere und so eine Betonung des Ereignisses, der „Singularität“ einer Handlung, mit sich bringe, was sich auch auf ein verändertes Verhältnis zu Macht und Gewalt auswirke. Vgl. Mersch, Dieter, „Einleitung“, in: Performativität und Praxis, Hg. Jens Kertscher/Dieter Mersch, München: Wilhelm Fink 2003, S. 8. 26 2.4 Methodik Die Verwendung des theatralen Modells für eine intermediale und körperliche Sprachpraxis seitens Geotz legt einen Entwurf von Theatralität nahe, wie ihn Roland Barthes im Begriff der „Szenographie“66 denkt. In seiner Kontextualisierung des Theatralen als kulturellem Dispositiv67 wird Theatralität als Verquickung von Szene und Schrift („Schrift – graphe, Graphem, greffier sowie Griffel, grapheion und der „In-Szene-Setzung“68) dargestellt. Barthes’ theoretische Überlegungen im Rahmen seines Entwurfs einer szenischen Semiotik sind am Begriffsmodell Theater orientiert, was man auch an der Wahl theatereigentümlicher Topoi wie etwa Szene, Vorstellung, Mimesis für seine semiotischen Ausführungen zum Text, zum Bild oder zum Medienwechsel erkennen kann. Das theatrale Modell mit seiner spezifischen Multimedialität und Prozessualität als Raum-Kunst liefert für Barthes Anlass für den Entwurf intellektueller Figurationen, die dem Zusammenwirken von Wirklichkeitskonstitution und Wahrnehmung sowie dem Verhältnis von Repräsentation und Präsenz in verschiedenen Medien und Zeichensystemen Rechnung tragen.69 Daher sollen vor allem Barthes’ theoretische Überlegungen zur Theatralisierung der Sprache darüber mehr Aufschluss geben, auch weil 66 „La métaphore de la scénographie est encore féconde; elle n’est pas été exploité complètment. Cela consisterait á donner un primat á celui qui met en scène par rapport á celui qui joue. Notre théatre est un théatre d’acteurs, par tradition.“ Barthes, Roland, Oeuvres Complètes, Édition établi et présentée par Éric Marty, Tome I 1942-1965, Tome II 1966-1973, Tome III 1974-1980, Paris: Éd. du Seuil 1995, hier II, S. 1485. 67 Vgl. Neumann, „Einleitung“, in: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Hg. Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber, Freiburg im Bresgau: Rombach 12000, S. 11-35, hier S. 24. 68 Barthes, Oeuvres Complètes, II, S. 1335ff. 69 Barthes’ intellektuelle Stellungnahmen zum Theater kulminieren und enden gleichzeitig mit dem Besuch von Brechts epischem Theater durch ein Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris 1960. Im Zuge dessen sieht er Brecht mit seiner neuen V-Formel eines Theaters abseits der psychologischen Einfühlung als den Vertreter eines neuen Theater an und ignoriert gleichzeitig jedoch andere zeitgenössische Visionäre, wie etwa das Living Theatre oder dann auch Robert Wilson, die auch eine Theaterreform allerdings in der Tradition von Artaud und Grotowski versuchen. Siehe Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 32005 (Orig. 1999), S. 42f. 27 sich seine medienübergreifenden Reflexionen zum Zusammenhang von Wahrheit, Bedeutung und Sinn in der Sprache sowie seine Aufwertung des Rezipienten als übergreifende Gedankenfiguren eignen, um Goetz’ texttheatrale und mediale Sprachkonstellationen in der Tradition der ‚écriture corporelle’ kontextualisieren zu lassen. Es wird von folgender Prämisse ausgegangen: Wenn Theater als „ModellMedium für ein intermediales Wechselspiel der Künste“70 verstanden wird, innerhalb dessen die verschiedenen Zeichensysteme und Medien als solche organisch erhalten bleiben, ohne deren eigene Materialität und Medialität aufzuheben71, kann Theatralisierung als „potenzierte Beweglichkeit der Zeichen“72 zur metaphorischen Vorlage für eine plurimediale künstlerische Verfahrensweise gedacht werden. Neben Helga Finters und Gerda Poschmanns Anmerkungen zur Texttheatralität soll vor allem ausgehend von Barthes’ Figurationen von Theatralität als sprachimmanentes Element und Modell für eine Zeichenlehre aufgezeigt werden, inwiefern die theatrale Vorlage Einfluss auf den Anspruch der Performativität und Körperlichkeit durch die Schrift bei Goetz nimmt. Dabei interessiert vor allem die Frage, ob und wie Texttheatralität als „Autoreflexion theatraler Signifikantenpraxis“73 zum Vorschein tritt – also inwiefern Theater als Situation und Raum oder Rahmung dazu genutzt wird, um „mit körperlichen räumlichen oder zeitlichen Dimensionen der Sprache [zu] arbeiten“74. Bevor in der Analyse die spezielle theatrale Konstellation und die intermedialen Verfahren des Stücks aufgeschlüsselt werden, also inwiefern hier auch Texttheatralität als Intermedialität zum Tragen kommt, sollen 70 Meyer, Petra Maria, Intermedialität des Theaters – Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf: Parega 2001 (Zugl.: Mainz, Univ., Habil.-Schr. 1998), S. 52. 71 Vgl. Stricker, Text-Raum, 2007, S. 59. 72 Ebd. 73 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 33. 74 Ebd., S. 179. 28 Poetizitätstheorien der Sprache und Schrift anhand des Konzepts der ‚écriture corporelle’ dargestellt werden. Das umfasst neben einer Genealogie des Konzeptes einer körperlich gedachten Schrift oder eben eines literarisch gedachten Theaters, wie sie Mallarmé oder Artaud entwarfen, auch Barthes’ Überlegungen zu einer szenischen Semiotik und das Konzept der Verräumlichung als sprach- und ideologiekritische Methode, wie es Barthes antizipiert hat und von Theoretiker*innen, wie etwa Julia Kristeva, im Sinne der Dekonstruktion weitergedacht wurde. Texttheatralität in dieser theoretischen wie praktischen Tradition zu sehen, schließt womöglich auch an Pop-Postulate an, die ebenso im Zeichen der möglichst engen Verbindung von Diskurs und Praxis stehen. Ausgehend davon verspricht sich die Untersuchung einen umfassenden und möglichst offenen Blick auf das theatrale Dispositiv als Denkform für den Konnex von Körperlichkeit und Schrift. 29 3 Theoretische Voraussetzungen Bevor jene methodischen Ansätze zur Intertextualität, Intermedialität sowie Texttheatralität vorgestellt werden, welche in dieser Arbeit kombiniert zur Anwendung kommen, soll der für Goetz prägende Pop-Gestus näher beschrieben werden. Indem Strategien und Charakteristika von Pop aufgezeigt werden Vorgehensweise oppositionellen soll der eine Verbindung experimentellen Reibungsflächen zu Goetz’ ästhetischen Gegenüberstellung hergestellt werden. Zumal von der Literaturbegriff von Goetz stark vom Spannungsverhältnis zwischen Absenz und Präsenz bestimmt wird erweist sich die Bühne als diametral dem Schreiben entgegengesetzter Sehnsuchtsort: als Metapher für sein Schreiben und als ein de facto existierender Kunstraum, in dem eine tatsächliche mediale Übersetzung seiner Theatertexte stattfinden kann. Insofern soll die theoretische Fundierung und Begriffsabklärung auch eine gute Voraussetzung schaffen, um die Konzepte der Theatralität sowie Texttheatralität für den weiteren Verlauf der Analyse möglichst einzugrenzen. 3.1 Schreibweisen des Pop: Gegenwart, Vollzug, Körper Das folgende Unterkapitel zu Pop soll die Verfahrensweisen und Haltung des Autors Goetz im Rahmen des Literaturkontexts und der popintellektuellen Szene in Deutschland kontextualisieren. Ebenso soll verdeutlicht werden, inwiefern Pop mit ästhetischen Strategien operiert, welche Theatralität, Inszenierungsmechanismen und Performativität mit einbeziehen. Als diskursive Denkform, so wie sie von der deutschen poptheoretischen Linken rund um Diedrich Diederichsen geprägt wurde, stellt Pop mit seinen Posen, exklusiven Codes und seiner Verweigerung von Kommunikation auch eine Form von ästhetischer Kommunikation dar und wird damit auch Fragen um die scheinbare Abgrenzung von theoretischem Diskurs und ästhetischer Praxis auf. 30 3.1.1 Das Pop-Debüt Subito und der Auftritt in Klagenfurt (1983) Goetz‘ dringlicher Schreibgestus gegen die Anpassung an gattungsbezogene Normvorgaben, Rahmen und Sujets ist bereits vor seiner aufsehenerregenden Subito-Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983 in seinen literaturkritischen und essayistischen Publikationen für das Feuilleton oder in den tagebuchartigen Formaten seit 1976 zu erkennen.75 Drückt sich in Titeln wie etwa „Ich lese, wie um mein Leben“ (1978) oder „Ich muss um mein Leben schreiben“ (1983) noch eine anfängliche Flucht in die Literatur und Sehnsucht nach Normalität eines von Einsamkeit erfassten, nichtangepassten Studenten der Geschichte und Medizin76 aus, wird der Widerspruch zwischen Wort und Wirklichkeit, Denken und Leben für ihn bald schon programmatischer Impetus und Fluchtpunkt für seine „Ästhetik der Lebensmitschrift“77. Der prekären Souveränität des Subjekts angesichts ubiquitärer gesellschaftlicher Verwertungszusammenhänge begegnet er mit der Methode der „Fiktionsvernichtung durch scheinbare Authentizitätsakribie“78, welche er erstmals anhand der zeitnahen Schriften Subito (1983) und dem Roman Irre (1983) realisiert. Goetz spricht davon, Literatur als „atmendes Schreiben“79 zu betreiben. Dass er dabei permanent autobiographische Verweise in seine Texten einfließen lässt und ebenso den eigenen Körper als erweiterte Textur seines ästhetischen Programms ansieht, könnte auch als ironischer Kommentar gesehen werden, dadurch ein Mehr an Authentizität in einem zunehmend von Medialisierung geprägten westlichen Alltag zu suggerieren, in dem sich 75 Vgl. Kühn, Rainer: „Rainald Goetz“, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG – 10/04), Hg. Heinz Ludwig Arnold, München: 78.NIg. 2004, S. 1-12, hier S. 1. 76 Goetz ist promovierter Historiker und Arzt. Doktor, Thomas/Carla Spies, „Rainald Goetz“, in: Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Hg. Alo Allkemper/Norbert Otto Eke, Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 858-883, hier S. 868. 77 Kühn, „Rainald Goetz“, S. 2. 78 Ebd. 79 Goetz, Rainald, Kontrolliert. Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 52. 31 „Künstler als Indizien für Wirklichkeit entdecken“80, was Einzug in Happening, Performance wie auch den postmodernen Schauspielerkörper hält.81 Mediales Aufsehen im literarischen Fachpublikum löst Goetz durch den skandalträchtigen Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im ORFLandesstudio in Klagenfurt 1983 aus, als er Text und Geste, Darstellung und Dargestelltes, Text und Körper, Autor und Werk in einem performativen Akt oder Einpersonenstück zusammenzwingt. Während der Lesung des Textes Subito fügt sich der ausgebildete Mediziner gegen Ende der Lesung des eigens für diesen Anlass verfassten Textes Subito einen sauberen Schnitt mit einer Rasierklinge auf der Stirn zu und ist anschließend trotz starker Blutung nicht davon abzubringen, den Text bis zum Ende vorzulesen.82 Es handelt sich dabei um den folgenden Abschnitt, der, mit seinen provokanten Kraftausdrücken und der Nachahmung bayrischer Mundart, bezeichnend für den Stil der Durchmischung der Redeweisen von Goetz ist: „Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das, die ich mitbringen täte und hier voll tot auf den Tisch hin legen täte, ich bin doch kein Blödel nicht, ich lege denen doch keinen faulig totig sic stinkenden Kadaver da vor sie hin, von dem sie eine Schlafvergiftung kriegen müssen, es muss doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut muss fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt“ [Hervorh. im Orig.].83 Gegen die Erwartung nur Text vorzulesen, vollzieht Goetz also am eigenen Körper die aus dem Text hervorgehende Konsequenz, wonach erst das Sichtbarmachen des vollen Körpereinsatzes, sogar das Fließen des eigenen Bluts, das Gesagte beglaubigt. Es scheint, als ob der Text durch die 80 Roselt, Jens, „Postmodernes Theater – Subjekt in Rotation“, in: Räume der literarischen Postmoderne – Gender, Performativität, Globalisierung, Hg. Paul Michael Lützeler, Tübingen: Stauffenberg 2000, S. 147-166, hier S. 163f. 81 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 268. 82 Zusammenschnitt der Subito-Lesung des ORF, Ingeborg-Bachmann-Preis 1983, www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY, 0:53-09:17’, hochgeladen am 09.10.2010, 22.10.2015. 83 Goetz, Rainald, Hirn. Schrift, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 12003, (Orig. 1986), S. 9f. 32 Verquickung von Bezeichnetem und Bezeichnendem, gelesenem Wort und ausgeführter Aktion sinnliche Unmittelbarkeit, Tiefenschärfe und Konkretion erfährt. Literatur wird hier zur „Aktionskunst“84, zum „performativen, präsenzkulturellen Ereignis“85. Auch die Art und Weise der vorgetragenen Prosodie in emotionaler wie hellwacher Erregung und der zunehmend beschleunigende und laute Duktus beim Lesen, der mit steigender Dringlichkeit um die Textzeilen peitscht, verstärkt den Effekt, Zeuge eines „integrativen performative[n] Handlungszusammenhangs“86 zu werden. Seine zum medialen Ereignis mutierte Lesung in Klagenfurt wird zwar mit keinem Preis versehen und von der Kritik beinahe unisono als Effekthascherei und geltungseifrige Provokation abgetan, aber Goetz bewirkt mit seinem skandalträchtigen Auftritt und dem anschließend medial kursierenden Foto des blutenden Autors mit Punk-Frisur eine Bloßstellung des literarischen Großevents und dessen medientheatralen Charakters. Goetz sprengt mit seinem Auftritt, der Text, Lesung und Autor untrennbar in diesem auf den eigenen Körper ausgeweiteten Text als (Sprech)-Akt, den Rahmen Buch und demaskiert das latente, von Sensationsgier gelenkte „aggressive Prinzip der Medientheatralität“87 hinter der Veranstaltung. Das abwertende Urteil über ‚Klagenfurt’ im Text Subito, wo es nach Goetz „nicht um die fade Literatur, sondern um die lustige Hüftenschusskritik“88 gehe, bezieht sich vor allem auf das Selbstverständnis und die Selbstinszenierung der Kritiker*innen, die mit ihren Geschmacksurteilen das vorrangige Literaturverständnis prägen.89 84 Gropp, Petra, „‚Ich/Goetz/Raspe/Dichter’“, in: Schriftsteller-Inszenierungen, Hg. Gunter E. Grimm/Christian Schärf, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 231-247, hier S. 241. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Goetz, Hirn, S. 17. 89 Bei der mehrtägigen Veranstaltung Tage der deutschsprachigen Literatur wird jährlich auch der Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt vergeben. Eine Jury gibt nach jeder Lesung dem Autor oder der Autorin unmittelbar danach eine Kritik zum Text ab. Während 33 Mit dieser Lesung geht Goetz nicht nur als „Enfant terrible des Literaturnachwuchses der achtziger Jahre“90 in die Literaturgeschichte ein, sondern stellt als „Vertreter der Popsemantik“91 vor allem auch die Weichen für eine neue Generation von Pop-Literaten. Die performative Lesung wird sich als bezeichnendes Debüt für sein performativ-literarisches PopProgramm, in dem die Verzahnung von Leben und Schrift, Schreiben und Körper, Medium und Autor konstitutiv sind, in die Rezeption des Autors einprägen.92 Der erst nach der Lesung in Klagenfurt publizierte Text Subito bildet einen Ausschnitt aus der Publikation Hirn (1986). Es liest sich als prägnanter Abriss mit zahlreichen autobiographischen Anspielungen auf die Transformation des Psychiatriearztes Raspe, potenzielles alter Ego von Goetz, und Protagonist des 1983 erschienenen Romans Irre, der sich mehr und mehr von seinen ärztlichen Vorbildern und Idealen verabschiedet.93 Fernab von der Münchner „Diaspora“94 trifft sich Raspe lieber mit seinen Peers, seinen Szene-Kollegen, wie etwa Diedrich Diederichsen, dem „Ultraheroe“95 und „geniale[n] Kulturkritiker Neger Negersen, genannt Stalin“96 oder dem Maler Albert Oehlen (die Figur „Albert Gagarin“97) im Szenetreffpunkt „Subito“98 in Hamburg. der dreitägigen Lesungen vergibt die Jury den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis, der zu den wichtigsten Literatur-Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum gehört. 90 Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 869. 91 Geer, Sophistication, S. 150. 92 Vgl. Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 868f. 93 Goetz, 1954 geboren in München, absolviert wie die Hauptfigur des Romans Irre (1983) ein praktisches Jahr als Arzt in der Nervenklinik der Universität München. Während des Studiums verfasst er Literatur- und Kulturkritiken u.a. für den SPIEGEL. 1981 erhält er seine Approbation als Arzt, 1982 schließt er seine Promotion als Arzt zum Dr. med. ab. Mit 30 gibt er aber seine aussichtsreichen Karrieren als Arzt und als Historiker auf, um sich ganz der schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen. Der Autor lebt in Berlin. Siehe o.A., Munzinger-Archiv online, „Rainald Goetz“, www.munzinger.de/search/portrait/Rainald+Goetz/0/20872.html., Stand: KW 28/2015, 22.10.2015. 94 Goetz, Hirn, S. 15. 95 Gemeint ist Goetz’ Intellektuellen-Freund und Förderer Diedrich Diederichsen, der Herausgeber der Popmusikzeitschriften SPEX, und SOUNDS ist; Diederichsen veröffentlicht Texte in SPEX unter dem Pseudonym Stalin Stalinsen. Siehe Ebd., S. 14. 96 Ebd. 34 Goetz formuliert in diesem Text mehr oder weniger explizit auch sein an die Poptheorie angelehntes Programm und die Kraftquellen seines literarischen Schaffens. Angelehnt an die angloamerikanische Schule der Cultural Studies entsteht Anfang der achtziger Jahre im deutschen Musikjournalismus, insbesondere im Musikmagazin SPEX unter dem Chefredakteur Diedrich Diederichsen (ein Pseudonym) Pop als diskursive Form und Kulturkritik, die „Phänomene der Alltagskultur und der Popkultur theoretisch und politisch zu kontextualisieren versucht.99 Darüber hinaus, entwickelt sich in diesem neuen Intellektuellenkreis Pop auch als distinkte Rhetorik und Habitus mit eigenen Codes. 3.1.2 Rhetorik und Strategien des Pop In der popintellektuellen Peergroup rund um den deutschen Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen, den Goetz als „widerspruchreichste[n] Denker“100 bezeichnet, etabliert sich Pop als diskursives Phänomen zwischen legitimer und subkultureller Kulturkritik. Auch Goetz schließt sich mit Credo „Alles geht uns an, alles“101 an das von Leslie Fiedler 1968 proklamierte Motto „Überquert die Grenze, schließt den Graben“102 als Forderung der Aufhebung von ‚high’ und ‚low’ an, um einer Pop-Literatur zwischen modernistischem Anspruch und Post-Moderne zur Legitimation zu verhelfen. Anhand der Collagierung und Aneignung von Codes, Diskursen und Zitaten verschiedener Wissens- und Zeichensysteme, aus der U- und EKultur, aus Akademia, wie auch Alltagskultur, beansprucht der Kreis der Pop-Intellektuellen rund um Diederichsen damit die Etablierung eines 97 Vermutlich eine Anspielung auf seinen langjährigen Freund, den Maler, Albert Oehlen. Goetz, Hirn, S. 15. 98 Ebd. 99 Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 881. 100 Goetz, Celebration, S. 268. 101 Goetz, Abfall für alle, S. 289. 102 Fiedler, Leslie A., „Überquert die Grenze, schließt den Graben! (1968)“, in: Texte zur Theorie des Pop, Hg. Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke, Stuttgart: Reclam 2013, S. 79-103, hier S. 79. 35 popkulturellen Raums als dissidente Praxis, als subversive Strategie „kultureller Dehierarchisierung“103. Diese Rhetorik setzt die Kenntnis der verwendeten Verweise und Referenzen als Insiderwissen voraus und weist dementsprechend einen exklusiven Charakter auf. Pop ist nach Diederichsen „immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung [...], bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen oder kulturelle Grenzen“.104 In Diederichsens autobiografisch beeinflussten Pop-Pamphlet Sexbeat (1985) reflektiert er die Stilmittel und Posen des Punk unter Zuhilfenahme von poststrukturalistischen Begriffen und Denkfiguren, insbesondere unter Berücksichtigung der französischen Theoretiker Baudrillard, Lyotard, Deleuze und Guattari, deren unscharfe Begrifflichkeiten sich gemäß der Pop-Methode für die Neuverwendung und Einbettung in neue Kontexte eignen. Die neue Gegenkultur, die ‚Second Order Hipness’, wie Diederichsen sie bezeichnet, folgt in ihren Ausdrucksweisen nicht „Natürlichkeits-, Echtheits- und Originalitätsvorstellungen“105, wie sie Vertreter sozialdemokratischer Gesellschafts- und Kulturpolitik vorsehen. Stattdessen steht sie für eine Vorgehensweise der reflexiven, ironischen Zeichenverwendung und Zitationspraxis. Pop wird zur Fluchtbewegung: „Pop z.B. galt uns im günstigsten Fall als ein Kommunikationssystem, das nicht abgehört werden konnte und das für einen schnellen Austausch von Nachrichten von einer gelebten oder nur erträumten Eleganz der Existenz sorgte.“106 Mit ‚Second Order Hipness’ beschreibt Diederichsen das Aufkommen jugendkultureller Rebellion von 1972 bis 1985 gegen das Establishment. Damit ist eine linke Boheme wie jener Ende der 50er Jahre geborenen 103 Geer, Sophistication, S. 19. Diederichsen, Diedrich: „Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch“, in: Texte zur Theorie des Pop, Hg. Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke, Stuttgart: Reclam 2013, S. 185199, hier S. 188. 105 Diederichsen, Diedrich, Sexbeat, Köln: Kiepenheuer & Witsch 22010 (Orig.1985), S. 126f. 106 Diederichsen, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 260f. 104 36 gemeint, die für Diederichsen eine fortschrittsabgewandte, desillusionierte Generation darstellt: „Es ist die Geschichte der ersten Bohemia-Generation, die sich auf eine zweite Ebene begeben musste, um weiter zu kommen. Die die Wahrheit schlucken musste, dass weiter nichts anderes ist als das Andere, von dem Ken Kesey bei dieser Rede vor dem Vietnam Day Committee 1966 immer sprach, als er davor warnte, denen ihr Spiel zu spielen“ [Hervorh. im Orig.].107 Den Protagonisten der deutschen Punk-Subkultur galt es, dem sozialdemokratischen Konsens, der Langeweile, die ein „gesichertes, aber nicht lebenswertes Leben“ geprägt von „dem Doppelgesicht von Fun und Erbauung“108 ausstrahlt, etwas dagegenzuhalten, ohne eine Alternative parat zu haben. Demnach musste eine neue Gegenkultur als etwas auftreten, das nicht durch jene restlichen Teile einer politisierten Kultur, „deren Vertreter längst habituell nicht mehr von den Machthabern unterscheidbar waren“109 einverleibt werden konnte. Der Beitrag dieser jugendkulturellen Gruppierung (‚Second Order Hipness’) bestehe darin, so Diederichsen, „dem Weiter ein ganz besonderes, politisches Jetzt entgegengesetzt zu haben.“110 Durch die Ablehnung des Bestehenden wäre „gleichzeitig alles andere, alles, was es nicht gibt, als ein unendliches Reich der Zukunft für sich offen.“111 Demnach besteht die Freiheit dieser Position auch darin, selbst zu entscheiden, wann und ob dieser Moment der Zukunft, sprich eine Veränderung, erfolgen soll. Die Gruppierung rund um Goetz, der ebenfalls zu den freien Mitarbeitern von SPEX zählt, sowie Diederichsen und einigen bildenden Künstlern, wie etwa Albert Oehlen, Werner Büttner und Martin Kippenberger, setzt vor allem auf das ironische Zitat in moderner Avant-Garde-Manier als Mittel 107 Diederichsen, Sexbeat, S. 18. Diederichsen, Eigenblutdoping, Köln: Kiepenheuer & Witsch 22009 (Orig. 2008), S. 157. 109 Ebd. 110 Diederichsen, Sexbeat, S. 58. 111 Diederichsen, Eigenblutdoping, S. 159. 108 37 der Verfremdung in den jeweils verschiedenen Ausdrucksmedien ein.112 In Goetz’ Textpraxis sind Bezüge zum Diskursgeflecht rund um die Peergroup und zur Populärkultur immer wieder in Form von zahlreichen wörtlichen und bildlichen Verweisen gegeben. Dazu gehören etwa Bilder von Albert Oehlen, Zitate aus Popsongs, eigene Text- und Bildcollagen und Fotografien. Goetz gibt an, dass „die Welt der Kunst [...] für mich im Schreiben das größte und schönste Vorbild ist.“113 Goetz war bis zur Prosapublikation Kronos (1993) noch ausgewiesenes Kind der Subkulturen und Diskurse des Punk und New Wave und hat sich in der Tradition des verrufenen Literaten, des „poète maudit der Historischen Avantgarde“114, als „Punk und autoaggressiver Märtyrer“115 stilisiert. Mit seiner Hinwendung zur Technokultur in den 90ern zeigt sich ein Paradigmenwechsel in seinem Pop-Fokus, was in den Nullerjahren in die Beschäftigung mit Kitsch, Oberfläche und medialer Selbstinszenierung übergeht.116 Mit Jeff Koons als Titel und Assoziationsfläche zum Stück hat Goetz ein Pop-Subjekt par excellence auserkoren. Der Künstler Jeff Koons, „der lebende Vertreter Warhols auf Erden“117 und „the artist of our time“118, ist besonders wegen seiner Position als kontroverse „Hassfigur“119 soziopolitische Projektionsfläche, die auch einen Zeitgeist spiegelt. In Nadja Geers Untersuchung von Pop als potenziell subversiver politischer und ästhetischer Erkenntniskategorie macht Geer Strategien der Abgrenzung durch Geschmacksindikatoren ausfindig. Demnach richte sich Pop als Habitus immer gegen etwas oder auf etwas.120 Zeitgenössische Literaten, 112 Vgl. Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 881. Goetz, Abfall für alle, S. 233. 114 Stricker, Text-Raum, S. 269. 115 Ebd. 116 Vgl. Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 881. 117 Goetz, Abfall für alle, S. 258. 118 Ebd., S. 713. 119 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 117. 120 Vgl. Geer, Sophistication, S. 24. 113 38 wie etwa Goetz, aber auch Thomas Meinecke und Max Goldt überführten diese „Semiotik der Distinktion“121 in eine intellektuelle Ästhetik und einen literarischen Habitus (sophistication). Nach Geer betreiben diese Literaten ein lustvolles „Vabanquespiel“122, um sich sowohl vom kultivierten Bürgertum als auch der Vulgarität einer Massenkultur abzugrenzen.123 Als Gegenpol zu den etablierten alt-linken Literaten der Stunde der Bundesrepublik Deutschland, den Vertretern der Gruppe 47, wie etwa Heinrich Böll oder Günther Grass, wollten sich die deutschen Popliteraten der 80er Jahre am amerikanischen Vorbild orientiert mit Umkehrung und Ironie, der wesentlichen Verfahrensweise des Punk, absetzen.124 Der bürgerlichen Kultur und dem arrivierten Stil des Realismus setzten die Pop-Intellektuellen als „neue, hippe Intelligenz“125 das „Spiel mit vorhandenen Phänomenen“126 entgegen. Pop verstanden als „postmoderne Bricolage“127 entnimmt Versatzstücke aus der hegemonialen Kulturpraxis und codiert sie um. Gleichzeitig aber tritt so Pop mit seiner ‚Hipness’ und seinen Sophistikationsposen in Konkurrenz um die kulturelle und ästhetische Deutungshoheit mit den etablierten Bildungseliten.128 Teil dieser Strategie sich abzusetzen ist auch, „Bildungsposing“129 und Name-Dropping bewusst gegen maßgebliche Stellen des öffentlichen Kultur- und Medienbetriebs einzusetzen und damit die Botschaft zu vermitteln, dem Feuilleton immer einen Schritt voraus zu sein; seine von 121 Vgl. Geer, Sophistication, S. 17. Ebd. 123 Vgl. Ebd. 124 Vgl. Ebd., S. 24. 125 Ebd., S. 17. 126 Ebd., S. 28. 127 Ebd., S. 131. 128 Vgl. Ebd., S. 24. 129 Ebd., S. 155. 122 39 Hasstiraden auf Personen öffentlichen Interesses gefüllten Schriften brachte Goetz in den 80ern die Betitelung „Hassliterat“130 ein: „Gehe weg, du blöder [sic!] Sausinn, ich will von dir Dummen [sic!] Langweiligen nie nichts wissen. Den sollen die professionellen Politflaschen, die Staatsidioten, diese ganzen fetten dummdreisten Kohls vertreten, [...] angeführt von den präsenilen Chefpeinsäcken Böll und Grass, von Friedenskongress zu Friedenskongress, durch die Zeitungsfeuilletons und über unsere Bildschirme in der unaufhörlichen Peinsackpolonaise ziehen und dabei den geistigen Schlamm und Schleim absondern, den das Weltverantwortungsdenken, das Wackertum, unaufhörlich produziert, dieses ganze Geschwerl, dieses Nullenpack soll ruhig noch jahrelang den BIG SINN vertreten“ [Hervorh. im Orig.].131 Als Präsentation eines Spezialwissens in Form von Posen und Haltungen, vermutet Geer in der Popkommunikation und dem Popdiskurs wegen des rhetorischen, selbstreferenziellen und anti-teleologischen Charakters auch einen inszenatorischen Darstellungsweise des Aspekt.132 Pop, ist Pop auch oder eine besser Art der gesagt, die ästhetischen Kommunikation, sprich der Pop-Diskurs zeigt sich auch als Rhetorik und im Auftreten. In diesem Sinne steht Pop nach Geer in der amerikanischen Tradition der „sophistication“133, welche auch Ausdruck einer Haltung und Reaktion ist und sich stets gegen etwas richtet. Als literarischer Ausdruck ist sophistication, die „performative Inszenierung eines speziellen Wissens“134, die so auch zum „geistigen Dresscode des Diskurses“135 wird. Pop erweist sich so als Strategie der „kulturellen De-hierarchisierung“136, die sich gekonnt zwischen Subversion und Affirmation bewegt und sich als distinkte Ästhetik und distinkter Denkstil abseits von Mainstream und Subkultur mit dem von Diederichsen geprägten Begriff der „Gegengegenkultur“137 subsumieren lässt. Ein wesentlicher Aspekt dieses Popverständnisses ist 130 Hage, Volker/Wolfgang Höbel, „Ein Hau ins Lächerliche“, in: Der Spiegel 50/1999, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15239696.html, Stand: 13.12.1999, 18.05.2015. 131 Goetz, Hirn, S. 19. 132 Vgl. Geer, Sophistication, S. 30. 133 Ebd., S. 17. 134 Ebd., S. 28. 135 Ebd. 136 Ebd., S. 19. 137 Ebd., S. 132. 40 also auch ein bewusstes Sich-in-Szene setzen sowie das implizite Wissen über Zugehörigkeit zu einem Underground nach dem Motto „[m]an wusste mehr als die anderen“138. 3.1.3 Vitalistisch-sozialromantische Poputopie vs. „Asozialitätskunst Schrift“139 Goetz, der die Begriffe Pop und Punk in seinem Programm synonym verwendet, sieht in der Praxis der Popkultur ein demokratisierendes Medium politisch-progressiver Aktivität und ein Instrument individueller Ermächtigung. Vor allem in der Techno-Szene sieht der Apologet der popkulturellen Demokratisierungsthese seine sozialromantische Utopie einer inklusiven und egalitären Gemeinschaft verwirklicht, wonach vor allem Mainstream-Techno mit seinem anti-diskursiven Charakter ein soziales Auffangbecken angesichts sozialer Präkarisierung in postmodernen Lebensverhältnissen sei. Den sinnlichkeitsorientierten, kurzweiligen Intensitäten des berauschenden Nachtlebens, wie sie die Techno-Kultur zelebriert, wird das Potenzial zugeschrieben, den Status quo zu transzendieren und einen macht- und diskursfreien Raum zu konstituieren, in dem noch autonom gelebte Subjektivität verortet werden kann. Ästhetisch funktioniert die auf wiederholten Tracks basierende Technomusik über nonverbale und anti-diskursive Prinzipien. Diese Qualitäten würden nach Hägele den besonders beweglichen und inklusiven Charakter dieser Musik begründen.140 Mit seiner Entdeckung der Rave-Bewegung und Techno-Szene in den 1990ern, wendet sich Goetz der Bejahung des Kollektiven, dem Massenereignis der Technokultur zu. Im Zuge dessen verabschiedet sich Goetz immer mehr von einem intellektuellen und meta-theoretischen Zugriff auf Pop, dessen Fokus auf die darin transportierten Codes und 138 Geer, Sophistication, S. 23. Goetz, Abfall für alle, S. 271. 140 Vgl. Hägele, Politische Subjekt- und Machtbegriffe, S. 146f. 139 41 Diskurse liegt, wie ihn etwa Diederichsen vor allem nach 1992 forciert, um den kritischen Pop-Diskurs von den dubiosen und teilweise rechtsorientierten Praktiken und Aktionen jugendkultureller Szenen in Deutschland abzugrenzen141. Goetz spricht wohlwollend von der „Weltsprache Pop“142 als eine den Erzeugnissen der internationalen Massenmedienkultur zugewandte Sprache; er sieht Pop affirmativ als eine Sphäre an, in der nicht die intellektuelle Prophezeiung, sondern das individuelle, unmittelbare Lustversprechen zentral ist.143 Goetz tritt auch als Verfechter des Fernsehens und des Mainstream-Technos auf. Letzteres ist für ihn Inbegriff von Enthemmung und Lustzufuhr und Ausdruck einer Kultursphäre, in der demokratische Prinzipien zu erkennen sind. Goetz steht für einen dezidiert positiv konnotierten Kulturbegriff des Populären sowie des Trivialen und Banalen, da er „keine Angst vor Verflachung [habe], wohl aber vor dem Sumpf der Seriosität.“144 Pop bedeutet für Goetz also eine Haltung der affirmativen Weltbejahung nach dem Motto „Pop ist alles, wo es erstmal keine Fragen gibt. Alles klar.“145 Im Gegensatz zu Positionen eines bürgerlichen, elitären 141 Im Zuge des Überfalls eines rechtsradikalen Mobs auf ein Asylantenheim in Rostock, das in Brand gesetzt wurde, fordert Diederichsen 1992 die Poplinke dazu auf, Distanz vom Glauben an die emanzipatorischen Möglichkeiten der jugendkulturellen Szene zu nehmen, denn „[s]ie scheinen nicht mehr in der Lage, die fundamentale Differenz, die allen Projekten zugrunde liegt, die wir je in jugendkultureller Praxis gesehen haben, festzustellen: den Unterschied zwischen Nazis und ihren Gegnern.“ Diederichsen, Freiheit macht arm, S. 259f. Die Mitglieder des Mobs hatten Baseballmützen mit einem „X“ getragen, ein Verweis auf Malcom X, den Führer der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, einer emanzipatorischen und antirassistischen Bewegung und demnach ein völlig entgegengesetztes Symbol umcodiert und für den rassistischen Gewaltexzess missbraucht. 142 Goetz, Abfall für alle, S. 511. 143 Schäfer, Martin Jörg, „Luhmann als ‚Pop’. Zum ‚ästhetischen System’ Rainald Goetz”, in: Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Hg. Christian Huck/Carsten Zorn, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage 2007, S. 262-283, hier S. 268f. 144 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 124. 145 Goetz, Abfall für alle, S. 654. 