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Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse

2020, Kunstlabore: Für mehr Kunst in Schulen!

Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse 33 Schulen im 21. Jahrhundert Der beschriebene Wandel bringt für Schulen Anforderungen an die Individualisierung der Bildungsbegleitung, die Gestaltung der Lernumgebung und die Einführung neuer Lernmethoden mit sich. Neue Formen der Zusammenarbeit werden dabei immer wichtiger: Sie sind stärker eigenverantwortlich, partizipativ und kollaborativ organisiert. Doch wie kann künstlerisches Arbeiten Schulen dabei unterstützen, diesen Anforderungen zu begegnen, kreative Lösungen zu finden und sie zu gestalten? – Konkrete, detaillierte Ansätze dazu bieten die folgenden Kapitel und Beispielformate aus dem Kunstlabore-Programm, sowie die Plattform  kunstlabore.de . Die allgemeingültigere Antwort lautet jedoch: durch die Potenziale, die künstlerisches Arbeiten bietet. Genau genommen: die Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse. Denn indem Schulen das Potenzial künstlerischer Arbeit nutzen, eröffnen sie Schüler*innen in der Zusammenarbeit mit Kunst- und Kulturschaffenden neue Erfahrungswelten und -möglichkeiten. Was können Schüler*innen durch künstlerische Prozesse erfahren? Die größte Tiefe an Erfahrungen ermöglichen die Künste, wenn sie nicht nur rezipiert werden, wie bei einem Theater- oder Ausstellungsbesuch, sondern darüber hinaus auch durch Reflexion und Produktion angeeignet werden. Der Dreiklang aus Wahrnehmen (Rezeption), Verstehen (Reflexion) und eigenem Gestalten (Produktion) hat sich im Rahmen der Erforschung der Kunstlabore in den Schulen als für alle Kunstsparten geltender Kern des künstlerischen Arbeitens herausgestellt. Künstlerisches Arbeiten in all diesen Dimensionen eröffnet eine Vielzahl von Erfahrungspotenzialen für Schüler*innen. Unter Erfahrungspotenzialen verstehen wir dabei die Erfahrungsmöglichkeiten, die die aktive Auseinandersetzung mit den Künsten bietet, sowie das Potenzial an Erfahrungen, das der eigenen künstlerischen Betätigung innewohnt. In den Erfahrungspotenzialen des künstlerischen Arbeitens liegt die Chance für die Schüler*innen, relevante Kompetenzen für den Bildungsprozess zu erlernen und zu stärken. 34 Für den Menschen ist das Erfahrungslernen deshalb so bedeutsam, weil er selbsthandelnd mit realen Entscheidungssituationen konfrontiert wird und dabei kreativ-schöpferisch eigene Werthaltungen entwickelt, die sowohl emotional als auch motivational mit den Prozessen verknüpft sind (vgl. Heyse/Erpenbeck 2010: S. 26). Durch die Künste wird in Schulen ein Freiraum geschaffen, in welchem Schüler*innen (und auch andere Beteiligte) diskutieren und reflektieren, experimentieren und ausprobieren, sowie ihre Wahrnehmung schulen und erweitern können. Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Künsten kann neue Erfahrungsräume eröffnen: neben realen, physischen Räumen, die durch die Künste anders erfahrbar werden, ermöglichen diese Räume Schüler*innen, ihr soziales Umfeld neu zu entdecken und sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Welt zu verorten. Kreative Formen des Lehrens und Lernens mittels der Künste und die damit verbundenen Erfahrungspotenziale können Kompetenzen für das 21. Jahrhundert vermitteln und gleichzeitig eine ganzheitliche Selbsterfahrung ermöglichen. Kulturelle Bildung ist für die Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbar und stärkt das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem familiären, kulturellen und sozialen Hintergrund (vgl. KMK 2013). Die verschiedenen Wirkdimensionen Kultureller Bildung wie Motorik, Kreativität, kognitive Leistung, soziale Kompetenz, Identität und emotionale Kompetenz sind anhand verschiedener Studien belegt (vgl. Burow 2010, Rat für Kulturelle Bildung 2018). Ebenso wird die kreativitätsfördernde Wirkung Kultureller Bildung betont (vgl. Steinberg 