Erfahrungspotenziale
künstlerischer
Prozesse
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Schulen im 21. Jahrhundert
Der beschriebene Wandel bringt für Schulen Anforderungen an die Individualisierung der Bildungsbegleitung, die Gestaltung der Lernumgebung und
die Einführung neuer Lernmethoden mit sich. Neue Formen der Zusammenarbeit werden dabei immer wichtiger: Sie sind stärker eigenverantwortlich,
partizipativ und kollaborativ organisiert. Doch wie kann künstlerisches
Arbeiten Schulen dabei unterstützen, diesen Anforderungen zu begegnen,
kreative Lösungen zu finden und sie zu gestalten? – Konkrete, detaillierte
Ansätze dazu bieten die folgenden Kapitel und Beispielformate aus dem
Kunstlabore-Programm, sowie die Plattform kunstlabore.de . Die allgemeingültigere Antwort lautet jedoch: durch die Potenziale, die künstlerisches
Arbeiten bietet. Genau genommen: die Erfahrungspotenziale künstlerischer
Prozesse.
Denn indem Schulen das Potenzial künstlerischer Arbeit nutzen, eröffnen
sie Schüler*innen in der Zusammenarbeit mit Kunst- und Kulturschaffenden
neue Erfahrungswelten und -möglichkeiten.
Was können Schüler*innen
durch künstlerische Prozesse erfahren?
Die größte Tiefe an Erfahrungen ermöglichen die Künste, wenn sie nicht
nur rezipiert werden, wie bei einem Theater- oder Ausstellungsbesuch,
sondern darüber hinaus auch durch Reflexion und Produktion angeeignet
werden. Der Dreiklang aus Wahrnehmen (Rezeption), Verstehen (Reflexion)
und eigenem Gestalten (Produktion) hat sich im Rahmen der Erforschung der
Kunstlabore in den Schulen als für alle Kunstsparten geltender Kern des
künstlerischen Arbeitens herausgestellt.
Künstlerisches Arbeiten in all diesen Dimensionen eröffnet eine Vielzahl
von Erfahrungspotenzialen für Schüler*innen. Unter Erfahrungspotenzialen
verstehen wir dabei die Erfahrungsmöglichkeiten, die die aktive Auseinandersetzung mit den Künsten bietet, sowie das Potenzial an Erfahrungen, das
der eigenen künstlerischen Betätigung innewohnt. In den Erfahrungspotenzialen des künstlerischen Arbeitens liegt die Chance für die Schüler*innen,
relevante Kompetenzen für den Bildungsprozess zu erlernen und zu stärken.
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Für den Menschen ist das Erfahrungslernen deshalb so bedeutsam, weil er
selbsthandelnd mit realen Entscheidungssituationen konfrontiert wird und
dabei kreativ-schöpferisch eigene Werthaltungen entwickelt, die sowohl
emotional als auch motivational mit den Prozessen verknüpft sind (vgl.
Heyse/Erpenbeck 2010: S. 26).
Durch die Künste wird in Schulen ein Freiraum geschaffen, in welchem Schüler*innen (und auch andere Beteiligte) diskutieren und reflektieren,
experimentieren und ausprobieren, sowie ihre Wahrnehmung schulen und
erweitern können. Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den
Künsten kann neue Erfahrungsräume eröffnen: neben realen, physischen
Räumen, die durch die Künste anders erfahrbar werden, ermöglichen diese
Räume Schüler*innen, ihr soziales Umfeld neu zu entdecken und sich
selbst in der Auseinandersetzung mit der Welt zu verorten.
Kreative Formen des Lehrens und Lernens mittels der Künste und die
damit verbundenen Erfahrungspotenziale können Kompetenzen für das
21. Jahrhundert vermitteln und gleichzeitig eine ganzheitliche Selbsterfahrung ermöglichen. Kulturelle Bildung ist für die Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbar und stärkt das gemeinsame Lernen von Kindern und
Jugendlichen mit unterschiedlichem familiären, kulturellen und sozialen
Hintergrund (vgl. KMK 2013). Die verschiedenen Wirkdimensionen Kultureller
Bildung wie Motorik, Kreativität, kognitive Leistung, soziale Kompetenz,
Identität und emotionale Kompetenz sind anhand verschiedener Studien
belegt (vgl. Burow 2010, Rat für Kulturelle Bildung 2018). Ebenso wird die
kreativitätsfördernde Wirkung Kultureller Bildung betont (vgl. Steinberg
2014: S. 18 ff.).