42 Kulturpessimismus, oder den Positionen von Vertretern der Frankfurter Schule, wie etwa Theodor W. Adorno, der im Konsum von trivialer Massenkultur nur den Ausdruck der Verdummung der Unterschicht und einen kulturellen Verfallsprozess sieht, orientiert sich die Auslegung des Populären bei Goetz an den Prinzipien allgemeiner Zugänglichkeit, der Ausscheidung durch elitäre Exklusionsprozesse, die Hochkultur wie auch Subkultur innehaben. Abgesehen davon ist die Frage, was das Populäre sei, eine, die Goetz kontinuierlich in seinen Überlegungen stellt. Dennoch konkretisiert Goetz nicht, wie dieser Pop-Zusammenhalt aussehen könnte, sondern zieht sich als solitäre Erzählstimme in die „Asozialitätskunst Schrift“146 zurück. Zur Absenz einer Handlung, die auf einem zwischenmenschlichen Konflikt beruht, kommentiert der Autor: „Ich kann keinen Konflikt darstellen, weil ich kein soziales Leben führe“.147 Demnach heißt dies für seinen Popbegriff ins Literarische übersetzt, dass die Intensitäten der kollektiven, rauschhaften Momente, wie er sie beispielsweise in der Musik verortet sieht, in den Körperlichkeiten der Schrift befragt werden müssen. Wie so typisch für Goetz, zelebriert er anhand der Konfrontation der Schrift mit anderen Kunst- und Zeichensystemen eine regelrechte Abwertung der Schrift. Obwohl er sich beinahe ausschließlich im Medium der Schrift bewegt, betont er unablässig die ungleich besseren, näher an der Wahrheit situierten Ausdrucksmöglichkeiten der musikalischen Form. Die Musik erhält bei Goetz das Primat der Unmittelbarkeit: „Das Sprechen ist vor der Schrift, vor der Sprache aber ist die Musik.“148 Ungleich dem gesprochenen Wort, räumt er dem Mündlichen, der Stimme und dem Klang die Fähigkeit der Beweglichkeit und Offenheit ein: 146 Goetz, Abfall für alle, S. 271. Ebd., S. 396. 148 Goetz, Hirn, S. 66. 147 43 „Die Worte, gleichermaßen das Urteil über sie, sind immer absolut terroristischen Charakters und kennen nur Härte. / An der Abschaffung all dessen arbeitet die Lesung, der Gesang, die Melodie, die Musik.“149 Goetz betreibt permanent den Versuch, die Textlichkeit zu durchbrechen und die Schrift mit Agenten der Körperlichkeit wie etwa Authentizität, Performativität, Gestischem, also A-Verbalem, anzufüllen. Deshalb stellt er sich laut Hägele in die literarische Tradition des Phonozentrismus, die das Sprechen und die Stimme als Zugang zum Metaphysischen oder Sinn gegenüber der Schrift privilegiert, beziehungsweise sich an den Diskrepanzen und Dichotomien von Rede und Schrift, Körper/Buchstabe und Geist, innen und außen, wörtlich und übertragen, abarbeitet.150 Schuhmacher präzisiert die Ausführungen von Hägele, dass Goetz in seiner phonozentrischen Ausrichtung, in der die Hinwendung zur Rede als Gegenpol zur Schrift-Totheit zum „Gegenstand“151 seines Schreibens werde, nicht auf die vermeintliche Überwindung der „Geist-BuchstabeDichotomie“152 abziele. Anstelle eines vom Text inszenierten „Medienwechsels“153, der die Überwindung von mündlich und schriftlich zu kompensieren beabsichtigt, gehe es vielmehr um ein „Verfahren der Übersetzung“154, bei dem der „von einem spezifischen Interesse geleitete[n] Blick auf das Material“155 wesentlich sei, und „semantische Zuordnungen und Konventionen der Verständlichkeit“156 hingegen sekundär wären. Rhythmik und Klang, also körperliche und sinnliche Qualitäten, seien für Goetz in Hinblick auf Dimensionen des sprachlichen Ausdrucks unabkömmlich: 149 Goetz, Hirn, S. 67. Vgl. Hägele, Politische Subjekt- und Machtbegriffe, S. 149. 151 „Der Gegenstand dieser Schrift ist: das Leben der mündlichen Rede.“ Goetz, Abfall für alle, S. 254. 152 Schuhmacher, Gerade Eben Jetzt, S. 139. 153 Ebd., S. 138. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Ebd. 150 44 „Es geht auch um Melodien, mehr vielleicht sogar manchmal als um Verstehen ganz direkt, um ein Vertrauen in das Aufgehobensein im Wortgesang.“157 Insbesondere für die Schrift scheint diese Akzentuierung aufgrund des ihr anhaftenden Verweischarakters ein schwieriges Unterfangen. Als nachträgliche Ausdrucksform hinkt sie dem Mündlichen als „Stimme des Lebens“ 158 in punkto Zugang zur Wahrheit und Welt hinterher. Es gehe darum, zu erkennen, „[w]ie stark die Schrift führt. Wie eng sie noch ist. Wie wenig nah an den realen Vielfaltformen der Sprache als Ganzes“159. In seinen experimentellen Versuchsanordnungen der medialen Überschreitung sucht er obsessiv nach Mitteln und Methoden, um der dem Medium der Schrift eigentümlichen Nachträglichkeit und Referentialität zuwiderzulaufen. Die Ausdrucksweisen des Verbalen sind viel näher am unmittelbaren, unverstellten Ausdruck der vielfältigen Aspekte von NichtSagbaren und Lückenhaften von Gegenwärtigkeit und Subjektivität als die Schrift mit ihrem stets auf ein Vorher und auf ein Äußeres verweisenden Charakter.160 Der Gebrauch von mündlichen Ausdrucksformen im Schriftlichen, der Eigensinn bei Interpunktions- und Rechtschreibnormen sowie die Wahl von anstößigen Sujets, die, wie in Klagenfurt der Fall, oftmals in Hasstiraden ausufern, sind auch Mittel, um einer konformen Literatursprache, die ebenso als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse agiert, zu entgehen. Inhalt und Stil sind beispielsweise gekennzeichnet durch „obszöne Begriffe und Beleidigungen, [...] Sprachverhunzungen, [...] Wiederholungen, Pleonasmen 157 Goetz, Abfall für alle, S. 289f. Eagleton, Terry, Literary Theory. An Introduction, Oxford: Blackwell 21997, S. 113. 159 Goetz, Abfall für alle, S. 185. 160 Das Simulieren und Integrieren von Strategien der Übersetzung von Mündlichkeit in die Form der Schrift drückt sich in seinen Texten beispielsweise anhand von elliptischen Satzgefügen, wiederholtem Stottern und Stammeln in redundanter Länge sowie wiederholten Wendungen aus. 158 45 und die Substantivierung von Verben und Adjektiven [...]“.161 Auch die im Roman Irre häufig auftretenden sprachlichen Karikaturen, Tautologien und „Wortungetümer“162, die jede Interpunktions- und Rechtschreibregel ignorieren, seien „verzweifelte Behauptungsgesten der Souveränität und Autonomie gegenüber den herrschenden Sprach- und Wertenormen.“163 3.2 Text, Textur, Intertextualität In seiner Obsession eine schriftliche Sprachpraxis zu betreiben, die dem Ideal folgt „nicht mehr Text zu sein, sondern volle Gegenwart“164, stellt sich Goetz in eine literarische Tradition, welche die medieneigenen Gesetzmäßigkeiten der Schriftsprache, wie etwa die Sukzessivität sowie die zeitliche Abkoppelung von Textproduktion- und Rezeption, unterlaufen möchte. Dazu bedient sich Goetz unter anderem der Verfahren der Vernetzung Redeweisen, und Durchkreuzung welche die von Diskrepanzen Gattungen, Kontexten schriftlich/mündlich und sowie Text/Gegenwart aufheben und so einen unmittelbareren Umgang mit Sprache bewirken sollen: „Denken ist absolut dynamisch. [...] Schreiben heißt auch, das zu unterlaufen, das Abgeschlossen-Sein des einen Geisteselements, das jeder Satz auch ist, heißt Sätze machen, die nicht allein sein wollen, die zusätzliche Sätze um sich brauchen, suchen, produzieren.“165 Wie im Zitat offenkundig wird, ist die intertextuelle Vorgehensweise im Schreiben für Goetz unumgänglich und logische Konsequenz, zumal er das Verhältnis zwischen Sprachgebrauch und Welt als interdependentes, dynamisches Dialoggewebe sieht, in dem ein Wort stets auf ein Vorhergehendes verweist und sich Sinn nur anhand der Differenz zum Anderen ergibt: 161 Opel, Anna, Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik - Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane, Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 108. 162 Hägele, Politische Subjekt- und Machbegriffe, S. 77. 163 Ebd. 164 Goetz, Abfall für alle, S. 259. 165 Ebd., S. 786. 46 „Dass die Benutzung der Worte ohne all diese Hall- und Echoräume praktisch undenkbar, unvorstellbar, unpraktizierbar ist, dass nur in Bezug auf dieses Hallen in Allen, auf das so allseits Vorgesprochene also – das eigene Wort sich richtig finden kann.“166 Nach den vorangegangenen Ausführungen zu Goetz’ Pop-Programmatik und Körperkonzept in der Schrift sollen im folgenden Kapitel Begriffe, die durchgängig verwendet werden, wie etwa Text und Textur, näher bestimmt werden. In Zusammenhang mit Goetz’ literarischen Konzeptionen zwischen Rede, Schrift und Theatralität scheint es diesbezüglich sinnvoll, die Konzepte der Intertextualität sowie Intermedialität für die weitere Vorgehensweise heranzuziehen. Goetz selbst gibt im vorletzt genannten Zitat klare Hinweise darauf, dass Text bei ihm als übergreifendes Kontinuum konstruiert wird, um der schriftlichen Disposition zu Linearität und Abgeschlossenheit gegenzusteuern. Auch die Betonung der Bedeutung von Hall- und Echoräumen im zuletzt genannten Zitat lässt die Konzeption von Text als überspannendes Geflecht gemäß der Intertextualitätstheorie denken, die der Entgrenzung des Textbegriffs Rechnung trägt. Als „Theorie der Beziehungen zwischen Texten“167 geht die Intertextualitätstheorie von der zentralen Prämisse aus, dass Text stets ein Dialoggewebe zwischen mehreren Texten ist, sprich ‚Text’ geht über die „Existenz von Einzeltexten“168 hinaus. Noch radikaler als universaler „Intertext“169 gedacht, lassen sich „individuelle Prätexte“170 nach Roland Barthes in solchen textlichen Systemen auch nicht mehr isolieren. Barthes imaginiert Text als „Gewebe“, 166 Goetz, Abfall für alle, S. 290. Pfister, Manfred, „Konzepte der Intertextualität“, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Hg. Ulrich Broich/Manfred Pfister, Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 1-30, hier S. 11. 168 Ebd., S. 12. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 13. 167 47 [das] durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet“171. Das Subjekt wäre demnach die „Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“172 Folglich wird Text zum unendlich ausdehnbaren Raum, der auch andere Medien und nicht-sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten mit einschließt: „Und eben das ist der Inter-Text: Die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist: Das Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben.“173 Gemäß der Vorstellung der Verstrickung aller Texte im Raum des Universums sind die Prätexte eines Textes also nicht nur alle anderen literarischen und schriftsprachlichen Texte, sondern „darüber hinaus das Gesamt aller diesen Texten zugrundeliegenden Codes und Sinnsysteme.“174 In Bezug auf den Begriff Text bei Goetz stellt sich die Frage, ob im Zuge seiner auf Intensitäten ausgeweiteten Literarizität Text und Textualität noch als Eigenschaft von Produkten der Arbeit mit Wörtern, als Resultat von Rede und Sprache verstanden werden können; oder muss sein Textbegriff erweitert werden, und so, wie es von Julia Kristeva im Sinne einer allgemeinen Kultursemiotik angedacht wurde, als potenziell „jedes kulturelles System und jede kulturelle Struktur“175 verstanden werden? Im Fall des sprachästhetischen Entwurfs in Goetz’ Texten wird Intertextualität als ästhetische Verfahrensweise eingesetzt. Als Resultat von Verdichtungsprozessen kommt Intertextualität hier als „Differenzqualität ästhetisch überformter Sprache“176 zum Tragen. Anders gesagt wird Intertextualität hier zu einem Charakteristikum von Literarizität oder Poetizät, zumal hier Verfahren zum Einsatz kommen, die innerhalb eines 171 Barthes, Roland, Die Lust am Text, übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 (im Orig. Le plaisir du texte; Éd. du Seuil 1973), S. 94. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 53f. 174 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, S. 13. 175 Ebd., S. 7. 176 Ebd., S.13. 48 Textes Bezüge zu anderen einzelnen oder gruppierten Prätexten oder deren zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen herstellen und diese Bezüge somit in einen neuen Kontext einbetten.177 Was die verschiedenen Ausprägungen transtextueller Bezüge und Formen angeht, operiert Goetz in seinem literarischen Schaffen mit folgenden, von Gérard Genette geprägten Kategorien, die im Laufe dieser Untersuchung zum Teil Verwendung finden: 1) Intertextualität als „Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte“178 innerhalb eines Textes 2) Paratextualität „als die Bezüge zwischen einem Text und seinem Titel, Vorwort, Nachwort, Motto und dergleichen“179 3) Metatextualität „als den kommentierenden und oft kritischen Verweis eines Textes auf einen Prätext“180 4) Hypertextualität, „in der ein Text den anderen zur Folie macht, wie etwa im Fall von Imitation, Adaption, Fortsetzung, Parodie“181 5) Architextualität als „die Gattungsbezüge eines Textes“182. Bei Goetz ist Intertextualität mit ihren verschiedenen Ausdifferenzierungen aufgrund des zyklischen Werkcharakters voller Querverbindungen grundlegender Verfahrensmodus. Dies wird vor allem im Zyklus Heute Morgen offenkundig, denn gerade darin gibt es den Anspruch, anhand der parallelen Arbeitsweise an verschiedenen Formaten die zeitliche Nähe zwischen Textgenese und Weltrezeption zu verwirklichen. Im Zuge dessen kommt es unweigerlich vermehrt zu intertextuellen Querverweisen zwischen den einzelnen Texten innerhalb eines Zyklus sowie zu vorhergehenden eigenen ‚Büchern’. 177 Vgl. Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, S. 15. Ebd., S. 17. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd. 178 49 Zusätzlich gibt es weitere intertextuelle Bezüge innerhalb seiner einzelnen Texte, wie etwa durch den direkten Einbezug von markierten oder nichtmarkierten Zitaten aus literarischen oder anderen Kontexten. Dies umfasst beispielsweise Zeichnungen, Kritzeleien, Malereien und Photographien, Liedtexte aus der Popmusik, Lautmalereien aus der Technomusik und Erlebnisse und Dialogfetzen aus der Nacht- und Clubkultur; oder aber Theorien und Bezüge aus Wissensbereichen, wie etwa der Philosophie, Geschichte, Medizin oder Politik. Diese Gleichsetzung von schriftlichen, verbalen und nonverbalen Texten im Sinne von kodifizierten Kulturerzeugnissen, die soziale und kommunikative Wirklichkeit erzeugen und im Sinne einer Lektüre als solche dechiffriert werden können, bewirkt eine Erweiterung seiner Literarizität um nonverbale, bildliche und musikalische Komponenten. Wie Achim Stricker konstatiert, verortet sich das ästhetische Programm von Goetz demnach „zwischen Literarizität und energetischen Intensitäten wie Rhythmus und Musikalität“183. Welche konkreten textuellen Bezüge es im Stück Jeff Koons gibt, wird sowohl im darauffolgenden Kapitel der Einführung zum Stück, als auch anhand der Analyse im fünften Kapitel dargelegt werden. Werden Text, Textualität zu Konzeption von Werk und Autorschaft bei Goetz in Verhältnis gesetzt, kommen weitere Komponenten zum Vorschein, die Aufschluss über die Konzeption von Literarizität bei Goetz geben. Grundsätzlich kann von zweierlei scheinbar zuwiderlaufenden Prämissen ausgegangen werden, was dieses Verhältnis angeht: Zum einen weist sein penibel angelegter, kryptisch durchnummerierter und von Zitaten und Verweisen strotzender Werkzyklus auf eine autoritäre Autorfigur hin, die die Deutungshoheit über seine Texte einfordert. Zum anderen sieht die skizzenhafte 183 und unabgeschlossene Stricker, Text-Raum, S. 271. 50 Veranlagung seines gattungsübergreifenden und intermedialen „Integraltext[es]“184 eine aktiv beteiligte Leserschaft vor. Abgesehen von der Konzeption einer aktiven Rolle des Rezipienten weckt auch die zentrale Rolle der Zahlen in seinem Werk Assoziationen zu Handlungsanleitungen und konzeptuellen Formen der Concept Art.185 Anhand unterschiedlicher Formen und Rahmen realisiert Goetz seine medialen Spracherkundungen jeweils anders, jedoch nicht im Sinne des Gesamtkunstwerks, denn er lässt die Teilrealisierungen dennoch als eigenständige Umsetzungen in ihrer Eigenheit stehen. Goetz’ PopProgramm erweist sich demnach als alles umspannende Zugriffsweise, die garantieren soll, dass es nicht wie beim Gesamtkunstwerk um eine konzeptuelle Totalität geht, der die Teilaspekte zuarbeiten, sondern um die gegenseitige Durchdringung und Durchkreuzung jenes programmatischen Bestrebens, das sich anhand seiner unterschiedlichen Medialisierungen manifestiert. Die als ‚Bücher’ angelegten Werkzyklen sollen so konzipiert werden, dass Titel, Mottos und Zitate bereits all das aussagen, was im Buch vorkommt. Goetz formuliert den penibel durchkonstruierten Werkcharakter eines Zyklus nonchalant und autoironisch als Buch, „[...] das man eigentlich nicht mehr lesen muss. Das einfach so rum liegt, in dem man ein bisschen blättert, das einen angenehm anweht, fertig.“186 Des Weiteren steht der peniblen Ordnungsstruktur nach arithmetischen und geometrischen Prinzipien seines Werkaufbaus der nichtlineare Aufbau und gattungswidrige Formansatz seiner Texte gegenüber. 184 Weber, Richard, „‚...noch KV (kv)’: Rainald Goetz. Mutmaßungen über ‚Krieg’“, in: Deutsches Drama der 80er Jahre, Hg. Richard Weber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 120-148, hier S.141. 185 Vgl. Ebd., S. 145. 186 Goetz, Celebration. Texte und Bilder zur Nacht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, Index ohne Paginierung. 51 Folgt man dem Textbegriff von Roland Barthes, demzufolge Text als simulierte kommunikative Praxis zwischen Autor und Leser, als signifikative Praxis zu verstehen ist, folgt die Konstitution von Sinn einer nicht festlegbaren Dynamik.187 Die bewusste Streuung von möglichen Bedeutungen wird durch die pluralen Stimmen, Aussagen und räumlichen Überschneidungen in Goetz’ Texten unterstrichen, was dazu beiträgt, dass vom Rezipienten Sinnkonstitution eine proaktive abverlangt wird. Beteiligung Diese für eine vermeintlich mögliche zweigleisige Ausrichtung von Goetz’ Textverständnis kommt insbesondere anhand des Stücks Jeff Koons zum Tragen und soll im Laufe der Analyse näher veranschaulicht werden. Die starke Affinität zum Körperlich-Performativen, zu den Formen des Mündlichen, zur Musik und zum Theater ist, wie zu Beginn bereits erwähnt, vom Furor getrieben, das Schriftliche so zu durchdringen, dass auch nonverbale Aspekte von Sprache sichtbar und hörbar werden. Hinter diesem Anspruch ist also auch die Überzeugung zu erkennen, dass diese eben genannten Aspekte einen beträchtlichen Anteil innerhalb von Kommunikation oder Sprache einnehmen. Gerade der große Anteil an nichtsprachlicher Mitteilbarkeit zeigt das Prekäre, oder anders gesagt die Grenzen des schriftlichen Ausdrucks. „Sicher gibt es wunderbare Untersuchungen darüber, ein wie großer Anteil an Kommunikation im alltäglichen Sozialvorgang, im Supermarkt, im Kaufhof, überall, nichtsprachlicher Art ist. [...] Der Großteil der Informationen, die im verbalen Austausch übermittelt werden, ist nonverbaler Art. PRAXIS“ [Hervorh. im Orig.].188 Demnach kann also davon ausgegangen werden, dass Goetz im Schreiben die Erkundung und Problematisierung von Textualität und Literarizität per se zum zentralen Sujet hervorhebt, indem er jene in Schriftkulturen dominante Auffassung von Textualität als Qualität von schriftlicher Sprache 187 Knobloch, Clemens, „Text/Textualität“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Band 6, Hg. Karlheinz Barck et al., Stuttgart: J.B. Metzler 2005, S. 23-47, hier S. 42. 188 Goetz, Abfall für alle, S. 147. 52 um Aspekte wie etwa „kontinuierlich und ereignishaft“189 erweitern möchte, die tendenziell eher der Domäne der Rede zugesprochen werden. Zur Annäherung an die ästhetischen Verfahrensweisen von Goetz wird für die vorliegende Untersuchung die Vokabel der Theater-Textur gewählt, worauf sich auch der Titel dieser Arbeit bezieht. Damit soll die für Goetz bezeichnende Körperlichkeits-Fixierung im Zuge der gewünschten Überschreitung des Zeichensystems Schrift sowie für die Verknüpfung der Schreibweisen und Auflösung der Gattungen eine begriffliche Entsprechung finden. Hans Thies Lehmann zieht den Begriff der Textur im Rahmen seiner Ausführungen zu postdramatischen Verfahren und Stiltendenzen im Theater heran, um für die Neubestimmung der sich auflösenden Hierarchie im polarisierten Verhältnis von Inszenierung und Text ein adäquateres Beschreibungsangebot zu liefern. Seinen Angaben nach entfaltet die Textur als ästhetische Analogie eines Gewebes aus Fäden ihre Wirkung nicht aus dem Zusammenspiel der Einzelteile, wie das beim Mosaik der Fall ist, sondern wirkt als ein Ensemble erst in der spezifisch angewendeten Gesamtbeleuchtung. Vor dem Hintergrund der Auflösung der Hierarchie zwischen Text und Inszenierung weist die Textur explizit auf die Verknüpfung von linguistischem und inszenatorischem Material zu einem Stoff als Performance-Text hin, der sowohl verbale als auch nonverbale, bildliche, gestische und musikalische Ausdrucksweisen und Elemente umfasst. Das Bedeutungspotenzial eines Textes hängt nach Lehmann also eher von der integralen Ausrichtung dieser Elemente ab.190 Die Annäherung von Schrift an Malerei, Musik, Theater oder an die performative Lesung wird - wie auch die Schmerz- und Körperfixierung infolgedessen zu einer Möglichkeit, zu einer möglichst präsentischen 189 190 Knobloch, „Text/Textualität“, S. 45. Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 145. 53 ästhetischen Erfahrung zu gelangen.191 Achim Stricker spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Goetz in seiner Körper-Fixierung eine möglichst bildlich konkrete Sprache als Art „Hieroglyhphenschrift“192 zu entwerfen versucht, um die „verbale Un-Präzision“193 zu vermeiden. 3.3 Intermedialität Wie bereits angesprochen wurde erhofft sich Goetz durch die Annäherung an andere Signifikantensysteme, wie etwa das Internet, Musik, Oralität, Film oder Theater, eine Ausweitung der schriftlichen Ausdrucksgrenzen, oder sieht diese Annäherung zumindest als Herausforderung für die Schrift. So ist von der Adaption von Techno oder Popmusik bei seinen Theaterstücken194 oder von der literarischen Anwendung filmischer Verfahrensweisen beim Roman Irre (1983) die Rede. Philipp Löser beispielsweise stellt in seinen Überlegungen zum Roman Irre (1983) von Goetz mitunter die Frage, wie ein virtueller Medienwechsel vom Schriftlichen ins Bildliche zu denken sei und ob „Mediensimulation als Schreibstrategie“195 darin aufgehe.196 191 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 275. Ebd., S. 282. 193 Ebd. 194 Techno wird für Goetz mit seinen endlos neu kombinierbaren Tracks, die nur scheinbare Wiederholungen sind, und dem interaktiven Wechselspiel zwischen Tanzpublikum und DJ zur Projektionsfläche für sein Schreiben. Die Reibung und permanente Abwechslung der Komponenten sinnliche Ekstase und Distanz oder Konkretion und Abstraktion ist nach Windrich „ein Hauptmerkmal dieser Ästhetik“. Siehe Windrich, Technotheater, S. 413. 195 Löser, Philipp, Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 196 Im Roman geht es um den Protagonisten Raspe, einem Psychiater, der sein erstes praktisches Jahr in einer Psychiatrieabteilung in München absolviert. Seine manische Suche nach dem Ekstatischen und Affektiven, um den alltäglichen Unzulänglichkeiten des selbsterhaltenden, unverbesserlichen Systems der psychiatrischen Institution zu entkommen, wird letztendlich zu seinem Verhängnis. Raspe selbst kippt immer mehr in eine wahnhafte Parallelwelt, was sich buchstäblich dadurch bemerkbar macht, dass Bilder, die er imaginiert, immer mehr Raum auch im Text einnehmen und sich die flüssige Erzählung schließlich ganz in lose Schnipsel auflöst. Die anfangs noch positiv konnotierten Bilder werden zunehmend mit dem nicht zu kontrollierenden Wahnsinn gleichgesetzt und verlieren dadurch wiederum an poetischer Kraft: „Kein Wort hat gegen die Bilder nichts genützt! [...] Mensch! [...] Da schüttelte es aus dem Schwächling Wort die Träne.“ Goetz, Rainald, Irre. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 286. 192 54 Auch wenn nach Goetz die Hinwendung zum Film oder zum Bild im Fall von Irre zu keiner wirklichen Befreiung geführt hat, „[w]eil es ja immer die saubläde [sic!] Literatur bleibt“197, wird er nicht müde, Annäherungen zwischen verschiedenen medialen Systemen in der Literatur zu erproben. Schon Roland Barthes plädiert in seinen Schriften zur Literatur für die Abkehr vom eigenen Medium und die Hinwendung zu einem anderen. Demnach soll der Schrifsteller „Cineast, Maler werden, oder umgekehrt, [der] Maler, Cineast [...] [möge] endlose kritische Diskurse über den Film, die Malerei entfalten.“198 Im Fall von Jeff Koons wird die Anziehung, die vom Bild, der Musik und dem Raum ausgeht, Goetz dazu veranlassen, mediale Rekursverfahren zu erproben, um Theatralität im Text als Intermedialität sprachlich umzusetzen. 3.3.1 Zum Konzept der Intermedialität Es wurde bereits festgestellt, dass Goetz sich intertextueller Verfahren bedient, was eng mit dem Konzept der Intermedialität verzahnt ist, zumal Intertextualität eine intramediale Ausprägung ist und all jene Phänomene betrifft, die sich innerhalb eines Mediums aufeinander beziehen.199 Das Konzept der Intermedialität, das als Oberbegriff für eine Bandbreite von unterschiedlichen Definitionen je nach Anwendungsgebiet und Theoriebereich fungiert, ist nach Irina Rajewsky „als Hyperonym für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene“200 zu verstehen. Es umfasst also all jene „Phänomene, die, dem Präfix ‚inter’ entsprechend, in irgendeiner Weise zwischen Medien anzusiedeln sind.“ [Hervorh. im Orig.].201 197 Goetz, Irre, S. 289. Barthes, Die Lust am Text, S. 81. 199 Vgl. Rajewsky, Irina, Intermedialität, Tübingen: A. Francke 2000, S. 13. 200 Ebd., S. 12. 201 Neben dem Intermedialen und Intramedialen gäbe es noch als dritte Kategorie die Transmedialität, wobei es in diesem Fall nicht um eine Bezugnahme eines bestimmten medialen Systems auf ein spezifisches Ursprungsmedium geht, sondern um Formen, deren 198 55 Rajewsky differenziert prinzipiell drei Bereiche der Intermedialität. Zum einen nennt sie die Kategorie der „intermedialen Bezüge“202, womit „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder ein semiotisches System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln“203 gemeint sind. Nur das kontaktnehmende Medium sei in dem Fall „materiell präsent.“204 Beim „Medienwechsel“205 hingegen geht es um die „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produktsubstrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“206. Auch hier ist wiederum nur das bezugnehmende Medium materiell vorhanden, wie das etwa bei einer Literaturverfilmung oder Adaption zutreffen würde. Als dritte Form von Intermedialität ist von „Medienkombination“207 die Rede, bei der es eine „Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die sämtlich im Produkt materiell präsent sind“208, gibt, wie etwa bei der Oper, im Theater oder im Film. Im Fall des Stücks Jeff Koons sind intermediale Bezüge zwischen Literatur und Theater in zweifacher Hinsicht vorhanden. Zum einen ist der Theatertext aufgrund seines zwitterhaften Wesens zwischen Entwurf und Anleitung für eine konkrete Bühnenaufführung und eigenständigem literarischen Kunstprodukt ein Setting intermedialer Bezüge per se, wobei die Bühne nur textlich materiell präsent ist. Seine Vermittlerposition Funktionsweise unabhängig vom Medium umgesetzt werden kann, wie etwa im Fall der Parodie. Rajewsky, Intermedialität, S. 13. 202 Ebd., S. 19. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Ebd. 206 Ebd. 207 Ebd. 208 Ebd. 56 zwischen Bühne und Literatur prädestiniert ihn dazu, stets auch die Diskrepanz zwischen Verbalem und Nonverbalem, Textlichkeit und Körperlichkeit mit zu reflektieren: „Von dieser Frage handelt der Theatertext, auch jedenfalls, diese Textform, im ganz äußerlichen, formalen, vorinhaltlichen Sinn.“209 Demnach sind Theatertexte also Ausdruck dieses Paradox’, nachdem sie so konzipiert sind, dass sie „ihre eigentliche Bestimmung gerade durch das verfehlen [sollen], was sie allererst ausmacht – die Bindung an die Sprache.“210 Goetz geht in seiner intermedialen Erkundung noch einen Schritt weiter und eignet sich das theatrale Dispositiv als intermediales Modell für sein literarisches Programm an, das multimediale und körperliche Schreibweisen als Schrift vorsieht.211 Das heißt also, dass er bei der schriftlichen Konzeption das theatrale Kommunikationsmodell, den theatralen Rahmen und die Gegebenheiten des Theaters als „verschlungenes Ineinander aller möglichen Mitteilungsarten“212, also die Verbindung von multiplen Medien und semiotischen Systemen, konkret vor Augen hat: „Man muss sein Zeug doch VORTANZEN wollen, körperlich, in Fleisch und Blut, auf einer Bühne. Ich will aber lieber, dass alles, was da zu sehen wäre, IM TEXT selber stattfindet, ganz direkt, im Vermittelten, dass alle Energie und Zeigelust, ÜBERSETZT wird in die Maschinerie der Worte, dass die Live-Infusion und RealLebendigkeit da ins Tote rein geht, und dann da stehen würde, schriftlich, fertig“ [Hervorh. im Orig.].213 Die von Goetz eingeforderte Infusion von Lebendigkeit und Körperlichkeit in die Schrift soll nicht erst durch die vorgetragenen, realen Körper ihre Erfüllung erhalten, sondern bereits im Text selbst als körperlicher Ausdruck 209 Knobloch, „Text/Textualität“, S. 45. Müller, Matthias, „Zwischen Theater und Literatur – Notizen zur Lage einer heiklen Gattung“, in: Deutsches Drama der 80er Jahre, Hg. Richard Weber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 399-430, hier S. 415. 211 Goetz betont, dass er seine Position gegenüber dem Theater als „reine Textposition“ sieht und in die Umsetzung seiner Stücke nicht involviert werden möchte, denn „[...] die deutsche Sprache gibt da ein komplizierteres, antagonistischer gebautes Verhältnis zwischen Autor und Theater vor“. Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 116. 212 Ebd., S. 124f. 213 Goetz, Abfall für alle, S. 668. 210 57 präsent sein. In seiner Anwendung der theatralen Konstituenten auf Sprache als „Körperwissen“214 sei es Goetz nach Achim Stricker nicht daran gelegen, Präsenz als rein sinn-entleertes “Klangmaterial“215 zu erzeugen, sondern zu einer „Präsenz des Sinns”216 zu gelangen. Hier wird bereits deutlich, dass der theatrale Bezug des Textes zur Bühne eine Erkundung theatraler Konstituenten als schriftlicher Ausdruck ist. Seine Theatertexte beschäftigen sich demnach also dezidiert mit der folgenreichen Perspektivierung des Zeichen- und Kunstsystems Theater auf Sprache in Schriftform. Ausgehend vom literaturbasierten Anwendungskontext plädiert Rajewsky dafür, bei intermedialen Bezügen den literarischen Text auf „Formen und Funktionen eben der Bezugnahme eines bestimmten medialen Produkts auf ein anderes mediales System beziehungsweise ein auf diesem fremdmedialen System zugehöriges Produkt“217 hin zu untersuchen. Hier ist Intermedialität als unmittelbarer Nachbar der Intertextualität zu erkennen, nämlich als ein „kommunikativ-semiotischer Begriff“218, der zur Feststellung von „Rekursverfahren“219 zwischen medialen Systemen dienen kann und somit konkret für die Untersuchung von Texten, Filmen, Theaterstücken, etc. behilflich sein kann. Im Besonderen soll das Konzept darüber Aufschluss geben, „wie sich mit Hilfe der dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mittel Bezüge zu einem anderen Medium herstellen lassen, wie also beispielsweise ein literarischer Text Elemente und/oder Strukturen des filmischen, malerischen oder musikalischen Mediums, über deren Mittel und Anordnungsstrukturen er einerseits ja nicht verfügt, aufgreifen, bzw. sich diese ‚zu eigen’ machen kann“ [Hervorh. im Orig. ].220 214 Stricker, Text-Raum, S. 279. Ebd., S. 278. 216 Ebd. 217 Rajewsky, Intermedialität, S. 25. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd., S. 21. 215 58 Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit soll festgestellt werden, welche Formen und Verfahren von Intermedialität im Text Jeff Koons zu verorten sind. Im folgenden Kapitel wird zudem reflektiert, wie Theatralität anhand des Intermedialitätsbezugs zwischen Bühne und Schrift bei Goetz konzipiert wird. Vorab soll geklärt werden, welche theoretische Konzeption von Theatralität aus theaterwissenschaftlicher Sicht zur Annäherung an diesen Theatertext dienen kann. 3.3.2 Theatralität als intermediales Dispositiv Ausgehend von Goetz’ Zugriff auf das Theater, bei dem Sprache nach „Materialität, Verräumlichung und Performativität“221 im Text ausgerichtet wird, scheint es sinnvoll vorab den Begriff der Theatralität zu klären. In Erika Fischer-Lichtes vielzitiertem Postulat einer Ästhetik des Performativen wird auch der seit den 1990er Jahren virulent gebrauchte Theatralitätsbegriff in den Kulturwissenschaften neu ausgerichtet. Dies soll jener Entwicklung Rechnung tragen, wonach sich Theatralität im Zuge postdramatischer Theaterästhetiken seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig der Performativität angenähert habe. Im Zuge dessen sei die referentielle Funktion des Theaters zugunsten von Ereignishaftigkeit und Prozesshaftigkeit gewichen, welche eigentlich traditionelle Aspekte der Performance-Kunst darstellten. Fischer-Lichtes Theatralitätsbegriff, den sie infolge der diagnostizierten performativen Wende in den Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahre neubestimmt und auch die Metapher ‚Kultur als Performance’222 einführt, orientiert sich an den Ausführungen von Nikolaj Evreinov, Michael Fried, Elizabeth Burns und Helmar Schramm, nach welchen Theatralität als Prinzip maßgeblich an kulturstiftenden Prozessen beteiligt ist. 221 Stricker, Text-Raum, S. 62. Fischer-Lichte, Erika, Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen: A. Francke 2001, S. 9. 222 59 Dies impliziert nun die Möglichkeit, die Kategorien ‚Theatralität’ sowie ‚Inszenierung’ in den verschiedenen theoretischen Kontextualisierungen gleichzeitig als ästhetische wie auch als anthropologische Kategorien zu sehen, also sowohl auf die Kunstform Theater als auch auf kulturelle Prozesse anzuwenden. Dabei rückt auch der Aspekt des Ereignisses in den Mittelpunkt und etabliert erneut einen Konnex zu ‚Aufführung’, sowohl als kulturellen, als auch theatralen Text.223 Als Folge wird Theatralität also im Zuge dieser Neubestimmung als „kulturelles Modell“224 für die Kulturwissenschaften entdeckt. Fischer-Lichte leitet aus den Überlegungen genannter Theoretiker vier zentrale Komponenten ab, die Theatralität als breite semiotische Kategorie etablieren: Wahrnehmung (bezogen auf den Zuschauer, seine Funktion und Perspektive als Beobachter), Korporalität (der Darstellung und Präsentation des Materials geschuldet), Inszenierung (betrifft Methoden und Strategien der Zurschaustellung von etwas vor Publikum) und Performance (ist ein Vorgang, der durch den Körper und die Stimme vor physisch anwesenden Personen dargestellt wird und von dieser Situation auch beeinflusst wird).225 Theatrale Zeichen bestehen nach Fischer-Lichte nicht nur aus heterogenen Materialien, sondern sind zugleich polyfunktional, da sie verschiedene Zeichenfunktionen annehmen können. Mit anderen Worten ist ein theatrales Zeichen sowohl mit Mobilität als auch Polyfunktionalität ausgestattet: „Ein theatrales Zeichen ist also nicht nur imstande, als Zeichen eines Zeichens zu fungieren, das es selbst darstellt, sondern darüber hinaus als Zeichen eines Zeichens, das jedem beliebigen anderen Zeichensystem angehören mag: Es ist durch größte Mobilität gekennzeichnet.