Kreistanz: Sprache der Liebe
Laura Shannon
Neue Kreise Ziehen
Fachzeitschrift für meditativen & sakralen Tanz, 3-2021, 10-13.
!
Im Jahr 1987 explodierte Sacred Dance in mein Leben wie ein Garten voll schöner
Blumen, die alle gleichzeitig zu blühen beginnen.1 Im Januar jenes Jahres nahm ich
an meinem ersten dreiwöchigen Sacred Dance Teacher Training mit Anna Barton in
Findhorn teil; ich begann meine ersten Gruppen und Workshops zu unterrichten, vertiefte mich in das Studium und die Aufführung von Folktanz, nahm an zahlreichen
Tanzcamps und Seminaren teil, fuhr regelmässig die 250 Meilen von Atlanta in
Georgia nach Nashville in Tennessee zu der damals einzigen Kreistanzgruppe im Südosten der USA, verbrachte einen Monat im damaligen Jugoslawien zum Studium
der Dorfkultur, und zog schliesslich nach Großbrittannien, um Teil der dort neu
entstehenden Kreistanzszene zu sein. In der letzten Woche des Jahres 1987, grade
frisch in London angekommen, folgte ich meinem Lieblingslehrer für Folktanz Erik
Bendix in die Schweiz zu einem einwöchigen Tanzcamp, in dem er viele komplexe
Tänze komplett auf schweizerdeutsch unterrichtete und ich lernen musste, zu lernen
ohne auch nur ein Wort zu verstehen.
All diese Erfahrungen und ganz besonders die letztgenannte zeigten die Kraft des
Tanzes als eine Sprache der Liebe, die weit über die Grenzen der Worte hinausgeht.
Diese mit Erik entwickelte Fähigkeit des Lernens durch Schauen war mir sehr nützlich auf späteren Tanzforschungsreisen nach Bulgarien, Griechenland, Armenien,
der Türkei, Russland, Marokko und anderen Ländern, deren Sprache ich nicht kannte.
Schliesslich ist traditioneller Kreistanz über Tausende von Jahren nonverbal weitergegeben worden, nur durch das Mitmachen, und unsere moderne Form der Erklärung der Schritte durch Worte stellt sich für Einheimische als eine durch und durch
fremdartige Vorgehensweise dar.
Das Wissen um das Tanzen ohne Worte ist hilfreich– und nicht nur um an fremdsprachigen Tanzseminaren teilnehmen zu können! Oft haben wir in unserer inneren
Entwicklung keine Worte für unseren Prozess, oder die Worte reichen nicht aus, um
etwas zu klären oder durchzusprechen. Dann tun wir, was die Großmütter auf den
Dörfern tun: was auch immer es ist, wir bringen es in den Kreis, das Gefäss, den
Kessel des Tanzes. Ob wir es in Worte fassen können oder nicht, in diesem heiligen
1 Ich beschreibe das in 'Meine lebenslange Suche nach Sacred Dance', am 13.09.2021 auf
https://www.choretaki.com/blog
Raum wird gehalten, was in unserem Leben geschieht, und wird durch den simplen
Akt des gemeinschaftlichen Tanzens geheilt.
Diese Technik ist das Fundament meines zweijährigen Trainings, in dem Fähigkeiten
zur Arbeit mit den inhärent therapeutischen Qualitäten der Frauenritualtänze vermittelt werden: was auch immer dich belastet, bring es zum Tanz, wo es transformiert
werden kann. Vielleicht nicht geheilt, als wäre es nie geschehen, aber doch transformiert in dem Sinn, dass die Freude, Integrität und Ganzheit des gemeinschaftlichen Tanzens die Last zu erleichtern helfen, so dass wir unser Leben weiterführen können. Tanzen gibt uns die nötige Widerstandsfähigkeit und Perspektive, um
das voll zu verkörpern, was Thomas Hübl die “drei Kräfte der Menschenrechte” nennt: “das Recht zu sein, das Recht zu werden, das Recht dazu zu gehören”.2 Wenn wir
den Kreis ziehen, bestätigen wir das gleiche Recht aller auf Erfüllung durch “sein,
werden, dazugehören”. Auch dies ist die Sprache der Liebe.