Den Ausgangspunkt all dieser Prozesse bildet die intensive Begegnung
mit der Kunst. Schüler*innen erleben zunächst die individuelle künstlerische
Erfahrung als Einzelerfahrung für sich. Aus dieser Erfahrung kann sich ein
Handlungsimpuls zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Selbst- und
Weltverhältnis entwickeln (vgl. Zirfas 2009: S. 83, Bender 2010: S. 68 ff.). Die
weiteren Schritte zur persönlichen Entwicklung beruhen auf einer Erfahrung
von Selbstwirksamkeit durch einen intrinsisch motivierten, aktiven Beitrag
zur Gemeinschaft (vgl. Scharf 2018). Kunst ist hierfür die Inspirationsquelle.
Die Qualität der künstlerischen Arbeit ist Voraussetzung für die Schaffung
dieses Möglichkeitsraums.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
Vor dem Hintergrund des sich aktuell wandelnden Kompetenzverständnisses
ist es bedeutsam, die Erfahrungspotenziale sowohl kunstspartenübergreifend als auch spartenspezifisch aus Sicht der künstlerischen Praxis zu
reflektieren und sichtbar zu machen, um zu verstehen, welchen Beitrag
die Künste zur Kompetenzentwicklung leisten können.
Spartenübergreifende
Erfahrungspotenziale der Künste
Im Rahmen des Kunstlabore-Programms und basierend auf der gemeinsamen
Reflexion mit den Kunstlabore-Partner*innen und ihrer langjährigen Praxis
ließen sich zehn Erfahrungspotenziale künstlerischer Arbeit ermitteln, die
unabhängig von der Kunstsparte an Schulen ihre Wirkung entfalten.
Beeinflusst wurden die Überlegungen von den Erfahrungen aus dem bundesweiten Programm „Kulturagenten für kreative Schulen“ (Forum K&B
GmbH 2015), den Auseinandersetzungen mit der Denkschrift des Rats für
Kulturelle Bildung „Schön, dass ihr da seid“ bezüglich der Erfahrungsmöglichkeiten, die speziell die Künste bieten (Rat für Kulturelle Bildung e.V.
(Hrsg.) 2014), spartenspezifischen Darstellungen, wie der vom Bundesverband Tanz in Schulen+ entwickelte „Qualitätsrahmen Tanz in Schulen+“
(Bundesverband Tanz in Schulen+ (Hrsg.) 2017) und weiteren Veröffentlichungen, wie dem „Qualitätsrahmen für Kooperationen zur kulturellen Bildung
an Ganztagsschulen“ (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinnützige
GmbH (DKJS) (Hrsg.) 2008) oder der Publikation „Der Wow-Faktor – Eine
weltweite Analyse der Qualität künstlerischer Bildung“ (Bamford 2010).
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Ich probiere mich in Neuem und Unbekanntem aus und lerne meine Stärken
und Schwächen dadurch besser kennen.
Persönlichkeitsbildung
Die Künste bieten den Schüler*innen die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit und der aktiven Erfahrung von bisher für sie Unbekanntem und
Neuem. Dies birgt sowohl Chancen als auch Herausforderungen in sich. Die
Kinder und Jugendlichen können an diesen Erfahrungen wachsen und sich
selbst mit ihren Stärken und Schwächen besser kennenlernen. Im Rahmen
der künstlerischen Arbeit können auch ungewohnte Positionen verhandelt
werden: Schüler*innen können sich ausprobieren und andere Rollen einnehmen, auf diese Weise ihre eigene Identität reflektieren und spielerisch
ausloten, was sie ausmacht, wer sie sind oder wie sie sein wollen. Sowohl im
individuellen Prozess als auch durch das gemeinsame Erleben und Arbeiten
eröffnen die Künste so die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung.
Ich bin fähig, etwas nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten.
Ich kann etwas Eigenes und Neues erschaffen und meine Umwelt dadurch
aktiv mitgestalten.
Selbstwirksamkeitserfahrung
Künstlerische Prozesse können Kinder und Jugendliche erfahren lassen,
was Selbstwirksamkeit bedeutet. In ergebnisoffenen Prozessen, in denen
Schüler*innen sich selbst für ihre Form des Ausdrucks entscheiden können
und in denen sie sich mit ihrem persönlichen Ausdruck ins Verhältnis zur Welt
setzen, erfahren sie ihren eigenen Gestaltungsspielraum. Sie selbst
können und müssen aktiv die Entscheidung treffen, wie sie ihre Welt sehen
und gestalten wollen – es liegt in ihrer Macht. Diese Erfahrung des eigenen
Gestaltungsspielraums kann die Schüler*innen ermuntern, ihre Umwelt
auch in anderen Zusammenhängen aktiv mitzugestalten.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
Erfahrungspotenziale
künstlerischer Prozesse
für Schüler*innen
Wo
zu?