“226 223 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, S. 23. Ebd. 225 Vgl. Fischer-Lichte, Erika, „Theatralität und Inszenierung“, in: Inszenierung von Authentizität, Hg. Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Isabel Pflug/Matthias Warstat, Tübingen: A. Francke 22007 (Orig. 2000), S. 9-28, hier S. 18. 226 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, S. 163. 224 60 Dieser Zugang bietet einen möglichen Zugang zur Erfassung wesentlicher Merkmale des theatralen Zeichensystems. Theater ist aus diesem Blickwinkel als modellhafte Anordnung für eine Palette von Möglichkeiten zu sehen, in der das Spiel mit Formprinzipien anderer Künste innerhalb eines Rahmens angelegt ist. Es wird zu einem künstlerischen Operationsmodus, bei dem unterschiedliche Medien und Zeichensysteme miteinbezogen werden können, wobei aber die „Zeichenhaftigkeit [...] von Materialität und Medialität“227 nicht getrennt werden muss. In Anlehnung an Helga Finters Trennung von analytischer und konventioneller Theatralität, um zeitgenössische Erscheinungsformen abseits vom repräsentationalen Drama aufzuspüren, ist Theatralität nicht nur als Ergebnis von Codes und spektakulären Effekten einer theatralischen, inszenierenden Praxis zu verstehen. Theatralität kann auch „ein Exzess an Signifikanz, der auf die Materialität der Signifikanten und damit auf den semiotischen Charakter einer Handlung verweist“228, bedeuten. Darin komme analytische Theatralität im Gegensatz zur konventionellen Theatralität zum Tragen, wonach Theater als Sinngebungsmodus wie auch als multimediale Raum-Kunstsprache selbst zur Quelle und Instrument autoreflexiver Betrachtung wird. Theatralität ist dadurch nicht mehr nur „Raum der Repräsentation (Dar-Stellung), sondern kann stattdessen als Ort der kritisch-analytischen Auseinandersetzung [...] genutzt werden.“229 In dieser ‚analytischen’ Konstellation resultiert Theatralität also erst aus einem „Prozess einer Konstruktion (Her-Stellung) von Sinnbezügen“230. Somit ist Theatralität hier weniger eine Qualität, die aus der Gesamtheit der szenischen Vermittlung und Darstellung einer Geschichte hervorgeht, 227 Stricker, Text-Raum, S. 59. Finter, Helga, Der subjektive Raum. Band 1. Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels: Sprachräume des Imaginären, Tübingen: Gunter Narr 1990, S. 14. 229 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 46. 230 Ebd. 228 61 sondern wird zu einer Eigenschaft „des kognitiven Erlebnisses in der Aufführungsposition: ein Wahrnehmungsmodus.“231 Finter verortet diese analytische Theatralität bereits in den Avantgarden bei Mallarmé, Jarry und Roussel als etwas, das auf das „Zwischen von Körper und Sprache“232 deutet und auf einen „Prozess, durch den Repräsentation präsent wird in Körpern“233. Stricker sieht die Qualität von Theatralität als Wahrnehmungsmodus in intermedialen Rekursverfahren zwischen Theater und Schrift umgesetzt. Demnach sei die Zurschaustellung von Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozessen das Ziel solcher Verfahren.234 Die intermediale Annäherung der Schrift an die Bühne als Live-Kunst erfolgt über die an die Präsenz und Ereignishaftigkeit gekoppelte Performativität, wobei die Gleichzeitigkeit von Darbietung und Publikum auch auf die PerformanceKunst zutrifft, nicht nur auf Theater. Das heißt für die Schrift, dass hier auf Theater vor allem als „installative Situation“235 [Hervorh. im Orig.] und nicht als „in-szenierendes Medium des Dramas“236 [Hervorh. im Orig.] Bezug genommen wird. Transformiert auf eine als Installation angelegte Sprach-Situation bedeutet das, dass anstelle der sprachlichen „mimetische[n] Darstellungs- und Verweisungsfunktion [...] vielmehr [die] Dynamik einer szenischen, visuellen oder klanglichen Komposition“237 in den Vordergrund tritt. Von Repräsentation gelöste, autoreflexive Sprache lässt Theatralität zu einem modus operandi für das Schreiben werden, bei dem unter Zuhilfenahme der plurimedialen Anordnung des Theaters eine „‚Mobilität 231 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 46. Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 14. 233 Ebd. 234 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 60. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Ebd. 232 62 der Zeichen’ zwischen den Zeichensystemen und Medien“238 für die Schrift appliziert wird. Infolgedessen geht es also um einen Wahrnehmungs- und Operationsmodus, der Signifikationsprozesse in einen Zirkulationsmodus bringt und so Körper und Sprache neue Ab- und Rückkoppelungsimpulse verleiht. Laut Patrice Pavis ist Theater der „Ort der Integration von Visuellem („visuel: jeu de l’acteur, iconicité de la scène, images scéniques“); und Textuellem“239 („textuel: langage dramatique et textuel, symbolisation, système de signes arbitraires“) schlechthin. Auch Finter spricht von Theater als Konnex von „zwei Ordnungen der Wahrnehmung, um sie als Einheit erfahren zu lassen. [...] Das Theater macht eine Einheit von Sprache und Körper möglich, für die der Körper des Schauspielers steht“ [Hervorh. im Orig.].240 Zeitgenössische ästhetische Verfahrensweisen würden an diese ästhetische Theorie und Praxis der „Lektüre in actu“ [Hervorh. im Orig.]241 anschließen, den Text erst im Zuge der Lektüre, also im Vollzug, zwischen Produktion und Rezeption, anknüpfen. Theatertexte in dieser Tradition würden demnach Texttheatralität im Sinne einer Schrift als Theater und umgekehrt denken. Es wird also von der Prämisse ausgegangen, dass die Setzung der theatralen Aufführung hier als Metapher und Modell für das körperbezogene Schreiben von Goetz steht, um diese Problemstellungen anhand der Schrift zu verhandeln und dennoch damit gleichsam eine potenzielle Umsetzung auf der Bühne zu konzipieren, anhand derer sich das Szenarium des Textes verwirklicht sieht. Goetz selbst beschreibt diese intermediale Verfasstheit, 238 Meyer, Intermedialität des Theaters, S. 63. „[C]es deux éléments du theatre parlé sont les composantes fondamentales et inspensables de la réprésentation theatrale.“ Pavis, Patrice, Dictionnaire du Théatre. Termes et concepts de l’analyse théatrale, Paris: Éditions sociales 1980, S. 439. 240 Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 13. 241 Ebd., S. 6. 239 63 der sowohl Form als auch Inhalt entsprechen, am Beispiel seines Theatertextes Jeff Koons folgendermaßen: „‚Jeff Koons’ ist ein Schriftwerk, das von der Bildwelt handelt, sich gegen die eigene Schriftlichkeit musikalisch wehrt, zur Bildwelt wieder hin will, und erst im Bühnenvorgang sich erfüllt, wenn der Text selber in der Idee der Inszenierung so aufgegangen ist, dass er praktisch egal geworden ist. [...] Und dann fragt man sich nochmal: wie heißen diese Bilder der Kunst? Warum ist das Schöne oft so fern, wenn die Sprache einbricht ins bildliche Leben? Und wird alles vielleicht gut durch Sex und Liebe?“242 Als der kulturell tradierte Ort der Repräsentation, der Überlagerung von Kontexten und als integrative mediale Schnittstelle stellt das Theater für das Schreiben eine potenzierte Möglichkeit dar, auf die Unmöglichkeit der objektiven theatralen Darstellung und Verkörperlichung hinzuweisen, da Sprache selbst schon Ort der Verkörperlichung ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass solche dramatischen Entwürfe auf eine Inszenierung abzielen, welche diese abstrakte Konstellation von Sprache mit Fokus auf Materialität und Körper erproben, um die Repräsentation von Sinn als Ergebnis von Aufschub und Nachträglichkeit auszustellen. Die Durchkreuzung von Körper und Text wird also anhand der Vorlagen unterschiedlicher medialer Konstellationen erprobt. Die an Sinn und an Identität haftende Wortsprache soll performativ-energetischen Charakter erhalten, sodass die Zeichen nicht länger sagen, wofür sie nicht stehen, sondern das sagen, was sie zugleich auch sind, sodass das „Gesetz des Aufschubs, die Sprache selbst“, ausgehebelt wird.243 Demnach wird das Theater hier als „Kunst-Ort“244 für das Schreiben behandelt, als textlich bereits antizipierter Moment der Medialität, der Darstellung und Kommunikation von Redeweisen.245 242 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 173. Winkels, „Krieg den Zeichen“, S. 259. 244 Doktor/Spies, „Rainald Goetz, S. 870. 245 Ebd., S. 870f. 243 64 3.3.3 Texttheatralität Mit der Konzeption einer Theatralität in der Schrift als Erweiterung und Überschreitung eines Zeichensystems sowie die damit einhergehende Erkundung der Differenzen und Übergänge zwischen Wort, Bild, Klang, Bewegung und Geste, trifft Finter den Kern dieser intermedialen Vorgehensweise, den sie bereits in den Theaterutopien von Mallarmé, Jarry und Roussel umgesetzt sieht: „Es schien mir deshalb notwendig, an den historischen Punkt zurückzugehen, wo die Schrift anfängt, den Rahmen des Buches zu sprengen, wo sie das Theater fordert, um räumlich zu werden, wo die Schrift als Theater und das Theater als Schrift erprobt wird. Und dies ausgehend von der Frage, wie aus Worten, aus Klang und Stimmen Bilder entstehen können, wie die Beziehung von Wort und Bild, die Aktion, in die sie gestellt werden, möglich wird und werden kann.“246 Der Doppelcharakter des Theatertextes bringt die Notwendigkeit mit sich, auch einen zweifach perspektivierten Blick bei der Lektüre im Auge zu behalten. Nach Poschmann gibt es zwei Arten von Fragen der theatralen Ausrichtung eines Theatertextes: Während sich implizite szenische Theatralität als Übersetzung der Mittel der Bühne hinsichtlich einer möglichen Aufführung im Text äußert, bezieht sich Texttheatralität auf jene Aspekte oder Theatertexte, die die performative Qualität des Sprechens als Text nutzen und erkunden. Demnach geht es bei der texttheatralen Lektüre um die Frage nach „theatralischen Potentialen in der Zeichenpraxis des Textes selbst“.247 Damit ist also der Vollzug von Theatralität anhand und in der Schrift gemeint, sprich der theatrale Vollzug wird hier selbst sprachlich umgesetzt und impliziert damit eine szenische Darstellung oder Aufführung von Sprache durch den Text als Art Bühne selbst. Finter bezeichnet Texttheatralität als „all die translinguistischen Phänomene, die die Codes übersteigen und die Materialität des Sprechakts 246 247 Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 6. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 322. 65 indizieren [...].“248 Finters Überlegungen lassen sich insbesondere zu Poschmanns Unterkategorie der unmittelbaren Texttheatralität ergänzen, da damit eine Art von Texttheatralität angesprochen wird, die vor allem auf performative Verfahren einer Zeichenpraxis eingeht. Wenn im Theatertext also die ästhetische Botschaft in den Zeichen des Theatertextes selbst wirkt und infolgedessen Signifikanten autoreflexiv und zusätzlich zur referentiellen Funktion mehrdeutig werden, wird Theatralität im Zuge eines multimedialen, interaktiven Prozesses im Zuge der Rezeption hergestellt: „Der poetische Einsatz der Sprache ist als ihre Autoreflexion zugleich metasprachlich und metatheatral, da der moderne Text die Welt nicht spiegelt, sondern im Zusammenspiel mit der Rezeption erst erzeugt, mit dem Repräsentationsprinzip auch die Grundlage des dramatischen Theaters in Frage stellt.“249 Dies bedeutet also, dass sich im Theatertext abseits vom repräsentationalen Drama neue Möglichkeiten der Erkundung von poetischen Sprachfunktionen eröffnen. 3.3.3.1 Mittelbare Texttheatralität In Poschmanns wegweisender Konzeption von Texttheatralität für die jüngere Dramentheorie wird zwischen mittelbarer und unmittelbarer Theatralität differenziert. Mit mittelbarer Texttheatralität seien jene performativen, paralinguistischen Aspekte in Texten gemeint, die Performativität als „Tauschwert für szenische Theatralität“250 mittels „Pausen, Rhythmus, Intensitäten oder Polyphonie [...] auch in Schrift- und Druckbild“251 suggerieren. So schreibt sie etwa zu Gisela von Wysockis Theatertext Abendlandleben oder Anpollinaires Gedächtnis, dass er 248 Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 3. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 323. 250 Ebd., S. 328. 251 Ebd., S. 331. 249 66 exemplarisch sei für Theatertexte, die „die Struktur des Dramas dekonstruieren“252. Es handelt sich hier also um Texte, die theatralen Raum gegen textlichen, schriftlichen Ausdruck einlösen, also beispielsweise räumliche, akustische oder optische Aspekte nicht ausformulieren, sondern beispielsweise visuell und typographisch, d.h. anhand der Gestaltung des Schrift-Bildes oder rhythmisch darstellen. 3.3.3.2 Unmittelbare Texttheatralität Zusätzlich zur mittelbaren Texttheatralität weisen solche Theatertexte nach Poschmann aber auch unmittelbare Texttheatralität auf, da die „autoreflexiven linguistischen Zeichen als innersprachliches Geschehen [...] [zu] einer ‚eigenständigen Wirklichkeit’ und einem ‚performativen Sprechakt’ [werden und somit] räumliche und zeitliche Dimensionen sowie Performance-Qualitäten“ 253 aufweisen würden. Theatertexte, die in ihrer Konstellation dazu tendieren die dramatische Form zu unterwandern, indem sie „die Darstellungsebene [...] zugunsten der Theatralität des sprachlichen Materials selbst und damit zugunsten der im weitesten Sinne ‚poetischen’ Wirkung der Sprache zurücktreten lassen“254, bilden nach Poschmann eine spezielle Form von Texttheatralität aus. Das Poetische der Sprache ist in der strukturalistischen Schule in der „Entautomatisierung der Zuordnung von Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifié)“ 255 zu orten, wonach der Signifikant einen semantischen Eigenwert erhält; abseits seiner kommunikativen Funktion 252 Nach Poschmann kann die „[...] Etablierung nichtdramatischer Texttheatralität [...] als Fortführung episierender und absurder Tendenzen verstanden werden [...]“. Trotz frappierender Unterschiede der Theatervisionäre Beckett und Brecht würde die beiden „das Misstrauen gegen die Repräsentation auf der Bühne“ verbinden. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 95. 253 Ebd., S. 332. 254 Ebd., S. 177. 255 Ebd. 67 erhalte das Zeichen einen ästhetischen Eigenwert, was schließlich zur Mehrdeutigkeit des Zeichens und dieser Sprache führe.256 Da in diesen Fällen dramatische Figuration und Narration trotz formaler Beibehaltung präsent sind, jedoch radikal zur Nebensache erklärt werden, kann dies zur Annahme führen, dass Autor*innen solcher Theatertexte gegen das bestehende Theater anschreiben. Nur scheinbar werden die Kriterien der Dramenkonventionen erfüllt, denn vor allem tritt das Wirken der Theatralität der Sprache hier in den Vordergrund. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses dieses „Theaters des Textes“257, wie Sybille Peters Goetz’ theatralisch konzipierte Textproduktion bezeichnet, welche die „Arbeit an der medialen Differenz“258 als Ausgangspunkt für die Zielsetzung der literarischen Performanz nimmt, steht also das Erkunden von Medialität beziehungsweise von intermedialen Differenzen. Der Bezug zum Theater ist insofern also ein dialektischer, als es sowohl die Öffnung zu den darstellenden Künsten, des Theatralen und Performativen der Literatur, als umgekehrt auch eine Rückbindung des Theaters an Textlichkeit und Literarizität konstituiert. Dies bedeutet, dass Goetz Literarizität als Effekt transmedialer Sprachprozesse denkt, die er in seinem Fall anhand des Mediums der Schrift umsetzt, aber anhand der Öffnung zu Theater, Performance, Musik, Bildkunst prinzipiell schriftübergreifend konzipiert. 3.4 Textsysteme und Autorschaft Die Dopplung eines Textes aufgrund verschiedener Publikationsarten, etwa wie im Fall des als per se intermedial angelegten Theatertextes oder aber beispielsweise auch im Fall von Abfall für alle (1999), das sowohl als 256 Vgl. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 177. Peters, Sibylle, „Theater des Textes: Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesungen und das Stück Jeff Koons“, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Hg. Hans-Peter Bayerdörfer/Małgorzata Leyko/Evelyn DeutschSchreiner, Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 132-142, hier S. 132. 258 Ebd., S. 140. 257 68 Internet-Publikation als auch in Buchform erschien, rückt verschiedene „Aufführungsrahmen“259 seiner Texte in den Vordergrund und betont dadurch auch „die Eigendynamik intermedialer Codierungen und rahmender Kontextualisierungen“.260 Auch die hohe Verweisdichte seiner zyklisch angelegten Texte untermauert die These, dass sein „Integraltext“261 als mehrdimensionaler Raum aufgebaut ist, dessen Zentrum der Autor selbst einnimmt. An dieser Stelle soll auch auf Niklas Luhmanns systemtheoretischen Entwurf von Medien und Textsystemen verwiesen werden, der vielfach als Zugang zu Goetz’ Subjekt- und Körperlichkeitsentwürfen herangezogen wird, hier aber aufgrund des limitierten Rahmens dieser Arbeit nicht weiter ausgeführt werden kann.262 Goetz’ Textsystem beruht nach Nadja Geer auf dem Prinzip, dass der Autor Material einer „Vergoetzung“263 unterzieht und wie „Bastelwerk um die eigene Person zentriert“264. So behält der Autor als Drehmoment des Medialen und Bindeglied zwischen den unterschiedlichen medialen Realisierungen gewissermaßen die Oberhand gegenüber der Schrift und System inhärenten Vernetzung und Streuung. In der aktuellen Epoche des Ich-Kunstwerks, das auch als Reaktion auf die Ästhetisierung und Medialisierung von Selbstverwirklichung, Lebenswelt gelesen Querdenkertum und werden kann, Kreativität ist kein Alleinstellungsmerkmal von Künstlern mehr und Inszenierung fester Bestandteil des Alltags. 259 Doktor/Spies, „Rainald Goetz“, S. 880. Stricker, Text-Raum, S. 274. 261 Weber, „‚...noch KV (kv)’“, S. 145. 262 Siehe Windrich, Technotheater; sowie Schäfer, „Luhmann als ‚Pop’”, in: Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Hg. Christian Huck/Carsten Zorn, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage 2007, S. 262-283. 263 Geer, Sophistication, S. 158. 264 Ebd. 260 69 Hier scheint die Rückkehr zum Werkbegriff und einer Autorschaft als „Marketingstrategie“265 zu fungieren, um sich anhand der Selbstinszenierung, wie es im popmusikalischen Kontext üblich ist, als Quelle von Originalität, als Marke oder Label zu etablieren.266 Der Autor spielt als „Medienjongleur“267 gekonnt zwischen Formaten, Rahmen und Genres und bleibt somit selbst gesteuertes Konstrukt. Aus Sicht der rasanten jungen Entwicklung einer Literatur im Internet, die sich in ihren Formen und Urheberquellen nicht mehr physisch oder anhand einzelner Personen verorten lässt, wie es bei digitalen Hypertexten oder kollektiven Autorschaften im Netz der Fall ist, wird Autorschaft als „reiner Medieneffekt“268 inszeniert. Goetz sieht sich in seiner Funktion als Autor auch als medialer Vermittler zwischen Text und Leser, der zwischen der Diskrepanz zwischen Totheit des Textes und Leben kommuniziert: „Übersetzer in Text. Ja, genau, passt. Das bin ich, das ist mein Job, mein Leben.“269 Nach Menke und Lüthy sind die Bücher von Rainald Goetz „nicht [...] Ausdruck eines Subjekts, sondern [...] Schauplatz [...], auf dem sich der Prozess der Verhandlung zwischen Subjekt und Medium zuträgt.“270 Form und Inhalt von Goetz’ Programm bedingen sich in der Verschränkung von Autor-Subjekt und Medium demnach gegenseitig oder bringen sich in dieser Anordnung dadurch erst hervor: „Subjekt und Medium erweisen sich so als ambivalente Schauplätze, die in doppelter Funktion stehen: Sie sind, aufgrund ihrer spannungsvollen Verbindung, beide zugleich der Ort der Aussage – an dem sich der Prozess des Kunstwerks 265 Künzel, Christine, „Einleitung“, in: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Hg. Christine Künzel/Jörg Schönert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 9-25, hier S. 15. 266 Vgl. Ebd., S. 15f. 267 Ebd., S. 20. 268 Ebd., S. 22. 269 Goetz, Abfall für alle, S. 516f. 270 Lüthy, Michael/Christoph Menke, „Einleitung“, in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Hg. Michael Lüthy/Christoph Menke, Berlin: Diaphanes 2006, S. 7-11, hier S. 8. 70 entfaltet – und die Sache der Aussage – der Gehalt, um den es in dem Kunstwerk geht.“271 Diese Verschränkung wird im Folgenden anhand der Einführung zum Stück Jeff Koons erneut aufgegriffen. Als zentraler Text im Zyklus Heute Morgen, der die Genese von Text nicht nur dokumentiert, illustriert oder fiktional übersetzt, sondern buchstäblich performativ schriftlich umsetzt, kommt diese flüchtige und dezentrierte Subjektkonstitution besonders gut zur Geltung. 271 Lüthy/Menke, „Einleitung“, S. 10. 71 4 Einführendes zum Stück Jeff Koons (1998) Nachdem zuvor Literarizität und das Autor-Werk-Verhältnis von Goetz näher zu fassen versucht wurde, soll nun seine zyklische Arbeitsweise anhand des textlichen ‚Systems’ Heute Morgen Goetz charakterisiert werden. Daraufhin werden formale und inhaltliche Aspekte des Stücks Jeff Koons aufgezeigt. Wie darin ersichtlich wird kommt sowohl der parallelen Arbeitsweise an verschiedenen Texten als auch dem Sujet der Genese von Kunst innerhalb des Zyklus besondere Bedeutung zu. 4.1 Der Zyklus Heute Morgen und seine textlichen Teilsysteme Als ‚Teilbuch’ des Zyklus Heute Morgen folgt das Stück Jeff Koons wie die meisten seiner Texte einem peniblen, numerisch geordneten Werkzyklus, dessen Logik nur dem Autor bekannt scheint.272 Der Zyklus Heute Morgen umfasst insgesamt fünf Bücher, wobei das Theaterstück an zweiter Stelle gereiht ist. Verbindendes Konzept der Bücherreihe ist die Idee, Gegenwart festzuhalten, was an verschiedenen Formaten teilrealisiert wird: „Was ist HEUTE MORGEN als Ganzes? [...] Es ist eben die Gegenwart, deren Ganzes, das Ganze der Gegenwart. Was ich, verteilt auf einzelne Teile, sprechen lassen will, zum Sprechen bringen will. [...] Bits and Pieces“ [Hervorh. im Orig.].273 Besonders der Zyklus Heute Morgen zeugt von der Arbeitsweise der parallelen Texte als lebendiges In- und Übereinander der Formate. Den Logiken der transtextuellen Durchkreuzung und Verschränkung folgend, nutzt Goetz den fünften Zyklus für seine Verfahren der Vervielfältigung von Aufführungsrahmen und Distributionskanälen sowie multi-medialen 272 Goetz selbst verweist bezüglich seiner peniblen Systematisierungen in seinen Werken auf seinen Kontrollzwang: „[...] [I]nsofern haben meine Opus-Bezeichnungen natürlich auch einen starken Hau ins Lächerliche. [...] Alle Ordnung ist wahnhaft: Das murmelt man dauernd. Und macht dabei Ordnung wie verrückt.“ Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 124. 273 Goetz, Abfall für alle, S. 114. 72 Realisierungen seiner Texte. Dabei geht es vor allem um den „re-entry der Textzirkulation, um deren Spiegelungen und Reflexionen“274. Das heißt, die jeweilige Umsetzung (Erzählung, Roman oder Theaterstück) bestimmt den Modus der zu wählenden Performativität. Die Idee, seine Texte in verschiedenen Aufführungsrahmen zu ‚installieren’ und somit einer medialen Erkundung zu unterziehen, hat ihn auch dazu veranlasst, seine Frankfurter Poetikvorlesungen (April und Mai 1998) teilweise in den als Papierform erschienenen Zyklus einzubringen. Parallel zu der Erarbeitung des Stücks Jeff Koons hatte Goetz eine PoetikGastdozentur an der Universität Frankfurt inne, worin er in einer Lehrveranstaltung unter dem Titel Praxis seine Textproduktion zum Thema machte. Die fünf Themenkomplexe, die er im Rahmen seiner Vorträge an den insgesamt fünf Abenden behandelte, nämlich Formphantasie, Thema, Welt, Text und Kritik, hat er zunächst im Internet-Tagebuch Abfall für Alle publiziert, wobei das Kapitel Formphantasie erst für die Druckfassung, also nach den Vorlesungen, nachkonstruiert wurde, die im September 1999 erschien.275 Gemäß seines Popbekenntnisses, sich als Art Empfänger und Medium von Welt vor den etwa 600 versammelten Hörerinnen und Hörern hinzustellen, wollte er laut denkend die auf ihn einströmenden Reize verarbeiten, ganz dem Präsens des Performance-Konzepts verpflichtet, und sehen, was dabei herauskommt.276 Das Thema des Prozesses der Textgenese sollte von einer theatralisch konzipierten Form des Vortrags, der Rede, der Vorlesung in 274 Stricker, Text-Raum, S. 288. Goetz meint zur Genese des gegenwartsorientierten Zyklus Heute Morgen, der mit dem Internet-Tagebuch Abfall für Alle begann: „Der Hauptkick kam durchs Internet.“ Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 142-159, hier S. 144. Daraus folgte laut Goetz eine „sprach-orientierte Beobachtung über veränderte Schriftformen“. Ebd. Die zeitnahe Mitteilungsmöglichkeit sowie die Vermischung von mündlichen und schriftlichen Ausdrucksformen sowie textlicher und bildlicher Verknüpfung im Hypertext hätten ihn zu intermedialen Schreib-Erkundungen angeregt. Vgl. Ebd. 276 Vgl. Peters, „Theater des Textes“, S. 132f. 275 73 actu geführt sein und so die Genese von Literatur live zur Aufführung bringen. In dieser theatralisch gestalteten Live-Vorführung von Rezeption, welche letztendlich darauf aus ist, das Gegenwartsmoment dieser Situation in Text zu übersetzen, ruft Goetz so immer wieder oppositionelle Redeweisen auf, wie etwa mündlich und schriftlich, und rückt die Bedeutung von Kontexten hervor.277 Durch die Ausweitung zum Performativen hin, indem Entstehungsprozesse von Literatur als Szene vorgeführt werden, bindet Goetz Literarizität immer wieder an die spezifischen sozialen und situativen Gegebenheiten von Rezeption, was in diesem Fall die Form der freien Rede im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags mit der Inszenierung desselben verbündet und so rückwirkend auch die Traditionen theatraler Improvisationsformen unweigerlich tangiert.278 Goetz hat das Stück Jeff Koons vor und nach seinen Frankfurter Poetikvorlesungen konzipiert, in denen das Ineinander von theatralisch konzipierter Textgenese bei gleichzeitiger Reflexion dessen, also die verschränkte Geste von Zeigen und Sagen im Hörsaal, nicht ganz aufzugehen schien. Wie die Lektüre des Stücks zeigt, lassen sich Aspekte darin als Spiegelung der PRAXIS-Vorlesung lesen. Vor allem manifestiert sich dies thematisch am Sujet der Genese von Text beziehungsweise Kunst, durchgängiges Sujet im Opus Heute Morgen, was im Fall des Stücks Jeff Koons dessen Titel (Jeff Koons), dort vorkommende Orte (Die Eröffnung in 277 Vgl. Peters, „Theater des Textes“, S. 140. Goetz verhandelt dabei im Laufe der Vorlesungen immer mehr anstelle der Verarbeitung des von ihm rezipierten Materials den Interessenskonflikt zwischen der Praxis der Rede und seinem Anspruch der Textgenese als Art Impromptu. Wie Peters konstatiert, greift Goetz in diesem Performance-Szenario damit den Grundkonflikt zwischen Literatur und Bühne auf, der die Theaterpraxis im 20. Jahrhundert deutlich prägte. Vgl. Ebd., S. 135. 278 74 der Galerie279, Im Atelier280) und bildkünstlerische Verfahren (z.B. 15. Holzschnitt281, 16. Skulptur282) suggerieren. Die erste Sitzung der PRAXIS-Vorlesung widmet sich dem Beginn des Schöpferischen, der „Formphantasie“283, wie auch der Untertitel „HEUTE MORGEN“ ausdrückt. Der Morgen ist die Zeit der frischen Gedanken, des positiven, hoffnungsvollen Anfangs der Kreativität und „der Stille, [...] zugleich eine revolutionäre Stimmung, kann man sagen, etwas sehr Jugendliches. [...] Neuer Tag, neues Glück. Alles ist möglich.“284 Diese Stimmung will sich bei seinem Versuch der unmittelbaren Produktivität in der morgendlichen Vorlesung im Hörsaal nicht recht einstellen. Im Stück ist im chronologisch 4. Akt die 3. Unterszene mit „heute morgen“285 betitelt. Diese Szene spiegelt tatsächlich diese morgendliche Zuversicht des Künstlers wider, der die morgendliche Frische für die kreative Ausarbeitung einer „Formphantasie“ nutzen kann. In den darauf folgenden Unterszenen bis einschließlich Szene 17, also bis zum 5. Akt, geht es um die kreative Konzeption, aber auch um das Schreiben an sich und um dessen Beobachtung. Das ursprünglich als „Reflexions-Baustelle“286 und als ‚work in progress’ gedachte Buch Abfall für alle (1999), in dem die Inhalte der Frankfurter Poetikvorlesungen anschließend auch in Druckform erschienen, hat Goetz parallel zur Nachterzählung Rave (1998) begonnen und er hatte vor, das Buch mit der Publikation der Tagerzählung Dekonspiratione (2000) abzuschließen.287 Somit begleitet das Tagebuch auch die Entstehung und 279 Goetz, JK, S. 111. Ebd., S. 78. 281 Ebd., S. 96. 282 Ebd., S. 98. 283 Goetz, Abfall für alle, S. 229. 284 Ebd., S. 230. 285 Goetz, JK, S. 74. 286 Goetz, Abfall für alle, Umschlagblatt. 287 Baisch, Martin/Roger Lüdeke, „Was kommt? Was geschieht? Was ergibt sich gleich? Textgenese in Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesung Praxis“, in: Textgenese und 280 75 Publikation zahlreicher anderer Texte aus dem Komplex Heute Morgen. Wie die Bezeichnung „Baustelle“ bereits suggeriert, sollte das Tagebuch vom „Leben eines Schreiber-Ichs in Berlin“288 als „tägliches Textgebet“289 berichten und sich von der Gestalt her an die „häppchenartige Form“290 internetgerecht halten und jederzeit auf www.rainaldgoetz.de aufrufbar sein. Beide Formen, das Tagebuch wie auch die Vorlesungen, sind demnach als zwei miteinander verschlungene Making-Offs einer möglichst gegenwärtigen Textgenese zu sehen, deren Inhalte sich permanent durchdringen und dadurch verschieben.291 Aus der Feststellung heraus, dass das Schreiben an parallelen Texten im Laufe des Zyklus von Heute Morgen eine „Eigendynamik“292 gewinnt, sieht sich Goetz dazu veranlasst, Abfall schließlich als eigenständigen Text gleichberechtigt mit dem im September 1998 erschienenen Theaterstück Jeff Koons neben den beiden Stücken der Erzählung und den Interviews in Buch 5 Heute Morgen zu publizieren. Vor allem wird neben der Gleichwertigkeit auch der enge Bezug zwischen Tagebuch, Vorlesung und dem Stück Jeff Koons dadurch betont, dass der Autor zeitgleich mit dem Erscheinen des Stücks die Texte der Poetikvorlesung auch im Tagebuch veröffentlicht.293 Dem literarischen Genre des Theaterstücks, dem die intermediale Ausgerichtetheit und multiple Perspektivierung als solche bereits inhärent sind, nähert sich Goetz als „Formphantasie“294 weitaus abstrakter im Vergleich zu den anderen Texten des Zyklus. Jeff Koons nimmt in der Erscheinungsordnung einen mittleren Platz im Zyklus ein. Letzt genanntem Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997. Nr. 389, Hg. Adolf Haslinger et al., Stuttgart: Hans-Dieter Heinz 2000, S. 139-173, hier S. 144f. 288 Goetz, Abfall für alle, Umschlagblatt. 289 Ebd. 290 Ebd. 291 Vgl. Peters, Theater des Textes, S. 141. 292 Baisch/Lüdeke, „Was kommt?“, S. 148. 293 Ebd., S. 147. 294 Goetz, Abfall für alle, S. 230. 76 Text voran gehen die dem Hedonismus und rituellen Charakter der PartyNacht im Club gewidmete Erzählung Rave (1998) und der tagebuchartige Ich-Roman Abfall für alle (1999); sukzessiv im Zyklus folgt noch die Erzählung Dekonspiratione (2000) als nüchterne Bestandsaufnahme eines Lebens als Schriftsteller. Die mittlere Position im Zyklus begründet Goetz folgendermaßen: „[...] weil die Kunst die Mitte des Lebens des Künstlers ist. In der erwähnten, leicht paranoiden Kollisionsstelle von Leben und Werk, also zwischen Tag und Nacht, also sozusagen auch ganz am Anfang von ‚Heute Morgen’, im wörtlich genommenen Sinn des langen, von Harald Schmidt der Welt gegebenen Titels: ‚Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den tau aufgelesen habe.’ Normalerweise schläft man selber um diese Zeit, und die Kunst tut in einem, in den Träumen, [...] ihre Arbeit. Gerade der Sprachmensch erfährt, dass es eine Arbeit der BILDER ist, die Kunst da tut“ [Hervorh. im Orig.].295 Dieses Zitat unterstreicht einerseits die Bedeutung der Verschränkung von Schrift und Leben für Goetz’ Werke und spricht andererseits bereits die zentrale Thematik des Stücks an: Die Rede ist von der potenziellen Schnittmenge von Bild und Schrift, von Zwischenräumen- und Formen, in denen die bildlichen und lautlichen Anteile von Sprache noch keine eindeutige Zugehörigkeit zu einem Zeichensystem erfahren haben. Dass die Kunst diesen Vorgängen nachzuspüren vermöge und Überlappungen sichtbar machen könne, wird hier ebenfalls suggeriert. 4.2 Formales und Inhaltliches von Jeff Koons im Überblick Das anschließende Kapitel wird über Themen, die im Stück verhandelt werden sowie über maßgebliche Charakteristiken bezüglich Form und Aufbau des Theatertextes informieren. 4.2.1 Sujet Augenscheinlich ist auf den ersten Blick, dass beim Stück die Unterscheidung in Haupt- und Nebentext sowie die Aufteilung auf eindeutige Sprecherinstanzen oder Figuren fehlt. Der Text ist in freien 295 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 173. 