2014: S. 18 ff.). Den Ausgangspunkt all dieser Prozesse bildet die intensive Begegnung mit der Kunst. Schüler*innen erleben zunächst die individuelle künstlerische Erfahrung als Einzelerfahrung für sich. Aus dieser Erfahrung kann sich ein Handlungsimpuls zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Selbst- und Weltverhältnis entwickeln (vgl. Zirfas 2009: S. 83, Bender 2010: S. 68 ff.). Die weiteren Schritte zur persönlichen Entwicklung beruhen auf einer Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch einen intrinsisch motivierten, aktiven Beitrag zur Gemeinschaft (vgl. Scharf 2018). Kunst ist hierfür die Inspirationsquelle. Die Qualität der künstlerischen Arbeit ist Voraussetzung für die Schaffung dieses Möglichkeitsraums. 35 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse Vor dem Hintergrund des sich aktuell wandelnden Kompetenzverständnisses ist es bedeutsam, die Erfahrungspotenziale sowohl kunstspartenübergreifend als auch spartenspezifisch aus Sicht der künstlerischen Praxis zu reflektieren und sichtbar zu machen, um zu verstehen, welchen Beitrag die Künste zur Kompetenzentwicklung leisten können. Spartenübergreifende Erfahrungspotenziale der Künste Im Rahmen des Kunstlabore-Programms und basierend auf der gemeinsamen Reflexion mit den Kunstlabore-Partner*innen und ihrer langjährigen Praxis ließen sich zehn Erfahrungspotenziale künstlerischer Arbeit ermitteln, die unabhängig von der Kunstsparte an Schulen ihre Wirkung entfalten. Beeinflusst wurden die Überlegungen von den Erfahrungen aus dem bundesweiten Programm „Kulturagenten für kreative Schulen“ (Forum K&B GmbH 2015), den Auseinandersetzungen mit der Denkschrift des Rats für Kulturelle Bildung „Schön, dass ihr da seid“ bezüglich der Erfahrungsmöglichkeiten, die speziell die Künste bieten (Rat für Kulturelle Bildung e.V. (Hrsg.) 2014), spartenspezifischen Darstellungen, wie der vom Bundesverband Tanz in Schulen+ entwickelte „Qualitätsrahmen Tanz in Schulen+“ (Bundesverband Tanz in Schulen+ (Hrsg.) 2017) und weiteren Veröffentlichungen, wie dem „Qualitätsrahmen für Kooperationen zur kulturellen Bildung an Ganztagsschulen“ (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinnützige GmbH (DKJS) (Hrsg.) 2008) oder der Publikation „Der Wow-Faktor – Eine weltweite Analyse der Qualität künstlerischer Bildung“ (Bamford 2010). 36 Ich probiere mich in Neuem und Unbekanntem aus und lerne meine Stärken und Schwächen dadurch besser kennen. Persönlichkeitsbildung Die Künste bieten den Schüler*innen die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit und der aktiven Erfahrung von bisher für sie Unbekanntem und Neuem. Dies birgt sowohl Chancen als auch Herausforderungen in sich. Die Kinder und Jugendlichen können an diesen Erfahrungen wachsen und sich selbst mit ihren Stärken und Schwächen besser kennenlernen. Im Rahmen der künstlerischen Arbeit können auch ungewohnte Positionen verhandelt werden: Schüler*innen können sich ausprobieren und andere Rollen einnehmen, auf diese Weise ihre eigene Identität reflektieren und spielerisch ausloten, was sie ausmacht, wer sie sind oder wie sie sein wollen. Sowohl im individuellen Prozess als auch durch das gemeinsame Erleben und Arbeiten eröffnen die Künste so die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung. Ich bin fähig, etwas nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ich kann etwas Eigenes und Neues erschaffen und meine Umwelt dadurch aktiv mitgestalten. Selbstwirksamkeitserfahrung Künstlerische Prozesse können Kinder und Jugendliche erfahren lassen, was Selbstwirksamkeit bedeutet. In ergebnisoffenen Prozessen, in denen Schüler*innen sich selbst für ihre Form des Ausdrucks entscheiden können und in denen sie sich mit ihrem persönlichen Ausdruck ins Verhältnis zur Welt setzen, erfahren sie ihren eigenen Gestaltungsspielraum. Sie selbst können und müssen aktiv die Entscheidung treffen, wie sie ihre Welt sehen und gestalten wollen – es liegt in ihrer Macht. Diese Erfahrung des eigenen Gestaltungsspielraums kann die Schüler*innen ermuntern, ihre Umwelt auch in anderen Zusammenhängen aktiv mitzugestalten. 