Ich bin fähig, etwas nach meinen
eigenen Vorstellungen zu
gestalten. Ich kann etwas Eigenes
und Neues erschaffen und
meine Umwelt dadurch aktiv
mitgestalten.
Ich erlebe, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie ich etwas
gestalten oder ein Problem lösen
kann. Vieles ist denk- und
machbar.
Ich probiere mich in Neuem und
Unbekanntem aus und lerne
meine Stärken und Schwächen
dadurch besser kennen.
Wie
ausprobieren, testen,
improvisieren,
experimentieren
W
erschaffen, selbst
aktiv tun
bewusst gestalten, inszenieren,
komponieren, kreieren
Ich merke, dass auch Umwege
zum Ziel führen und mir neue
Möglichkeiten aufzeigen können.
?
gestalten
präsentieren,
ausstellen
Techniken lernen,
üben, imitieren
Ich erfahre, dass ich durch
Disziplin und Durchhaltevermögen
meine Ausdrucksmöglichkeiten
verbessern und erweitern kann.
Bei der Vielzahl von Möglichkeiten gibt es
auch Wege, die sich widersprechen oder auf
denen ich nicht weiterkomme. Ich habe die
Freiheit und muss mich der Herausforderung
stellen, auch einen anderen Weg zu gehen.
as?
Ich lerne die Vielfalt und Möglichkeiten meiner Sinne, meines Körpers,
meiner Wahrnehmungs- und
Ausdrucksmöglichkeiten kennen.
Durch die Betrachtung von und
Auseinandersetzung mit künstlerischen
Werken bin ich geübt, komplexere
Zusammenhänge zu durchblicken.
Körper, Gegenstände,
Kunstwerke, Räume
erfahren, empfinden,
erleben, fühlen
hören, sehen, schmecken,
tasten, riechen
wahrnehmen
Ich kann durch die Vielzahl der
Gestaltungs- und Deutungsmöglichkeiten
in den Künsten viele unterschiedliche
Sichtweisen auf die Welt erfahren
und kennenlernen.
Fremdes, Vertrautes,
Gewohntes, Ungewohntes
verstehen
gesellschaftliche/historische
Zusammenhänge und
Bezugspunkte kennenlernen
Strukturen verstehen,
in Zusammenhänge einordnen
Ich kann etwas beurteilen,
abwägen und eine bewusste
Entscheidung für oder gegen
etwas treffen.
Feedback geben und
bekommen
beobachten,
benennen, mit
anderen darüber
sprechen
Ich kann eine Haltung zu Themen,
Objekten und Zusammenhängen
entwickeln und mir eine Meinung
bilden. Ich verorte mich selbst in
der Welt.
Ich bin geübt darin, mit anderen
konstruktiv über Dinge sowie
mein Denken und Fühlen dazu zu
sprechen.
Ich kann etwas beurteilen, abwägen und eine bewusste Entscheidung
für oder gegen etwas treffen.
Stärkung der Entscheidungsund Urteilsfähigkeit
Künstlerisches, gestaltendes Arbeiten ist geprägt von der Notwendigkeit,
die zahlreichen Handlungsoptionen immer wieder abzuwägen, Entscheidungen zu treffen und diese auch begründen zu können, wenn sich die eigene
Handlung nicht in der Beliebigkeit verlieren soll. Dies bezieht sich sowohl auf
das aktive künstlerische Tun als auch auf den Austausch und die Diskussion
über künstlerische Werke und die eigene Stellungnahme dazu. Diese Herausforderung kann sowohl Urteils- als auch Entscheidungsfähigkeit bei den
Schüler*innen stärken.
Ich lerne die Vielfalt und Möglichkeiten meiner Sinne, meines Körpers,
meiner Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten kennen.
Durch die Betrachtung von und Auseinandersetzung mit künstlerischen
Werken bin ich geübt, komplexere Zusammenhänge zu durchblicken.