77 Versen geschrieben fragmentarischen und größtenteils Momentaufnahmen in Strophen werden drei gegliedert. Tage In eines Künstlerlebens thematisiert, wobei der Titel mit Jeff Koons auf einen Künstlertypus in der Tradition Andy Warhols, im Kunstkontext der 1990er Jahre angesiedelt, verweist. Dieser Kunstkontext als öffentlicher Raum umfasst dabei auch das Private: So wird „die Idee des Glücks am Ernstfall Liebe getestet“296, was in der Darstellung einer intimen Zweierbeziehung im Stück mit exzessiven Bettund Liebeszenen im trivialen Alltagsjargon gezeigt wird. Dies wiederum liefert einen Hinweis auf Koons’ Künstlerbiographie, die eng mit seinem künstlerischen Programm verbunden ist. Seine Vorliebe für die Vermischung von Kunsttraditionen, Selbstinszenierung und banalen Sujets wird etwa anhand der Serie Made in Heaven (1989)297 offenkundig, in der er und seine damalige Frau sich selbst als Protagonisten in einer Reihe von pornografisch-kitschigen Liebes- und Sexbildnissen als Tableaus Vivants verewigen. Goetz gibt in dem Meta-Text Abfall für alle, in dem er erkenntnistheoretische und ästhetische Reflexionen niederschreibt, selbst auch noch einmal explizit den Hinweis, dass die Anlage des Stücks mit der Idee des Schaffensprozesses von Kunst zu tun hat. Vordergründig gibt zwar der Titel des Stücks Anlass dazu, eine „theatralisierte Biographie“298 über den erfolgreichsten zeitgenössischen Künstler Jeff Koons als den paradigmatischen Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts zu erwarten; jedoch soll dieser explizite Verweis im Titel lediglich als Projektions- und Reibefläche dienen: 296 Goetz, JK, Index. Koons, Jeff, Made in Heaven, http://www.jeffkoons.com/artwork/made-in-heaven, 10.01.2016. 298 Huber-Lang, Wolfgang im Gespräch mit Rainald Goetz für „Format“, Österreich, in: Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 138. 297 78 „Die Idee ist: Man gibt einen Namen vor, den Namen eines echten lebenden Menschen, einer öffentlichen Figur. […] Ruft gezielt Assoziationen und imaginären Text auf. Insofern ist der Titel schon das halbe Stück. Und im Verhältnis dazu steht der reale Text des Stücks. Das ergibt tolle Aufladungen.“299 Dem entspricht die Tatsache, dass Koons in dem figurenlosen- und handlungsarmen, skizzenhaften dramatischen Gerüst nie namentlich, sondern höchstens als Anspielung über die Nennung der Titel von einigen seiner Werke vorkommt. Koons dient als Exempel eines zeitgenössischen, arrivierten Künstlertyps und dessen Lifestyles, der sich zwischen Galerie, Presseinterviews, Party und Atelier abspielt. So heißt es im Stück im chronologisch vierten Akt: „Kunst / ein Wochenende Kunst / die Kneipe / und das Atelier/ die Galerie und die Gebückten / die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof / marschieren auf / ein Stück / in sieben Akten / schön knapp abgepackt.“300 Jedoch wird im Laufe der weiteren Versabschnitte präzisiert, dass das Stück sich nicht am Kunst-Sujet oder am soziopolitischen Diskurs rund um prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen und scheinbar oppositionelle soziale Sphären, Bohème und Gescheiterte, erschöpft. Denn, wie es weiter heißt, geht es darüber hinaus „um Liebe / du hast gesagt / es geht um Kunst / es geht um Reden / Bilder, Melodien / es geht um Streit / und Stimmigkeit / es geht um Menschen / die was sagen [...]“301 Goetz selbst präzisiert, dass ihn vor allem „sprachlich-musikalische Fragen“302 und Konflikte, wie etwa „die Spannung zwischen Bild-Kunst und Text“ sowie die „Sehnsucht nach Übersetzung“303 interessieren. 4.2.2 Aufbau und Gliederung Trotz numerischer Anordnung der sieben Akte scheinen diese keiner fixen Reihung zu folgen, sondern eher einem „abstrakten Assoziationsprozess“.304 299 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 116. Goetz, JK, Index. 301 Ebd. 302 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 128. 303 Ebd., S. 139. 300 79 Auch stimmt die Bezeichnung und Nummerierung der sieben Akte nicht mit der chronologischen Reihenfolge überein. Der chronologisch dritte Akt sowie der fünfte Akt sind nur mit einer Orts- oder Zeitangabe, aber keiner numerischen Bezeichnung versehen. Alle Akte sind mit einem vorangehenden Motto oder Epigraf ausgestattet, die aus intertextuellen Verweisen oder Zitaten bestehen oder einen intermedialen Bezug meist zum Kontext der Bildkunst herstellen. Es folgt die Aktanordnung und Strukturierung des Stücks als tabellarischer Überblick: Chronologie Nummerierung Titel Motto / Zusatz 1. Akt „Dritter Akt“ III. PALETTE 2. Akt „Erster Akt“ I. IM BETT „Saint John the Baptist, New York, 1989“ Jeff Koons „mmm hm, hm hmmm if I could melt your heart“ Madonna 3. Akt „Draußen“ III. DIE GEBÜCKTEN VOM GÖRLITZER BAHNHOF MARSCHIEREN AUF „ist der Blick in eine schöne Gegend, Freund, Freund, Freund“ Bertolt Brecht 4. Akt „Zweiter Akt“ II. DIE FIRMA „It had the aura of a heroic and polemically creative place“ Richard Meier 304 Seiler, Sascha, »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, 2006, S. 301, www.books.google.at/books?id=dEVy8SBDXrMC&pg=PA301&lpg=PA301&dq=Jeff+ko ons+Goetz+Abschreiben+Welt&source=bl&ots=CRWRuiLaYG&sig=rb3khcIHDJJp7gYj SRd9ELDhylU&hl=de&sa=X&ei=w2N1VbvXIeLnygOi4D4Dg&ved=0CB8Q6AEwAA#v=onepage&q=Jeff%20koons%20Goetz%20Abschreiben %20Welt&f=false, 22.10.2015. 80 5. Akt „Nach der Pause“ IV. DIE ERÖFFNUNG „to anyone who ever invited us anywhere“ Andy Warhol and Pat Hackett „Hand on Breast, 1990, 244 x 366“ Jeff Koons and Pat Hackett „Auf überwachsenen Pfaden“ Knut Hamsun 6. Akt „Sechster Akt“ III. PALETTE 7. Akt „Siebenter Akt“ V. DAS BILD Tabelle 1: Aktübersicht zum Stück Jeff Koons Dies lässt darauf schließen, dass Text und Zitate und Verweise in einem inter- und paratextuellen Bezugsgeflecht stehen und zusätzliche semantische Ebenen beisteuern. Es gilt hier in der Analyse nachzugehen, welche Art von paratextueller Beziehung sich daraus zwischen „Sprech- und Zusatztext“305 ergibt und was diese vorangestellten Mottos in Bezug auf die theatrale Gestaltung bewirken. Jeder Akt ist zusätzlich mit einer Ortsangabe und römischen Ziffer versehen. Einige Orte mit derselben Angabe in römischen Ziffern werden im Laufe des Stücks wiederholt angegeben. Insgesamt spielt sich das Stück an den Orten Club, Galerie, Atelier und Zuhause des Künstlers ab. Die Akte sind wiederum in zahlreiche Unterszenen unterteilt, die ebenso jeweils mit einem Titel versehen sind, und ebenfalls häufig eine örtliche Angabe oder ein thematisches Schlagwort beinhalten. Exemplarisch wird die szenische Unterteilung des chronologisch 1. Aktes mit seinen römisch nummerierten Stationen samt nummerierten Unterszenen mit Titel nun angeführt: Dritter Akt306 III. Palette 1. Davor, 2. An der Türe, 3. Drin, 4. Wall of words, 5.let the bass kick, 6. Die Tanzfläche, 7. An der Bar, 8. Hinten, 9. Das Klo, 10. Am Boden, 11. 305 Poschmann empfiehlt anstelle der Bezeichnungen Haupt- und Nebentext in solchen Fällen von Sprech- und Zusatztext zu sprechen. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 296. 306 Goetz, JK, S. 13. 81 Die Wand, 12. Daneben, 13. Gästeliste, 14. Wer nichts wird, wird Wirt, 15. Türe, 16. Zapfhahn, 17. Tresen, 18. Bestellung, 19. Kleiner Rausch Der nicht-lineare Aufbau und die willkürliche Reihenfolge der Aktkonstellation lassen darauf schließen, dass die zeitliche Abfolge von geringer Bedeutung ist. So beginnt das Stück mit dem „Dritten Akt“, gefolgt vom „Ersten Akt“. Die Betitelung des chronologisch dritten Aktes fehlt und anstelle dessen folgt der „Zweite Akt“. Der numerisch aleatorische Aufbau der Aktkonstellation lässt darauf schließen, dass die Anordnung oder Rahmung des Textes in einem intendierten Wechselverhältnis zum Text steht. In den metatextuellen Reflexionen, wie etwa dem Internet-Tagebuch Abfall für Alle (1999) oder der Erzählung Rave (1998), in denen Goetz ebenso Reflexionen zur Kunstgenese anstellt, gibt Goetz Aufschluss über diese strukturelle Anordnung, die auch Zugang zur thematischen Verhandlung des Stücks liefern soll: „Die Außenordnung gehört, [...] tief ins inhaltlich innerste der formalen Vorphantasie des Ganzen einer Sache: [...] Oder eben ein Stück, das sich an einem Wochenende, jedoch in sieben Akten abspielt, beispielsweise, wie Jeff Koons. Der liebe Gott hat sich bei der Erschaffung der Welt auch von der Ordnung der Woche inspirieren lassen, völlig normal. Zahlen, Geometrie, Musik und Schöpfung hängen eben zusammen. Wenn räumliche und zeitliche Ordnung sich widersprechen, oder zumindest miteinander interferieren, kann es sachlich richtig und ganz logisch sein, mit dem Ort des zentralen Akts zu beginnen, dorthin zweimal zurückzukehren, und doch zugleich die örtlich darum herum gruppierten anderen Akte in der ihnen entsprechenden zeitlichen Reihenfolge zu benennen: erst die Liebe, dann die Kunst, dann der nächtliche Exzess im Club. Und losgehen tut’s im Club, in der Palette [...]“307 Diesem Abschnitt von Abfall für Alle, der als aufschlussreicher auktorialer Metatext zu Jeff Koons und Paratext im Rahmen des Zyklus von Heute Morgen fungiert, indem er sowohl Indizien zur Anordnung gibt, als auch den Gegenstand des Stücks, der Genese von Kunst, kommentiert, bringt ziemlich klar hervor, dass die verwendeten Nummerierungen und Bezeichnungen keineswegs rein zufällig gewählt sind; vielmehr folgen sie 307 Goetz, Abfall für alle, S. 732. 82 einer ausgeklügelten aleatorischen Struktur, die nur den Anschein von aleatorischer Reihenfolge erweckt. Zudem bringt Goetz in dem Zitat die Zahlenfolge mit der göttlichen Schöpfung gemäß der christlichen Lehre der Genesis in Verbindung, wonach am 7. Tag in der Entstehungsgeschichte der Mensch von Gott erschaffen wurde. Dies korreliert auch mit den sieben Akten, die eine Analogie zu den sieben Tagen der Schöpfung darstellen, die mit der Fertigstellung des Kunstwerks im 7. Akt „Bild“ des Stücks korrespondiert. Ein weiterer Hinweis für die Parallele zwischen dem göttlichen Schöpfungsakt und der Genese von Kunst ist durch die Vereinigung in der Liebe, im sexuellen Akt, wie etwa durch den Akt „I. IM BETT“308 gegeben; oder auch durch den Liebesakt als Basis für die Entstehung neuen Lebens als Sinnbild für den kreativen Schöpfungsakt, wie etwa in der Liebesszene „1. Konzeption“309 suggeriert wird. Die in freien Versen gestaltete Sprache, in teils monologischen, teils dialogischen Versatzstücken ohne jegliche Figurenzuteilung, trägt zu einer formalistischen Strenge und hermetischen, weil stark abstrahierten Struktur des Stücks bei. Gänzlich wird auf illusionistische Fiktionsdarstellung verzichtet und trotz der Tatsache, dass das Stück Titel, Mottos, Zwischenüberschriften und Orte und Situationen zwischenmenschlichen Verhaltens ausweist, lassen sich dennoch keine klar zu identifizierenden Sprechinstanzen oder Handlung erkennen. Der starke Fokus auf die Angaben im Zusatztext, die mathematisch penible Strukturierung und Betitelung der Szenen samt intertextuellen Verweisen gibt Grund zur Annahme, dass die Sprecherzuweisung (wer hier spricht) durch den Zusatztext und die Strukturierung des Textes bestimmt wird.310 308 Goetz, JK, S. 37. Ebd. 310 Vgl. Stricker, Text-Raum, S. 298. 309 83 4.2.3 Serialität, Verflechtung und Räumlichkeit als strukturgebende Formprinzipien Innerhalb des Stücks Jeff Koons gibt es reziproke Bezugsfelder durch Stationen oder Titel der Abschnitte, die wiederholt werden oder nur minimal variiert auftreten. Anstelle von durchgängigen Figuren und durchgehender Handlung gibt es also nur wiederkehrende Orte und Stationen, die zumeist nur jeweils anders angeordnet werden. Damit wird angedeutet, dass Orte und Kontexte die eigentlichen Protagonisten sind und gesichtslose Subjekte darin eher beliebig auftreten. Als Beispiel hierfür wird die Station mit der römischen Kennzahl III angeführt, das Szenenlokal Palette, eine Ortsangabe, an der sich drei Akte abspielen. Das scheint nicht weiter ungewöhnlich, jedoch weisen die Akte auch eine sehr ähnliche Szenenfolge auf: 3. Akt311 „Draußen“312 6. Akt313 III. Palette III. Die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof marschieren auf vor der Palette III. Palette 1. Davor 2. An der Türe 3. am Boden 6. Die Tanzfläche 7. An der Bar 9. Das Klo 10. am Boden 11. Die Wand 15. Türe 2. davor 3. Am Klo 6. Beim Tanzen 7. An der Bar 9. Am Boden 10. An der Türe 11. Im Bettchen Zusätzlich sind in den besagten drei Akten auch ganze Textabschnitte ident. Dabei spielen alle drei an einem Ort im „Draußen“. So heißt es im „3. Akt“: „Davor // Da kommen wir nicht rein. / Ich komme da rein. / Echt? / Klar, komm“.314 Analog dazu spielt auch der Akt „Draußen“ (3. Akt) mit dem 311 Goetz, JK, S. 13. Ebd., S. 53. 313 Ebd., S. 131. 314 Ebd., S. 15. 312 84 thematischen Untertitel „III. Die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof marschieren auf“ vor der Palette: „[W]as wollen die denn hier? / wo? / da / keine Ahnung / die wollen hier rein / Quatsch / Doch, schau“.315 Und ähnlich beginnt auch der 5. Akt „Nach der Pause“, der die Eröffnung der Ausstellung beinhaltet, mit dem örtlichen Verweis eines „Draußen“: „wie schaut’s aus? / Super / wollen wir mal rein gehen? / unbedingt“.316 Ebenso wiederholt sich dieser Vorgang im 6. Akt, der wiederum vor der Palette spielt: „lass mal schnell rein gehen / unbedingt / saukalt heute / Quatsch / mich friert aber / Pussy“.317 Das liefert Grund zur Annahme, dass der Text auf einer „räumliche[n] Planskizze“318 basiert und von dieser zugrundeliegenden Struktur bestimmt wird: „Die Außenordnung gehört, [...] tief ins inhaltlich Innerste der formalen Vorphantasie“319. Nicht nur Orte werden hier wiederholt, was nicht unbedingt außergewöhnlich für einen szenischen Text scheint; jedoch die gleichförmige Konstellation der Orte mit derselben Szenenfolge weist genauso wie das darin analog vorkommende Sprachmaterial darauf hin, dass hier Struktur und Gliederung als szenische Operatoren den Duktus für den dramaturgischen Verlauf und den Sprechtext vorgeben. Anstelle von Figuren, denen als Sprecherinstanzen Text zugewiesen ist, gibt es einen Fokus auf wiederkehrende Situationen an denselben Orten, wo sich Handlungen abspielen. Schlussfolgernd kann davon ausgegangen werden, dass Orte hier als Figurationen anstelle von Sprechinstanzen fungieren. Laut Anordnung der Akte wäre die zentrale Ortsfiguration die Palette, da sie insgesamt dreimal im Stück vorkommt. Gleichzeitig ist die Zahl drei mit Bedeutung aufgeladen, weil es jeweils drei Akte gibt, die sich vor dem 4. Akt, der arithmetischen Mitte von sieben (Akten) sozusagen, abzeichnen. 315 Goetz, JK, S. 57. Ebd., S. 109. 317 Ebd., S. 135. 318 Stricker, Text-Raum, S. 297. 319 Goetz, Abfall für alle, S. 732. 316 85 Jedoch scheint der ausgewiesene vierte und zentrale Akt zu fehlen. An dessen Stelle gibt es die Akte „Draußen“ und „Nach der Pause“, die jedoch schon allein aufgrund der andersartigen Bezeichnung nicht zur übrigen Anordnung zwingend dazuzugehören scheinen, sondern nur von der räumlichen und zeitlichen Logik der sich abspielenden Situationen an den Orten Palette und Galerie her plausibel scheinen. Es bleibt also die Frage, was Goetz mit dem Auslassen der Mitte intendiert und weshalb dem dritten Akt vermeintlich mehr Bedeutung beigemessen werden soll. Achim Stricker zufolge ist das Fehlen des dritten Aktes ein Anzeichen dafür, dass Goetz den Text als „dreidimensionalen Hohlkörper“ [denkt], um den man sich sprachlich herum bewegen kann.“320 Demnach sei das Ausbleiben des dritten Aktes „keine (zweidimensionale) Leerstelle im Sinne eines Aussetzens (xxxx xxxxxxx), sondern eine räumliche Tiefe.“321 Und diese räumliche Vorstellung bedingt auch die Möglichkeit, zahlreiche Querverbindungen zwischen einzelnen Positionen auszumachen, also den Text eben nicht als sukzessiven Strang, sondern im Sinne einer installativen, konstellativen Lektüre als begehbaren Raum wie einer Ausstellung zu lesen und sehen.322 Dies würde mit der vorherigen Beobachtung hinsichtlich der Gewichtung der Orts-Figuren insofern korrespondieren, als Text und Sprechinstanzen sich nach der Außenordnung richten und im Gesamtbild erst mal nebensächlich scheinen. Signifikant dagegen wirkt die textuelle, zusammenhängende Ausrichtung nach einer implizierten, zugrundeliegenden architektonischen Struktur einerseits und die scheinbar beliebig organisierte Reihung der teilweise voneinander losgelösten Unterszenen als Sprach-Bilder andererseits. 320 Stricker, Text-Raum, S. 294. Ebd. 322 Vgl. Ebd., S. 294f. 321 86 4.2.4 Zusammenfassung Insofern stellt das Stück Jeff Koons im Vergleich zu den vorherigen beiden Stücken von Goetz eine Radikalisierung in Sachen Unterwanderung dramatischer Konventionen dar. Bereits die dramatischen Vorgänger Krieg (1988) und Festung (1993) markierten, dass sein Interesse für das Theater zu schreiben nicht darin besteht, Stücke gemäß dem Regelwerk einer konventionellen Dramatik zu schreiben. Jedoch im Unterschied zu seinen Vorgängern sind in Jeff Koons die Sprecher nicht zugewiesen. Ebenso fehlen Anweisungen für die Bühne und Handlung. Angesichts dessen erscheint die Bezeichnung ‚Stück’ entweder ironisch oder sie ist als Hinweis zu verstehen, dass Text hier nicht erst auf der Theaterbühne seine Umsetzung erfährt, sondern bereits als textliche Inszenierung gelesen werden soll. Gerda Poschmanns vielzitierter Begriff des „Textträgers“323 könnte in diesem Zusammenhang zur Bezeichnung der lückenhaften, fragmentarischen und rhythmisierten, mal monologhaften, mal dialoghaften Sprechmomente von meist trivialem Inhalt in Jeff Koons hilfreich sein. Ebenso wechseln Stil, Perspektive und Genre zwischendurch, was auch typographisch auffällt. Manche Abschnitte sind wie lyrische Verse und Strophen gestaltet, andere wiederum wirken wie Kurzprosa. Nach Franz Wille ergibt sich auf den zweiten Blick auf das Popkünstlerdrama eine komplexe, vielschichtige „Textkomposition“324, die von Brüchen durchwachsen ist: „Goetz umkreist zwischen Lyrik, rhythmisierter Prosa und stream of consciousness seinen Gegenstand, der sich in Sprache auflöst und gelegentlich wieder zusammensetzt: Einen Künstler in seiner Gesellschaft.“325 323 Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 296. Wille, Franz, „Wo, bitte, geht’s hier zur Wirklichkeit?“, Theater heute Jahrbuch 2000, S. 82-93, hier S. 89. 325 Ebd. 324 87 Die Annäherung an die Schnittstellen von Kunst und Leben wird im Stück aus der gleichzeitigen Perspektive eines Beobachtenden wie auch eines Teilhabenden, als Selbstversuch sozusagen, durchgeführt. Die ständigen Perspektiven- und Stilwechsel sowie die Durchmischung von Rollenprosa, Beschreibungen und Reflexionen der Beschreibungen und Kritik der Reflexion der Beschreibung bewirken dieses Oszillieren zwischen einem Drinnen und einem Draußen.326 Die mathematisch und architektonisch durchkomponierte Konstellation des Stücks zeigt, dass hier den Angaben des Zusatztexts, wie etwa Ortsangabe, vorausgehende Mottos und Nummerierungen eine beachtliche Gewichtung zukommt. Auch gibt es bis auf die vorangehenden Mottos keine direkten Zitate oder Versatzstücke aus anderen Kontexten, höchstens Anspielungen, wie etwa auf den Lebensstil eines Künstlers. Damit könnte auch Goetz selbst gemeint sein, der sich als bekannter Technoliebhaber gern in der Clubszene aufhält und Ausstellungseröffnungen besucht, zumal sich auch das Stück an den besagten Orten Club, Bett, Galerie abspielt. Als skizzenartiger, handlungsanweisender Textentwurf, in dem das Konzeptuelle und die Idee Vorrang haben, stellt dieser Text als Teil seines „Integraltext[es]“327 (siehe 3.2) wiederum Bezüge zur Concept und Minimal Art her. Das konzeptuelle Kunstwerk vollziehe sich, wie Achim Stricker konstatiert, „[…] radikal individuell in der assoziativen Betrachtung des Rezipienten“328. Die Rahmung und Vorgabe von Handlungsanweisungen durch die Skizze oder durch Diagramme in Zahlensystemen seien hier nur noch „Anlass-Ort für das Kunstwerk ‚Idee’, das jede beliebige Erscheinung haben kann“ [Hervorh. im Orig.].329 So schreibt Goetz auch parallel in das Tagebuch Abfall für alle: „Theatertext ist von der Grundaufgabenstellung 326 Vgl. Wille, „Wo, bitte, geht’s hier zur Wirklichkeit?“, S. 89. Weber, „‚...noch KV (kv)’“, S. 141. 328 Vgl. Baisch/Lüdeke, „Was kommt?“, S. 147. 329 Stricker, Text-Raum, S. 279 327 88 her SKULPTUR, das ist dieses Energiemomentum“ [Hervorh. im Orig.].330 Der bildkünstlerische Terminus der Skulptur könnte, genauer betrachtet, weitere Anhaltspunkte zu intermedialen Verfahrensweisen im Stück liefern. Wie in der Textanalyse erläutert werden wird, geben die zusätzlichen Angaben dem Sprechen nicht nur einen Ort und Rahmen wie im traditionellen Drama, sondern stehen selbst untereinander in einem kommunikativen, selbstreferenziellen Verhältnis und bieten zusätzliche Schichten von Bedeutung an, sodass auch diese eine (meta)-poetische anstatt referenzielle Funktion erfüllen. Ähnlich verhält es sich auf der Ebene des Sprechtextes, wo die Redeweisen weder die binnenfiktionale Funktion einer psychologisierten, noch rein diskursiven Sinnvermittlung erfüllen, sondern ebenso wie der Zusatztext Teil der textimmanenten Evidenz einer ästhetischen Botschaft sind. In Anlehnung an Poschmanns Thesen zur Texttheatralität“331 und Finters Überlegungen zur analytischen Theatralität kann davon ausgegangen werden, dass im Stück Jeff Koons also demnach die performativen Aspekte und kommunikativen Möglichkeiten innerhalb des Mediums Sprache autoreflexiv erkundet werden. Sprech- und Zusatztext sind in Jeff Koons also gleichwertige Reibungsflächen innerhalb der ästhetischen Konzeption.332 Das Auskundschaften der linguistischen Ebenen innerhalb des Mediums Sprache, wie etwa das Verhältnis von Bildhaftem und Sprachlichem sowie Konkretion und Abstraktion, weist erneut auf einen intermedialen Theatralitätsbegriff bei Goetz hin.333 330 Goetz, Abfall für alle, S. 441. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 44. 332 Vgl. Windrich, Technotheater, S. 424f. 333 Vgl. Ebd., S. 429f. 331 89 5 Szenographie: Zur Verquickung von Szene und Sprache Im Anschluss an die vorhergehenden Überlegungen soll nun versucht werden, das enge Verhältnis von Theatralität, Sprache und Schrift, wie es die körperlichkeitsorientierten Pop-Texturen von Goetz vorsehen, mithilfe des Konzepts der Szenographie zu kontextualisieren. Dabei liegt der Fokus auf dem Denkansatz der von Roland Barthes geprägten szenischen Semiotik. Der Vertreter des französischen Strukturalismus und Vorläufer poststrukturalistischer Theoriebildung legt in seinem Entwurf von Theater und Literatur als kritische Sprachpraxen den Grundstein für poststrukturalistische Ansätze, die Texttheatralität als subversive Methode der Verräumlichung und Vernetzung weiterdenken. In dieser Linie ist auch Julia Kristevas Plädoyer für die Methode der Verräumlichung als integrativer Sprachansatz anzusiedeln, die der ‚ecriture’ im Sinne Barthes folgt und als paternalistisch dekonstruktivistische verankerter Methode zur Unterwanderung Herrschaftsverhältnisse in der Subjektkonstitution durch Sprache weiterdenkt. Genannte Ansätze und ästhetische Entwürfe zum Spannungsverhältnis zwischen Verbalem und Averbalem in der sprachlichen Sinnkonstitution berühren unweigerlich auch den Metadiskurs rund um die Polarisierung von Theater und Text und um die vollzogene ästhetische Dialektik im Theater im Zuge der „Krise des Dramas“334, welcher im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur am Rande erwähnt wird. 334 Lehmann bindet die Polarität oder Unvereinbarkeit von Theater und Text oder Drama an die frühe Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die parallel zur ‚Krise des Dramas’ seit etwa 1880 nicht nur andersartige dramatische Formen entwickelte, die auf eine geänderte Umwelt und einen neuen Subjektbegriff reagierte, sondern dem auch eine Auffassung der Unvereinbarkeit von Theater und Literatur entgegengesetzte. So zeugten bereits etwa Gertrude Steins Landscape Plays oder Artauds Theater der Grausamkeit von literarischen 90 5.1 Genealogie einer Szenographie als Sprach- und Theaterutopie Das Konzept, den theatralen Raum als Dispositiv neu zu denken, hat die Historische Avantgarde und postmoderne Theaterästhetik auf die Schrift hin ausgeweitet. In der Genealogie einer Texttheatralität, die das Körperliche als das Gestische, Bildliche (Grafische), Lautliche an die Schrift beziehungsweise das Schriftbild rückkoppelt, wird der französische Literat und Visionär Stéphane Mallarmé als Wegbereiter genannt. Er gilt heute als zentrale Figur der Moderne des 19. Jahrhunderts und bedeutsamer Vertreter des französischen Symbolismus. Als einer der ersten Visionäre einer visuellen Poesie als Sprachutopie mit dem Anspruch, Sprache von ihrer mimetischen Repräsentationsfunktion zu befreien, führt bei Mallarmé der Weg über die Beschäftigung mit den theatralen Raum- und Körperfigurationen, wie auch mit Musik, Ballett und Pantomime zu einer Revision der Schreibpraxis und Theorie einer kunstübergreifenden Poetik beziehungsweise Poetologie.335 Er ersinnt eine Poesie als Ästhetik „nihilistischer Radikalität“336, die imstande ist, die Qualitäten anderer Künste anhand der Möglichkeiten der Dichtkunst zu ersetzen und zu transformieren. theaterästhetischen Entwürfen, deren Lesbarkeit als „dekonstruierte[]“ Theatertexte erst eine Entsprechung in der postdramatischen Theaterästhetik fanden, wie etwa im Fall von Stein durch die Inszenierungen von Robert Wilson. Manche Entwürfe blieben hingegen Vision und bezeugten dadurch die vollzogene Diskrepanz zwischen Text und Theater. Infolgedessen resümiert Lehmann, stehe eine gängige Aufführungspraxis stets in einem Spannungsverhältnis mit jenen literarischen Vorlagen, die für unspielbar gehalten würden. Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 78f. 335 Vgl. Eckel, Winfried, „Mallarmé, Stéphane“, in: Metzler Lexikon Weltliteratur. 1000 Autoren von der Antike bis zur Gegenwart, Hg. Axel Ruckaberle, Stuttgart: J.B. Metzler 2006, S. 388f. 336 Eckel, Winfried, „Mallarmé, Stéphane (1842-1898)“, in: Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe, Hg. Monika Schmitz-Evans et al., Berlin: De Gruyter 2009, S. 267-269, hier S. 269. 91 Ausgehend vom Reflexionsgegenstand des Tanzes wird unter dem Begriff der Szenographie bei Mallarmé eine visuelle Dramaturgie anhand einer körperlichen Schreibweise konzipiert („écriture corporelle“337), in der die Abstrahierung des vordergründig Sichtbaren im Sinne einer Bedeutungserweiterung, Transzendierung und Überschreitung angestrebt wird. Seine berühmte Feuilleton-Kritik Ballets (1886) über die Aufführung des Ballets Viviane und insbesondere die Performance der Tänzerin Elena Cornalba (erschienen am 1. Dezember 1886 in der Revue Indépendante) ist Teil von Mallarmés Konzipierung einer ästhetischen Theorie, die er anhand der Gegenstände seiner Publikationen metatextlich entwickelt.338 In dieser Kritik wird der Tanz metaphorisch zum Ausdruck einer poetischen Schreibweise. Darin heißt es: „A savoir que la danseuse n’est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu’elle n’est pas une femme, mais une élémentaire puissance résumant un des aspects analysés de notre forme, glaive, coupe, fleur, etc., et qu’elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d’élans, avec son écriture corporelle ce qu’il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descripitive, pour exprimer, en la rédaction: poésie dégagée enfin de tout appareil du scribe“ [Hervorh. im Orig.].339 Anstelle der Sicht auf eine tanzende Frau als konkretes weibliches Individuum, das tanzt, suggeriert Mallarmé, die Frau als elementare Kraft („élémentaire puissance“) wahrzunehmen, welches einen Aspekte unserer Gestalt erschließt („résumant un des aspects analysés de notre forme“), und dadurch auch etwas anderes per se darstellt, wie etwa eine Blume („fleur“), ein Schwert („glaive“) oder eine Schale („coupe“). Und dass sie eben nicht tanzt („et qu’elle ne danse pas“), sondern ohne jedes Zutun eines Schreibenden anhand von Verkürzungen oder Aufschwüngen („de raccourcis ou d’élans“) mit ihrer Körperschrift („avec son écriture 337 Mallarmé, Stéphane, Oeuvres Complètes, II, Hg. Bertrand Marchal (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 2003, S. 171. 338 Steland, Dieter, Dialektische Gedanken in Stéphane Mallarmés ‚Divagations’, München: Wilhelm Fink 1965, S. 29. 339 Mallarmé, Oeuvres Complètes, S. 171. 92 corporelle“) Poesie („poésie dégagée enfin de tout appareil du scribe“) erschafft. Demnach soll das Vordergründige zugunsten des nicht Sichtbaren also abstrahiert und metaphorisiert werden. Er beschreibt hier also einen Vorgang des Imaginierens, des Transzendierens, sprich auch des Lesens. Insofern wird aus der Szene eine Graphie, eine Schrift oder ein Gedicht und aus dem Zusehenden ein Leser. Die Kritik Ballets ist exemplarisch dafür, dass Mallarmé Poesie medienund zeichenübergreifend denkt. Indem er Techniken und Parameter der Schrift mit dem Ausdrucksfeld des Tanzes verknüpft, hat Mallarmé auch jenen Strang eines Theaters hin zur Abstraktion befördert, der später dieser „visuellen Dramaturgie“340 folgen wird. Ferner sind Kritiken wie etwa Ballets auch als Vorarbeit seiner poetologischen Umsetzung des unvollendeten LIVRE zu sehen. Es handelt sich hierbei um die Umsetzung seiner Utopie des absoluten Buches als Ausdruck des idealen Kunstwerks schlechthin.341 Ein Buch ist in Mallarmés Konzeption die Verlängerung der Buchstaben und „spirituelles Instrument“ („instrument spirituel“342), um den Wörtern durch den ihnen bietenden Raum höchstmögliche, spielerische Beweglichkeit zu ermöglichen: „Le livre, expansion totale de la lettre, doit d’elle tirer, directement, une mobilité [...] par correspondances, instituer un jeu“343. Mit seinen Überlegungen zu einer integralen Poesie als Gesamtkunst, welche die sprachliche Abstraktion mittels des Einbezugs von klanglichen sowie graphischen, bildlichen und räumlichen Aspekten des Textes anstrebt, wird Mallarmé auch Vordenker der Konkreten Poesie des 20. Jahrhunderts. Als paradigmatischer Text, der diese Prinzipien einer abstrakten 340 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 159. Das Livre-Buch ist unvollendet geblieben; eine Sammlung von Mallarmés Notizen zu seinem Großprojekt wurde erst aus dem Nachlass veröffentlicht. Vgl. Ebd., S. 28. 342 Mallarmé, Stéphane, „Quant au livre“, in: Poésies-Prose, Hg. Henri Mondor/G. JeanAubry (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 1945, S. 369-387, hier S. 378. 343 Ebd., S. 380. 341 93 Textlichkeit via der Betonung von Visualität veranschaulicht, gilt sein in freien Versen geschriebenes Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard.344 Der programmatische Titel „Ein Würfelspiel wird den Zufall niemals abschaffen können“ greift bereits die Kombination aus aleatorischen und penibel konstruierten Elementen im Gedicht vorweg. Wörter, Sätze und Abschnitte sind darin nach unterschiedlichen Schriftgrößen und -arten gestaltet, wobei jene Wörter des Titels, die im Laufe des Gedichts immer wieder vorkommen am größten geschrieben sind. Auf den weißen, karg bedruckten, deshalb leer wirkenden Buchseiten, wirken die Wortgebilde wie Puzzleteile, die sich erst durch eine schöpferische Leseart zusammenfügen lassen, wobei die räumliche und schriftgraphische Gestaltung verschiedene Kombinationsmöglichkeiten offen lässt. Wie in einer minimalistischen Partitur ergeben sich Melodien und Rhythmen hier aus den graphischen und klanglichen Kontrasten zwischen der Stille oder Leere der weißen Textseiten und den unterschiedlich graphischen Formationen der schwarzen Wortgebilde. Zugleich zur gegenständlichen Konkretion weist der Text räumliche Tiefenwirkung auf und suggeriert damit ein über die Buchseite hinausgehendes Vorhaben. 344 Mallarmé, Stéphane, „Un coup de dés“, in: Poésies-Prose, Hg. Henri Mondor/G. JeanAubry (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 1945, S. 453-477. 94 Abb. 1: Mallarmé, Un coup de dés (Auszug)345 345 Mallarmé, Poésies-Prose, S. 472. 95 Abb. 2: Mallarmé, Un coup de dés (Auszug)346 In Mallarmés verknüpfender und doppelbödiger Leseart wird Schrift zur „Körpergeste [und] Schauplatz (theatròn) von Bewegung“347. So wie die Tänzerin durch den Hintergrund und den Lichteinfall in Szene gesetzt wird, 346 347 Mallarmé, Poésies-Prose, S. 473. Stricker, Text-Raum, S. 76. 96 ihre Bewegungen dadurch den Raum strukturieren und akzentuieren, sprich Orte und die Beziehung zu diesen ausweisen, wäre im Konzept der ‚écriture corporelle’ ebenso das Weiß der Textseite ein solcher Rahmen. Dazwischen läge eben dieser potenziell durch Bewegungen oder Handlungen veränderbare Raum. Neben diesem zweidimensionalen Text-Raum als Fläche erzeugt Schrift mit Wörtern auch einen rhythmischen Klangraum, welcher dem Bildlichen des weißen Raums und des Schriftbilds gegenübersteht. Nach Mallarmés Zusammenführung von Körper und Text im Zuge seines metaphorisch gebrauchten Tanzes als Schrift, zeugt ‚écriture’ demnach vom Ineinandergreifen und Erfahrbarmachen unterschiedlicher Räume (Bild und Schrift, Bewegung und Tiefe). Finter bezeichnet diese räumliche Konzeption als „Schrift in Bewegung als Spiel von Differenzen“348. Aus der Entwicklung dieser Linie moderner Texttheatralität leitet Finter schließlich ab, dass sich damit schlussendlich ein Ineinandergreifen von performativen und theatralen Elementen zugetragen habe, was zur flexiblen Umwandlung von Körper und Bewegung führte. Mallarmés Bezugnahme auf den Tanz als Kunstform, die nach beiden Komponenten ausgerichtet werden kann, wird ausgehend von einer ‚écriture corporelle’ so zum „Modell intermedialer Zeichenbewegungen.“349 „Die tänzerische Figur der ‚Arabeske’350 avanciert zum Inbegriff einer abstrakten sinnfreien Schrift-Literatur, die gleichsam als sachentbundene Bewegung der Zeichenenergie auf andere Medien übertragen werden kann.“351 Durch die Rückkoppelung an ihre eigene Körperlichkeit und Medialität entgeht die Schrift in Mallarmés Entwurf der ‚écriture corporelle’ der Falle, minderwertiger, repräsentativer Ausdruck der Sprache zu sein.352 Derart 348 Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 95. Ebd., S. 116. 350 Sowohl eine Figur des klassischen Balletts als auch eine graphische Figur, K.B. 351 Finter, Der subjektive Raum. Band 1, S. 116. 352 Vgl. Meyer, Intermedialität des Theaters, S. 99. 349 97 wird „Schrift [...] als Spur markiert, die als Verweisungs-Zug und semiotisches Geschehen auf dieses Geschehen selbst verweist im potentiell infiniten Verweisungsspiel.