37 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse für Schüler*innen Wo zu? Ich bin fähig, etwas nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ich kann etwas Eigenes und Neues erschaffen und meine Umwelt dadurch aktiv mitgestalten. Ich erlebe, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie ich etwas gestalten oder ein Problem lösen kann. Vieles ist denk- und machbar. Ich probiere mich in Neuem und Unbekanntem aus und lerne meine Stärken und Schwächen dadurch besser kennen. Wie ausprobieren, testen, improvisieren, experimentieren W erschaffen, selbst aktiv tun bewusst gestalten, inszenieren, komponieren, kreieren Ich merke, dass auch Umwege zum Ziel führen und mir neue Möglichkeiten aufzeigen können. ? gestalten präsentieren, ausstellen Techniken lernen, üben, imitieren Ich erfahre, dass ich durch Disziplin und Durchhaltevermögen meine Ausdrucksmöglichkeiten verbessern und erweitern kann. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten gibt es auch Wege, die sich widersprechen oder auf denen ich nicht weiterkomme. Ich habe die Freiheit und muss mich der Herausforderung stellen, auch einen anderen Weg zu gehen. as? Ich lerne die Vielfalt und Möglichkeiten meiner Sinne, meines Körpers, meiner Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten kennen. Durch die Betrachtung von und Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken bin ich geübt, komplexere Zusammenhänge zu durchblicken. Körper, Gegenstände, Kunstwerke, Räume erfahren, empfinden, erleben, fühlen hören, sehen, schmecken, tasten, riechen wahrnehmen Ich kann durch die Vielzahl der Gestaltungs- und Deutungsmöglichkeiten in den Künsten viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt erfahren und kennenlernen. Fremdes, Vertrautes, Gewohntes, Ungewohntes verstehen gesellschaftliche/historische Zusammenhänge und Bezugspunkte kennenlernen Strukturen verstehen, in Zusammenhänge einordnen Ich kann etwas beurteilen, abwägen und eine bewusste Entscheidung für oder gegen etwas treffen. Feedback geben und bekommen beobachten, benennen, mit anderen darüber sprechen Ich kann eine Haltung zu Themen, Objekten und Zusammenhängen entwickeln und mir eine Meinung bilden. Ich verorte mich selbst in der Welt. Ich bin geübt darin, mit anderen konstruktiv über Dinge sowie mein Denken und Fühlen dazu zu sprechen. Ich kann etwas beurteilen, abwägen und eine bewusste Entscheidung für oder gegen etwas treffen. Stärkung der Entscheidungsund Urteilsfähigkeit Künstlerisches, gestaltendes Arbeiten ist geprägt von der Notwendigkeit, die zahlreichen Handlungsoptionen immer wieder abzuwägen, Entscheidungen zu treffen und diese auch begründen zu können, wenn sich die eigene Handlung nicht in der Beliebigkeit verlieren soll. Dies bezieht sich sowohl auf das aktive künstlerische Tun als auch auf den Austausch und die Diskussion über künstlerische Werke und die eigene Stellungnahme dazu. Diese Herausforderung kann sowohl Urteils- als auch Entscheidungsfähigkeit bei den Schüler*innen stärken. Ich lerne die Vielfalt und Möglichkeiten meiner Sinne, meines Körpers, meiner Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten kennen. Durch die Betrachtung von und Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken bin ich geübt, komplexere Zusammenhänge zu durchblicken. Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung Künstlerische Prozesse bieten den Schüler*innen Möglichkeiten zur Wahrnehmungs- und Ausdrucksförderung. Die Wahrnehmung wird hierbei zum einen geschult durch das Betrachten und Entdecken von künstlerischen Werken, welche über die rationale Ebene hinaus auch Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität einbeziehen. Zum anderen trägt die gemeinsame Kommunikation über die gemachten Erfahrungen zur Wahrnehmungsschulung bei. Dazu gehört auch das Reflektieren, Einordnen und Verstehen dieser Erfahrungen. Die Möglichkeit des eigenen aktiven Tuns durch die 40 Gestaltung von etwas Neuem und Eigenem, in das die gemachten Erfahrungen mit einfließen können, fördert zudem die Ausdrucksmöglichkeiten der Schüler*innen. Ich erfahre, dass ich durch Disziplin und Durchhaltevermögen meine Ausdrucksmöglichkeiten verbessern und erweitern kann. Erlernen eines künstlerischen Handwerks Die Künste eröffnen in ihrer jeweiligen Spartenspezifik die Möglichkeit, sich (kunst-)handwerkliche Fähigkeiten anzueignen. Diese Befähigung in der künstlerischen „Fachsprache“ bietet den Schüler*innen eine neue Handlungsoption und damit eine Erweiterung der eigenen Verständigungs- und Ausdrucksformen, auch in non-verbale Bereiche hinein. Neben der Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten führt der handwerkliche Aspekt auch zu der Erfahrung, dass oftmals Disziplin und Durchhaltevermögen erforderlich sind, um die eigenen Ausdrucksfähigkeiten zu verbessern und zu erweitern. Neben der positiven Deutung von Disziplin und Durchhaltevermögen kann im künstlerischen Arbeiten aber auch die Erfahrung von Leichtigkeit und Konzentration im Sinne von Flow und Glück gemacht werden, wenn Schüler*innen selbstmotiviert an ihrem Vorhaben arbeiten. 41 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse Ich kann eine Haltung zu Themen, Objekten und Zusammenhängen entwickeln und mir eine Meinung bilden. Ich verorte mich selbst sozial in der Welt. Ich bin geübt darin, mit anderen konstruktiv über Dinge sowie über mein Denken und Fühlen dazu zu sprechen. Erfahrung von sozialen und gemeinschaftlichen Prozessen Künstlerisches Arbeiten findet in Schulen nicht sozial isoliert und autonom statt. Es ist immer bestimmt durch einen sozialen Prozess zwischen Schüler*innen, Kunst- und Kulturschaffenden und Lehrer*innen. Gemeinsame Aushandlungs- und Reflexionsprozesse in der Erarbeitung und die gemeinschaftliche Erfahrung in der Präsentation geben den Schüler*innen die Möglichkeit, Teamwork zu erfahren, konstruktiven Austausch zu üben und Erfolgserlebnisse durch gemeinsame Entwicklungsschritte und Anstrengungen zu erleben. Ich kann durch die Vielzahl der Gestaltungs- und Deutungsmöglichkeiten in den Künsten viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt erfahren und kennenlernen. Ermöglichung von Perspektivwechseln Die Betrachtung von und der Umgang mit künstlerischen Werken kann Schüler*innen neue Deutungsmöglichkeiten und Perspektiven eröffnen. Ebenso bietet die eigene künstlerische Arbeit und die Auseinandersetzung darüber mit sich und anderen dieses Potenzial. Jene Erfahrungen finden nicht nur auf der kognitiven Ebene statt, sondern auch über sinnliche und emotionale Zugänge und Erfahrungsmöglichkeiten. In den Künsten werden Themen und Gegenstände oft in neue und ungewohnte Zusammenhänge und Beziehungen gebracht und bekannte Normen und Konventionen werden verlassen. Diese Perspektivwechsel können die eigenen Blickwinkel der Schüler*innen erweitern. 42 Ich kann eine Haltung zu Themen, Objekten und Zusammenhängen entwickeln und mir eine Meinung bilden. Ich positioniere mich in der Welt. Verortung in der Welt Die Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken bietet in der Regel vielfache Deutungsmöglichkeiten, ebenso wie das eigene künstlerische Tun zahlreiche Möglichkeiten des Ausdrucks beinhaltet. Diese Vielzahl von Möglichkeiten fordert dazu heraus, eigene Positionen zu beziehen, eine Auswahl zu treffen und sich damit selbst gegenüber der Gesellschaft und in der Welt zu verorten. Dabei geht es auch darum, sich mit seiner Sicht- und Handlungsweise zu positionieren, sich durchzusetzen oder auch zu scheitern. Die Schüler*innen haben die Möglichkeit, ihren Platz in der Welt zu finden. Das gemeinsame Reflektieren in der Gruppe oder Klasse eröffnet ihnen dabei ebenso mögliche Positionen, wie das aktive Experimentieren und Ausloten von Handlungsoptionen. Ich merke, dass auch Umwege zum Ziel führen und mir neue Möglichkeiten aufzeigen können. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten gibt es auch Wege, die sich widersprechen oder auf denen ich nicht weiterkomme. Ich habe die Freiheit und muss mich der Herausforderung stellen, auch einen anderen Weg zu gehen. Schulung des Umgangs mit offenen Prozessen und Unsicherheit Künstlerische Prozesse sind Prozesse, deren konkrete Ergebnisse zu Beginn noch nicht abzusehen sind. Als offene Prozesse sind sie geprägt durch Suchbewegungen und erst nach und nach stattfindende Entscheidungen und Entwicklungsschritte. Der Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen, gerade auch im gemeinschaftlichen Arbeiten, spielt in diesem Prozess ebenso eine Rolle wie die Möglichkeit des Scheiterns und die anschließende Notwendigkeit (aber auch Chance) einer Neuorientierung. Diese Erfahrung 43 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse kann Schüler*innen helfen, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die zunehmend geprägt ist von schnellen, oft nicht absehbaren Veränderungen und den damit einhergehenden Unsicherheiten. Ich erlebe, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie ich etwas gestalten oder ein Problem lösen kann. Vieles ist denk- und machbar. Förderung von Innovationspotenzial durch Ergebnisoffenheit Die Ergebnisoffenheit im künstlerischen Arbeiten bietet den Schüler*innen die Möglichkeit und Freiheit, neue Wege zu erproben. Eine Vielzahl von Möglichkeiten ist denk- und machbar, kann erprobt werden und zu ganz unterschiedlichen Zielen und Ergebnissen führen – ein Stop-Motion-Film ist ebenso denkbar wie ein Theaterstück. Durch die experimentelle Grundhaltung ist es möglich, dass Unvorhersehbares als Ergebnis entsteht. Wird der Prozess durch Lehrer*innen und Kunst- und Kulturschaffende konstruktiv begleitet, sodass Lust und Motivation nicht verloren gehen, können die Künste den Spaß am Experiment bei den Schüler*innen verstärken und die Fähigkeit zur innovativen Problemlösung und Ergebnisfindung fördern. Die hier beschriebenen spartenübergreifenden Erfahrungspotenziale bilden das Kernelement der Kompetenzaneignung durch die Künste in Schulen. Kompetenzen fördern in diesem Sinne eine kreative, schöpferische Lösung von Problemen (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2003: S. 9). Im Zentrum der Kompetenzaneignung steht das Individuum, das seine Beziehung zur Umwelt und zu sich selbst reguliert, Pläne erarbeitet, Strategien entwickelt, handelnd in die Umwelt eingreift, sich selbst diagnostiziert, beobachtet, instruiert, bewertet und belohnt (vgl. Erpenbeck/Heyse 1996: S. 38). Für die künstlerische Praxis ist dieses Verständnis von Kompetenz naheliegend. Kein Kompetenzerwerb geschieht ohne Erfahrung und künstlerische Prozesse befördern auf vielfältigste Weise die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen. 44 Spartenbezogene Erfahrungspotenziale der Künste Neben den Erfahrungspotenzialen, die in allen Sparten Wirksamkeit zeigen, ließen sich im Rahmen des Kunstlabore-Programms auch spartenspezifische Erfahrungspotenziale feststellen. Diese spartenspezifischen Erfahrungspotenziale und die dadurch geförderten Kompetenzen werden im Folgenden näher beschrieben. Die Auswertung speist sich aus der Praxiserfahrung der Programm-Beteiligten. Hierzu wurden die erprobten und auf  kunstlabore.de dargestellten Formate und Herangehensweisen hinsichtlich der möglichen Kompetenzentwicklung bei den Schüler*innen analysiert. Dabei wurden die Labore Theater und Tanz als performative Künste zu einer Sparte zusammengefasst. Die Beschreibungen richten sich an allgemeinbildende Schulen und sind klassenstufen- und fächerübergreifend zu verstehen. Ein Einblick in die Methodik: Der Kompetenzbegriff als solcher ist – wie bereits im Kapitel „Schulen im 21. Jahrhundert“ angeführt – im Wandel begriffen und auch in den aktuellen Rahmenlehrplänen