Wahrnehmungs- und
Ausdrucksschulung
Künstlerische Prozesse bieten den Schüler*innen Möglichkeiten zur Wahrnehmungs- und Ausdrucksförderung. Die Wahrnehmung wird hierbei
zum einen geschult durch das Betrachten und Entdecken von künstlerischen
Werken, welche über die rationale Ebene hinaus auch Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität einbeziehen. Zum anderen trägt die gemeinsame
Kommunikation über die gemachten Erfahrungen zur Wahrnehmungsschulung bei. Dazu gehört auch das Reflektieren, Einordnen und Verstehen
dieser Erfahrungen. Die Möglichkeit des eigenen aktiven Tuns durch die
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Gestaltung von etwas Neuem und Eigenem, in das die gemachten Erfahrungen mit einfließen können, fördert zudem die Ausdrucksmöglichkeiten der
Schüler*innen.
Ich erfahre, dass ich durch Disziplin und Durchhaltevermögen meine
Ausdrucksmöglichkeiten verbessern und erweitern kann.
Erlernen eines
künstlerischen Handwerks
Die Künste eröffnen in ihrer jeweiligen Spartenspezifik die Möglichkeit,
sich (kunst-)handwerkliche Fähigkeiten anzueignen. Diese Befähigung in der
künstlerischen „Fachsprache“ bietet den Schüler*innen eine neue Handlungsoption und damit eine Erweiterung der eigenen Verständigungs- und
Ausdrucksformen, auch in non-verbale Bereiche hinein. Neben der Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten führt der handwerkliche Aspekt
auch zu der Erfahrung, dass oftmals Disziplin und Durchhaltevermögen
erforderlich sind, um die eigenen Ausdrucksfähigkeiten zu verbessern und
zu erweitern. Neben der positiven Deutung von Disziplin und Durchhaltevermögen kann im künstlerischen Arbeiten aber auch die Erfahrung von
Leichtigkeit und Konzentration im Sinne von Flow und Glück gemacht werden,
wenn Schüler*innen selbstmotiviert an ihrem Vorhaben arbeiten.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
Ich kann eine Haltung zu Themen, Objekten und Zusammenhängen
entwickeln und mir eine Meinung bilden. Ich verorte mich selbst sozial in
der Welt.
Ich bin geübt darin, mit anderen konstruktiv über Dinge sowie über mein
Denken und Fühlen dazu zu sprechen.
Erfahrung von sozialen und
gemeinschaftlichen Prozessen
Künstlerisches Arbeiten findet in Schulen nicht sozial isoliert und autonom
statt. Es ist immer bestimmt durch einen sozialen Prozess zwischen Schüler*innen, Kunst- und Kulturschaffenden und Lehrer*innen. Gemeinsame
Aushandlungs- und Reflexionsprozesse in der Erarbeitung und die gemeinschaftliche Erfahrung in der Präsentation geben den Schüler*innen die
Möglichkeit, Teamwork zu erfahren, konstruktiven Austausch zu üben und
Erfolgserlebnisse durch gemeinsame Entwicklungsschritte und Anstrengungen zu erleben.
Ich kann durch die Vielzahl der Gestaltungs- und Deutungsmöglichkeiten in
den Künsten viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt erfahren und
kennenlernen.
Ermöglichung von Perspektivwechseln
Die Betrachtung von und der Umgang mit künstlerischen Werken kann
Schüler*innen neue Deutungsmöglichkeiten und Perspektiven eröffnen.
Ebenso bietet die eigene künstlerische Arbeit und die Auseinandersetzung
darüber mit sich und anderen dieses Potenzial. Jene Erfahrungen finden
nicht nur auf der kognitiven Ebene statt, sondern auch über sinnliche und
emotionale Zugänge und Erfahrungsmöglichkeiten. In den Künsten werden
Themen und Gegenstände oft in neue und ungewohnte Zusammenhänge
und Beziehungen gebracht und bekannte Normen und Konventionen
werden verlassen. Diese Perspektivwechsel können die eigenen Blickwinkel
der Schüler*innen erweitern.
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Ich kann eine Haltung zu Themen, Objekten und Zusammenhängen
entwickeln und mir eine Meinung bilden. Ich positioniere mich in der Welt.
Verortung in der Welt
Die Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken bietet in der Regel
vielfache Deutungsmöglichkeiten, ebenso wie das eigene künstlerische
Tun zahlreiche Möglichkeiten des Ausdrucks beinhaltet. Diese Vielzahl von
Möglichkeiten fordert dazu heraus, eigene Positionen zu beziehen, eine
Auswahl zu treffen und sich damit selbst gegenüber der Gesellschaft und in
der Welt zu verorten. Dabei geht es auch darum, sich mit seiner Sicht- und
Handlungsweise zu positionieren, sich durchzusetzen oder auch zu scheitern.