“353 Hans-This Lehmann nimmt die postdramatischen theatralen Formen, die sich auf die multimediale Ausgerichtetheit des Theaters besinnen, als direkte Nachfolger von Mallarmés szenographischer Poesie wahr. Nach Lehmann hat in der Tradition Mallarmés das Konzept der Szenographie vor allem jenen Strang in der postdramatischen Theaterpraxis seit den 70ern und 80ern geprägt, der sich vor allem am Visuellen orientiert und die logozentrisch bestimmte Texthoheit in den Schatten stellen will. Darin hätten vor allem a-verbale Elemente, die vor den Logos rücken, wie etwa Atem, Rhythmus, das Jetzt der körperlichen, physischen Präsenz, an Bedeutung gewonnen.354 Jene Entwicklung moderner Texttheatralität, die unter anderem die Unterwanderung der mimetischen Hierarchie Text und Inszenierung vorsieht, ist neben Mallarmés Visionen auch dem Vordenker Artaud geschuldet. Artauds Setzung des Körperlichen gegen die Repräsentation strebt danach, den Text zu öffnen und von einer Informationsübertragung oder Botschaft zwischen Sender und Empfänger abzusehen. Vielmehr geht es darum, die Hoheit und Logik, die vom Text ausgeht, zu unterbrechen und zugunsten jener Magie umzulenken, die von der Sinnlichkeit der Worte und nicht nur von ihrer Bedeutung und logozentrischen Ausrichtung ausgeht.355 So heißt es im Zweiten Manifest des Theaters der Grausamkeit: „Doch neben diesem logischen Sinn werden die Wörter in einem zauberischen, wahrhaft magischen Sinne aufgefasst werden – um ihrer Form, ihrer sinnlichen Ausstrahlungen und nicht bloß um ihres Sinnes willen.“356 353 Vgl. Meyer, Intermedialität des Theaters, S. 99. Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 159. 355 Vgl. Ebd., S. 261f. 356 Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin, Deutsch von Gerd Henninger, Frankfurt a.M.: Fischer 1986 (im Orig. Le Théâtre et son double. Le théâtre de Séraphin, Paris: Éditions Gallimard 1964), S. 134. 354 98 Auch Artaud plädiert in seinem Manifest für eine unmittelbarere Berührung des Zuschauers durch den Einsatz von sinnlichen Intensitäten, die „von einem Sinn zum andern, von einer Farbe auf einen Klang, von einem Wort auf eine Beleuchtung, [...]“357 übertragen und analog zur HieroglyphenSprache reine Präsenz werden sollen. Diese umfassende, hypnotische Theatersprache, „in der der Geist durch einen direkten Druck auf die Sinne angesprochen wird“358, vermöge die trennende Grenze zwischen Theater und Leben aufzuheben.359 5.2 Theater und Literatur als Orte kritischer Sprachpraxis Die Konzeption einer „Schrift jenseits repräsentationaler Konzepte“360, die die Entgrenzung und Erweiterung des eigenen Zeichensystems mithilfe intermedialer Wechselspiele anstrebt, ist eng mit der Rolle von Theatralität im strukturalistischen und poststrukturalistischen Schrift-Konzept nach französischer Theoriebildung der ‚écriture’ verknüpft. Darin ist Theatralität konstitutiv für eine Schreibweise, welche die Schrift mit der Materialität des Sprechens verknüpft und Theatralität als basales, der Sprache innewohnendes Element kultureller Bedeutungsproduktion ansieht. In diesem Kontext ist Roland Barthes’ Konzeption einer szenischen Semiotik oder Theatralisierung des Textes als Denk-Vorlage für eine kritische Sprachpraxis zu verstehen. Ebenso wird Julia Kristevas dekonstruktivistischer Ansatz von Verräumlichung im Sinne einer Rückführung der vom symbolischen Anteil dominierten Sprachbildung zum körperlichen Aspekt in der Subjektkonstitution näher ausgeführt. Damit sollen nützliche Rückschlüsse zu Goetz’ körperorientierten, subversiven ästhetischen Verfahren in der Schrift ermöglicht werden. 357 Antonin, Das Theater und sein Double, S.134f. Ebd., S.134. 359 Vgl. Ebd., S.135. 360 Stricker, Text-Raum, S. 62. 358 99 5.2.1 Barthes’ szenische Semiotik Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik knüpft an Mallarmés diskursive Denkform eines räumlich und körperlich konzipierten Schrift-Begriffes an. Nach Roland Barthes ist Theatralisierung der Sprache als Ausweitung und Entgrenzung von Zeichenhaftigkeit zu verstehen: „Qu’est-ce que c’est théatraliser? Ce n’est pas décorer la répresentation, c’est illimiter le langage.“361 Die Bühne oder Szene wird für Barthes Sinnbild und Paradigma für eine literarische Praxis, die sich nicht als „Korpus oder eine Folge von Werken“362 fassen lässt, sondern einzig aus der „auf die Sprache wirkenden Arbeit des Verschiebens“363 hervorgeht. Diesem Verständnis nach ist Theater also nicht nur „Ort der empirischen Realisierung von Literatur, sondern es ist selbst eine literarische Praxis“.364 Barthes, dessen szenisch bestimmte Semiotik als „Theorie produktiver Textkonstitution“365 fungiert, in der Text ein „Relationsgefüge“366 darstellt, unterscheidet deutlich zwischen Sprache und Literatur. Er sieht demnach die literarische Praxis als ein Tun, das Sprache ausstellt und so zum Gegenstand von Reflexion macht: „Weil die Literatur die Rede in Szene setzt, statt sie nur zu benutzen, bringt sie das Wissen in das Räderwerk der endlosen Reflexivität: durch die Schreibweise hindurch reflektiert das Wissen unablässig über das Wissen, entsprechend einem Diskurs, der nicht mehr epistemologisch, sondern dramatisch ist.“367 Diese Praxis des Schreibens, die Sprache zum Protagonisten eines Textes macht, weist aufgrund der doppelten Perspektivierung von selbstbezüglicher 361 „What is thatricalization? It is not designing a setting for representation, but unlimiting the language.” „Was heißt theatralisieren? Nicht die Repräsentation zu illustrieren, sondern die Redeweisen zu entgrenzen.“ „Hinweis: übers. von K.B.“ Barthes, Roland, Sade, Fourier, Loyola, Vorwort, übers. von Richard Miller, Baltimore: John Hopkins University Press 1976 (Orig. Paris: Éd. du Seuil 1971), S. 5f. 362 Barthes, Roland. Leçon. Lektion. Französisch und Deutsch, Antrittsvorlesung im Collège de France, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 25. 363 Ebd. 364 Birkenhauer, Schauplatz der Sprache, S. 125. 365 Stricker, Text-Raum, S. 58. 366 Ebd. 367 Barthes, Leçon. Lektion, S. 29. 100 Bezugnahme nach innen einerseits und Perzeption durch ein potenzielles Publikum nach außen andererseits, eine starke Analogie zum Theater auf. Barthes’ Rekurs auf das Modell Theater für seinen relationalen Literaturbegriff rückt ein anderes Verständnis von Literaturtheater abseits jener gängigen Auffassung von Theater als Umsetzung und Interpretation eines literarischen Werkkanons ins Blickfeld. In der Aufführungstradition eines der Umsetzung literarischer Stoffe verpflichteten Regietheaters gerät vielfach außer Acht, dass dramatische Rede nicht nur in Form von Dialog und gesprochener Rede auf der Bühne zum Vorschein kommt, sondern sie durch diese In-Szene-gerückte Schreibweise bereits grundsätzlich schon die Eigenschaft einer zur Schau gestellten Sprache impliziert. Deshalb ist nach Birkenhauer zu differenzieren „zwischen dramatischer Rede als szenischem Ausdrucksmittel“ [...] „und Sprache auf der Bühne als Sichtbarwerden, ‚Zutagetreten’ der Sprache selbst.“368 Sprache wird in der dramatischen Rede zur Darstellung von Inhalten benutzt und gleichzeitig wird jene Sprache in der Zurschaustellung und Rückkoppelung der Rede an die szenische Bewegung immer wieder als solche „überlistet“369 und „durchkreuzt“370. Zumal Sprache von sich aus Ort der „Unterwerfung und Macht“371 sowie „Stereotypie“372 ist, bewirkt ein Text als „Gewebe der Signifikanten“373 durch das „Spiel der Worte“374, dass die Stereotypie der Sprache „in ihrem Innern selbst bekämpft und umgelenkt“375 wird. Darauf macht Barthes 368 Birkenhauer, Schauplatz der Sprache, S. 125. Leçon. Lektion, S. 23. 370 Ebd. 371 Ebd., S. 21. 372 Ebd. 373 Ebd. 374 Ebd., S. 24. „[...] par le jeu des mots dont elle est le théatre [...]“ „Hinweis: übers. von K.B.“ 375 Ebd. 369 Barthes, 101 anhand der Rückbesinnung auf die Tradition der griechischen, attischen Tragödie aufmerksam: „Man kann sagen, dass die dritte Kraft der Literatur, ihre eigentlich semiotische Kraft, darin besteht, die Zeichen eher zu spielen als zu zerstören, das heißt, sie in eine Sprachmaschinerie zu bringen, deren Sicherheitsrasten und Sperrbügel aufgebrochen sind, kurz im Schoße der unterwürfigen Sprache eine Heteronymie der Dinge zu schaffen“ [Hervorh. im Orig. ].376 Diese Praxis, nach der Sprache einer kontinuierlichen Aktualisierung oder Revision unterzogen wird, versteht Barthes als „permanente Revolution der Rede“377. Daraus folgt, wie Birkenhauer konstatiert, dass „das Theater Ort der Literatur als […] Ort einer Sprachpraxis ist.“378 Die Verquickung der Zeichensysteme Theater und Literatur im Sinne einer Schreibweise oder Praxis von Sprache lenkt den Blick weg von Gattungsfragen und umso mehr auf mediale Wechselbezüge. Theater als Sprachpraxis im Sinne eines szenischen Sprachdenkens wird somit zum Ausdruck von Poetizität. Barthes’ szenisches Denken von Sprache eröffnet also insofern die Möglichkeit, die Konstellation des Theaters als poetische Sprachpraxis zu denken, als auf diese Art und Weise das Verhältnis von Subjekt, Sprache und Welt stets aufs Neue verhandelt wird. Indem die szenischen, raumzeitlichen Ausdrucksmittel des Theaters auf das Gesprochene einwirken und verschiedene Perspektiven auf Sätze und Sprache multipliziert werden, verschieben sich gegebenenfalls auch Bedeutungen und Konnotationen der Wörter.379 Auf das Verhältnis von Inszenierung und Text bezogen heißt das, dass Inszenierungen als Lektüren oder Schreibweisen die dramatischen Texte fortschreiben und sich infolgedessen auch der Blick auf diese Texte ändert. Auch in diesem Sinne sind Theater und Literatur eng miteinander verknüpft: 376 Barthes, Leçon. Lektion, S. 41. Ebd., S. 23. 378 Birkenhauer, Schauplatz der Sprache, S. 125. 379 Vgl. Ebd., S. 125f. 377 102 „Wenn Literatur ein in-Szene-Setzen der Rede ist, dann sind dramatische Texte wie Inszenierungen Ergebnisse einer fortgesetzten Praxis des Schreibens und Lesens.“380 In Anlehnung an diese Überlegungen Barthes’, die kenntlich machen, dass das Spiel der Zeichen als operativer Vorgang sowohl bei Literatur als auch Theater in Hinblick auf Sprache anzutreffen ist, wird noch einmal deutlich, dass auch Gattungszuordnungen wie etwa episch, lyrisch und dramatisch hinfällig werden. Diese seien lediglich verschiedene „Formen des Verschiebens“381, deren Wirkungsweise lediglich anhand eines analytischen Blicks aufs Detail im Bezugsfeld von Text und Inszenierung zu eruieren sei.382 5.2.2 Theatrale Dekonstruktion als Verräumlichung Die an Barthes’ anknüpfende, sprach- und kulturkritisch poststrukturalistische gebundene Theoretikerin Julia Semiotik Kristeva383 beschäftigt sich in ihrem Buch Die Revolution der poetischen Sprache mit den Mechanismen der Bedeutungskonstitution von Sinn und führt damit Barthes Indienstnahme von Theatralität als ‚écriture’, als Verfahren kritischer Sprachpraxis, fort. In ihren psychoanalytisch und feministisch geprägten literaturtheoretischen Ausführungen wird das Verfahren der Verräumlichung zur dekonstruktivistischen Methode, um logozentrisch bestimmte Herrschaftsverhältnisse zu durchbrechen. Nach Julia Kristeva sind Sinngebungsprozesse von zwei, in dialektischem Verhältnis zueinander stehenden Prinzipien geprägt, nämlich „dem Semiotischen“384 einerseits und „dem Symbolischen“385 andererseits. Sie 380 Birkenhauer, Schauplatz der Sprache, S. 127. Ebd. 382 Vgl. Ebd. 383 Culler, Jonathan, Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Reclam 2002 (im Orig. Literary Theory. A very short Introduction, Oxford: Oxford University Press 1997), S. 181. 384 Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung von Reinold Werner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978 (im Orig. La révolution du langage poétique, Paris: Éd. du Seuil 1974), S. 35. 385 Ebd. 381 103 begreift die Wortsprache als Zeichensystem, dessen grundlegende Konstitution stets beides, das Symbolische (begrifflich, einer statischen Ordnung entsprechend) und das Semiotische (nichtsprachlich, zeichenhaft) umfasst. Das Semiotische, das sie als Stadium der noch nicht erfolgten Ablösung von Kind-Mutter ansieht, sei jene „Modalität der Sinngebung, [...], in der das Sprachzeichen noch nicht die Stelle des abwesenden Objekts einnimmt und noch nicht als Unterdrückung von Realem und Symbolischem artikuliert“ 386 werde. Sie formuliert die These, dass die symbolische Funktion, die sie im Anschluss an Lacan mit dem Phallischen, Logozentrischen verbindet, auf der semiotischen Anordnung, die bereits biologisch vermittelt wurde, aufbaut.387 Im Laufe der Subjektkonstitution löse sich das Symbolische vom Semiotischen ab. So wie das Kind im Spiegelstadium durch das Gewahrwerden des „Anderen“388 durch das Bild (imago) im Spiegel eine „Raumintuition“389 entwickelt, verhält es sich analog dazu in der Sinngebung der Wortsprache anhand des Satzgefüges oder der Zusammensetzung eines Zeichens: „Die Setzung des imaginierten Selbst bringt die Setzung des Objekts mit sich, das seinerseits ebenfalls abgetrennt und bezeichenbar wird. Damit sind die beiden Trennungen vollzogen, die die Entstehung des Zeichens vorbereiten.“390 Schließlich vollende das Kind, indem es den Kastrationsvorgang durchläuft, den Abspaltungsvorgang von der Mutter, durch die Überführung von einer semiotischen Bewegung in eine symbolische. Dies führt letztendlich zur Subjektbildung.391 Dem sprachphilosophischen Entwurf Kristevas nach 386 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 37. Ebd., S. 40. 388 Ebd., S. 55. 389 Culler, Literaturtheorie, S. 55. 390 Ebd. S. 56. 391 Vgl. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 56. 387 104 wird so der Bruch zwischen Signifikat und Signifikant auch zur Spur für „die erste Zensur gesellschaftlicher Art“392. Laut Kristeva ist jedoch der verdrängte, semiotische Anteil der Sprache stets präsent und bedeutsam in Kommunikation und Alltagssprache geblieben. Er werde vor allem in der Kunst wieder offenkundig: „In den Praktiken der »Kunst« offenbart sich das Semiotische nicht nur als Bedingung des Symbolischen, sondern auch als dessen Aggressor; insofern gibt die Kunst auch Aufschluss über die Funktionsweise des Semiotischen.“393 Eine poetische Sprachverwendung weise durch den Fokus auf die semiotischen Aspekte auf diese reziproke Beziehung hin und hole diesen unbeachteten Anteil „der semiotischen chora im Apparat der Sprache“394 wieder hervor.395 Somit kann resümiert werden, dass Kristeva im Sinne einer Unterwanderung der statischen Sprachverwendung argumentiert, zumal diese nichtsprachliche Aspekte außer Acht lasse und folglich Sprachentwicklungen verhindere. Im Gegenzug dazu eröffne die Besinnung auf die körperlichen oder sinnlichen Anteile von Sprache einen Gegenpart zum Symbolischen. Dies würde damit auch die Rückgewinnung einer vernachlässigten Qualität von Sprache bedeuten, die in einem vorsprachlichen Stadion noch das Unbewusste, Triebhafte und Körperliche umfasste, bis sich der Logos als Kontrollinstrument und Ausdruck paternalistischer Begriffssprache dagegen durchsetzte. Lehmann resümiert im Anschluss an Kristevas Theorie einer Zusammenführung dichotomer Sprachwurzeln zugunsten der Aufwertung jener sinnlich und triebhaft verankerten Anteile der Sprachprägung des Menschen, dass der Prozess, bei dem Sprache einer „poetische[n] oder 392 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 57. Ebd., S. 59. 394 Ebd. 395 Vgl. Ebd., S. 60. 393 105 theatrale[n] Dekonstruktion“396 unterzogen wird, der Öffnung und Erschließung eines Raumes gleichkommt: „In einem solchen Zeichenprozess quer durch die Setzungen des Logos hindurch geschieht nicht seine Destruktion, sondern seine poetische – hier: Theatrale – Dekonstruktion.“397 Damit wäre die theatrale Dekonstruktion als Wiedererschließung „eines Raums und einer Rede ohne Telos, Hierarchie, Kausalität, fixierbaren Sinn und Einheit“398 zu denken und könnte somit das Semiotische als Widerpart zum „logisch-ideologischen Identitätszwang“399 hervorheben. Eine dekonstruktivistische Sprachpraxis, die im Zeichen der „Restitution von Chora“400 im Sinne Kristevas steht, ist vor allem in einem den historischen Avantgarden verpflichteten Theater zu erkennen, so Lehmann. Sprache erfahre darin, wie alle Elemente des Theaters, eine „DeSemantisierung“401. Anstelle von Dialog werde „Vielstimmigkeit“402 angestrebt. Der Sinnzerfall und die Überlappung von Perspektiven oder Stimmen erfüllen hier also auch den bestimmten Zweck, machtinhärente Aspekte von stereotypischen Sprachverwendungen auszustellen. Dies schließt wiederum an Barthes’ Überlegungen zur semiotischen Kraft poetischer Sprachverwendung an, die die „enkratische Sprache“403, die Sprache der Stereotypie, die „unter dem Schutz der Macht steht“404, anhand von Verfahren, wie etwa der Durchkreuzung, Ver- und Aufschiebung oder Ab- oder Umleitung, zu unterwandern versucht. 396 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 262. Ebd., S. 263. 398 Ebd. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 402 Ebd. 403 Barthes, Die Lust am Text, S. 62. 404 Ebd. 397 106 5.3 Fazit In diesem Kapitel wurde versucht aufzuzeigen, dass Theatralität als Beschreibungskategorie im Zeichen der historischen Avantgarden für einen Entwurf steht, der sich über die Grenzen von Zeichensystemen hinweg setzt. Anhand des Sprachvisionärs Mallarmé, der mit seiner Konzeption einer körperlichen, gestischen Schrift als Vorreiter der Concept Art405 gelten kann, sind wesentliche Aspekte jener Konzeption von Texttheatralität bereits enthalten, die die französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten in ihren sprach- und subjekttheoretischen Überlegungen fortführen. Die Schriftphilosophie französischer Theoriebildung hat die écriture als subversive Sprachpraxis weitergedacht, welche eine Aufwertung der Schrift als Szene und Zurschaustellung für Sprache vorsieht und hat damit auch den Konnex zwischen Literatur und Theater erneut etabliert. Von Roland Barthes’ szenisch aufgebauter Denkpraxis von Sprache und Sinngebungsprozessen ausgehend wurde aufgezeigt, dass die theatrale Nutzung der Signfikanten auch eine poetische und auch dekonstruierende Praxis ist, die Sprache einer stetigen Revision unterziehen und einer auf der Dominanz des Logos gebauten Sprachpraxis entgegenwirken soll. Aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Inanspruchnahme von Barthes’ szenischen Sprachfiguren wird Theatralität zum Sinnbild für die Dynamisierung zwischen Sprache und Denken. Für Barthes’ leserzentrierte Theoriebildung kommt das Theatrale auch als Metapher oder Denkform für das Wechselspiel von Produktion und Rezeption zum Tragen, nach dem sich Sinn und Bedeutung erst im Akt der Lektüre ergeben. Text und Sprache werden hier als Kommunikationsmodell gedacht, das generell schon ein 405 Stricker, Text-Raum, S. 78. 107 mediales Element beinhaltet, d.h. einen potenziellen Leser und somit auch eine Lektüre als Teil der Produktion bereits impliziert.406 Angelehnt an Roland Barthes’ Konzept der Szenographie und seiner Kontextualisierung des Theatralen als kulturellem Dispositiv407, entdeckt eine Münchner Forschungsgruppe Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft wieder. Im Sammelband Szenographien wird für eine Revision von Sprach-, Literatur und Texttheorie zugunsten einer erneuten Annäherung der abgekoppelten Sphären einer literarischen Textkultur und einer theatralen, körper- und bewegungsorientierten Kultur des Performativen plädiert.408 Entgegen der Tendenz seit dem performative turn, den Text von der Theatralität zu lösen und anstelle dessen die Bewegung des Körpers zum zentralen Bezugspunkt zu machen, wird Theatralität „als Praxis der Bedeutungsproduktion propagiert, die als ein dynamisches Muster der Sprache selbst innewohnt“409. Es geht also darum, die Diskurse Text und Theater wieder zu koppeln und Theatralität als der Sprache innewohnendes Element zu verorten, das „Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis“410 prägt. Sprache wird demnach als „Zeichentheater“411 aufgefasst, das ebenso wenig repräsentativ sei, wie das Schauspiel auf der Bühne. Dieser Konzeption nach, können „Produktion und Rezeption von Sinn [...] erst im Rahmen einer genuin szenischen Struktur gelingen“412. Aus dieser Sicht wird Theatralität als 406 Vgl. Wildgruber, Gerald, „Die Instanz der Szene im Denken der Sprache“, in: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Hg. Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber, Freiburg im Bresgau: Rombach 12000, S. 3563, hier S. 53. Wildgruber weist darauf hin, dass sich Barthes’ späterer Theatralitätsbegriff von seinem früheren Verständnis von Theatralität als alles nicht-Sprachliche abweicht; ab S/Z (1970) verstehe Barthes darunter ein Spiel mit Logik vom Intellekt ausgehend. Vgl. Ebd., S. 52f. 407 Vgl. Neumann, „Einleitung“, S. 24. 408 Ebd., S. 11. 409 Ebd., S. 13. 410 Vgl. Ebd. 411 Ebd., S. 14. 412 Wildgruber, „Die Instanz der Szene im Denken der Sprache“, S. 46. 108 körperliche, räumliche und interaktive Anordnung zum verbindenden Faktor, zum Tertium Comparationis, im Zusammenspiel von sprachlicher Konstellation, kulturellen Repräsentationsmustern Sinngebungsprozessen. 109 sowie 6 Texttheatrale Formen und Strukturen im Stück Jeff Koons Nachdem im vorigen Kapitel Texttheatralität als körperliche Schreibweise und sprachkritische Methode der Verräumlichung konzeptualisiert wurde, soll nun das Stück Jeff Koons dahingehend befragt werden. Es sollen konkrete Formen und Strukturen dieser ‚écriture’ im Sinne von poetischen Verfahren der Verräumlichung Vernetzung, anhand der Überlagerung, Textanalyse Durchkreuzung herausgearbeitet und werden. Ausgehend von der Diskursanalyse rund um den zeitgenössischen Kunstkontext und den Künstler Jeff Koons sollen im Laufe der Textanalyse rhetorische Figuren und sprachliche Verfahren innerhalb des Stücks herausgearbeitet werden, die heterogene Formen und Ebenen theatraler Strukturen herstellen. Dies umfasst all jene intertextuellen Strukturen und intermedialen sowie performativen Verfahrensweisen, welche sowohl potenziellen theatralen Tauschwert für Performativität und Körperlichkeit auf der Bühne besitzen als auch durch die texttheatrale ‚Inszenierung’ sich selbst als Spiel der Zeichen in der Schrift zur Ansicht oder ‚Aufführung’ bringen. 6.1 Intertextuelle Verweise An intertextuellen Verweisen des Stücks, die Kontexte außerhalb des Stücks aufrufen, lassen sich zum einen explizit jene ausmachen, welche als Zitate den Akten vorangestellt sind und so als Mottos fungieren; zum anderen gibt es auch indirekte intertextuelle Bezüge anhand von Anspielungen im Text, die auf außertextliche Referenten und Diskurse mehr oder weniger deutlich verweisen. 110 Im Fall vom 1. und vom 6. Akt, die beide im Club („Palette“) spielen, ist dies jeweils der Titel eines Kunstwerks des Künstlers Jeff Koons: Im chronologisch 1. Akt ist es der Titel des Kunstwerks „Saint John the Baptist, New York 1989“413 und im Fall des 6. Akts die Nennung des Werks „Hand on Breast, 1990, 244 x 366“414. Dem 2. Akt geht ein Zitat aus dem Pop-Lied „Frozen“ von Madonna voran: („mmm hm, hm hmmm / if I could melt your heart“415), der 3. Akt wird mit einem Zitat von Brecht („ist der Blick in eine schöne Gegend, Freund, Freund, Freund“416) eingeläutet, der 4. Akt mit einem Zitat des von Goetz bewunderten Architekten Richard Meier („it had the aura of a polemically creative place“417); der 5. Akt mit einem Zitat von Andy Warhol und Pat Hackett („to anyone who ever invited us anywhere“418) und der 7. Akt mit einem Buchtitel des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun („Auf überwachsenen Pfaden“419). Neben Mottos und Titel ist augenscheinlich, dass sich am meisten Anspielungen und Referenzen zum Künstler Jeff Koons sowie der Genese und dem Kontext von zeitgenössischer Kunst ergeben. Dem entspricht auch die Tatsache, dass alle ausgewiesenen Orte der Akte bis auf den 3. Akt, der sich vor dem Club, der Palette, bei den „GEBÜCKTEN VOM GÖRLITZER BAHNHOF“420 abspielt, nicht nur szenische Settings bezeichnen, sondern 413 Goetz, JK, S. 13. Ebd., S. 133. 415 Ebd., S. 35. 416 Ebd., S. 55. Das vollständige Zitat lautet: [Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen wurde], „ist der Blick in eine schöne Gegend, Freund, Freund, Freund.“ Das Brecht’sche Zitat gilt als Parole für die von Brecht und Rosa Luxemburg propagierte marxistische Haltung eines widerständigen Arbeiterproletariats und stammt aus dem fragmentarischen Werk von Bertolt Brecht über Rosa Luxemburg mit dem Titel ½frau lübeck von 1952. Siehe o.A., ZEIT ONLINE, http://www.zeit.de/1997/37/Bertolt_Brecht_%C2%B4frau_luebeck_, Stand: 05.09.1997, 05.01.2016. Das Zitat hat beispielsweise auch der Aktionskünstler Christoph Schlingensief im Rahmen des Wahlkampfes für seine Partei Chance 2000 als Parteihymne verwendet. Vgl. Schlingensief, Christoph, Homepage, o.A., http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t024, 05.01.2016. 417 Goetz, JK, S. 71. 418 Ebd., S. 107. 419 Ebd., S. 153. 420 Ebd., S. 57. 414 111 zugleich auch Hinweise liefern, die mit dem Sujet der Kunstproduktion, der Kunst von Jeff Koons oder einer Künstlerszene zusammenhängen: III. „Palette“421: Damit ist wohl der berühmte Künstlertreff in Hamburg gemeint, in dem Goetz sich mit seinen Freunden traf; I. „IM BETT“422: II. Vermutlich eine Anspielung auf Jeff Koons und seine Fotoserie Made in Heaven (1989) II. „DIE FIRMA“423: Möglicherweise Andy Warhols Factory IV. „DIE ERÖFFNUNG“424: Eine Vernissage in einer Galerie V. „DAS BILD“425: und dessen einzige Szene lautend auf „Vision“426: Spielt auf den abgeschlossenen Prozess des Kunstwerks und dessen Betrachtung an Diese Referenzen verknüpfen die Thematiken und Diskurse, auf die das Stück Bezug nimmt: Auf den Künstler Jeff Koons und allgemeiner auf den zeitgenössischen Kunstkontext, in dem die erfolgreichsten gegenwärtigen Künstler, wie etwa Jeff Koons oder Damien Hirst, die Verzahnung von Kommerz und Kunst in der Tradition Warhols potenzieren und international ihr Image als erfolgreiche Selbstunternehmer des gegenwärtigen Zeitgeists etabliert haben. Gleichzeitig geht es um Kunstproduktion an sich und implizite Sozialkritik — Dauerthemen bei Goetz. Er selbst steht dem Zirkel bildender Konzept- und Popkünstler rund um Albert Oehlen und Martin Kippenberger nahe. Sie teilen die Beschäftigung mit dem Populären und der 421 Goetz, JK, S. 15. Ebd., S. 37. 423 Ebd., S. 73. 424 Ebd., S. 109. 425 Ebd., S. 155. 426 Ebd. 422 112 Position des Künstlers in der Gesellschaft. Die Tatsache, dass das Stück aus sieben Akten besteht, weist neben dem Titel („Vision“) der einzigen Szene im Akt Nr. 7 zum einen auf die Erschaffung der Welt im Alten Testament hin und zum anderen auf die Vision als Gottesschau, als göttliche Voraussicht und Vorstellung. Der Bezug zum zeitgenössischen Pop-Künstler Jeff Koons ist sowohl explizit als auch indirekt durch den Text gegeben und scheint am ergiebigsten als Assoziations- und Diskursfläche für das Stück. Der Exkurs zum zeitgenössischen Kunstkontext durch Jeff Koons soll zum einen Rückschlüsse zu Goetz’ Pop-Positionierung beziehungsweise Kunstbegriff zulassen und zum anderen den Anlass für Goetz’ intermediale und performative Verfahren der Übersetzung von bildlicher Pop-Kunst in Sprache als Text nachvollziehbar machen. 6.2 Exkurs: Jeff Koons und die kommerzielle Künstlerromantik – ein dunkles Pop-Märchen War Goetz in den Achtzigern noch Anhänger der Subkulturen Punk und Rave, vollzieht er in den Neunzigern die Kehrtwende zum MainstreamTechno und der Pop-Art Koons‘. In Kronos (1993) schreibt er: „Ich glaube meine Ethik hat die Gestalt der Kunst von Jeff Koons: (intersubjektiv objektiver Idealrealismus“)427. Der amerikanische Künstler ist „lebende[r]Vertreter Andy Warhols auf Erden“428 in den Neunzigern, so Goetz. Koons ist gegenwärtig einer der international erfolgreichsten und höchstdotierten Künstler, dessen Name für die höchst erfolgreiche Verschränkung von Kunst und Kunstmarkt steht. Nach Philipp Ursprung, für den Strategie der Schlüsselbegriff der Kunstdiskurse der 80er Jahre ist, 427 428 Goetz, Rainald, Kronos. Berichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 374. Goetz, Abfall für alle, S. 258. 113 ist das Oeuvre von Koons so angelegt, dass es trotz Variation aufgrund von wiederkehrenden, oftmals privaten Motiven, seiner Monumentalität und seinem Hang zum Kitsch sofort erkennbar ist. Koons richte seine Kunst nach den Erwartungen einer intellektuell anspruchsvollen Kunstszene aus, indem er sich als Kenner der Rhetorik und Inhalte der akademischen Kunstdiskurse zu erkennen gibt; gleichzeitig ist seine Kunst aber auch massentauglich rezipierbar und lässt die Grenzen zur kommerziellen Werbeindustrie in warholscher Manier verschwimmen.429 Die gängige und lukrative Strategie der limitierten Auflage verfolgt auch Koons, sodass seine seriell gefertigten Kunstwerke Gemäldepreise erzielen können. Der Künstlerstar der Kunstszene der 1980er- und frühen 1990er Jahre gilt als geschickter Provokateur, der sich selbst, seine Biographie und sein Werk zu einer Marke etabliert hat.430 Seit den 70ern seien die Motive „Außenhaut“431 und „Spiegelung“432 zentral bei Koons gewesen, wie seine aus der Popkultur bezogenen aufblasbaren Figuren mit makelloser Oberfläche suggerieren. Die Selbst-Inszenierungen mit deutlichem Hang zum schrillen Kitsch sind genauso wie seine Bezugnahmen zu Ikonen und Mythen der Gegenwart sowie kunsthistorischen Traditionen, fixe Bestandteile seines Schaffens.433 Was das Bildrepertoire angeht, orientiert er sich vor allem am Kontrastreichtum des Barock und den verspielten Formen des Rokoko. Nach Marcel Duchamp und Andy Warhol führt er das Vermächtnis der Verschränkung von Objekten aus der Alltags- und Populärkultur mit dem Kunstkontext fort.434 Auf die Frage, weshalb Goetz 429 Vgl. Ursprung, Philipp, Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute, München: C.H. Beck 2012 (Orig. 2010), S. 69. 430 Vgl. Weiss, Christina/Peter-Klaus Schuster, „Vorwort“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 08.02.2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 9. 431 Ursprung, Die Kunst der Gegenwart, S. 62. 432 Ebd. 433 Vgl. Ebd. 434 Vgl. Hüsch, Anette (Hg.), „Archetypen zum Überleben. Oder wie die Kunst trösten kann“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche 2 114 Koons und nicht Warhol als Ausgangsfläche gewählt hat, kommentiert der Pop-Literat: „Warhols Kunst handelt von Depression, Arbeitslosigkeit, Armut, der großen Weltkrise der 30er und 40er Jahre. Von der von da her bestimmten Sehnsucht nach Glamour und Frieden. Warhola: Die Krieg-Holerin, das Loch. Jeff Koons schlägt die Augen auf, da ist alles schon in Ordnung. Er spricht von der Abgründigkeit, aber aus der Perspektive des Glücks. Das ist der Blickwinkel von 1962 bis 1991.“435 Mit der „Perspektive des Glücks“ könnte die Tatsache gemeint sein, dass Jeff Koons vor dem Hintergrund der steigenden Prosperität nach der wirtschaftlichen Stagnation in den 70ern sein privates Liebesglück mit dem Pornostar Illona Staller nach außen zelebriert und zur Kunst erhebt. Koons ist anerkannter Künstler und zugleich erfolgreicher Geschäftsmann und entspricht damit jener aufstrebenden Generation der in den USA und Großbritannien bezeichneten Yuppies in den 80er Jahren, den Vertreter*innen einer jungen, großstädtischen, karrierebewussten oberen Mittelschicht. In den 80er Jahren führte die Politik Margaret Thatchers und Ronald Reagans (Thatcherism und Reagonomics) aufgrund der Deregulierung von Märkten und der Privatisierung staatlicher Betriebe zu einer ökonomischen Prosperität von der vor allem die Oberschicht profitierte. Diese investierte den neuen Reichtum in Kunstwerke und entdeckte Kunstwerke als Kapitalanlage. Aufgrund der enormen Potenz der Kaufkraft wurde der Kunstmarkt zunehmend spekulativ und Kuratoren mussten dadurch immer schneller auf den Geschmack einer sichtbar einflussreichen Szene von Sammlern, Museumtrustees und Händlern reagieren. Neue Galerien schossen wie Pilze aus dem Boden und kurzlebige Turnusausstellungen sollten schnell neue Trends generieren, um der finanzkräftigen Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 08.02.2009, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 35-49, hier S. 36. 435 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, Goetz im Gespräch mit Wolfgang Huber-Lang, (Orig. Erstabdruck in: Format, Österreich, 17.04.2000), S. 138-141, hier S. 138. 115 Besucherschaft auf den konkurrierenden Kunstmessen in Köln und Basel, Paris, Madrid und London immer wieder neue Kaufanreize zu liefern.436 In diesem Klima glichen sich Finanzwelt und Kunstwelt immer mehr an: Wenige Themen und Protagonisten gaben den Ton an und bestimmten wer top und wer Flop war in rasanter und unberechenbarer Art und Weise. Damit hat sich auch das Bild der Künstlerfigur gewandelt: „Bis in die 1950er Jahre war das Image der Künstler, ob es sich um Bohemiens oder Malerfürsten handelte, dasjenige von Produzenten, die sich außerhalb der herrschenden Ökonomie befanden. Im Lauf der 1960er und 1970er Jahre hingegen verschmolz der symbolische Wert eines Kunstwerks allmählich mit dem Marktwert. Seither können Künstler nicht mehr auf die Nachfolge hoffen, die ihren Wert entdecken wird, so wie einst Van Gogh. Ebenso wie es kein räumliches Draußen mehr gibt, so gibt es kein zeitliches Danach mehr.“437 Die im Zitat angesprochene Raum- und Zeitlosigkeit ist charakteristisch für einen Prozess, der die Entwicklung der Globalisierung in Folge des neoliberalen Siegeszugs vom Spätkapitalismus der 1970er und 1980er zum ‚Empire’ ab den 1990ern abzeichnet. In der gleichnamigen Publikation entwarfen Michael Hardt und Antonio Negri das Konzept des Empire, wie Ursprung resümiert, als „weltumspannendes Reich, in dem räumliche und zeitliche Grenzen aufgehoben waren, die Geschichte zu stagnieren und die Welt stillzustehen schien.