nicht einheitlich gefasst. Die im folgenden beschriebenen Erfahrungspotenziale wurden im Rahmen des Kunstlabore-Programms auf Basis der Auswertung verschiedener Rahmenlehrpläne und der darin geforderten Kompetenzentwicklung analysiert. Hierbei wurden die Rahmenlehrpläne der Länder Baden-Württemberg, Berlin und Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen ausgewertet. Nach Sichtung des Kompetenzdiskurses und verschiedener Kompetenzmodelle wurden die im Folgenden beschriebenen drei Kompetenzbereiche in Analogie zur Darstellung in den Rahmenlehrplänen des Landes Thüringen zusammengefasst. In der Reflexion der Kunstlabore-Praxis hat sich gezeigt, dass diese Dreiteilung eine gute Grundlage bietet, um die spartenspezifischen Erfahrungspotenziale der Künste mit den Kompetenzmodellen in Einklang zu bringen. 45 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse Als Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) werden die Kompetenzen bezeichnet, die das Wissen um einen Sachverhalt oder eine Fertigkeit beschreiben. Die Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz) beschreibt Kompetenzen, die die Person betreffen. Die Lern- und Methodenkompetenz beinhaltet die Kompetenzen, die zur Aneignung von Wissen benötigt werden. Die Kompetenzen und Erfahrungspotenziale des jeweiligen Kunstlabors lassen sich wie folgt beschreiben: Das Kunstlabor Bildende Kunst (KLAUS) bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen … … Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) Auf Augenhöhe begeben sich die Schüler*innen, Künstler*innen und Lehrer*innen gemeinsam in die ästhetische Erkundung von Phänomenen. So erproben die Schüler*innen mit Mitteln der Kunst Denk- und Verfahrensweisen, die sie animieren, ausgetrampelte Pfade zu verlassen und innovativ-kreativ Neues zu kreieren. Besonders in Ateliers als geschütztem Raum innerhalb von Schulen können die Schüler*innen zusammen mit den Künstler*innen als Begleiter*innen und Impulsgeber*innen kreative Gestaltungsmittel in eigenen Prozessen frei anwenden. Dabei setzen sie Werkzeuge, Verfahren und Strategien zur Erreichung ihrer selbstgesteckten Ziele sachgerecht und intrinsisch motiviert ein. … Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz) Das Selbstbewusstsein der Schüler*innen wird gestärkt, in dem sie bei der Kollaboration mit Lehrer*innen und Künstler*innen auf Augenhöhe agieren und sie aus ihrer sonst systemimmanenten Rolle als fremdbestimmte Lernende befreit werden. 46 Darüber hinaus vermittelt der fachübergreifende Einsatz von Künstler*innen den Schüler*innen neue Perspektiven auf oft als „kunstfern“ erlebte Fächer und die Schüler*innen erfahren sich dadurch teilweise erstmals kompetent in einem Fach, zu dem sie sonst nur schwer Zugang haben (zum Beispiel Mathematik und Physik). Im Atelier erleben die Schüler*innen Freiheit bei der Umsetzung von Themen aus ihrer eigenen Lebenswelt. Daraus entsteht eine intrinsische Motivation, die sich in großer Ausdauer und Beharrlichkeit im künstlerischen Schaffensprozess zeigt. … Lern- und Methodenkompetenz Die Kreativität als Grundlage zur Generierung von Ideen und deren produktive Erschließung für alle Lebensbereiche wird anhand bildnerisch-ästhetischer Prozesse aktiv erweitert. Dabei trainieren die Schüler*innen divergentes Denken und das Erkennen von Zusammenhängen durch den kritischen Austausch über Kunstwerke, Prozesse und ästhetische Phänomene. Die Schüler*innen lernen zum Beispiel im Atelier und bei der Umsetzung künstlerischer Projekte Ideen durch selbstgestellte Aufgaben gestalterisch auszuführen und treffen Entscheidungen zur Organisation und Durchführung von Arbeitsabläufen. Dabei setzt besonders das „Freie Arbeiten“ Kräfte für kritisches Denken, Assoziieren und Hinterfragen in Gang. Weitere Informationen zum Kunstlabor Bildende Kunst (KLAUS) finden Sie hier: kunstlabore.de  Bildende Kunst Das Kunstlabor Musik bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen … … Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) Die Schüler*innen üben sich bei gemeinsamen Probenbesuchen eines Orchesters oder Ensembles im konzentrierten Hören und Erleben von Musik. Dadurch werden sie zu eigenen musikalischen Aktivitäten angeregt und wählen Musik für die eigene Lebensgestaltung bewusst aus. Sie können beispielsweise in Singer-Songwriter-Projekten mit der begleitenden Unterstützung durch Musiker*innen und Komponist*innen musikalisch eine 47 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse eigene Geschichte in Ausarbeitung, Form und Arrangement erzählen. Durch die Partizipation am gesamten Prozess von kleinen und großen MusiktheaterProduktionen – oder sogar riesiger, wie beispielsweise der komplette Bezirke einbindenden Stadtteil-Oper – begreifen die Schüler*innen das Zusammenwirken von Musik, Szene, Choreografie, Bühnengestaltung und Effekten und können diese selbst kreativ einsetzen. … Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz) Musik wird durch Orchester, Ensembles und Patenmusiker*innen, die mit den Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten, als lebendige Praxis erlebt und in deren alltägliche Lebenswelt integriert. Dabei hinterfragen die Schüler*innen im Umgang mit Musiker*innen eigene musikalische Vorlieben und Hörgewohnheiten und erweitern diese. Die Klassengemeinschaft wird durch gemeinsames Musizieren (mit oder ohne Patenmusiker*innen) gestärkt und das Selbstvertrauen der Schüler*innen durch das Agieren auf Augenhöhe mit einem Profi-Orchester oder -Ensemble nachhaltig aufgebaut. Die Schüler*innen wachsen an den Herausforderungen und entwickeln Ehrgeiz, der durch hohe Anforderungen seitens der Musiker*innen angestachelt wird. Außerdem tut ihnen die Erfahrung gut, dass auch Lehrer*innen bei gemeinsamen Auftritten Lampenfieber haben können – auf der Bühne sind alle gleich. … Lern- und Methodenkompetenz Im Zusammenspiel mit Patenmusiker*innen und einem Orchester oder Ensemble erschließen sich die Schüler*innen schneller Notenwerte in ihrem musikalischen Kontext und können diese mit Stimme, Instrument und Motorik umsetzen. Dabei lernen sie außermusikalische Inhalte in ihrer musikalischen Umsetzung zu deuten, wie zum Beispiel Melodien als Grundlage von Sprachen. Die Schüler*innen vertonen Texte, erfinden Melodien und notieren sie. Dabei gestalten sie Musik vielseitig kreativ, beispielsweise beim Improvisieren. Sie nehmen im Ensemble verschiedene Perspektiven ein und gehen Probleme im Produktionsprozess musikalischer Werke lösungsorientiert an. Weitere Informationen zum Kunstlabor Musik finden Sie hier: kunstlabore.de 48  Musik Das Kunstlabor Literatur bietet Erfahrungspotenziale in den Bereichen … … Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) Die Schüler*innen werden in die Lage versetzt, die Motive literarischer Figuren zu deuten, zu hinterfragen und mit ihrer eigenen Lebenswelt zu vergleichen. Sie inszenieren eigene Textproduktionen (durch Vorlesen, Vortragen, Spielen) auf Grundlage universeller Themen, beispielsweise zu Nonsens-Gedichten zu Emotionen wie Liebe, Trauer oder Wut. Dabei erschließen sie sich Sprache sinnlich-spielerisch mittels gestellter Aufgaben, die zum Reflektieren, Assoziieren und Weiterträumen anregen. Die Schüler*innen entwickeln einen eigenen Standpunkt zu einem Buch, zu einer Geschichte oder zu einer Figur und können diesen im Diskurs mit der Gruppe vertreten. … Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz) Durch die szenische Umsetzung von Literatur, den Einsatz von Irritationen im Umgang mit Büchern und Geschichten und die dadurch erzeugten Impulse zum Assoziieren erleben die Schüler*innen einen emotionalen Zugang zur Literatur. Das erleichtert ihnen auch die in der Regel anschließend im Schulunterricht zentrale Textanalyse und die übrige Arbeit mit dem Text. Die intrinsische Motivation zur Beschäftigung mit dem Buch wird beflügelt und die Schüler*innen können