Die Schüler*innen haben die Möglichkeit, ihren Platz in der Welt zu finden.
Das gemeinsame Reflektieren in der Gruppe oder Klasse eröffnet ihnen dabei
ebenso mögliche Positionen, wie das aktive Experimentieren und Ausloten
von Handlungsoptionen.
Ich merke, dass auch Umwege zum Ziel führen und mir neue Möglichkeiten
aufzeigen können. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten gibt es auch Wege,
die sich widersprechen oder auf denen ich nicht weiterkomme. Ich habe die
Freiheit und muss mich der Herausforderung stellen, auch einen anderen
Weg zu gehen.
Schulung des Umgangs
mit offenen Prozessen und Unsicherheit
Künstlerische Prozesse sind Prozesse, deren konkrete Ergebnisse zu Beginn
noch nicht abzusehen sind. Als offene Prozesse sind sie geprägt durch
Suchbewegungen und erst nach und nach stattfindende Entscheidungen
und Entwicklungsschritte. Der Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen,
gerade auch im gemeinschaftlichen Arbeiten, spielt in diesem Prozess
ebenso eine Rolle wie die Möglichkeit des Scheiterns und die anschließende
Notwendigkeit (aber auch Chance) einer Neuorientierung. Diese Erfahrung
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
kann Schüler*innen helfen, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die
zunehmend geprägt ist von schnellen, oft nicht absehbaren Veränderungen
und den damit einhergehenden Unsicherheiten.
Ich erlebe, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie ich etwas gestalten oder
ein Problem lösen kann. Vieles ist denk- und machbar.
Förderung von Innovationspotenzial
durch Ergebnisoffenheit
Die Ergebnisoffenheit im künstlerischen Arbeiten bietet den Schüler*innen
die Möglichkeit und Freiheit, neue Wege zu erproben. Eine Vielzahl von
Möglichkeiten ist denk- und machbar, kann erprobt werden und zu ganz
unterschiedlichen Zielen und Ergebnissen führen – ein Stop-Motion-Film
ist ebenso denkbar wie ein Theaterstück. Durch die experimentelle Grundhaltung ist es möglich, dass Unvorhersehbares als Ergebnis entsteht. Wird
der Prozess durch Lehrer*innen und Kunst- und Kulturschaffende konstruktiv begleitet, sodass Lust und Motivation nicht verloren gehen, können
die Künste den Spaß am Experiment bei den Schüler*innen verstärken und
die Fähigkeit zur innovativen Problemlösung und Ergebnisfindung fördern.
Die hier beschriebenen spartenübergreifenden Erfahrungspotenziale bilden
das Kernelement der Kompetenzaneignung durch die Künste in Schulen.
Kompetenzen fördern in diesem Sinne eine kreative, schöpferische Lösung
von Problemen (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2003: S. 9). Im Zentrum der
Kompetenzaneignung steht das Individuum, das seine Beziehung zur Umwelt
und zu sich selbst reguliert, Pläne erarbeitet, Strategien entwickelt, handelnd in die Umwelt eingreift, sich selbst diagnostiziert, beobachtet, instruiert, bewertet und belohnt (vgl. Erpenbeck/Heyse 1996: S. 38). Für die
künstlerische Praxis ist dieses Verständnis von Kompetenz naheliegend. Kein
Kompetenzerwerb geschieht ohne Erfahrung und künstlerische Prozesse
befördern auf vielfältigste Weise die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen.
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Spartenbezogene
Erfahrungspotenziale der Künste
Neben den Erfahrungspotenzialen, die in allen Sparten Wirksamkeit zeigen,
ließen sich im Rahmen des Kunstlabore-Programms auch spartenspezifische
Erfahrungspotenziale feststellen. Diese spartenspezifischen Erfahrungspotenziale und die dadurch geförderten Kompetenzen werden im Folgenden
näher beschrieben. Die Auswertung speist sich aus der Praxiserfahrung der
Programm-Beteiligten. Hierzu wurden die erprobten und auf
kunstlabore.de
dargestellten Formate und Herangehensweisen hinsichtlich der möglichen
Kompetenzentwicklung bei den Schüler*innen analysiert. Dabei wurden die
Labore Theater und Tanz als performative Künste zu einer Sparte zusammengefasst.
Die Beschreibungen richten sich an allgemeinbildende Schulen und sind
klassenstufen- und fächerübergreifend zu verstehen.