Tanz heilt auch dort, wo es zu viel Worte gibt, z. B. in Zeiten von Konflikt, Streit und
Parteilichkeit. Auf meinen Tanzforschungsreisen in das griechische Dorf Miliá (Heim
des geliebten Sta Tria Miliás) war ich beeindruckt von dem Gemeinschaftsgeist und
den kooperativen Projekten im Dorf, die so deutlich unterschiedlich waren von anderen der Region. Einer der Alten sagte mir, dass in Miliá immer noch alle am Sonntagnachmittag zusammen tanzen, wie in alten Zeiten. “Das Leben im Dorf ist hart,”
sagte er mir. “Es gibt immer Streit. Aber wenn wir zusammen tanzen, verziehen sich
die Wolken wieder. Ich bin vielleicht sehr wütend auf meinen Nachbarn wegen etwas,
das er getan hat, aber wenn ich neben ihm tanze und seine Hand halte, kann ich nicht
wütend bleiben. So bleiben wir Freunde und können weiterhin zusammenarbeiten.”
In anderen Dörfern kooperieren die Leute nicht so gut, sagt er, “weil sie nicht mehr
zusammen tanzen. Stattdessen streiten sie, und das ganze Dorf ist uneinig, weil jeder
Partei ergreift und sich auf eine Seite stellt.” In einem Kreis gibt es keine “Seiten”. Es
gibt nur eine Seite. Wir sind alle auf derselben Seite. Die Anerkennung und
Ausübung unserer Verwandtschaft sind auch die Sprache der Liebe.
Über Tausende von Jahren bestätigte Kreistanz diese Verwandtschaft und lehrte die
Menschen, in Harmonie zu leben mit einander, mit der Erde, mit den Lebenszyklen.
Der Tanzkreis ist der Übungsplatz, auf dem wir Fairness, Freundlichkeit und richtige
Beziehung in unserem Verhalten lernen. Die im Tanz gesähten Samen werden im
täglichen Leben geerntet, und umgekehrt. Das freudevolle Ritual des regelmässigen
Tanzes unterstützt unser aller Gesundheit und Wohlergehen, körperlich und mental,
und lässt die Gemeinschaft verbunden und vernetzt bleiben.
In dem Dorf Chionades in Evros im griechischen Thrakien eröffnen die Frauen ihren
Sonntagstanz gewohnheitsmässig mit 'Dhio Poulakia', einem Tanzlied über zwei Vögel: der Vogel der Liebe wird mit Honig gefüttert, der Vogel der Täuschung mit rotem
2 Webinar mit Thomas Hubl & Terry Real. https://terryreal.com/.
Pfeffer.3 Dies erinnert mich an die Fabel der Cherokee von den zwei Wölfen,4 die unsere Wahl zeigt, Süsse zu bringen oder Schmerz zuzufügen. Dieses Liedes wird
jedesmal zu Beginn gesungen, was die Wichtigkeit dieser Lehre zeigt. Das Lied
'Tsalia ki Agathia',5 auch aus Evros, enthält eine ähnliche Warnung: “Türken mit
Messern konnten uns nicht trennen, aber die Zungen im Dorf haben uns auseinandergerissen.” Wir können gemeinsam tanzen, um das Netz zu reparieren, Knoten neu zu
knüpfen und uns nur das Beste zu wünschen, oder wir können unsere Zungen wie
Messer gebrauchen und das Netz unserer Gemeinschaft in Stücke schneiden.
In Kulturen, die gemeinschaftlichen Tanz praktizieren, wird bösartiges Gerede zu
Recht als die grösste Gefahr gesehen. Boshafte Worte können den Ruf zerstören,
Türen der Möglichkeiten und der Unterstützung schliessen, und jemanden schnell zu
einem Sündenbock und Ausgestossenen machen. Dies ist der máti, der Böse Blick.
Unendliche und zahlreiche Textilmuster, Trachtendetails und glitzernde Amulette
sollen uns dagegen beschützen und die bösartige Kraft von unfreundlichen, hinter
dem Rücken gesprochenen Worten abwehren.
Daher ist die zweite grundlegende Technik in meinen Frauentrainings in Ritualtanz
die Gruppenvereinbarung, die wir die “nicht-tratschen-Regel” nennen: Zu Beginn des
Trainings einigen wir uns, nicht unfreundlich über nicht Anwesende zu sprechen.
Manchmal fällt es zu Beginn schwer, die Relevanz dieser Regel zu sehen, aber wie
im Tanz lernen wir hier durchs Tun. Mit der Zeit entdecken die Teilnehmerinnen selber, dass die scheinbar einfache Entscheidung, nicht hinter dem Rücken anderer zu
tratschen, der wichtigste Schlüssel ist, der die Weisheit in den Frauenritualtänzen zum
Leben erweckt und ihre Heilkraft zum Schaffen von Gemeinschaft aktiviert. Die
Entscheidung zur freundlichen Rede ist die Sprache der Liebe.