“438 Kennzeichnend für diese Entwicklung hin zum Informationszeitalter war der Übergang von materieller zu immaterieller Arbeitsleistung in der Nachkriegszeit sowie die zunehmende Technologisierung der Unternehmen, der Kommunikation und Medien, was einen allumspannenden, vernetzten Kapitalismus entstehen ließ. Nach den Beobachtungen des Journalisten David Brooks gingen diese Entwicklungen auch mit der Entstehung einer neuen sozialen Elite einher, die er als ‚Bohemien Bourgeoise’ oder kurz 436 Ursprung, Die Kunst der Gegenwart, S. 61. Ebd., S. 62. 438 Ebd., S. 9. 437 116 „Bobos“439 bezeichnet; in ihr würden sich bürgerliche Werte und unkonventioneller Lebensstil der Bohème verbinden. Vor allem steht diese neue Klasse für den neuen Zeitgeist nach 1990, in dem die Kluft zwischen einem Innen und Außen, einem Pro und Contra gegenüber etablierten Werten und Systemnormen zunehmend schwindet, da auch Kreativität und Kultur vom kapitalistischen Prinzip der Verwertbarkeit vereinnahmt werden. Die abnorme Künstlerbiographie und das Künstlerprinzip des Strebens nach Selbstverwirklichung sind zum Allgemeinort geworden. Der Künstler, der noch wenige Jahre zuvor die Verkörperung des Randständigen und Exzentrischen gewesen war, rückt nun als Identifikationsfigur ins Zentrum. Stararchitekten und Künstlerstars scheinen etwas zu verkörpern, wonach unersättliche Nachfrage besteht, nämlich Anteil zu haben am „Realen“440, an der „Präsenz“441, am „Ereignis“.442 Aus dieser Sicht unterscheidet sich das Künstlertum kaum noch von der hedonistischen, jugendlichen Szene der gebildeten, urbanen Bobos in Lebensstil und Positionierung zur herrschenden Ordnung. An einem Wochenende pendelt der Künstlertyp im Stück von Goetz zwischen den Orten Club (auch ein Verweis auf die aufkommende Club- und Technoszene in den 80er Jahren, vor allem in Berlin), Atelier, Bett und Galerie hin und her, was genauso gut auch den Lebensstil des erfolgreichen Bankmanagers, der erfolgreichen PR-Frau oder eine gut situierte, 439 Brooks, David, Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There, New York: Simon & Schuster 2000, S. 10. „I found that if you investigated people’s attitude towards sex, morality, leisure time, and work, it was getting harder and harder to separate the antiestablishment renegade from the pro-establishment company man. [...] So the people who thrive in this period are the ones who can turn ideas and emotions into products. These are highly educated folks who have one foot in the bohemian world of creativity and another foot in the bourgeois realm of ambition and worldly success. The members of the new information age elite are bourgeois bohemians. Or, to take the first two letters of each word, they are Bobos.“ 440 Ursprung, Die Kunst der Gegenwart, S. 103. 441 Ebd. 442 Ebd. 117 ambitionierte Studentin hier nachzeichnen könnte, der/die in der Freizeit in der Szene bei angesagten Events, Partys oder Theaterpremieren netzwerkt, zahlreiche Praktika und Hospitanzen absolviert und nebenbei das Studium erfolgreich in Mindestzeit abschließt. Dass die Kunst aber noch nie wirklich fernab vom Markt agiert hat und das Künstlertum sich schon immer nach dem Geschmack und der Gunst seiner Mäzene richten musste, merkt Goetz im 5. Akt des Stücks an: „Vor vielen Jahren / lange ist es her / ein Künstlerglück / von solchen Graden / daß der König sagte / schafft mir diesen / Künstler her / ich will ihn sehen / will ihn mieten / fragen / was er denkt / und macht / wie er / die Welt sieht / solche Sachen / [...] und es geschah natürlich / wie der König befohlen / der Künstler / ward herbei gebracht“443 Die repressiven Zwänge und Abhängigkeiten des Künstlers am Hofe und die dargestellten Motive der Kunstförderung zum Zwecke der verschönernden Selbstdarstellung sind zwar heute neben anderen Motiven noch durchaus aktuell in Hinblick auf zeitgenössische Kunstsammler, wenn man an Global Player der Sammlerszene, wie etwa Charles Saatchi, denkt. Dennoch sind die Zeiten der Abhängigkeiten eines isoliert lebenden Künstlerglücks bei Hofe längst vorbei: Galt Goethes paradigmatischer Hofdichter Torquato Tasso als Inbegriff für den Künstler im Zwiespalt mit der gültigen Ordnung, ist ein Künstlersubjekt, wie etwa Jeff Koons, der den Status Quo als erfolgreiche Ich-AG propagiert, gegenwärtig selbst zur gültigen Ordnung geworden. Das romantische Bild des Künstlers, der sich außerhalb befindet und das Andere repräsentiert, musste aufgrund der durchdringenden Ökonomisierung weichen und ist nun von ihr selbst durchdrungen. Diedrich Diederichsen zufolge gehört im Zeitalter der durchgängigen Ökonomisierung aller Teilbereiche des Lebens und der engen Verflechtung von „Attraktion, Medium und Kritik“444, sogar die bittere Erkenntnis des Warencharakters von Kunst bereits einer längst 443 444 Goetz, JK, S. 110. Diederichsen, Eigenblutdoping, S. 264. 118 vergangenen Künstlerromantik an.445 Anders formuliert, wusste Torquato Tasso bei Goethe noch genau, gegen wen er sich auflehnt und worin seine Abhängigkeit besteht, ist das von repressiven Zwängen freie Künstlersubjekt im postmodernen, postdemokratischen Zeitalter des anything goes völlig seiner eigenen Begrenzung und Bestimmung überlassen. Goetz kritisiert diese trügerische Freiheit in Jeff Koons: „Abstrakt gesagt: wo steht der Künstler momentan? / Irgendwo wohl, oder, klar, Da, mitten drin, am Rand vielleicht, / vielleicht auch in der Mitte, ganz egal. / Der Witz ist, seine Position ist völlig frei. / Noch nicht einmal die Kunst bestimmt die Stelle, / wo der Künstler steht. / [...] Er kann im Kino stehen, im Pop, / er kann sich soziologisch orten, literarisch, / oder in der Tradition des Neuen, er kann in alle / Richtungen den Kunstkontext verlassen haben, / er kehrt dorthin zurück / nach komplett eigener Bestimmung. / Und trägt mit dieser Freiheit / nur eines noch als letzte Last, / die Position des Einzelnen dem Ganzen gegenüber, / das ist das Tolle dieser neuen Position.“446 Die vermeintlich gewonnene Qualität der freien Selbstbestimmung ist gleichzeitig also auch Kennzeichen für eine (Künstler)-Generation in der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sogar zum Preis der Prekarität verfolgt werden. Dementsprechend erzeugt dieses System auch Verlierer, die auf diesem Weg auf der Strecke bleiben, jedoch wird ihr Scheitern in diesem Kontext zum selbstverschuldeten Ergebnis. Goetz spricht von realsozialen Bereichen der Ein- und Ausgrenzung bereits in Hirn, Krieg sowie in Abfall für alle und Festung. Seine Kritik bezieht sich zumeist insbesondere auf jene meinungsbildenden gesellschaftlichen Orte, wie etwa mediale Institutionen, die das System Gewinner/Verlierer förderten und „Institutionskriecherlein-Existenzleins“447 ausbildeten, die „von Geburt an gewissermaßen auf der richtigen Seite des Leben stehen“448, so Goetz. In Jeff Koons fungiert die Kritik an der zeitgemäßen Verfasstheit des Systems von „Gewinnern und Verlierern“ vorwiegend als konkreter gegenwärtiger Hintergrund, der nicht nur den Kunstbetrieb mit seinen 445 Diederichsen, Eigenblutdoping, S. 69. Goetz, JK, S. 117f. 447 Goetz, Hirn, S. 41. 448 Ebd. 446 119 prekären Arbeitsbedingungen, sondern die gesamte Gesellschaft nach und nach erfasst hat. Erfolg und Nicht-Erfolg ist in der demokratischen Multioptionsgesellschaft, in der die selbstbestimmte Lebensgestaltung nach eigenen Wertvorstellungen und Bestrebungen suggeriert wird, eine Frage der Eigenverantwortung geworden. Das Motto „Der Gegner ist meistens man selbst“449, denn „auch du [...] [kannst] das Beste aus deinem Typ machen“450, suggeriert, dass es eine Einstellungssache und Frage des Willens ist, ob man zu den Gewinnern oder Verlierern gehört, also gesellschaftlich drin oder draußen steht. Demnach wird die Begeisterung für die Selbstoptimierung zum Richtmaß für Glück und zum kategorischen Imperativ. So heißt es in Gewinner und Verlierer von Goetz: „Jeden Morgen / Be A Success. Ein Letzter Wahrer Held Der Arbeit sein. Die neuen richtigen Fehler neu und mutig machen, Korrektur, Korrektur, Korrektur der Korrektur. Klug sein, glücklich sein, Spaß haben. [...] Die Schwäche erkennen, bekämpfen.“451 Der These Zygmunt Baumanns nach ist dieses eifrige Streben nach Glück durch die Tatsache des latenten Imperativs von „du musst ein anderer werden“452 kein Akt der freien Selbstbestimmung, sondern „universelles Schicksal“453. Wenn also das moderne und freie Subjekt an Autonomie dadurch gewonnen hat, dass es sich seiner Selbstbestimmung über das Leben bewusst wurde, heiße das nicht automatisch, dass dies immer umsetzbar sei, wie in der Konsumgesellschaft jedoch verhießen wird, argumentiert Baumann weiter.454 Die Last der Eigenverantwortung des Einzelnen am Beispiel des paradigmatischen Menschen, dem Künstler, ist auch in Jeff Koons ein Leitmotiv. Wie und ob sich ein Subjekt in der Gegenwart konstituieren kann, bildet den Hallraum rund um den Künstler 449 Goetz, Hirn, S. 54. Ebd., S. 55. 451 Ebd., S. 56. 452 Bauman, Zygmunt, Wir Lebenskünstler, aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin: Suhrkamp 12010 (im Orig. The Art of Life, Cambridge: Polity Press 2008), S. 125. 453 Ebd., S. 92. 454 Vgl. Ebd., S. 126. 450 120 Jeff Koons, der als Inkorporation eines Zeitgeistes auch eine populäre Kultur wiederspiegelt: „Eine der Ideen war auf jeden Fall, dass man für die tragische Weltlage des hochmodernen Menschen eine Theaterform findet. Tragisch insofern, als man sich heute für sein gesamtes eigenes Leben verantwortlich fühlt. Auf jedem Einzelnen lastet total die Produktionsverantwortung für Kultur als Gestaltung des Lebens….Ende des 20. Jahrhunderts war diese Auflösung (des bürgerlich Gesellschaftlichen) radikal fortgeschritten: Jeder steht dem Ganzen gegenüber alleine da.“455 Demnach korrelieren Zeitgeist und Künstlertum in der postfordistischen, auf Projektarbeit, Networking und „Pseudoindividualität“456 basierten Rankingund Castinggesellschaft in der sich jeder, inklusive dem Künstlersubjekt, so Goetz, in „die Position des Einzelnen dem Ganzen gegenüber“457 begeben muss. Jedenfalls wird in diesem zeitgemäßen Szenario Misserfolg und Durchschnittlichkeit dem Individuum als Manko an Willen zur Selbstoptimierung zugerechnet und zugleich das Streben nach Glück zum Imperativ. 6.3 Die Verschränkung von Pop, Koons und Kunst im Stück Nachdem im vorangegangenen Kapitel Eckpunkte der Diskursfläche rund um den erfolgreichen Künstler Jeff Koons, Ursachen und Folgen eines spekulativ gewordenen Kunstmarktes und den Zeitgeist der Selbstvermarktung markiert wurden, soll nun aufgezeigt werden, wie Goetz mit diesen Voraussetzungen konkret im Stück umgeht. Einerseits nutzt er die nur vermeintlich unterschiedlichen sozialen Sphären als metaphorische Reibungsflächen für die sich abzeichnenden Konflikte während der Genese von Kunst bzw. Text; andererseits stellt der Bezug zum Diskurs Koons und Kunst anhand der Verweise zu seinen Werken und seiner Biographie im 455 Goetz, Rainald im Gespräch mit den Falter-Redakteuren Sebastina Fasthuber und Wolfgang Kralicek, „Das Ding sollte knallen“, Falter-Interview von 27.4.2000, zit. nach Windrich, Technotheater, S. 403, Fußnote 799. 456 Diederichsen, Eigenblutdoping, S. 255. 457 Goetz, Hirn, S. 117f. 121 Stück selbst auch einen Kommentar sowohl zu Koons’ Pop-Kunst als auch zur gegenwärtigen populären Kultur dar. 6.3.1 Soziale Grauzonen: Künstlertum und Prekariat Der Hallraum Jeff Koons lässt sich also in Bezug auf Goetz’ Stück auf mehreren Ebenen orten. Einerseits stellt Goetz Koons als paradigmatischen Künstler der sowohl das „Modell eines freien Unternehmers“458 als auch den Künstler als „Inbegriff des Verrückten“459 darstellt und im Laufe seiner Künstlerbiographie die Kurzlebigkeit von Erfolg am Kunstmarkt aufgrund der wechselhaften Launen seiner spendablen Käufer und Gönner (beispielsweise Charles Saatchi) kennenlernte. Im Stück ist diese Nähe und Parallelität dadurch markiert, dass gesellschaftlich funktionale Bereiche, wie etwa Kunstproduktion (Atelier) und Kunstevents (Vernissage in der Galerie) neben prekären Sphären und Randzonen gesetzt werden, beziehungsweise sich überlappen, wie etwa wenn die Außenseiter oder Gescheiterte als die „Gebückten vom Görlitzer Bahnhof“460 betitelt auf die Vernissagebesucher treffen; oder mehrmals auch die Exklusivität von sozialen Szenen thematisiert wird, wie etwa anhand des Reinkommens in den Club. Beispielsweise wird in der 15. Unterszene „Türe“, die sich vor dem Club abspielt, auf Exklusivität verwiesen, die automatisch auch ein Draußen markiert. Während Gäste abgewimmelt werden, weil sie nicht auf der Stammgästeliste stehen, wird den Mitarbeitern von Burda oder Springer der Eintritt gewährt. Im übertragenen Sinn übt Goetz hier auch Kritik an einem gesellschaftlichen System, das klar den Vertretern der richtigen Stellen vorbehalten ist: „wie war dein Name? / Wagner / Wagner? / ja / tut mir leid, habe ich nicht da / [...] von Burda?, [sic!] von Springer? Das ist ja geil / und jetzt hauen Sie mal ab hier bitte / Sie stören mich nämlich / bei der Arbeit“461 458 Diederichsen, Eigenblutdoping, S. 182. Ebd. 460 Goetz, JK, S. 57. 461 Ebd., S. 27. 459 122 Im chronologisch 3. Akt mit dem programmatischen Titel „Draußen“ mischen sich Sozialkritik mit breitgefassten Momenteindrücken und Reflexionen. Von trivialen und saloppen Gesprächen und Streitigkeiten darüber, wer von den unter Drogeneinfluss stehenden „Gebückten vom Görlitzer Bahnhof“ den nächsten Wein besorgt, geht die Passage über in die Sicht der Beobachtung dieser Szenen und mündet schließlich in abstrakte Reflexionen über Sprache und Rede sowie Kunst seitens des Künstlers. In der 2. Unterszene desselben Aktes „Die Gebückten vom Görlitzer Bahnhof marschieren auf“ ist die Sprecherposition zunächst aus der Sicht derer markiert, die sich „vor der Palette“, also vor dem Lokal aufhalten („was wollen die denn hier? / wo? / da / keine Ahnung / die wollen hier rein /“)462 und dort auf die „Gebückten“, sprich eine Gruppe Drogenabhängiger, treffen. Die Sprechinstanzen gehen darauf über zur Perspektive Letztgenannter: „[G]eh mal weg / du Penner / lass mich mal durch hier / du Arsch / willst du was in die Fresse? / wie bitte, was? / das kannste [sic!] haben hier / bitte“463. Schließlich wird wieder in eine beobachtende Sicht gewechselt („er tritt ihn nieder / er haut ihn kaputt / er tritt auf ihn ein / er schreit und er röchelt //464), bis der Akt von der Bewegung her immer mehr hin zu abstrakten, verselbstständigten und traumhaften Gedankengängen tendiert, in denen die Sprecherinstanz unklar ist, wie etwa in der 5. Szene „von unten“: „Hat der Kosmos einen Sinn? / Von der Hölle her gesehen? / Schwer zu sagen, was meinst du? / Ich dachte, die Hölle würde da dazu gehören, / ganz normal, zum sogenannten Kosmos, / dass wir das praktisch wären hier. / [...] Nee, wieso denn, Quatsch. Wir leiden doch nicht nur, / wir dichten uns doch ganz gut ab, / bis die Distanzen stimmen, / [sic!] findst du nicht? / Kommt Weitblick auf die Art, oder?“465 462 Goetz, JK, S. 57. Ebd. 464 Ebd. 465 Ebd. 463 123 Schließlich wird gegen Ende des Aktes hin anhand der 9. Szene „Die Nacht“ wieder die soziale Diskrepanz thematisiert, wobei immer weniger klar nachvollziehbar ist, von welcher „Szene“ hier exakt die Rede ist, wenn es beispielsweise heißt: „So saßen sie da also da, genau. / So saßen sie und tranken, / sie tranken Bier und Wein. [...] Sie sahen, wie die Leute aus der Oper kamen. / He [sic!] Cheff, hast du vielleicht für uns ne Mark? / [...] Sie kriegten frisches Geld geschenkt, / sie schenkten selbst dafür ihr Elend her, / als Gegengabe fürs Gemüt / der Reichen und Begüterten. [...] Sie redeten und redeten, schau mal, / sagte einer. Wo denn? Da. Ach der da. I. / Was ist denn das? / Der ist bestimmt ein Künstler, / sowas sehe ich, ich seh das gleich, / dass das ein Künstler ist, / das sieht man denen an, / ich sehe sowas, echt. / Ein Künstler, Gott, / du liebe Güte, Künstler. / Was muss das nur für ein Leben sein?466 Dieses Aufeinandertreffen vermeintlich abgegrenzter sozialer Sphären macht das Paradoxe der Überlappung sichtbar. Hier blitzen die Ränder des Systems auf, indem die Perspektive sozial Außenstehender eingenommen wird, die dem bürgerlichen und finanziell abgesicherten Publikum der Hochkultur gegenüberstehen. Dazu gehört laut dieser Szene auch der (erfolgreiche) Künstler, der hier keineswegs die Position eines Außenseiters einnimmt. Dass die Selbstinszenierung als zentrales Wesensmerkmal dieses postmodernen Künstlertypus hier angedeutet wird, kann als ironischer oder zynischer Meta-Kommentar seitens Goetz gewertet werden, zumal dies auch bei seiner Künstler-Persona eine relevante Rolle spielt. 6.3.2 Affirmative, affektive Pop-Ethik á la Koons als Antwort? Die Verbindung und Wahl von Jeff Koons als Titel des Stücks ist zum einen also durch das motiviert, was dieser als Künstlersubjekt hinsichtlich der zeitgemäßen Selbstvermarktungsmechanismen der Kunstproduktion präsentiert und zum anderen auch durch Goetz’ Bezug zu einer dem Ethos des Pop verpflichteten Kunst auf poetologischer Basis. Goetz und Koons scheinen eine ähnlich sozialromantische und bejahende Auffassung der Ethik von Pop-Kunst zu teilen. Koons sieht seine eigene Kunst als sinn- und 466 Goetz, JK, S. 66f. 124 kritikfrei, die dem Rezipienten von sich aus keine eindeutigen Botschaften liefern soll. Viel eher geht es um einen sinnlichen, emotional geleiteten, nicht intellektualisierten Kunstzugang, demzufolge Kunst in affektiver Manier intuitiv Bilder und Archetypen aus dem Unterbewusstsein hervorrufen und ein wohliges Gefühl der Harmonie beim Rezipienten auslösen soll.467 Koons Kunstbegriff basiert auf der „Akzeptanz aller Phänomene“468, was Andy Warhol ebenso propagiert hat und nach Koons bereits in Duchamps Werken verankert ist: „Duchamp würde hier von Indifferenz sprechen. Man hält Duchamps Werk, soweit es um die Tradition des Ready-Made geht, für esoterisch, aber in Wahrheit geht es um Akzeptanz, das Zurückhalten von Urteilen und die Befreiung der Dinge aus einer Position, in der sie normalerweise, in einem bestimmten System abgelehnt werden.“469 Diesem Kunstverständnis nach ähnelt der Pop-Begriff von Koons dem von Goetz. Bei beiden sind in Bezug auf das Verhältnis von Kunst und Leben die Bearbeitung und der Einbezug von bereits vorhandenen Ready-Mades sowie der mediale Selbstbezug Ausdruck und Ausgangspunkt für einen klar strukturierten und zugleich drastischen Formalismus mit idealistischer, sozialromantischer Ausrichtung. Martin Jörg Schäfer bezeichnet die PopPoetik sowohl von Koons als auch von Goetz als „Fantasy Realism“470. Die Ausstellung Jeff Koons. Celebration in Berlin (31. Oktober 2008 - 8. Februar 2009, Neue Nationalgalerie, Berlin) im gleichnamigen Ausstellungskatalog zeigt Koons’ grellbunte Neo-Pop-Kunst verchromter, überdimensionaler Spielzeugfiguren und jahrmarktüblicher Geschenkartikel aus Stahl, die einen starken autobiographischen Bezug aufweisen.471 Die 467 Vgl. Hüsch, „Archetypen zum Überleben“, S. 43f. Koons, Jeff im Gespräch mit Peter-Klaus Schuster, in Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 08.02.2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 16-31, hier S. 24. 469 Ebd. 470 Vgl. Schäfer, Martin J. „Fantasy Realism: Rainald Goetz, Jeff Koons, and the Ethics of Pop Art“. Germanic Review 81(3) 2006, S. 255-268, Indexblatt. 471 Vgl. Hüsch, „Archetypen zum Überleben“, S. 41f. 468 125 Serie Celebration (1995-1998)472 wurde direkt im Anschluss an die Serie Made in Heaven konzipiert und thematisiert vor allem den Sorgerechtsstreit um den gemeinsamen Sohn von Koons und Illona Staller. Die Serie mit den überdimensionalen Spielzeugfiguren wird nach Anette Hüsch durch die große geografische Entfernung zwischen Vater und Sohn, welcher mit der Mutter aus den USA weggezogen war und zum Zeitpunkt der Konzeption der Serie in Italien lebte, zum mächtigen Symbol für die Sehnsucht des Vaters nach seinem Kind. Goetz würdigte in einem Textbeitrag des Ausstellungskatalogs diese Arbeiten Koons mit wortmalerischen Mitteln. Darin bringt er sowohl seine Bewunderung für diese Weltbejahung sowie den Wunsch nach maximaler Gegenwärtigkeit, in der sich Rezeption und Produktion treffen, als auch die Betonung des Bunten und Vielfältigen der Formen zum Ausdruck. Es geht letztendlich um die Feier der Kunst und des Künstlers als affirmativen Spiegel der Welt. So heißt es in dem für Goetz typisch in freien Versen verfassten lyrischen Text: „ich nahm die hintere ausfahrt / der vorderen Rolle, den gelben Alarm / die trübere Watte, gestrüpp im gebüsch / gewellt die bewegte, mit schlieren verziert // ich hatte die tiefe von unten gehalten / die rote mit leichtsinn geführt / und die, die die nächste bebriefte wäre / bestrichen, besaitet, berührt // den schluck gezwitschert, den jasatz gesagt / den fernblick empfangen, die öffnung gefühlt / ich hatte die letzte sekunde geleuchtet, geperlt / und den sie verpeilte, befeuchtet, zerwühlt // jetzt kleine imperfekte verwiesen / den schlagbaum vor klage, noch einmal / nur diese wiesen gepriesen, belaufen / den mai hier gefeiert, gelebet, geliebt //“473 Der flockig leichte Text liest sich als Feier der Opulenz, des Übergroßen und der Oberflächen sowie des Heiteren und Leichten, wie sie die verchromten, übergroßen, spielzeugähnlichen Figuren von Koons darstellen. Dabei imitiert Koons nicht exakt wie Warhol Alltags- und Konsumobjekte und stellt sie als Ready-Mades in einen Kunstkontext; bei Koons ändert sich auch die Beschaffenheit des Objekts was Material und Größe angeht: Beispielsweise wird aus einem aufblasbaren Hasen eine Hasen-Skulptur aus 472 Koons, Jeff, Celebration, http://www.jeffkoons.com/artwork/celebration, 10.01.2016. Goetz, Rainald, „jeff koons“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 08.02.2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 33. 473 126 Stahl und stellt so eine Diskrepanz zwischen der makellosen Oberfläche und dem schweren Inhalt, also zwischen Sein und Schein, her. Skulpturen aus der Serie Celebration, wie etwa Balloon Dog, werden zu einer „Metapher für das pralle Leben, die den Moment des Einatmens als Ausdruck höchster Vitalität fixiert“474. Andere wiederum, wie etwa Diamond oder Hanging Heart, sollen den Betrachter mit ihrer leuchtenden Strahlkraft der Farben und glänzenden Außenflächen, auf denen sich Bilder des Umfelds anamorphotisch und kaleidoskopisch spiegeln, verführen. Mit dieser Serie wird auch der Höhepunkt von Koons’ Drang nach Vitalität bei absoluter Perfektion assoziiert, was zugleich durch die Schwere und Leere, die von den übergroßen Objekten ausgeht, konterkariert wird.475 In Goetz’ Text zu Koons’ Kunst sind es vor allem Ausdrücke des haptischen Erlebens und vielseitiger Sinneseindrücke („bestrichen, besaitet, berührt, zerwühlt, befeuchtet“), die jene Sehnsucht nach Glanz, Opulenz und Perfektion hervorrufen. Alliteration, klanglautliche Zuspitzung („gefeiert, gelebet, geliebt“) und die Ausreizung tautologischer Varianten („bestrichen, besaitet, berührt“) unterstreichen dies. Die typographische Gleichbehandlung aller Wortarten betont die Gleichstellung aller Formen und zeigt derart Analogien zu Koons’ Selbstverständnis hinsichtlich der bewussten affirmativen Verwendung und Gleichstellung von Konsum- und Massenartikeln einerseits und tradierten Formen, Ikonen und Symbolen aus der Kunstgeschichte andererseits. Was wiederum das Stück Jeff Koons angeht, rufen die vorangehenden Mottos zu den Akten im Stück konkrete Kunstwerke von Koons auf. Dabei handelt es sich um die Kunstwerke „Saint John the Baptist, New York 1989“476 (Motto des 1. Aktes, „Dritter Akt“) sowie „Hand on Breast, 1990, 474 Hüsch, „Archetypen zum Überleben“, S. 47. Vgl. Ebd., S. 46. 476 Goetz, JK, S. 13. 475 127 244 x 366“477 (Motto des „Sechsten Aktes“), welche im Folgenden versucht werden in Bezug auf das Stück aufzuschlüsseln. Das vorangehende Motto zum 1. Akt „Saint John the Baptist, New York 1989“478 bezieht sich auf den Titels eines Kunstwerk von Koons aus der Skulpturen-Serie Banality (Köln, NY, Chicago 1988), deren Skulpturen sich an der Bildsprache der Renaissance orientieren. Das Werk ist an der Darstellung von Johannes dem Täufer von Leonardo Da Vinci angelehnt. Koons übernimmt den Typus Johannes des Täufers aus einem Gemälde Leonardo da Vincis für diese aus Porzellan gefertigte Skulptur, so zitiert er die Pose und den auf das Kreuz deutenden Zeigefinger des Täufers. Koons ergänzt diese Darstellung durch einen roten Pinguin und eine Sau, die der Täufer neben dem Kreuz mit seinen Armen umfasst. In dieser Aufmachung der Verquickung von religiöser Personifizierung der Erneuerung und kitschigem Warenfetisch wird Koons’ Johannes der Täufer vom Propheten der Endzeit und Wegbereiter der christlichen Religion zum Prediger der „unbekümmerten und zugleich teuflischen Verbindung von Heiligem und Profanem“479, so Kunstkritikerin Regina Hackett. Das als Motto und Assoziation vorausgeschickt, changiert der erste Akt, der vor und in einem Club spielt, zwischen der Darstellung von trivialen dialogischen Passagen im lauten Techno-Club („Das ging aber schnell / Und Jetzt? [sic!] / Bisschen eng. Ist doch schön.“) und Wortspielereien und freien Gedankenassoziationen, die der vibrierenden, nächtlichen, nur mehr halb nüchtern wahrgenommenen Clubatmosphäre nachempfunden scheinen. Szenen, wie etwa „let the bass kick“480 unterstreichen die akustische 477 Goetz, JK, S. 133. Koons, Jeff, St. John the Baptist, www.jeffkoons.com/artwork/banality/st-john-the-baptist, 22.10.2015. 479 „The piece is an insouciant yet sinister conflation of the sacred and the profane“, Hackett, Regina, „Restorer rescues ‚Saint John’ after Koons’ sculpture is damaged“, www.seattlepi.com/ae/article/Restorer-rescues-Saint-John-after-Koons-1142488.php, Seattle News, Stand: 18.04.2004, 02.10.2015. 480 Goetz, JK, S. 17. 478 128 Nachempfindung der Geräusch- und Musikkulisse im Club. Zwischen lautmalerischer Nachahmung der vibrierenden Bass-Drum sind Gesprächsfetzen eingefügt: „bum / tscha bum / tscha bumm tscha / bum // verstehe // tscha bumtscha bum / bum bum / bum / tscha bumm //“481 Zwischen den Momentaufnahmen im Club mischen sich immer wieder Reflexionen über Kunst, den Künstler und die Genese von Kunst. So heißt es etwa in der 7. Unterszene „An der Bar“: „Wir reden über / Technik, Graphik, Bau. / Konzept der Konkretion. / Kritik an Politik. / Die Größe, welche Sprache, welcher Sinn. / Debatte, Diskussion. Methodenstreit. / Gemalte Worte, welcher Farbe, welche Schrift. / [...] Wir reden über Fragen und die Rede, / die sich so motorisiert. Vielleicht schon falsch. / Wir sind nicht sehr präzise, das steht fest. / Es geht um ein Probieren, im Tasten und Verwerfen, / um Zukunftsakte im Moment der Gegenwart. / Um etwas also, was wie kommt, wenn wir uns / so und so nach dahin öffnen.“482 Dabei wird im Laufe des Aktes immer deutlicher, dass hier ein Künstler im Fokus steht, der im Club vor sich her und mit anderen über Banales wie auch Künstlerisches sinniert. Viele Club-Passagen gestalten sich als Verschnitt des flüchtigen Lebensstils anhand von minimalistisch gehaltenen Strophen aus freien Versen, die anhand von Wiederholungen, Aufzählungen, Kalauern („wer nichts wird wird Wirt483) und abgehackten Sätzen rhythmisiert werden oder aus fragmentarischen flapsigen Dialogen bestehen, die oft nur in der Art der Silbenanzahl der Versreihen variieren. Es mischen sich saloppe Ausdrücke aus der Umgangssprache unter und elliptische Satzkonstruktionen ahmen ebenso die Prosodie des Mündlichen nach. So heißt es in Szene Nr. 10. Boden: „Kippen und Asche / Dreck und Beton / Schuhe und Stiefel / Füße und Frauen [...] gib mal das Koks / willst du schon gehen? / lass mal hier kiffen / hast du noch ne Pille //““484 481 Goetz, JK, S. 17. Ebd., S. 18f. 483 Ebd., S. 25. 484 Ebd., S. 21. 482 129 Ähnlich so auch in Szene 14.: „Gesang vom Kummer / Gebet an die Nacht / Gebückt in die Jahre / Betrübnis bedacht // Vergangen / Verhangen / verstört / und besaitet //“485 Diese Anordnung flapsiger Gesprächsfetzen lässt an eine schummrige Partyatmosphäre im nächtlichen Club denken. Auf die Genese von Kunst bezogen, könnten diese Szenen des ersten Akts auf das diffuse Anfangsstadium eines kreativen Arbeitsprozesses hindeuten. Des Weiteren stellt Goetz hier auch die Verschränkung von Profanem und Tiefsinnigerem dar, was wiederum eine Verbindung zu Koons’ Täufer-Darstellung suggeriert. Dies zeigen auch die Wortaufzählungen in den Dreierstrophen der 13. Unterszene, deren Titel „Gästeliste“486 programmatisch wirkt. Es wird hier wiederum auf Koons, seine Kunst und dessen marktnahen Kunstkontext Bezug genommen. Des Weiteren bringt sich Goetz auch selbst („DER SCHREIBER“) ins Spiel: „DER JUNGE / DER ALTE / DER MITTLERE MANN // DIE SÜSSE MAUS / DAS WILDE HÄSCHEN / DAS BUSCHIGE KÄTZCHEN // DER HEILIGE JOHANNES / DER ENGLISCHE BOBBY / DAS TIERCHEN AUS STOFF // SCHREIBER / MALER / MUSIKER // PRESSE / GELD / PUBLIKUM // DAS HOHE GERICHT / DER JÜNGSTE TAG / DER URTEILSSPRUCH // WELT / ALL / KOSMOS“ [Hervorh. im Orig.]487 6.4 Nichtlinearität und abstrakte Performativität Als zweiter Fokus der Analyse werden nun die sprachlichen Formen abstrakter Performativität und Intermedialität im Stück Jeff Koons eingängig geprüft und deren Verfahrensweisen dargelegt. Anhand von verschiedenen Kippfiguren, rhetorischen Figuren der Inversion und der intermedialen Annäherung an bildkünstlerische Verfahren soll gezeigt werden, wie Diskrepanzen und Dichotomien dazu verwendet werden, um mehrdeutige Szenarien und Lektüren zu schaffen. Es interessiert hier 485 Goetz, JK, S. 27. Ebd., S. 24. 487 Ebd., S. 24f. 486 130 insbesondere, inwiefern diese Verfahren verschiedene Erscheinungsarten von Theatralität als Bühne der Wahrnehmung für Sprache darstellen. 6.4.1 Kippfiguren und Vexierbilder Die von Rhythmisierung und Lautmalerei durchzogene Sprache dient bis zum chronologisch 3. Akt „Draußen“488 vorzugsweise der konkreten Illustrierung konkreter Orte (Club und Bett) und Darstellung zwischenmenschlicher Interaktion und Atmosphäre. Ab dem 3. Akt kippt sie zunehmend ins Abstrakte, wobei sie dennoch noch eine buchstäbliche Ebene beibehält. Bereits der Titel des Aktes „Draußen“ kündigt die nun verstärkt einsetzende Mehrdeutigkeit der wörtlichen Ebenen an. Wie bereits zuvor in der Analyse erläutert wurde, ist mit „Draußen“ zunächst der Ort vor dem Club gemeint, an dem sich die Fixerszene („DIE GEBÜCKTEN VOM GÖRLITZER BAHNHOF“489) aufhält. Wie sich im Geplänkel über Sinn und Unsinn des Kosmos herausstellt, sind Drogen ein altbewährtes Mittel zur Bewusstseinsdistanzierung („Wir leiden doch nicht nur, / wir dichten uns doch ganz gut ab, / bis die Distanzen stimmen, / findest du nicht?“490). Die konkret umgesetzte Distanzierung erfolgt in der darauf folgenden Szene, die als traumartige Sequenz an die vorhergehende Szene anschließt („Gehst du schwimmen? / Nee, schlafen //“491) und in eine Sprachreflexion- und Spielerei überführt wird. 6.4.1.1 Rede / Schrift In diesem Abschnitt wird das zwiespältige, konkurrierende wie infektiöse Verhältnis von Rede und Schrift, Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf gegenseitige Überschreitung getestet. In der chiastischen Durchkreuzung verschränken sich die räumlichen Perspektiven Innen und Außen sowie Sinnliches und Sinnhaftes. Es besteht dadurch sowohl die Möglichkeit einer 488 Goetz, JK, S. 53. Ebd., S. 57. 490 Ebd., S. 60. 491 Ebd. 489 131 wörtlichen Leseart des Abschnitts als trivialer Lustszene oder aber auch eine metaphorische Leseart, nach welcher die Szene das symbiotische Verhältnis von Rede und Schrift darstellt. So heißt es in der darauffolgenden Szene “6. rote grau”492 „Wer bist du? / Ich bins [sic!]. / Finde ich gar nicht. / Moment mal. / Das ging mir jetzt zu schnell. // Dann kommt die andere dazu, sie sagt, / sie sei so rau. / Ach, echt? Tut das denn weh? / Sie sagt, sie sage nichts, sie rede nur, / sie habe nichts zu sagen hier. / Versteh ich nicht, meint er, wieso, und sie, das sei vom Innenstandpunkt her / gesehen typisch dann. / Dann wird zu man, die braune grau, / verstehe er, sie führt ihn ein, ins Au, / hinaus ins Aus, des äußeren der Laute Haut, / geäußert so. Ein Ah, aha, verstehe, er und sie, / sie weiche nicht. Im schon ein schön, / so ineinander, sie. // Die Sprache, sie brach sie, sie nahm sie, wie jede. / Sie sagte zur Rede, sie lebe. / Sie gehe und laufe, sei nicht so fest, / sie lasse das Nasse, sie trinke, er auch. / So sinke, sie weiche, er schweige schon offen / der Sprache gefolgt, gebrochen, im Trieb. // Er nimmt die Puppe, / sie ist jetzt elf, / er findet das toll, / er hat einen Finger. // Er dachte, er liebt sie, / sie fühlt sich berührt, / sie sind jetzt alleine, / sie hat irgendwas. // Das ist doch eine schöne Sache. / Gefall ich dir? / Und wie, mein Schatz, / mach mal / die Beine breit, / dann schau ich kurz genauer nach. // Au ja, / toll.“493 Das buchstäblich körperliche Aufeinandertreffen und Ineinander von Schrift und Rede, das genauso gut eine etwas stilisierte Fortführung der Szene des vorhergehenden Aktes vom berauschenden Liebesglück im Bett sein könnte, ist an dieser Stelle abstrahiert und stellt als solches die produktive Verbindung von Schrift und Rede dar. Dabei betont die personifizierte Stimme der indirekten Rede den Standpunkt der Flüchtigkeit und Bedeutungslosigkeit vom mündlichen Sprechen („Sie sagt, sie sagte nichts, sie rede nur, / sie habe nichts zu sagen hier. /“494). Die zunehmende Verwirrung und Verwobenheit der konkreten und übertragenen Ebenen mittels rhetorischer Figuren der gelockerten Wiederholung (Verschiebung) sowie Umstellung (Überkreuzstellung der Satzglieder) und Weglassung (Syllepsis: Worteinsparung) („verstehe er, sie führt ihn ein, ins Au, / hinaus ins Aus, des äußeren der Laute Haut, / geäußert so. Ein Ah, aha, verstehe, er, du sie, sie weiche nicht. Im schon ein schön, / so ineinander, sie. //“495) 492 Goetz, JK, S. 61. Ebd. 494 Ebd. 495 Ebd. 493 132 führen zur Verdichtung der Satzglieder und semantischen Durchdringung, aber auch zur semantischen Unschärfe als Effekt der von Sprache durchdrungenen Rede, in dem Fall. Wie in der folgenden Strophe ersichtlich wird, wirkt sich diese Durchdringung beflügelnd auf Sprache und Rede aus, wie anhand der lautlichen Übernahme und sich wiederholenden akzentuierten Emphase der Übernahme und Berührung gezeigt wird: „Die Sprache, sie brach sie, sie nahm sie, wie jede. Sie sagte zur Rede, sie lebe. Sie gehe und laufe, sei nicht so fest, sie lasse das Nasse, sie trinke, er auch. So sinke, sie weiche, er schweige schon offen der Sprache gefolgt, gebrochen, im Trieb.