Ein Einblick in die Methodik: Der Kompetenzbegriff als solcher ist – wie bereits
im Kapitel „Schulen im 21. Jahrhundert“ angeführt – im Wandel begriffen
und auch in den aktuellen Rahmenlehrplänen nicht einheitlich gefasst. Die
im folgenden beschriebenen Erfahrungspotenziale wurden im Rahmen des
Kunstlabore-Programms auf Basis der Auswertung verschiedener Rahmenlehrpläne und der darin geforderten Kompetenzentwicklung analysiert.
Hierbei wurden die Rahmenlehrpläne der Länder Baden-Württemberg, Berlin
und Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen
ausgewertet. Nach Sichtung des Kompetenzdiskurses und verschiedener
Kompetenzmodelle wurden die im Folgenden beschriebenen drei Kompetenzbereiche in Analogie zur Darstellung in den Rahmenlehrplänen des
Landes Thüringen zusammengefasst.
In der Reflexion der Kunstlabore-Praxis hat sich gezeigt, dass diese Dreiteilung eine gute Grundlage bietet, um die spartenspezifischen Erfahrungspotenziale der Künste mit den Kompetenzmodellen in Einklang zu bringen.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
Als Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) werden die Kompetenzen bezeichnet, die das Wissen um einen Sachverhalt oder
eine Fertigkeit beschreiben.
Die Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz)
beschreibt Kompetenzen, die die Person betreffen.
Die Lern- und Methodenkompetenz beinhaltet die Kompetenzen, die zur Aneignung von Wissen benötigt werden.
Die Kompetenzen und Erfahrungspotenziale des jeweiligen Kunstlabors
lassen sich wie folgt beschreiben:
Das Kunstlabor Bildende Kunst (KLAUS)
bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen …
… Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit)
Auf Augenhöhe begeben sich die Schüler*innen, Künstler*innen und
Lehrer*innen gemeinsam in die ästhetische Erkundung von Phänomenen.
So erproben die Schüler*innen mit Mitteln der Kunst Denk- und Verfahrensweisen, die sie animieren, ausgetrampelte Pfade zu verlassen und innovativ-kreativ Neues zu kreieren. Besonders in Ateliers als geschütztem Raum
innerhalb von Schulen können die Schüler*innen zusammen mit den Künstler*innen als Begleiter*innen und Impulsgeber*innen kreative Gestaltungsmittel in eigenen Prozessen frei anwenden. Dabei setzen sie Werkzeuge,
Verfahren und Strategien zur Erreichung ihrer selbstgesteckten Ziele sachgerecht und intrinsisch motiviert ein.
… Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz)
Das Selbstbewusstsein der Schüler*innen wird gestärkt, in dem sie bei der
Kollaboration mit Lehrer*innen und Künstler*innen auf Augenhöhe agieren
und sie aus ihrer sonst systemimmanenten Rolle als fremdbestimmte Lernende befreit werden.
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Darüber hinaus vermittelt der fachübergreifende Einsatz von Künstler*innen
den Schüler*innen neue Perspektiven auf oft als „kunstfern“ erlebte Fächer
und die Schüler*innen erfahren sich dadurch teilweise erstmals kompetent
in einem Fach, zu dem sie sonst nur schwer Zugang haben (zum Beispiel
Mathematik und Physik). Im Atelier erleben die Schüler*innen Freiheit bei der
Umsetzung von Themen aus ihrer eigenen Lebenswelt. Daraus entsteht
eine intrinsische Motivation, die sich in großer Ausdauer und Beharrlichkeit
im künstlerischen Schaffensprozess zeigt.
… Lern- und Methodenkompetenz
Die Kreativität als Grundlage zur Generierung von Ideen und deren produktive Erschließung für alle Lebensbereiche wird anhand bildnerisch-ästhetischer Prozesse aktiv erweitert. Dabei trainieren die Schüler*innen divergentes Denken und das Erkennen von Zusammenhängen durch den kritischen
Austausch über Kunstwerke, Prozesse und ästhetische Phänomene. Die
Schüler*innen lernen zum Beispiel im Atelier und bei der Umsetzung künstlerischer Projekte Ideen durch selbstgestellte Aufgaben gestalterisch auszuführen und treffen Entscheidungen zur Organisation und Durchführung
von Arbeitsabläufen. Dabei setzt besonders das „Freie Arbeiten“ Kräfte für
kritisches Denken, Assoziieren und Hinterfragen in Gang.