mit Textinhalten fortan aufgeschlossener und kritischer umgehen. Sie stellen sich und den Büchern Fragen, die zum Philosophieren einladen und die sie auch selbstbewusst an andere Schüler*innen herantragen. … Lern- und Methodenkompetenz Außerdem lässt sich beobachten, dass die Schüler*innen ihre Erfahrungen mit und durch die Literatur auch in fachübergreifenden kreativen Prozessen nutzen – zum Beispiel im Kunstunterricht oder bei naturwissenschaftlichen Problemlösungen. Sie können Zusammenhänge aus ihrer Lebenswelt strukturiert darstellen und mit einer Textvorlage vergleichen. Dabei stellen sie inhaltliche Verbindungen zwischen den Texten und Fragestellungen her, nehmen die Perspektive von literarischen Figuren ein und können deren Entwicklung und Charakter beschreiben sowie nachvollziehen. 49 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse Weitere Informationen zum Kunstlabor Literatur finden Sie hier: kunstlabore.de  Literatur Die Kunstlabore Tanz und Theater bieten Erfahrungspotenziale in den Bereichen … … Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeit) Die Schüler*innen lernen, alle Elemente der Körpersprache theatral und wirkungsvoll zu verwenden. Sie setzen im Tanz Klänge und Rhythmen in Bewegung um und kreieren dabei Choreografien, lernen unter anderem verschiedene Gestaltungs- und Präsentationsformen kennen und arbeiten mit ihnen. Gleichzeitig bereiten sie Aufführungen eigenständig vor und nach und adaptieren dabei verschiedene traditionelle und moderne Tanz- und Theaterformen (Biografisches Theater, Postdramatisches Theater, Szenencollage, Performance, Zeitgenössischer Tanz, Hip Hop etc.). Außerdem entdecken sie ungewohnte Spielorte und nutzen sie für eigene Tanz- und Theaterkonzepte. Dabei gehen sie teils subversiv mit den Regeln des Systems Schule um und schaffen so gemeinsam mit den Lehrer*innen Freiräume für die Tanz- und Theaterarbeit. … Personalkompetenz (Selbst- und Sozialkompetenz) Die Schüler*innen erforschen im Tanz und Theater selbstständig ihr Repertoire der Körpersprache, erweitern es und setzen ihre Präsenz gezielt ein. Sie lernen im Zusammenspiel mit anderen Schüler*innen und den Kunst- und Kulturschaffenden, Vertrauen als Basis der Ensemblearbeit zu nutzen und auf unterschiedliche Temperamente und Kompetenzen einzugehen. Sie beweisen Teamfähigkeit unter den besonderen Umständen der Probenarbeit und können dabei mit einer Vielfalt ästhetischer Formen flexibel umgehen. Dabei lernen die Schüler*innen, andere von ihren Ideen sachgerecht und methodisch zu überzeugen. Vorher schüchterne Schüler*innen macht die Bühne stark; sie zeigen völlig neue Seiten an sich und erfahren einen Selbstbewusstseinsschub. 50 … Lern- und Methodenkompetenz Die Schüler*innen setzen musikalische Motive in Tänzen und anderen ästhetischen Bewegungen dramaturgisch um. Sie experimentieren mit dem Raum und können Positionen im gesamten Schulraum szenisch bewusst einsetzen. Sie verschmelzen Stimme, Sprache und Bewegung mit anderen theatralischen Zeichen. Die Schüler*innen wenden Objekte, Requisiten und deren Funktion im Rahmen der Inszenierung gezielt an. Sie improvisieren mit Material und Ausdrucksformen. Darüber hinaus können sie die Anleitung eines Ensembles erproben und dabei ihre kommunikativen Fähigkeiten im verbalen und nonverbalen Ausdrucksbereich nutzen. Weitere Informationen zu den beiden Kunstlaboren Tanz und Theater finden Sie hier: kunstlabore.de  Tanz kunstlabore.de  Theater Künstlerische Arbeit an Schulen bietet eine Vielzahl an Erfahrungspotenzialen zur Förderung von Kompetenzen, wie sie die beschriebenen neuen Modelle und Ansätze für eine Bildung im 21. Jahrhundert fordern. Doch wie können künstlerische Prozesse an Schulen so gestaltet werden, dass die Potenziale auch tatsächlich zur Wirkung kommen? Welche Strategien, Zusammenhänge und Gelingensbedingungen gibt es? Diesen Fragen widmet sich das folgende Kapitel. 51 Erfahrungspotenziale künstlerischer Prozesse