“496 Dieses verdichtete Ineinanderschieben lässt Doppelbedeutungen und Mehrdeutigkeiten entstehen, die nicht vollständig aufgelöst werden können.497 Als skurrile Verschränkung der thematischen Motive „körperliche Vereinigung“, „Durchdringung von Innen und Außen“ und „Rede und Schrift“ sowie „Mensch im Rausch, der mit einer Puppe spielt und auf sie sexuelle Gelüste projiziert“, stellt sich ein ironischer Effekt im Ganzen her, da die Kontraste der Ebenen nicht größer sein könnten. Nach Wolfgang Groddeck sind solche Kippbewegungen dazu da, die „Durchdringung ganz heterogener Texte“498 zu erzielen. Solche Figuren seien vor allem vor dem Hintergrund der Intertextualitätstheorie Paradebeispiele dafür, dass hier Stilfiguren über rhetorische Effekte hinausreichen und semantische Mehrdeutigkeiten kreieren würden.499 6.4.1.2 Kunstgenese / Theater / Schreiben Mehrdeutigkeit erzeugt im 4. Akt („Zweiter Akt“500) auch der häufige Perspektivenwechsel. Viele Passagen können sowohl als dialogische wie 496 Goetz, JK, S. 61. Vgl. Groddeck, Wolfgang, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel: Stroemfeld 1995, S. 178. 498 Ebd. 499 Vgl. Ebd. 500 Goetz, JK, S. 71. 497 133 auch als monologische gelesen werden, was Grund zur Annahme gibt, dass der Text hier sowohl einen potenziell inneren, als auch äußerlichen Konflikt vorantreibt. Es geht um den Künstler, aber auch um das Vorantasten und Verwerfen im kreativen Schaffensprozess, dessen unterschiedliche Entwicklungsstufen hier durchgespielt werden. Streckenweise weckt der von Brüchen gezeichnete Schaffensprozess auch die Assoziation zu einer kollektiven kreativen Arbeit, was beispielsweise an den Entstehungsprozess einer Inszenierung am Theater denken lässt. Im Laufe des Aktes verdichtet sich Sprache immer stärker, sprich, sie wird mit jeder Unterszene auch immer körperlicher und abstrakter, was schließlich in der textlichsprachlichen Adaption bildkünstlerischer Verfahren kulminiert. Der Akt beginnt damit, dass der Künstler in der Unterszene „heute morgen“501 in der morgendlichen Frische im Studio eine Idee hat, die er sogleich zu Papier bringt: „ich glaub / ich hab gerade / einen Einfall“502. Die Passagen von Ich-Kommentaren und personaler Erzählsicht wechseln sich dabei ab: „er nimmt Papier zur Hand / man sieht ihn kritzeln / Frage: / was notiert der Künstler da? / man sieht die Seide seines Morgenrocks / den feuchten Glanz des Porzellans / das Schimmern der Karaffen“503 Die Beschreibung geht so weit, dass sie das Bild, die Sicht auf den entwerfenden, feilschenden Künstlers fokussiert: „der Künstler ist voller Tatendrang / er freut sich seines Lebens / sieht die Gestalt des neuen Werks vor sich / ein neues Ding, der er schon ist / das nur noch schnell durch ihn hindurch / für alle sichtbar werden muss / was heißt da: muss / er will es halt, er denkt, das wäre toll / für alle und für ihn, das sieht man jetzt / man sieht ihn dieses Denken denken // toll toll toll //“504 Am weiteren Ort des Ateliers folgt die Besprechung der Idee, was insofern Rückschlüsse zu Jeff Koons liefert, als jener seine Kunstwerke nur 501 Goetz, JK, S. 74. Ebd., S. 75. 503 Ebd. 504 Ebd., S. 77. 502 134 konzipiert, sie aber von einem Team an Angestellten anfertigen lässt („lässt den angestellten Unterkünstler kommen / erklärt ihm neue Pläne, neue Absichten, Ideen /“505). Bald wird präzisiert, dass es nebenbei auch um „sieben riesen Bilder“506 geht, die zur Neuöffnung der „Hetzlergalerie“507 noch fertigzustellen sind. Passend zum Arbeitsalltag des Künstlers muss er zwischendurch ein Interview geben, das jedoch nur angedeutet wird und fragmentarisches Geplänkel bleibt: „nein aber / ich uns doch / wir sollten / Sie haben // bis morgen // bestimmt“508. Es folgen Bilder und Gedanken, die der Künstler im Traum hat, die auf eine noch unausgereifte Idee hinweisen: „Der Künstler sucht in sich und findet nichts, er spürt den vorigen Gedanken wieder, es ist ein Unsinn alles, was ich mache, Fehler, was hier vorgeht, Quatsch, kaputt vorbei.“509 In der Hitze des Augenblicks oder im traumhaften Zustande der 8. Szene „offener Garten“510 wird nun die sexuelle Vereinigung des Künstlers und seiner Gefährtin geschildert, aus der ein Sohn hervorgeht. Hier werden Bezüge zu Jeff Koons’ Serie Made in Heaven (1989) offenkundig, wie etwa durch das als Motto am Anfang des 6. Aktes zitierte Kunstwerk von Koons „Hand on Breast, 1990, 244 x 366“511, welches wiederum starken biografischen Bezug aufweist: Aus der Ehe und Beziehung zu Illona Staller alias La Cicciolina, einem italienischen PornoStar, ging ein Sohn hervor.512 Der Reifeprozess der Idee setzt sich in den folgenden Szenen „9. Bei Tisch“, „10. Widerspruch“ und „11. Konzentration“ fort und das Ziel der konkreten, technischen Umsetzung nähert sich, wovon die Szene „13. Arbeit“ handelt: 505 Goetz, JK, S. 79. Ebd., S. 81. 507 Ebd. 508 Ebd., S. 84. 509 Ebd. 510 Ebd., S. 85. 511 Ebd., S. 133. 512 Vgl. Hüsch, „Archetypen zum Überleben“, S. 41. 506 135 „Ziel wäre oder ist die Absicht / Perfektion und Fertigkeit / [...] die Meisterschaft des Handwerks / zu dem Endpunkt bringen /“513. Darin wird auch angegeben, wovon die Bilder handeln sollen: „im Augenblick beschäftigt ihn / die Welt der frühen Jahre / die Zeit der Schau, des Staunens und des Tastens / die Zeit von Angst und Kümmernis / Besänftigung und Trost / die Zeit, wo Worte magisch wirken können / wo Ruhe wird in einem, wenn einer / ganz ruhig Ruhe sagt / [...] die Bilder handeln nebenbei auch vom Format / von Größe, Gegenteil und Rückbezug auf Potenzialität / im Sinne von Einsicht / [...] es geht ja um die Sicht / aus einer allgemeinen Perspektive / um das, was jeder kennt“514 Die Phase der Kunstgenese wird im Laufe des Aktes etwas intensiver, da es um das Ausformulieren und Weiterentwickeln einer Idee geht. Es wechseln sich nun monologische Abschnitte aus Sicht des Künstlers mit längeren objektiven Beschreibungen der Szene ab: „sie bringt das Frühstück golden beginnt der Tag herrlich, neu, leicht er springt aus dem Bett ein Riesenraum die Morgensonne lacht er lacht wie sagtest du so völlig richtig eben? er hat die Zeitung in der Hand [...] er kratzt sich kurz am Kopf kratzt sich am Hals er ist erregt im Augenblick Moment, er hat Idee, Idee? Woher, wie viel, warum?, Moment ich glaub ich hab gerade einen Einfall was war das für ein Ding eben der Einfall, die Idee?“515 513 Goetz, JK, S. 90. Ebd., S. 92. 515 Ebd., S. 74f. 514 136 Der weitere Verlauf der 4. Unterszene zeigt jedoch, dass die längeren Abschnitte ebenso als innere Monologe der Künstlerfigur und nicht nur als Beschreibung von außen gelesen werden könnten. Dementsprechend wird dadurch die Frage aufgeworfen, inwiefern diese Abschnitte das Geschehen beschreiben, kommentieren oder durchkreuzen. Wie etwa, wenn es heißt: „ä ä sehr geil sehr ja ja ja er nimmt Papier zur Hand man sieht ihn kritzeln Frage: Was notiert der Künstler da? man sieht die Seide seines Morgenrocks den feuchten Glanz des Porzellans das Schimmern der Karaffen man sieht die Hektik, sieht die Gier mit der der Künstler trinkt, Kaffee, Orangensaft er setzt die Tasse ab, wie war das eben noch? er hatte doch gerade, er schaut jetzt in die Luft nach oben, er scheint da was zu sehen er tritt ans Fenster, lacht und grüßt da draußen, grüßt den Baum, ruft aus ich habs ich habe es genau genau er eilt zurück zu den Papieren er murmelt etwas wie notieren, notieren er tuts, er tuts, er denkt an Kleist er braucht mehr Licht, die Zeit, die Zeit er fühlt sich gut jetzt, ja er sieht sich selbst in einer Welt die nun, wie soll man sagen? er lacht, er zuckt, ein gutes Zeichen ja ja ja ja“516 Gerade dieser letzte Abschnitt ist entschieden vieldeutig. Die sich abwechselnden Passagen zwischen Innen- und Außensicht der Szene, in der 516 Goetz, JK, S. 75f. 137 der Künstler seine Idee aufschreibt, weist von seiner Anordnung her Elemente eines kollektiven Arbeitsprozesses auf. Nach Sibylle Peters könnte dies auch als Dialog zwischen Regie und Schauspieler*innen verstanden werden, die sich auf einer Theaterprobe befinden.517 Dabei könnten die längeren Abschnitte Anweisungen der Regie sein und die kürzeren, mündlichen Einschübe die Antworten eines Akteurs, wie etwa eines Schauspielers sein, der auf die Vorgaben des Regisseurs auf einer Probe reagiert und umgekehrt. Die Lücken zwischen diesem perspektivischen Hin und Her suggerieren nonverbale Aktionen und Handlungen, die sich zwischen den wörtlichen Passagen abspielen. Dies wiederum würde an eine Inszenierung denken lassen, in der die verbalen Lücken der weißen Textseite mit anderen Möglichkeiten der Darstellung, wie etwa Körpersprache, Bilder und Mimik u.ä. gefüllt werden könnten. Aus dieser Sicht reflektiert das Stück auch immer wieder die Frage nach der impliziten Theatralität518, welche im Text im Hinblick auf eine potenzielle Bühneninszenierung zu verstehen ist, und zeigt, dass abseits von konventionellen Dramenstrukturen auch texttheatrale, performative und intermediale Sprach-Verfahren als szenische Vorgänge auf der Theaterbühne gelesen werden können. In weiterer Folge des Aktes zeigt sich ein neuer Aspekt, nämlich dass hier von der Außenbeobachtung auf das Geschehen der Kunstgenese ziemlich direkt auf den Akt des Schreibens am Text oder eben des Lesens übergegangen wird, der sich gerade in dem Moment vollzieht. Dem Verlauf des Abschnittes nach kommt es nämlich zu einer Bremsbewegung: Der Text stockt und wird verneinend kommentiert, anstatt die Überlegung zu Ende zu bringen. 517 518 Vgl. Peters, „Theater des Textes“, S. 137. Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 44. 138 „man wünscht sich, dass die Künstler glücklich wären, würden, oder etwa nicht? dass sie so alles, auch das Schreckliche erkennen, sehen und begrüßen könnten um es so und dann, von dort, dadurch nee nee nein nein ä ä“519 Es kommt hier also zu einem Umschwung, der sich auch im verstärkten Gebrauch mündlichen Kommentierens niederschreibt („nee nee ä ä“). Hier kommt also eine weitere ‚Szene’ zum Vorschein, nämlich die des Schreibenden an einem Text, der gerade am Entstehen ist, als Szene des Schreibens. Demnach bezieht sich also der imaginäre Kontext und Raum des Künstlers auf die Wahrnehmung des Schreibens am Stück selbst und wird so zur „Spur seiner Entstehung“520. In dieser Umkehrbewegung der Inversionsfigur liest sich der Text als „Performance des Schreibens“521, die anhand von Vor-, Brems- und Rückwärtsbewegungen den Fluss eines reflexiven, nichtlinearen Denkprozesses wahrnehmbar macht. Das äußert sich durch das sprunghafte Wechseln der Perspektiven Beschreibung / Kommentar und Stocken / Bremsen und den sich dann wieder vorantreibenden Sprach-gesten. Theatrale Vorgänge im Sinne eines gemeinsamen Entwickelns einer Inszenierung und einer imaginären Bühne des Textes, auf die eine Szene des Schreibens projiziert wird, koexistieren hier. Oder wie Sibylle Peters es beschreibt: „Das intrinsische Theater des Textes und die Bühnenrealität möglicher Inszenierungen sind in dieser Figur der Inversion zugleich unterschieden und verbunden – sie geben einander statt, statt einander auszustreichen.“522 519 Goetz, JK, S. 76. Peters, „Theater des Textes“, S. 138. 521 Ebd. 522 Ebd. 520 139 Insofern lässt sich die Frage im Text „was notiert der Künstler da?“ auch als rhetorische verstehen, zumal damit auch die darauf folgende geschriebene Szene gemeint sein könnte. 6.4.2 Bildkünstlerische Verfahren Das Sujet der Konzeption des Kunstwerks geht anschließend im vierten Akt in die Endphase, in der es zur konkreten handwerklichen Umsetzung kommt, wie etwa die Titel der Szenen „Holzschnitt“523 und „Skulptur“524 suggerieren. Infolgedessen kommt es zur sprachlichen Umsetzung der programmatischen Szenentitel: Die bildkünstlerischen Verfahren werden anhand der lautsprachlichen und schriftgraphischen Gestaltung im Text nachvollzogen. Hier kommt die Performativität des Bildkünstlerischen am Text verdichtet zum Tragen. Verschiedene bildkünstlerische Formatvorgaben und Stadien, die der Genese von Kunst entsprechen, lassen sich so als experimenteller intermedialer Ausgangspunkt sehen, um ein jeweils neues „Formabstraktum“525 für die Schrift zu erproben. Dementsprechend wird im Folgenden illustriert welche Entsprechung die bildkünstlerischen Vorgaben Skulptur und Installation, Skizze, Holzschnitt, wall of words und schließlich das fertige Bild (samt dessen Betrachtung) im Text finden. 6.4.2.1 Skulptur und Installation Im 16. Abschnitt „Skulptur“526 suggeriert die Sprachgestaltung szenographisch eine Rundumbetrachtung, also eine räumliche Bewegung um einen dreidimensionalen Gegenstand, wie etwa eine „Skulptur“: „es geht es geht es geht es geht 523 Goetz, JK, S. 96. Ebd., S. 97. 525 Goetz, Abfall für alle, S. 66. 526 Goetz, JK, S. 98. 524 140 Moment es hängt es hängt gerade okay ich warte Augenblick wie stehts? Momentchen noch Moment noch hängts und jetzt? wie gehts? wie stehts? es hängt es hängt noch jetzt jetzt geht’s es geht? es geht es geht es geht es geht527 Die räumliche Bewegung wird durch die Gleichheit von Anfang und Ende sowie durch den Abstand zwischen einem blockartigen Absatz zum nächsten unterstrichen. Gleichzeitig könnte es sich hier auch um das Nebeneinander mehrerer ‚Bilder’ handeln. Genauer gesagt suggeriert der Textinhalt, dass an der Stelle Bilder montiert werden durch das sich wiederholende „es geht“ sowie durch den Satz „es hängt“. Das wiederholte „es geht“ im Sinne des Kommentierens eines durchgeführten Vorgangs könnte auf die Vorbereitung einer Ausstellung hindeuten, in der Bilder oder Kunstwerke im Raum installiert werden. Auch der Platz zwischen den Strophen und die vertikale Anordnung deuten auf verschiedene Etappen des Installierens hin, die der Abfolge von Handlungsanweisungen folgen. Dieser 527 Goetz, JK, S. 98f. 141 Vorgang wird in der Szene nicht nur durch den Sinn der knappen Sätze in der Szene angedeutet, sondern wird vor allem durch die sprachliche graphische und rhythmische Anordnung performativ dargestellt. Insofern ist die Assoziation eines „begehbaren Sprachraum[s]“528 oder die These, dass dieser Akt als „Bilder einer Sprach-Ausstellung“529 gelesen werden kann, durchaus nachvollziehbar. Dies wird auch durch die Architektur der Aktstruktur geltend gemacht. Denn der chronologische 3. Akt „Draußen“ und der 5. Akt „Nach der Pause“ scheinen sowohl aufgrund inhaltlicher Abweichung, als auch durch die fehlende Nummerierung der Akte eine Sonderrolle im Stück einzunehmen. Tatsächlich spielen sie für die Entwicklung der Genese des Kunstwerkes im Stück keine Rolle. Dies bedeutet, dass es laut jener Entwicklung also nur fünf relevante Akte gibt und aus dieser Sicht wäre der chronologische vierte Akt (als „2. Akt“ betitelt) als arithmetische Mitte von fünf also Zentrum des Stücks. Der räumlichen Vorstellung des Stücks nach würden die übrigen Akte demnach um den 2. Akt kursieren. Ebenfalls könnte davon abgeleitet werden, dass es gar keine Mitte im Stück gibt und die leere Mitte eine räumliche Tiefe bedeutet. Jedenfalls kreiert diese Aktanordnung und Bezeichnung ein Szenario, das dynamische Bewegungen, Vernetzungen und Querverbindungen evoziert und somit zu einem weiteren intratextuellen und dramaturgischen Stilmittel wird. Zudem lässt das die Genese von Kunst auch als zirkulären Prozess denken, der, kaum abgeschlossen, wieder zu einem Anfang hinstrebt. Von daher weist auch die Szene der „Skulptur“ neben ihrer intermedialen Ausrichtung wiederum eine Kippfigur auf, die raumzeitliche Grenzen aufhebt. Auch in diesem Abschnitt kommentiert sich der Text nach dem viermalig wiederholten „es geht“ selbst („Moment / es hängt / es hängt 528 529 Stricker, Text-Raum, S. 295. Ebd., S. 287. 142 gerade“) und beschleunigt damit deskriptiv die Schreibperformance. In Anbetracht der Tatsache, dass in der Szene von „heute morgen“, in der die Beschreibung des inspirierten Künstlers noch innerhalb derselben Szene in einen autokritischen Kommentar umschwappt, zeichnet sich die unterschwellige Mehrdeutigkeit hier erst als Folge der im anschließenden Akt sich abzeichnenden Ausstellungseröffnung ab. Der doppeldeutige Satz „es hängt gerade“ liefert einerseits den naheliegenden zeitlichen Bezug zum Kunstwerk, das im Zuge der Ausstellung aufgehängt und begutachtet wird; andererseits lässt sich das Wort „gerade“ auch als räumlicher Indikator lesen, womit auch die graphische Strukturierung und Präsentation des Textes ins Auge fällt. Das heißt also, dass gemäß der intermedialen Sichtweise der Auslegung des Abschnittes „Skulptur“ als Sprach-Raum nicht nur die These der BilderAusstellung durch die horizontalen und vertikalen Differenzen besonders naheliegend scheint. Zentrum der Szene könnte auch der Künstler selbst sein, zumal am Ende des Abschnitts, ähnlich wie in der Szene „heute morgen“, die Rückkehr zur Situation der Schreibszene folgt, die also den Schreibenden selbst als Mitte des Geschehens vermuten lässt. Das wird auch durch die graphische Gestaltung untermauert, die das Kursieren um einen Gegenstand oder ein Objekt suggeriert, das auch der Schreibende selbst sein könnte, der gerade in diesem Abschnitt preisgibt, den Text der Skulptur vorher verfasst zu haben, was im vorigen Abschnitt „heute morgen“ bereits angeklungen war („was notiert der Künstler da?“530): „das wäre also die Skulptur hier so in etwa dargestellt und sie zeigt ihn momentan im Augenblick wie er sich eben sieht, in dem Moment da hängt ja was, an einer Hand ein Stück Papier, beschrieben offenbar mit den bekannten Zeichen, die aus Worten Sinn aus Sinn Erscheinung machen 530 Goetz, JK, S. 75. 143 leuchtend, diese Dinger kann man gar nicht anders sagen äußerst einleuchtend den Sinnen, Text mit andern Worten, ein Stück Text hängt da tatsächlich, ja, und zwar die Skizze ist das, ja da hängt doch echt die Skizze an der einen Hand und winkt im Wind“531 Nach den Beobachtungen in dieser Konzeptions- und Produktionsphase des Künstlers lässt sich die Aussage von Goetz „Theatertext ist von der Grundaufgabenstellung her SKULPTUR“ [Hervorh. im Orig.]532 derart begreifen, dass der Text selbst schon „immer auch die Situation seiner Aufzeichnung bezeugt und so eine szenische Qualität entwickelt, die der szenischen Arbeit gerade auch qua Leerstelle zahlreiche Anschlussmöglichkeiten bietet, die aber dennoch und gerade darin eine eigene szenische Qualität des Textlichen bleibt.“533 6.4.2.2 Skizze Das doppelte Spiel der Szenerien geht bis zum Ende des Aktes weiter. Der nun folgende Abschnitt „Skizze“534 scheint nach den vorangegangenen räumlichen und zeitlichen Perspektivenwechsel und Kippmomenten jener Textabschnitt zu sein, der den Kontext des eben beschriebenen Künstlers rahmt („Kunst / ein Wochenende Kunst / die Kneipe / und das Atelier“535) und damit auch wiederum an die Ausstellungseröffnung anknüpft; gleichzeitig ist auch dieser Abschnitt ein weiteres ‚Bild’, das für die „Ausstellung“ bereitgestellt wird, nämlich eines, das skizzenhaft, wie der Titel besagt, geradlinig und vereinfacht die Eckdaten für den gesamten Text des Stücks umreißt: 531 Goetz, JK, S. 100f. Abfall für alle, S. 441. 533 Peters, „Theater des Textes“, S. 139f. 534 Goetz, JK, S. 101. 535 Ebd. 532 Goetz, 144 „ein Stück / in sieben Akten / schön knapp abgepackt // du hast gesagt / es geht um Liebe / du hast gesagt / es geht um Kunst / es geht um Reden / Bilder, Melodien“536 6.4.2.3 Holzschnitt Die materialmimetische Umsetzung bildkünstlerischer Vorgänge wird in diesem Akt bis an die Spitze getrieben. Derart gestaltet sich auch der 15. Abschnitt „Holzschnitt“537, der sich auf ein aus einem zweidimensionalen Verfahren resultierendes Bildgenre bezieht. Dabei wird zunächst eine Zeichnung auf einer Holzplatte eingeschnitten. Die zweidimensional herausgearbeitete ‚Skulptur’ wird darauf als Druckstock verwendet, sprich mit Druckfarbe überzogen und auf Papier gepresst, sodass eine Druckgrafik entsteht. In diesem Textabschnitt wechselt die anfängliche Perspektive eines „er“ sogleich nach den ersten beiden Zeilen zum „ich“, das vor sich hin sinniert. Der uniforme, auf Anapher basierende harte Rhythmus, der die Sätze vor sich her peitscht, suggeriert hier einen brachialen, puristischen Umgang mit dem Material. Der ohne Pause und Zeilensprünge durchgängige Textblock mit seinen einfachen, kurzen Hauptsätzen wirkt auf den ersten Blick wie eine triviale Aneinanderreihung zusammenhangsloser Gedankensplitter. Erst auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, dass die Sätze nicht zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sondern trotz mäanderartigen Verlaufs einer Logik von teils phonetischen, teils morphologischlexikalischen Ähnlichkeiten folgen. Mal ist es die lautähnliche Gestaltung zumeist der Verben, die unreine oder reine Reime (wie etwa Endreime) ausbilden, mal der lexikalische Anschluss zum Vorherigen, was Korrespondenzen hervorbringt; Wiederholungsfiguren, wie etwa vor allem Homonyme, in Form Synonyme, von Figura etymologica oder Paronomasie. Diese erzeugen Sinnsprünge durch kleine 536 537 Goetz, JK, S. 101. Ebd., S. 96. 145 Verschiebungen des Signifikanten und erwecken den trügerischen Eindruck, dass klangliche oder dem Wortstamm nach ähnliche Wörter auch homogenen Sinn transportieren. Tatsächlich bilden sich auf den zweiten Blick durch diese Figuren aber Sprünge und semantische Abweichungen, die manchmal auch den Sinn einer Behauptung ins Gegenteil verkehren. Dadurch öffnet sich ein Raum zwischen Text und Lektüre, der eine musikalische Qualität freigibt: „Er sitzt da und trinkt. Er kommt von draußen. Er redet. Er schweigt. [...] Ich kotze. Ich stinke und rauche, spucke und rotze. Ich schreie, ich gröle, bin saugut drauf. Ich hasse euch alle. Ich finde mich toll. Ich stinke und trinke, ich spucke dich an. Ich bin Verbrecher, bin Oma, bin Student. Ich bin bei der Stadt. Ich gehe zum Bund. Ich komm von zuhause. Ich ziehe noch weiter. Ich kehre hier ein. [...] Wems hilft, hilfts. Ich schnarche beim Schlafen. Mir doch egal. Ich schlafe im Freien. Ich fliege. Ich denke. Ich rede beim Sprechen. Und trinke, was geht. Ich muss manchmal brechen. Ich wasch mir den Mund. Ich kämme den Bart. Und singe und bück mich. Ich knie. Ich rufe. Ich lebe. [...] Ich höre Musik. Ich spiele die Geige. Ich spiele Klavier. Ich spiele mit Platten. [...] Ich kratz mich am Knie. Mich juckts am Popo. [...] Ich sag irgendwas Weiches. Ich sage Genuss. Ich sage die Liebe. Sag Sagen von früher. Lang her auch, die Kindheit. [...] Ich tropfe. Es klopft. Die Türe geht auf. Ich schau aus dem Fenster. Ich sitze am Fluss. Ich treibe im Wasser. Ich krieg keine Luft. Ich schluck einen Schluck. Ertrinken kann jeder. [...] Dabei fällt mir ein. Ich wollte doch vorhin. Ich glaube, die Traube. Der Wein und das Bier. Das Boot und der Schinken. Die Laube und wir. Ich glaube wir haben. Ich sinke nach hinten. Ich sink wie ich singe. Ich gröle ein bisschen. Ich liege am Rücken. Ich liege am Bauch. Ich bin nicht betrunken. Ich bin nur berauscht. Ich rausche und lausche und tausche die Dinge. [...] Ich denke, das war’s. Ich sage, mach’s gut. Ich rufe, bis dann. Ich lache, die Lache.“538 Anhand der Verschiebungen im Wortlaut, den lexikalischen Wiederholungen und den Binnenreimen lässt sich hier ein Vorgang der Wegnahme, des Abtragens feststellen. In Hinblick auf das Verfahren des Schnitzens, das erst nach und nach durch das Abtragen der Holzschicht eine Form in das Material bringt, kann hier ein analoges Verfahren beobachtet werden. Beispielsweise lassen Bewegungen, wie etwa von „rausche“ zu „lausche“ und „tausche“ durch die phonetische Vorwärtsbewegung eine steigende Klarheit zu, zumal die Lautproduktion sich vom hinteren Mundraum immer weiter nach vorn verlagert. Das Material der Sprache wird einer Art Schnitzen unterzogen, das mit dem „Herausarbeiten und 538 Goetz, JK, S. 96ff. 146 Konturieren eines immer schärfer werdenden Profils“539 einhergehe, so Stricker. 6.4.2.4 Wall of Words Die 4. Unterszene des 1. Aktes, „wall of words“, welche im Club spielt, dient wie etwa auch die Szene „let the bass kick“ der performativen sprachlichen Umsetzung der narkotisierenden, schummrigen und lauten Clubatmosphäre, wie bereits in Kapitel 6.3.2 angeführt wurde. Der Titel „Wall of words“ ist erneut programmatisch für den darauffolgenden Textblock und weckt Assoziationen zur Atmosphäre und Räumlichkeit der Clubszene in mehrerlei Hinsicht. Zum einen lässt die rhythmische und syntaktische Anordnung des Textes an die Live-Arbeit eines DJs am Mischpult denken, der sich unter anderem des manuell eingesetzten Equalizers zur Modulation und Gestaltung der Techno-Musik bedient: Der entzerrende, ausschweifende Höhen und Tiefen ausgleichende Filter in der elektronischen Musik hat eine normalisierende Wirkung auf die Tongestaltung; sprich, dieses Mittel kann so eingesetzt werden, dass die einzelnen Klangeinheiten dem harmonischen musikalischen Gesamtkonstrukt angepasst werden und so extreme Ausschweifungen oder Verzerrungen verhindert werden. Auch können einzelne Elemente hervorgehoben werden, ohne dass der Gesamteindruck negativ beeinträchtig wird. Die sprachliche Gestaltung dieser Szene präsentiert einen Text als Schrift-Block ohne Absätze oder Leerstellen und weist von der Dynamik her eine zunehmende Verdichtung gegen Mitte der Unterszene auf. Die anfangs noch kurzen Sätze, die lautliche Harmonien erzeugen, werden zur Mitte hin immer länger und eindringlicher im Rhythmus. Dabei werden jedoch angerissene klangliche Ausschweifungen sofort wieder eingedämmt 539 Stricker, Text-Raum, S. 299. 147 und nach einem längeren, in sich geschlossenen Satz folgt meist ein kürzerer, der inhaltlich sofort wieder Haken schlägt und so mit dem Vorigen bricht. Dennoch bleibt durch die syntaktische konstante Holprigkeit ein Rhythmus erhalten, der eben mal beschleunigt und dann wieder mal ausgebremst wird. Äquivalent dazu oder als sprachlich umgesetzter Ersatz wird hier die auf die Variation von Rhythmen und repetitiven Klangmustern basierte, synthetisch produzierte elektronische Tanzmusik des Techno veranschaulicht, die aus den Lautsprechern im Club kommt. Neben der klanglichen Assoziation zu Instrumenten und Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Techno ist „wall of words“ auch aus typographischer Sicht interessant. Der blickdichte Wandblock weist ähnliche stilistische Mittel wie „Holzschnitt“ auf. Hier wird vorgeführt, wie Sprache auf der Stelle treten kann und zum blickdichten Vorgang werden kann: „Schon toll, so voll. So viel, so leicht. Beschmiert mit mir, zerkratzt ganz heiß. Die weiten Schriften, eingeniedet, die hohen Lieder abgestimmt. Jetzt ausverstaut, entsaut, betaut. Weiß nicht, wie falsch, wie wenig ohne. Weiß nur die Farbe und den warmen Mantel. Weiß deine Frage, gegen Ende, und nicht den Bruch im Klaren, die Verschiebung. Wir gehen kurz, wir liegen, wir träumten, trinken, trieben. Die Steine an der festen Wand, die Augen, Stahl, und hart auch die Gesichter, irgendwie zu hart. Kommt rüber, er, auch sie, in ihre Gewölle, zum Teppich, an der Schnur. Weicht aus ins Weichere der Flüssigkeit, nimmt neben sich die leise Haut, baut Bild und Form aus Plastilin. Den Streit ermüden, böse Sachen tilgen. Den Glanz abwaschen mit betrübten Sorgen, den Trotz kaputten und die Stränge wecken, das so Erweckte weg verstecken, dann ausentleiben und besorgen. [...] Musik im engen Dach, am Hirn erhellt, erst rund, zurück, jetzt wieder vor. [...] Nicht viel, tu weg. Nur dass du mich, wir uns, wie es. Es müsste dann, auch mit, auch deine, und wenn ich spüre, eine kleine, weiß nicht, wie wir, auch sie bereits, wir auch, in früheren beschalt. Schon so was wie, und dann? Betraute Aufsicht, unbehütet.“540 Auffällig ist, dass es beim kleinsten narrativen Aufbau eine Verschiebung in den Signifikanten gibt, sodass jeglicher scheinbarer Sinnzusammenhang sofort vom Vorigen abgekoppelt oder neu durchmischt wird. Achim Stricker sieht in den in Sackgassen endenden Text-Bewegungen, die ins Leere führen oder sich in Widersprüchlichkeiten verstricken „ein körperlich540 Goetz, JK, S. 16f. 148 räumliches Vor und Zurück.“541 Das heißt, dass anstelle einer sprachlichen Entwicklung, die auf Kommunikation abzielt, jeder initiierte Sinnaufbau hier sofort wieder verhindert wird. Derart eignet sich diese Schreibweise eine Art der Konkretion von Sinn an, was eigentlich eher den Qualitäten des Bildes zugerechnet wird. Die Besonderheit des Bildes gegenüber der Sprache wird in der Bildwissenschaft nach G. Boehm mit dem Begriff der „ikonischen Differenz“542 beschrieben. Demnach stelle das Bild seinen Überschuss an Zeichenhaftigkeit bei gleichzeitiger Präzision des Zeichens offen aus im Gegensatz zur Wortsprache, deren Bedeutung der Signifikanten sich nur aus der Differenz zu anderen Signifikanten generiert und so verschleiert, dass es hinter einem Signifikanten ein klares und präzise festzulegendes Signifikat gebe. Dem Strukturalisten Ferdinand Saussure zufolge, nach dem sich ein Zeichen aus der arbiträren Verbindung zwischen Signifikat (Signifié, Bezeichnetes) und Signifikant (Signifiant, Bezeichnendes) zusammensetzt, entsteht Bedeutung in der Sprache grundsätzlich nur über Differenzen. Saussure behauptet zudem, dass es im Grunde keine klare Grenze zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat gibt; es reiche ein Blick in das Wörterbuch, wo immer nur auf etwas anderes verwiesen wird, das nichts anderes als ein anderer Signifikant beziehungsweise ein anderes Signifikat ist. Folglich kann die Bedeutung eines Zeichens auch nie eindeutig festgelegt werden, weil das Zeichen selbst aus vielen verschiedenen Differenzen besteht, die zwischen den Signifikaten, also Konzepten existieren und so selbst nicht den Endpunkt im Zeichensystem darstellen.543 Die Aussage des Zeichens bleibt also technisch gesehen unscharf. Im 541 Stricker, Text-Raum, S. 299. Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Hg. Achim Trebeß, Stuttgart: J.B. Metzler 2006, S. 66. 543 Vgl. Eagleton, Literary Theory, S. 110f. 542 149 Gegensatz dazu wird in der zuvor beschriebenen Szene im Stück kraft der materialorientierten Verwendung von Signifikanten, alles dafür unternommen diese 1:1-Entsprechung von Signifikat und Signifkant zu erreichen. Mehr noch als zu einer Sinnlosigkeit kommt es in den sprachlichen Verfahrensweisen der Szene „wall of words“ zur Vergegenwärtigung von Sinn, zumal Bedeutung hier nur von den Signifikanten ausgehend determiniert wird und nicht von metaphysischen, vom Text losgelösten Konzepten. Anders als Hägeles Vermutung (siehe 3.1.3), dass Goetz aufgrund seiner Hinwendung zum Gesprochenen in der Tradition des Phonozentrismus stehe, lässt sich anhand der performativen Sprachverwendung, in der jede Art von Glauben an eine zugrundeliegende Wahrheit, Essenz oder Wirklichkeit eines transzendenten Sinnes verhindert wird, nicht wirklich auch eine logozentrische Ausrichtung finden, was auch mit phonozentrischer Schreibtradition verbunden wird.544 6.4.2.5 Das Bild und die Vision Trotz aleatorischen Charakters der Reihenfolge der Akte im Stück scheint eine zirkuläre Ordnung erkennbar, welche das Sujet der Genese von Kunst abbildet. Der 4. Akt („Zweiter Akt“) durchläuft die Stufen der Schöpfung des Kunstwerks in sich anhand der verschiedenen Orte und jeweiligen Prozessphasen (Zuhause, Atelier, Pressetermin, Konzeption, an der frischen Luft, Holzschnitt, Skulptur und Skizze). Der 7. und letzte Akt stellt schließlich das Ende des Schaffensprozesses dar. Die Zahl 7 lässt an die sieben Tage der Schöpfung denken und weiter gedacht an den Künstler als göttlichen Kreator. Als Ort des 7. Abschnitts wird nur der Titel „DAS BILD“ ausgewiesen und die einzige Szene hat den Titel „I. Vision“. Im Akt geht es um die eingekehrte Ruhe nach dem Schaffensprozess und den Moment der Betrachtung des Kunstwerks: 544 Vgl. Eagleton, Literary Theory, S. 113. 150 „dann ging ich raus plötzlich war es still und diese Stille Ruhe auch in mir und ich atmete ein ich blieb stehen, ich lauschte und dachte: ja, genau sehr geil jetzt, diese Ruhe plötzlich die Stille, das auch mich zu von den Nichtworten her“545 In der morgendlichen Ruhe an der frischen Luft, also in einer Bewegung nach draußen zum ersten Mal im Stück, scheint der Künstler keinen Konflikt mehr im Sinne eines „Nie der Harmonie“546 auszutragen, sondern zum Abschluss der Genese gekommen zu sein, wie mit dem letzten Akt als siebtes Bild der Reihe suggeriert wird: „eine schöne Sache ein Tag Leben und drei Nächte die sieben Bilder in der Galerie nicht übergroß, gerade richtig so dass man denkt, wenn man das sieht, ja, doch, das passt“547 Passend zum Titel geht es nun um eine meditative Beschauung oder Besinnung auf das Kreierte als Resultat der angelegten Zyklushaftigkeit der Kunstgenese. Zugleich resümiert hier Goetz auch sein poetologisches Vorhaben, stets das Andere im Identen zu suchen und fruchtbare Reibungen zu produzieren: „und ich sah die Welt vor mir eine Kunst, sah eine Malerei, die ich sah Menschen und ihre Gesichter sah unser einander, das gleiche wie es sich trennt, weil es spricht sich da bricht, argumentiert und 545 Goetz, JK, S. 155. Ebd., Index. 547 Ebd., S. 156. 