Weitere Informationen zum Kunstlabor Bildende Kunst (KLAUS)
finden Sie hier:
kunstlabore.de
Bildende Kunst
Das Kunstlabor Musik
bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen …
… Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit)
Die Schüler*innen üben sich bei gemeinsamen Probenbesuchen eines
Orchesters oder Ensembles im konzentrierten Hören und Erleben von Musik.
Dadurch werden sie zu eigenen musikalischen Aktivitäten angeregt und
wählen Musik für die eigene Lebensgestaltung bewusst aus. Sie können
beispielsweise in Singer-Songwriter-Projekten mit der begleitenden
Unterstützung durch Musiker*innen und Komponist*innen musikalisch eine
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
eigene Geschichte in Ausarbeitung, Form und Arrangement erzählen. Durch
die Partizipation am gesamten Prozess von kleinen und großen MusiktheaterProduktionen – oder sogar riesiger, wie beispielsweise der komplette Bezirke
einbindenden Stadtteil-Oper – begreifen die Schüler*innen das Zusammenwirken von Musik, Szene, Choreografie, Bühnengestaltung und Effekten und
können diese selbst kreativ einsetzen.
… Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz)
Musik wird durch Orchester, Ensembles und Patenmusiker*innen, die mit
den Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten, als lebendige Praxis
erlebt und in deren alltägliche Lebenswelt integriert. Dabei hinterfragen die
Schüler*innen im Umgang mit Musiker*innen eigene musikalische Vorlieben
und Hörgewohnheiten und erweitern diese. Die Klassengemeinschaft wird
durch gemeinsames Musizieren (mit oder ohne Patenmusiker*innen) gestärkt
und das Selbstvertrauen der Schüler*innen durch das Agieren auf Augenhöhe mit einem Profi-Orchester oder -Ensemble nachhaltig aufgebaut. Die
Schüler*innen wachsen an den Herausforderungen und entwickeln Ehrgeiz,
der durch hohe Anforderungen seitens der Musiker*innen angestachelt wird.
Außerdem tut ihnen die Erfahrung gut, dass auch Lehrer*innen bei gemeinsamen Auftritten Lampenfieber haben können – auf der Bühne sind alle
gleich.
… Lern- und Methodenkompetenz
Im Zusammenspiel mit Patenmusiker*innen und einem Orchester oder
Ensemble erschließen sich die Schüler*innen schneller Notenwerte in ihrem
musikalischen Kontext und können diese mit Stimme, Instrument und
Motorik umsetzen. Dabei lernen sie außermusikalische Inhalte in ihrer musikalischen Umsetzung zu deuten, wie zum Beispiel Melodien als Grundlage von
Sprachen. Die Schüler*innen vertonen Texte, erfinden Melodien und notieren
sie. Dabei gestalten sie Musik vielseitig kreativ, beispielsweise beim
Improvisieren. Sie nehmen im Ensemble verschiedene Perspektiven ein und
gehen Probleme im Produktionsprozess musikalischer Werke lösungsorientiert an.
Weitere Informationen zum Kunstlabor Musik finden Sie hier:
kunstlabore.de
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Musik
Das Kunstlabor Literatur
bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen …
… Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit)
Die Schüler*innen werden in die Lage versetzt, die Motive literarischer
Figuren zu deuten, zu hinterfragen und mit ihrer eigenen Lebenswelt zu
vergleichen. Sie inszenieren eigene Textproduktionen (durch Vorlesen,
Vortragen, Spielen) auf Grundlage universeller Themen, beispielsweise zu
Nonsens-Gedichten zu Emotionen wie Liebe, Trauer oder Wut. Dabei erschließen sie sich Sprache sinnlich-spielerisch mittels gestellter Aufgaben,
die zum Reflektieren, Assoziieren und Weiterträumen anregen. Die Schüler*innen entwickeln einen eigenen Standpunkt zu einem Buch, zu einer
Geschichte oder zu einer Figur und können diesen im Diskurs mit der Gruppe
vertreten.
… Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz)
Durch die szenische Umsetzung von Literatur, den Einsatz von Irritationen
im Umgang mit Büchern und Geschichten und die dadurch erzeugten Impulse
zum Assoziieren erleben die Schüler*innen einen emotionalen Zugang zur
Literatur. Das erleichtert ihnen auch die in der Regel anschließend im Schulunterricht zentrale Textanalyse und die übrige Arbeit mit dem Text. Die
intrinsische Motivation zur Beschäftigung mit dem Buch wird beflügelt und
die Schüler*innen können mit Textinhalten fortan aufgeschlossener und
kritischer umgehen. Sie stellen sich und den Büchern Fragen, die zum
Philosophieren einladen und die sie auch selbstbewusst an andere Schüler*innen herantragen.