Wenn wir von Liebe sprechen, denken wir oft an das Herz, das oft als voll oder überfliessend beschrieben wird, wie ein Becher oder Kelch. Im Menschen und anderen
Säugetieren und Vögeln ist das Herz aber nicht einfach ein geschlossener Behälter,
sondern ein erstaunlich komplexes und schönes Organ in der Spiralform einer Doppelhelix.6 Sein langes Muskelfaserband verdreht sich wie ein Möbiusstreifen, sodass
auch das Herz ebenfalls nur eine 'Seite' hat. Diese intrikate Spiralform ermöglicht es
dem Blut, gleichzeitig nach oben und nach unten, hinein und heraus, im
Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn zu fliessen. Dieses biologische Wunder
illustriert, wie die Sprache des Herzens nicht trennt und nicht für eine Seite Partei er3 'Dhio Poulakia' hat seinen eigenen Tanz. Die Musik ist auf der CD 'Evros' (Methorios Ensemble /
Balkan Centre for Dance and Music).
4 https://theacademy.sdsu.edu/wp-content/uploads/2015/06/two-wolves-cherokee-story.pdf
5 'Tsalia ki Agathia', ein Lied für den Tanz Ksésyrtos, ist auch auf der 'Evros' CD. Siehe auch mein
Büchlein 'Women’s Ritual Dances 2013'.
6 Eine Entdeckung von Dr Francisco Torrent Guasp. https://medimagery.com/untying-the-knot-
your-heart-is-actually-a-spiral/
greift. Wie die Liebe selbst umfasst das Herz die Gegensatzpaare in einer
lebensspendenden Einheit. Dies ist Spiegel und Modell unserer Tanzgemeinschaft.
Jede Auswahl von Tänzern in einem gegebenen Kreis repräsentiert ein weites Spektrum von verschiedenen Einstellungen zu Politik, Religion, Ökonomie, Gesundheitssorge, Nahrung und Kleidung, dabei bilden jedoch diese Unterschiede kein Hindernis zu der Einheit und Verwandtschaft im Tanz, wo jede willkommen ist und es
keine Seiten gibt. Egal welche Einstellungen uns in unserem Denken trennen, beim
gemeinsamen Tanzen vereinen uns die Frequenzen unserer Herzen - und genauso die
unserer Gehirne, unseres Atems, Blutdrucks, des zentralen und autonomen Nervensystems - in dem als Kohärenz bekannten gemeinsamen Zustand der Resonanz. Diese
kollektive Ausrichtung von elektromagnetischen Wellen und physiologischen
Rhythmen ist die biologische Grundlage für das Gefühl von Einheit und Verbindung,
das der Tanz schafft. Das HeartMath Institute definiert Kohärenz als “eine geordnete
und harmonische Verbindung zwischen Teilen eines Systems oder zwischen Menschen” und bestätigt unter den vielen Vorteilen persönlicher Kohärenz auch “mehr
Gelassenheit, mehr Energie, klares Denken, verbesserte Funktion des Immunsystems
und des hormonellen Gleichgewichts.”7
Kreistanz ist einer der besten Wege zum Schaffen von Kohärenz. Unsere Vorfahren in
der Menschenfamilie wussten dies aus eigener Erfahrung und machten Kreistanz über
Tausende von Jahren zum Mittelpunkt ihrer Gesellschaft. Wir in der modernen Welt
haben jetzt dieses Geschenk geerbt. Die heilende Kraft des Kreistanzes ist eines unserer kraftvollsten Werkzeuge zum Bau einer Gemeinschaft von Menschen mit der
Bereitschaft, über Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen und miteinander zu
kooperieren, so wie in Milias. Genau das wird jetzt von uns verlangt, um mit Erfolg
den heutigen Herausforderungen zu begegnen: nicht nur der Pandemie, sondern auch
der Klimakrise, die unser aller Existenz bedroht. Ob in Person oder über Zoom, ob
mit Handfassung, Schals oder Raum zwischen uns: lasst uns tanzen, damit unsere
Herzen die Sprache der Liebe sprechen.
Laura Shannon © 2021
Übersetzung: Katharina Kroeber
www.laurashannon.net
7 https://www.heartmath.org/support/faqs/research/