546 151 verliert und wieder gewinnt neu“548 Hier kommentiert der Künstler die Herausforderung, die er der Schrift unterzogen hat, um der „Sehnsucht“549 nach dem Bild nachzugehen, die er in diesem Stadium vorübergehend erreicht zu haben scheint: „da waren Trost und Präzision und mehr, als man verstehen kann da war Ballung, Wucht, Totale, irre viel Gesagtes und Ruhe zugleich da war das alles irgendwie zusammen noch“550 Diese abschließende Reflexion lässt vermuten, dass die konfliktreiche intermediale Begegnung von Bild und Schrift, die durchaus fruchtbar war und zur Annäherung und medialen Überschreitung, ja Ausreizung, geführt hat, mit dem Resultat des Stillstands, der Formfindung auch wieder zur Ruhe gekommen ist und sich die Zeichensysteme nun wieder auseinanderdividiert haben. Das bis dato stets changierende Erzählverhalten wechselt nun im letzten Abschnitt von der Außenperspektive der Beobachtung des Künstlers („ihn“) in die Innenperspektive des lyrischen Ichs, was den Aspekt der Harmonie als Resultat einer Vollendung unterstreicht und zugleich auch einen Subjekt-Findungsprozess mit sich bringt: „und sah ihn das sehen und aufatmen, nicken und gehen und ging also heim nach Hause schon müde beinahe und hörte es bumpern im Herzen ba dum, ba dum hielt still kurz, und lauschte“551 548 Goetz, JK, S. 157. Ebd. 550 Ebd., S. 158. 551 Ebd., S. 158f. 549 152 Die ausgeklügelte Struktur des Stücks, mitsamt seinen mathematischen, geometrischen und numerischen Rahmungen sowie komplexen Verdichtungen anhand von Mottos und intertextuellen wie auch intermedialen Verschränkungen, kann demnach als „Gebrauchs- und Handlungsanweisung“552 für die szenische Umsetzung verstanden werden. Wie Sibylle Peters daraus schlussfolgert, bedeutet dies, dass „in der Lektüre [...] ständig die Möglichkeit szenischer Entscheidungen präsent [ist]“553, jedoch werden diese nicht vorweggenommen, sondern bleiben lediglich ein Angebot für die Leserschaft. Trotz eines peniblen Ordnungssystems lässt dieser Theatertext vermuten, dass der dramatische Text bei Goetz auch ‚nur’ Material für das inszenatorische Bühnenhandwerk sein soll, zumal er als Autor eine selbst festgelegte „reine Textposition“554 einnimmt. Gerade aber die minimalistische Anlage des Stücks mit seinen losen, sich überlagernden Räumen, lassen Platz zum Ausfüllen, was wiederum für die angedachte Fortschreibung dieses Textes als Inszenierung in einem theatralen Raum spricht. 552 Peters, „Theater des Textes“, S. 136. Ebd. 554 Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, S. 116. 553 153 7 Conclusio In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, sich dem Verhältnis von Körperlichkeit und Schrift bei Rainald Goetz über seinen Theatertext Jeff Koons anzunähern und diesen auf intertextuelle, performative und intermediale Strukturen hin zu untersuchen. Goetz, dessen Körperlichkeitskonzept an die Parameter Gegenwart, Intensität und Unmittelbarkeit gebunden ist, nähert sich den Raum-, Zeit- und Bildkünsten, um die präsenzfeindliche und logozentrisch geprägte Schrift zu transformieren. Für seinen medienkritischen Anspruch nutzt Goetz im Fall des Stücks Jeff Koons auch die Konstituenten des Theaters, als der Ort der Unwiederholbarkeit und Präsenz schlechthin, das für das Dazwischen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, An- und Abwesendem, steht. In diesem Testlauf für die Schrift werden diese eben genannten Unterscheidungen radikal vermischt und vorhandene Lücken in den normierten Verbindungen zwischen Signifikanten und Signifikaten durch maximale Konkretion bis auf die Spitze getrieben. Zugleich wird Konkretion hier zur Kippfigur für Abstraktion, da beide Arten der Lektüre in dieser Sprachbearbeitung gleichermaßen präsent und oftmals ununterscheidbar sind. Daraus entsteht ein Theatralitätskonzept, das weit über den unmittelbaren Bezug eines Theatertextes als Vorlage für die Bühne reicht. Theater oder Theatralität bilden hier umgekehrt selbst ein intermediales Modell mit metaphorischem Charakter für die Schrift, welches die paradoxe Gleichzeitigkeit von Präsenz, Körperlichkeit und Repräsentationsanspruch bei aller Zeichendichte in sich vereint und das Verhältnis von Vorstellung und Verkörperung immer wieder ausstellt und befragt: „Denn das Theater ist der Ort, wo Körper Worte werden und Bedeutungen agiert werden, wo Zeichen dicht und sinnlich greifbar sind. Andererseits ist hier die 154 Perfidie des Scheins am weitesten getrieben, bedient sich die Suggestion von Gegenwärtigkeit des Menschenkörpers als Zeichenträger, werden dem toten Sprechen lebendige Leiber beigestellt.“555 Theater wird demnach zu einer Metaebene für Goetz’ Schreiben, um das Material Sprache der Ereignishaftigkeit und Unmittelbarkeit anzunähern und dadurch „Sprach-Ereignisse“556 zu evozieren. Goetz’ Arbeit mit den materiellen Qualitäten von Schrift erschließt sich als räumlich-szenische, klangliche und visuelle Komposition. Es lässt darauf schließen, dass er von einer synästhetischen Disposition menschlicher Sinneswahrnehmung ausgeht und Sprache derart intermedialen und performativen Verfahren unterzieht, die sich eben nicht auf verbale Komponenten beschränken, sondern auch nonverbale, sprich körpersprachliche, visuelle wie auch akustische Elemente mit einbezieht.557 Dieser Anspruch von Goetz thematisiert damit auch Sprache und Kommunikationsformen im digitalen Zeitalter, in dem die Grenzverwischung mündlich/schriftlich, schriftlich/bildlich, wie etwa im Hypertext, der Verbales mit Visuellem vereint oder beispielsweise in den Formaten E-Mail, SMS und Blogs, in denen die Geschwindigkeit der Kommunikation eher einer Situation eines face-to-face-Sprechen gleichkommt, allgegenwärtig ist. Der abstrakte und doch streng kompositorische Charakter des Theatertextes Jeff Koons lässt eine breite Annäherung und viele Lesearten zu. In Hinblick auf den Theatertext wurde festgestellt, dass Aleatorik und Serialität maßgeblich den Aufbau bestimmen. Anhand der sich abwechselnden Sprechperspektiven sowie der mathematisch strukturierten Silben, Wortund Satzgebilde zu dichten Bildflächen, lädt sich das Textmaterial energetisch auf und gewinnt an Intensität. Ein ebenfalls bedeutsamer Faktor spielt das Stilmittel der Wiederholung, das Goetz durch verschiedenste Arten und Weisen einsetzt, wie etwa anhand sich wiederholender identer 555 Winkels, „Krieg den Zeichen“, S. 254. Stricker, Text-Raum, S. 279. 557 Vgl. Ebd., S. 60. 556 155 Orte, Situationen, Titel und ganzer Textabschnitte oder auch in Form rhetorischer Figuren, wie etwa Reimen, Wort- und Satzfiguren. Dies erzeugt vor allem den Effekt, dass jeglicher potenziell symbolischer oder narrativer Gehalt unterbrochen und somit auf einen Nullpunkt zurückgeführt, sprich vergegenwärtigt wird. Die Rede ist von der Präsenz einer Texttheatralität, einer autopoietischen Qualität, wonach performative oder inszenatorische Dimensionen im Text selbst vorhanden sind. Hier wird der Text selbst also zu einer Bühne für die Sprache. In der Analyse wurden Verfahren der Rhythmisierung, Musikalisierung sowie der bildgraphischen Textgestaltung aufgezeigt. Auch Kippfiguren und Vexierbilder, die mehrdeutige Lesearten zur Folge haben und Triviales zur abstrakten Projektionsfläche werden lassen, bilden wesentliche Stilmittel dieser Poetik der „Engführung von Realem und Symbolischen zur physischen Tatsache“558. Dabei wird vor allem klar, dass eine Unterteilung in Form und Inhalt keinen Sinn macht, denn das vermeintliche Sujet des Künstlertypen, wie durch Jeff Koons angedeutet, ist selbst nur Oberfläche für den Text. Tatsächlich gibt es im Stück gemäß des Pop-Anspruches keine Unterscheidung in Innen und Außen, profan und sakral, buchstäblich und metaphorisch. Alle Elemente stehen zueinander in einer Art demokratischen Gleichberechtigung. Die intertextuelle Diskursanalyse zu Jeff Koons und dem Kunstmarkt hat gezeigt, dass der Künstlertypus im gegenwärtigen Zeitgeist universell geworden ist und die Selbstverwirklichung auch den Preis einer allgemein größeren Akzeptanz von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen mit sich bringt. Die im Stück angedeutete Nähe sozialer Grauzonen signalisiert auch Kritik an der Vorstellung des Künstlers als unabhängige Ich-AG angesichts gegenwärtiger prekärer neoliberaler Lebensbedingungen, was sich als gesamtgesellschaftliche Tendenz hin zur Prekarisierung und Untergrabung 558 Stricker, Text-Raum, S. 268. 156 von Freiheit und Selbstbestimmung in Wohlstandsgesellschaften ausweiten lässt. Trotz der Konstatierung dieses Dilemmas am Rande belässt es Goetz nicht bei der Ideologiekritik, so ist Jeff Koons trotz des Einblicks in die Abgründe dieser neurotischen Künstlerbiographie dennoch ein lebensbejahendes Statement zur populären Kultur der Gegenwart. Dies ist vermutlich seinem letztendlich positiv geprägten Begriff von Pop und/als Kunst geschuldet. Kunst nähert sich hier dem Populären der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft und kaleidoskopischen rein gegenwartsbezogenen Blicks, der sowohl Kultur die anhand Augen vor eines den Wirklichkeitsverhältnissen nicht verschließt, als auch die Distanz vom Blickwinkel der Kunst aus, wahrt: „Man kann Jeff Koons als Aneinanderreihung von Gemälden sehen, als Momentaufnahme eines »Pop-Zustands«, als »öffentlicher Raum«, in dem sich die Gesellschaft bewegt und den Rainald Goetz in seinem Heute Morgen-Zyklus darstellen möchte. [...] Der Künstler Jeff Koons kann als beides verstanden werden: als populäre Kultur und als deren ironische Brechung anhand seiner Kunstwerke.“559 Gemäß seines Popbekenntnisses, das stets durch Schlupflöcher versucht, sich einen Zugang zu den meinungsbildenden, intellektuellen Autoritäten zu verschaffen, ist Jeff Koons auch der provokative Versuch, Theater abseits einer traditionellen, sprich bürgerlichen Theaterpraxis neu auszurichten oder zumindest herauszufordern. Mehr noch strebt Goetz’ romantischer, lebensbejahender Popbegriff danach, Sprache in energetischen Intensitäten aufgehen zu lassen und die Barrieren der Gattungen und Rahmen hinter sich zu lassen. Wie die Analyse gezeigt hat, benutzt er dafür intertextuelle, intermediale und performative Verfahren. In diesem Zusammenhang wurde Goetz’ Pop-Methode in der Tradition der Szenographie und dem Entwurf einer körperlichen Sehreibweise gemäß der 559 Seiler, »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 301. 157 ‚écriture corporelle’ sowie im Rahmen der von Roland Barthes geprägten szenischen Semiotik kontextualisiert. Goetz’ Popbegriff, der sich stark an Gegensätzen sowie Gegenwart und Körperlichkeit orientiert, hat sich mit dem Stück Jeff Koons als radikalen theatralen und sprachlichen Entwurf realisiert, der die Suspendierung dramatischer Konventionen zugunsten einer Inszenierung der Sprache vorzieht: Die Bühne oder die Szene wird in diesem Theater zu einem Ort der ‚Écriture’. Sein Theatertext liest sich sowohl als potenzielle Vorlage, wie auch als autonomer Text, als theatral entworfene Poesie, die Teil eines ästhetischen Programms ist. Insofern geht es Goetz nach Schößler um ein „Theater der Potenzialität, [das] mögliche Dramen und mögliche Sprechweisen“ [konzipiert und] die sprachlichen wie darstellerischen Konventionen des Theaters ausstell[t]“.560 Goetz selbst hat sein Theater des Textes als eines formuliert, das Produktion und Rezeption von Text immer wieder zum zentralen Thema macht. Performativität und Medialität werden als konzeptuelles Zusammenspiel für sein Texttheater konstitutiv, womit er den Grundkonflikt des modernen Theaters, die Polarisierung Text und Aufführung, anhand seiner Entwürfe mit aufgreift. Der Reiz dieses Schreibens besteht also darin, „die klassischmoderne Polarisierung zwischen Performance und Text gar nicht erst aufkommen zu lassen“561, wie Sybille Peters resümiert. Das wäre auch die mit dem Schreiben generell und für die Bühne sich stellende „Lebendigkeitsaufgabe“562 für die Schrift. Demnach würde hier Theatralität als konzeptueller Zugriff und formaler Unterbau für das Schreiben genutzt, ohne jedoch eine mögliche Aufführung vorwegzunehmen, zumal die Texte für die Bühne von Goetz ausgewiesene ‚Stücke’ sind und für eine Aufführung gedacht, nur eben für die doppelte, könnte man sagen: Als theatral konzipierte textliche Inszenierung einerseits 560 Schößler, „Zeit und Raum in Dramen der 1990er Jahre“, S. 244. Peters, „Theater des Textes“, S. 135. 562 Goetz, Abfall für alle, S. 271. 561 158 und als Text, der sich in seiner Hinwendung zur Bühne eine mögliche Bühnenumsetzung nicht negiert. Letztendlich entspricht dieser Probe der Schrift aufs Exempel Theater auch dem poptheoretisch geprägten Kunstverständnis von Rainald Goetz: „Kunst muss den Umweg reicheren Weg zum Verstanden werden gehen, über die Abstoßung, die der Schreck auslöst, den Kunst speichert, in ihrer Weltsicht, ihrer Transformationen des Realen als Ganzen, mit allem Horror, in etwas letztlich doch unweigerlich Schönes. PRAXIS.“563 Demzufolge bleibt Distanzierung von Welt mittels einer ästhetischen Erkenntniskategorie, die sozusagen eine „Beobachtung der Beobachtung“564 unternimmt und dabei den blinden Fleck der eigenen Perspektive mit reflektiert, wie sowohl von der deutschen Poptheorie rund um Diederichsen als auch von der Goetz affinen Systemtheorie Luhmanns angedacht, eine Qualität von Kunst. 563 564 Goetz, Abfall für alle, S. 162. Schäfer, „Luhmann als ‚Pop’“, S. 269. 159 8 Mediographie 8.1 Literaturverzeichnis Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin, Deutsch von Gerd Henninger, Frankfurt a.M.: Fischer 1986 (Orig. Le Théâtre et son double. Le théâtre de Séraphin, Paris: Éditions Gallimard 1964). Baisch, Martin/Roger Lüdeke, „Was kommt? Was geschieht? Was ergibt sich gleich? Textgenese in Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesung Praxis“, in: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997. Nr. 389, Hg. Von Adolf Haslinger et al., Stuttgart: Hans-Dieter Heinz 2000, S. 139-173. Barthes, Roland, Die Lust am Text, übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 (im Orig. Le plaisir du texte; Éd. du Seuil 1973). Barthes, Roland. Leçon. Lektion. Französisch und Deutsch, Antrittsvorlesung im Collège de France, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Barthes, Roland, Oeuvres Complètes, Èdition établie et présentée par Éric Marty. Tome I 1942-1965, Tome II 1966-1973, Tome III 1974-1980, Paris: Éd. du Seuil 1995. Barthes, Roland, Sade, Fourier, Loyola, Vorwort, übers. von Richard Miller, Baltimore: John Hopkins University Press 1976 (Orig. Paris: Éd. du Seuil 1971). Bauman, Zygmunt, Wir Lebenskünstler, aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin: Suhrkamp 12010 (im Orig. The Art of Life, Cambridge: Polity Press 2008). 160 Biller, Maxim, Ichzeit, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/unsere-literarischeepoche-ichzeit-11447220.html, Stand: 01.10.2011, 19.08.2015. Birkenhauer, Theresia, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Čechov. Genet, Beckett, Müller, Berlin: Vorwerk 8 2005. Brinkmann, Rolf Dieter, Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos Collagen 1965-1974, Reinbek: Rowohlt 11982. Brooks, David, Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There, New York: Simon & Schuster 2000. Buchwaldt, Martin, Ästhetische Radikalisierung. Theorie und Lektüre deutschsprachiger Theatertexte der achtziger Jahre, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2007. Culler, Jonathan, Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Reclam 2002 (im Orig. Literary Theory. A very short Introduction, Oxford: Oxford University Press 1997). Diederichsen, Diedrich, Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln: Kiepenheuer & Witsch 22009 (Orig. 2008). Diederichsen, Diedrich, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993. Diederichsen, Diedrich: „Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch“, in: Texte zur Theorie des Pop, Hg. Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke, Stuttgart: Reclam 2013, S. 185-199. 161 Diederichsen, Diedrich, Sexbeat, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 22010 (Orig.1985). Doktor, Thomas/Carla Spies, „Rainald Goetz“, in: Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Hg. Alo Allkemper/Norbert Otto Eke, Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 858-883. Eagleton, Terry, Literary Theory. An Introduction, Oxford: Blackwell 2 1997. Eckel, Winfried, „Mallarmé, Stéphane“, in: Metzler Lexikon Weltliteratur. 1000 Autoren von der Antike bis zur Gegenwart, Hg. Axel Ruckaberle, Stuttgart: J.B. Metzler 2006. Eckel, Winfried, „Mallarmé, Stéphane (1842-1898)“, in: Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe, Hg. Monika Schmitz-Evans et al., Berlin: De Gruyter 2009, S. 267-269. Fiedler, Leslie A., „Überquert die Grenze, schließt den Graben! (1968)“, in: Texte zur Theorie des Pop, Hg. Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke, Stuttgart: Reclam 2013, S. 79-103. Finter, Helga, Der subjektive Raum. Band 1. Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels: Sprachräume des Imaginären, Tübingen: Gunter Narr 1990. Finter, Helga, Der subjektive Raum. Band. 2 ... der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll: Antonin Artaud und die Utopie des Theaters, Tübingen: Gunter Narr 1990. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung. Das Performative, Tübingen: A. Francke 2001. 162 Semiotische und das Fischer-Lichte, Erika, „Theatralität und Inszenierung“, in: Inszenierung von Authentizität, Hg. Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Isabel Pflug/Matthias Warstat, Tübingen: A. Francke 22007 (Orig. 2000), S. 928. Geer, Nadja, Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Westwärts. Studien zur Popkultur 1, Göttingen: V&R unipress 2012. Goetz, Rainald, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M: Suhrkamp 12003 (Orig. 1999). Goetz, Rainald, Celebration. Texte und Bilder zur Nacht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Goetz, Rainald, Hirn. Schrift, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 12003 (Orig. 1986). Goetz, Rainald, Irre. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Goetz, Rainald, Jahrzehnt der schönen Frauen, Berlin: Merve 2001. Goetz, Rainald, Jeff Koons. Stück, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 12002 (Orig. 1998). Goetz, Rainald, „jeff koons“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 8.2. 2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 33. Goetz, Rainald, Kontrolliert – Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Goetz, Rainald, Kronos. Berichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Goetz, Rainald, Rave. Erzählung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 72013 (Orig. 1998). 163 Groddeck, Wolfgang, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel: Stroemfeld 1995. Gropp, Petra, „‚Ich/Goetz/Raspe/Dichter’“, in: Schriftsteller- Inszenierungen, Hg. Gunter E. Grimm/Christian Schärf, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 231-247. Hackett, Regina, „Restorer rescues ‚Saint John’ after Koons’ sculpture is damaged“, http://www.seattlepi.com/ae/article/Restorer-rescues-Saint-John-afterKoons-1142488.php, Seattle News, Stand: 18.04.2004, 02.10.2015. Hage, Volker/Wolfgang Höbel, „Ein Hau ins Lächerliche“, in: Der Spiegel 50/1999, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15239696.html, Stand: 13.12.1999, 18.05.2015. Hägele, Christoph, Politische Subjekt- und Machtbegriffe in den Werken von Rainald Goetz und Thomas Meinecke, Studienverlag: Innsbruck 2010. Hempfer, Klaus W./Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen, Bielefeld: Transcript 2011. Hüsch, Anette (Hg.), „Archetypen zum Überleben. Oder wie die Kunst trösten kann“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 8.2. 2009, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 35-49. o.A., Jurybegründung Berliner Literaturpreis 2012, www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2011/fup_11_358/, Stand: 21.11.2011, 22.10.2015. 164 o.A., Jurybegründung Büchner-Preis 2015, www.deutscheakademie.de/de/akademie/presse/2015-07-08/buechnerpreis-2015-geht-an-rainald-goetz, Stand: 08.07.2015, 22.10.2015. Knobloch, Clemens, „Text/Textualität“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Band 6, Hg. Karlheinz Barck et al., Stuttgart: J.B. Metzler 2005, S. 2347. Knörer, Ekkehard, „Virtuosenstück der Bejahung. Rainald Goetz’ Theaterstück ‚Jeff Koons’“, www.jump-cut.de/rainaldgoetz.html, 22.10.2015. Koons, Jeff im Gespräch mit Peter-Klaus Schuster, in Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 8.2. 2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 16-31. Krämer, Sybille (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004. Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung von Reinold Werner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978 (im Orig. La révolution du langage poétique, Paris: Éd. du Seuil 1974). Kühn, Rainer, „Rainald Goetz“, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG – 10/04), Hg. Heinz Ludwig Arnold, München: 78.NIg. 2004, S. 1-12. Künzel, Christine, „Einleitung“, in: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Hg. Christine Künzel/Jörg Schönert, Würzburg: Könighausen & Neumann 2007, S. 9-25. 165 Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 32005 (Orig. 1999). Löser, Philipp, Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. Lüthy, Michael/Christoph Menke, „Einleitung“, in: Hg. Michael Lüthy/Christoph Menke, Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Berlin: Diaphanes 2006, S. 7-11. Mallarmé, Stéphane, Oeuvres Complètes, II, Hg. Bertrand Marchal (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 2003. Mallarmé, Stéphane, „Quant au livre“, in: Poésies-Prose, Hg. Henri Mondor/G. Jean-Aubry (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 1945, S. 369-387. Mallarmé, Stéphane, „Un coup de dés“, in: Poésies-Prose, Hg. Henri Mondor/G. Jean-Aubry (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Éditions Gallimard 1945, S. 453-477. Mersch, Dieter, „Einleitung“, in: Performativität und Praxis, Hg. Jens Kertscher/Dieter Mersch, München: Wilhelm Fink 2003. Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Hg. Achim Trebeß, Stuttgart: J.B. Metzler 2006. Meyer, Petra Maria, Intermedialität des Theaters – Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf: Parega 2001 (Zugl.: Mainz, Univ., Habil.-Schr. 1998). o.A., Munzinger-Archiv online, „Rainald Goetz“, 166 www.munzinger.de/search/portrait/Rainald+Goetz/0/20872.html, Stand: KW 28/2015, 22.10.2015. Müller, Matthias, „Zwischen Theater und Literatur – Notizen zur Lage einer heiklen Gattung“, in: Deutsches Drama der 80er Jahre, Hg. Richard Weber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 399-430. Neumann, Gerhard, „Einleitung“, in: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Hg. Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber, Freiburg im Bresgau: Rombach 12000, S. 1135. Opel, Anna, Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik - Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane, Bielefeld: Aisthesis 2002. Pavis, Patrice, Dictionnaire du Théatre. Termes et concepts de l’analyse théatrale, Paris: Éditions sociales 1980. Peters, Sibylle, „Theater des Textes: Rainald Goetz’ Frankfurter Poetikvorlesungen und das Stück Jeff Koons“, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Hg. Hans-Peter Bayerdörfer/Małgorzata Leyko/Evelyn Deutsch-Schreiner, Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 132-142. Pfister, Manfred, „Konzepte der Intertextualität“, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Hg. Ulrich Broich/Manfred Pfister, Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 1-30. Poschmann, Gerda, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: de Gruyter 1997. 167 Rajewsky, Irina, Intermedialität, Tübingen: A. Francke 2000. Rohde, Carsten, „German Pop Literature – Rolf Dieter Brinkmann and what came after“, in: German-Language Literature Today – International and Popular?, Hg. Arthur Williams/Stuart Parkes/Julian Preece, Oxford: Lang 2000, S. 295-308. Roselt, Jens, „Postmodernes Theater – Subjekt in Rotation“, in: Räume der literarischen Postmoderne – Gender, Performativität, Globalisierung, Hg. Paul Michael Lützeler, Tübingen: Stauffenberg 2000, S. 147-166. Schäfer, Martin Jörg, „Fantasy Realism: Rainald Goetz, Jeff Koons, and the Ethics of Pop Art“. Germanic Review 81(3) 2006, S. 255-268. Schäfer, Martin Jörg, „Luhmann als ‚Pop’. Zum ‚ästhetischen System’ Rainald Goetz”, in: Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Hg. Christian Huck/Carsten Zorn, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage 2007, S. 262-283. o.A., Schlingensief, Christoph, Homepage, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t024, 05.01.2016. Schößler, Franziska, „Zeit und Raum in Dramen der 1990er Jahre – Elfriede Jelinek, Rainald Goetz und Marlene Streeruwitz“, in: Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Hg. Georg Mein/Markus Rieger-Ladich, Bielefeld: transcript 2004, S. 235257. Schuhmacher, Eckhard, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Seiler, Sascha, »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960, 2006, S. 301, 168 www.books.google.at/books?id=dEVy8SBDXrMC&pg=PA301&lpg=P A301&dq=Jeff+koons+Goetz+Abschreiben+Welt&source=bl&ots=CR WRuiLaYG&sig=rb3khcIHDJJp7gYjSRd9ELDhylU&hl=de&sa=X&ei= w2N1VbvXIeLnygOi4D4Dg&ved=0CB8Q6AEwAA#v=onepage&q=Jef f%20koons%20Goetz%20Abschreiben%20Welt&f=false, 22.10.2015. Steland, Dieter, Dialektische Gedanken in Stéphane Mallarmés ‚Divagations’, München: Wilhelm Fink 1965. Stricker, Achim, Text-Raum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz, Heidelberg: Winter 2007. Ursprung, Philipp, Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute, München: C.H. Beck Verlag 22012 (Orig. 2010). Weber, Richard, „‚...noch KV (kv)’: Rainald Goetz. Mutmaßungen über ‚Krieg’“, in: Deutsches Drama der 80er Jahre, Hg. Richard Weber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 120-148. Weiss, Christina/Peter-Klaus Schuster, „Vorwort“, in: Jeff Koons. Celebration. Ausstellungskatalog. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 31.10.2008 – 8.2. 2009, Hg. Anette Hüsch, Ostfildern: Hatje Cantz 2008. Wildgruber, Gerald, „Die Instanz der Szene im Denken der Sprache“, in: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Hg. Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber, Freiburg im Bresgau: Rombach 12000, S. 35-63. Wille, Franz, „Wo, bitte, geht’s hier zur Wirklichkeit?“, Theater heute Jahrbuch 2000, S. 82-93. 169 Windrich, Johannes, Technotheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard, Paderborn: Wilhelm Fink 2007. Winkels, Hubert, „Krieg den Zeichen. Rainald Goetz und die Wiederkehr des Körpers“, in: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre, Hg. Hubert Winkels, Köln: Kiepenheuer & Witsch 11991 (Orig. 1988), S. 221-267. o.A., ZEIT ONLINE, http://www.zeit.de/1997/37/Bertolt_Brecht_%C2%B4frau_luebeck_, Stand: 05.09.1997, 05.01.2016. 8.2 Video-Aufzeichnung im Internet Zusammenschnitt der Subito-Lesung des ORF, Ingeborg-Bachmann-Preis 1983, www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY, 0:53-09:17’, hochgeladen am 09.10.2010, 22.10.2015. 8.3 Bilderverzeichnis Koons, Jeff, St. John the Baptist, http://www.jeffkoons.com/artwork/banality/st-john-the-baptist, 22.10.2015. Koons, Jeff, Made in Heaven, http://www.jeffkoons.com/artwork/made-in-heaven, 10.01.2016. Koons, Jeff, Celebration, http://www.jeffkoons.com/artwork/celebration, 10.01.2016. 8.4 Symposium Sinn egal. Körper zwecklos. Postdramatik – Reflexion & Revision. Veranstaltet von der Forschungsplattform Elfriede Jelinek in Kooperation mit dem Elfriede Jelinek-Forschungszentrum, den Wiener Festwochen und der Kunsthalle Wien, 14.-18. Mai 2014. 170 Anhang Danksagung Zunächst gilt mein besonderer Dank meiner wissenschaftlichen Betreuerin Ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister, die immer mit Rat und Kritik zur Seite stand. Ebenso herzlich bedanken möchte ich mich bei Mag. Johannes Pitschl, der liebenswerterweise den Großteil dieser Arbeit redigiert hat sowie bei Sebastian Brunner, Alexandra Freya Issel, Benjamin Block, David Ruggiero, Nina Roser und Raimund Rosarius für das Lektorat und die konstruktive Kritik. Der gegenseitige Austausch mit meiner wertgeschätzten Peergroup hat mich stets aufs Neue inspiriert. Ich werde diese intensive Studienzeit in Wien sehr vermissen. Sehr dankbar bin ich auch meinen Eltern und Geschwistern für die großzügige Unterstützung während meines gesamten Studiums. 171 Abstract Diese Masterarbeit beschäftigt sich mit texttheatralen Elementen im Theaterstück Jeff Koons des Autors Rainald Goetz. Der explizit als Stück ausgewiesene Theatertext, in dem traditionelle Dramenkonventionen absent sind, wie etwa Rollenzuteilung oder die Unterscheidung in Sprech- und Zusatztext, lässt einen alternativen Zugang zum Genre Theatertext und Theatralität vermuten. Der genretrotzende Pop-Autor Goetz nutzt Theatralität als Metapher für sein der Aktualität und Körperlichkeit zugewandtes Schreiben. Es wird also der Frage nachgegangen, was hier zur Aufführung kommt und es wird versucht, jene textuellen Strukturen ausfindig zu machen, welche sinnliche und performative Qualitäten aufweisen und per se nicht mit dem Medium der Schrift assoziiert werden. Die Analyse zeigt, dass Goetz’ Text stark von Polaritäten bestimmt wird und der Schriftsteller sich dabei intertextueller, intermedialer sowie performativer Verfahrensweisen bedient, um eine Vielfalt an diskursiven Räumen zu durchkreuzen und somit auch zu vernetzen. Obwohl das Stück mit seiner streng durchkomponierten, dichten Form Züge einer Partitur aufweist, bleibt es durch seine zirkuläre und doppelbödige Struktur gleichzeitig offen für verschiedene Lesearten. Letztendlich fordert dieses vielschichtige literarische Werk mit seiner Spannung zwischen Konkretheit und Abstraktheit sowie seiner intermedialen Herangehensweise auch normativ gebrauchte Kategorisierungen von Literatur, Theater und Performativität heraus. 172 Abstract This master thesis is concerned with performative elements in Rainald Goetz’s text Jeff Koons. Despite being explicitly called a play by the author, traditional, dramatic conventions are absent, such as the distribution of roles or the clear division of text into dialogue and stage directions, leading to the assumption of an underlying alternative concept of theatricality. Goetz, known for defying genres and definitions, uses theatricality as a vehicle for his policy concerned with the presence and physicality of written language. The objective of this thesis is therefore to identify, what is being performed in Jeff Koons and which textual structures have sensible and performative qualities usually not associated with written language. The analysis shows that Goetz’s text is strongly determined by the friction resulting from juxtaposed oppositions. He applies intertextual and performative techniques as well as inter-media approaches in order to cross and thus interconnect different discursive spaces. Despite the strict and dense composition of the text, which shows traits of a musical score, its circular and ambiguous structure offers room for multiple interpretations to the reader. In the end, this multi-layered and complex literary work, meandering between concreteness and abstraction, challenges normative categorizations of literature, theatre and performativity. 173 Lebenslauf Kathrin Blasbichler Geboren 1985 in Brixen, Italien. Kontakt: kathrin.blasbichler@hotmail.com Bildungsweg Maturadiplom, Sprachengymnasium J.PH. Fallmerayer, Brixen, Italien (1999-2004) Bachelorstudium Theater-, Film-, Musik- und Kunstgeschichte, „Corso di Laurea in DAMS“ (Discipline delle arti, della musica e dello spettacolo), Universität Bologna, Italien (2004-2005) Bachelorstudium Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement, FH Kufstein, Bachelor of Arts in Business, B.A., Kufstein, Österreich (20052008) Auslandssemester an der Fakultät Bellas Artes, Universidad Mayor, Santiago de Chile, Chile (07-12/2007) Auslandsaufenthalt in Aberdeen, South Dakota, USA (09-12/2008) Bachelorstudium der Anglistik & Amerikanistik, Universität Wien, Bachelor of Arts, B.A. (2010-2014) Masterstudium der Theater-, Film- und Medientheorie, Universität Wien, seit 2010 Lehramtsstudium UF Englisch, UF Spanisch, Universität Wien, seit 2014 Praktika/Hospitanzen Journalistisches Praktikum bei der Südtiroler Wochenzeitung „FF“, FF Media GmbH Bozen, Italien (2003) 174 Hospitanz im Bereich Produktionsdramaturgie und Presse im Rahmen des Festivals „Brazil em cena“, HAU-Theater Hebbel am Ufer unter der Intendanz von Matthias Lilienthal, Berlin (2008) Regie-Hospitanz im Rahmen der Produktion „Undine geht an Land“ (Regie & Buch: Elisabeth Augustin), KosmosTheater, Wien (2013) Dramaturgie-Hospitanz im Rahmen der Produktion „Das Geisterhaus“ (Regie: Antú Romero Nunes), Burgtheater, Wien (2013/14) Mitverantwortliche Organisatorin des Foto-Wettbewerbs „scharfsicht – Wettbewerb für Fotografie im sozialen Raum“, unter der Betreuung von Dr. Hannah Stegmayer, in Kooperation mit Galerie Ainberger, Kufstein (2007) Arbeitserfahrung u.a. selbstständige Reiseleiterin (seit 2011), verschiedene organisatorische und vermittelnde Tätigkeiten in den Bereichen Sprachen, Bildung, Verwaltung sowie Kunst und Kultur (seit 2009), u.a. als Projektmitarbeiterin für den Dramatikerinnen-Wettbewerb Mutterland (KosmosTheater Wien 2014), Nachhilfe-Lehrerin (Lernquadrat, MobileNachhilfe Wien 2012-2013), Theater- und Filmrezensentin für das Online-Magazin www. kulturwoche.at (seit 2011), Textübersetzerin für die Web-Agentur TrendMedia GmbH (2010-2011), Verwaltungsassistentin im EU-Büro von MdEP Dr. Herbert Dorfmann (Brixen 2009-2010). Derzeit Lehraufträge an den Wiener Volkshochschulen sowie am Phönix Realgymnasium in Wien (seit 2015). Sprachkenntnisse Deutsch: Muttersprache, Englisch: Verhandlungssicher, Italienisch: Verhandlungssicher, Spanisch: Sehr gut, Französisch: Gut, Latein: Maturaniveau (5 Jahre) 175