… Lern- und Methodenkompetenz
Außerdem lässt sich beobachten, dass die Schüler*innen ihre Erfahrungen
mit und durch die Literatur auch in fachübergreifenden kreativen Prozessen
nutzen – zum Beispiel im Kunstunterricht oder bei naturwissenschaftlichen
Problemlösungen. Sie können Zusammenhänge aus ihrer Lebenswelt strukturiert darstellen und mit einer Textvorlage vergleichen. Dabei stellen sie
inhaltliche Verbindungen zwischen den Texten und Fragestellungen her,
nehmen die Perspektive von literarischen Figuren ein und können deren
Entwicklung und Charakter beschreiben sowie nachvollziehen.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse
Weitere Informationen zum Kunstlabor Literatur finden Sie hier:
kunstlabore.de
Literatur
Die Kunstlabore Tanz und Theater
bieten Erfahrungspotenziale in den Bereichen …
… Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit)
Die Schüler*innen lernen, alle Elemente der Körpersprache theatral und
wirkungsvoll zu verwenden. Sie setzen im Tanz Klänge und Rhythmen in Bewegung um und kreieren dabei Choreografien, lernen unter anderem verschiedene Gestaltungs- und Präsentationsformen kennen und arbeiten mit ihnen.
Gleichzeitig bereiten sie Aufführungen eigenständig vor und nach und
adaptieren dabei verschiedene traditionelle und moderne Tanz- und Theaterformen (Biografisches Theater, Postdramatisches Theater, Szenencollage,
Performance, Zeitgenössischer Tanz, Hip Hop etc.).
Außerdem entdecken sie ungewohnte Spielorte und nutzen sie für eigene
Tanz- und Theaterkonzepte. Dabei gehen sie teils subversiv mit den Regeln
des Systems Schule um und schaffen so gemeinsam mit den Lehrer*innen
Freiräume für die Tanz- und Theaterarbeit.
… Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz)
Die Schüler*innen erforschen im Tanz und Theater selbstständig ihr
Repertoire der Körpersprache, erweitern es und setzen ihre Präsenz gezielt
ein. Sie lernen im Zusammenspiel mit anderen Schüler*innen und den
Kunst- und Kulturschaffenden, Vertrauen als Basis der Ensemblearbeit zu
nutzen und auf unterschiedliche Temperamente und Kompetenzen einzugehen. Sie beweisen Teamfähigkeit unter den besonderen Umständen der
Probenarbeit und können dabei mit einer Vielfalt ästhetischer Formen flexibel
umgehen. Dabei lernen die Schüler*innen, andere von ihren Ideen sachgerecht und methodisch zu überzeugen. Vorher schüchterne Schüler*innen
macht die Bühne stark; sie zeigen völlig neue Seiten an sich und erfahren
einen Selbstbewusstseinsschub.
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… Lern- und Methodenkompetenz
Die Schüler*innen setzen musikalische Motive in Tänzen und anderen
ästhetischen Bewegungen dramaturgisch um. Sie experimentieren mit dem
Raum und können Positionen im gesamten Schulraum szenisch bewusst
einsetzen. Sie verschmelzen Stimme, Sprache und Bewegung mit anderen
theatralischen Zeichen. Die Schüler*innen wenden Objekte, Requisiten und
deren Funktion im Rahmen der Inszenierung gezielt an. Sie improvisieren
mit Material und Ausdrucksformen. Darüber hinaus können sie die Anleitung
eines Ensembles erproben und dabei ihre kommunikativen Fähigkeiten im
verbalen und nonverbalen Ausdrucksbereich nutzen.
Weitere Informationen zu den beiden Kunstlaboren Tanz und
Theater finden Sie hier:
kunstlabore.de
Tanz
kunstlabore.de
Theater
Künstlerische Arbeit an Schulen bietet eine Vielzahl an Erfahrungspotenzialen
zur Förderung von Kompetenzen, wie sie die beschriebenen neuen Modelle
und Ansätze für eine Bildung im 21. Jahrhundert fordern.
Doch wie können künstlerische Prozesse an Schulen so gestaltet werden,
dass die Potenziale auch tatsächlich zur Wirkung kommen? Welche Strategien,
Zusammenhänge und Gelingensbedingungen gibt es? Diesen Fragen widmet
sich das folgende Kapitel.
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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse