Andreas F. Kelletat
Manfred Peter Hein: Ein deutscher Dichter aus Finnland
(IDF, Heidelberg, 6. Juli 2007)
Liebe Studierende,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Liebe Freunde,
Meine Damen und Herren,
am Rande des von Gertrud Roesch initiierten, zweiten gemeinsamen Doktorandenkolloquiums, das das Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie und der Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik zu Beginn dieses Semesters an der Universität Mainz/Germersheim durchführten, kam die Idee auf, zu dieser Heidelberger Jahresfeier einen deutschen Dichter aus Finnland hinzuzubitten: Manfred Peter Hein.
Als wir dann überlegten, was Hein den ausländischen Germanistik-Studierenden in Heidelberg und ihren Förderern zu ihrem Sommerfest vorlesen könnte, fiel seine Wahl schnell auf den 1999 erschienenen autobiographisch grundierten Prosatext Fluchtfährte. Genauer: auf die Mitte der 50er Jahre einsetzende Schlusspassage der Erzählung, in der wir den Protagonisten der Fluchtfährte in nicht sehr komfortabler Situation erleben: Er steht vor dem Abschluss seines Studiums, vor dem Examen – und die entsprechenden Klausuren und Prüfungen sind vorzubereiten für die Fächer Deutsch und Geschichte. Aber: „Ich hatte nicht so studiert in einigen Sparten wie wünschenswert und erwartet.“
Die Ursachen für die Schwierigkeiten mit dem Studieren und dem Examen werden vom Erzähler knapp benannt: Da ist eine lebensgefährliche Anämie-Erkrankung, die lange unerkannt geblieben war. Da ist die für den künstlerisch begabten einzelgängerischen Protagonisten offenbar wenig attraktive Perspektive, nach Studienabschluss als Lehrer an einer Schule zu landen – also das zu werden, was die Eltern auch schon waren. Und da sind eben diese Eltern, die 1945 als völlig mittellose ostpreußische Flüchtlinge in dem nordhessischen Dorf Böhne gestrandet sind – und die mit diesem Heimatverlust und ihrer Deklassierung, mit ihren zerschlagenen Lebenshoffnungen nicht zurande kommen. Der 1931 geborene Sohn – knapp 14 Jahre alt war er also, als sich Hitler in Berlin selbst aus dem Leben schoss – will Mitte der 50er Jahre von seinem Vater wissen: „Was war wann, war wo, war wie, überhaupt – damals im Krieg, in Krakau zum Beispiel?“ Aber der in seinen nationalistischen Ostland-Gespinsten verfangene Vater hat nicht die Kraft, sich diesen Fragen seines Sohns nach den Taten im Krieg zu stellen, nicht nur, weil das deutsche Vernichtungslager Auschwitz in der Nachbarschaft von Krakau liegt, wo der Vater im Krieg eine Zeit lang stationiert war. An diesen Fragen entlang aber hätte herauszufinden sein müssen, was den Vater (und die Mutter auch) an Hitler und die ihn tragende Ideologie so stark gebunden hatte.
Eine neue Faschismus-Theorie stellt die Fluchtfährte nicht auf. Sie kennt auch nicht jene Vergangenheitsbewältigungsrhetorik, die uns mitunter die Ohren betäubt. Aber sie erzählt knapp und zugleich ungeheuer präzis von einer Kindheit und einer Jugend in einer Familie und einem sozialen Milieu, in dem es keine Distanz zum Nationalsozialismus gab. Im Gegenteil: 1943 geht der Zwölfjährige begeistert an die Nationalpolitische Erziehungsanstalt nach Stuhm – unweit dem Weichsel-Nogat-Eck und der Marienburg. An diesen Internaten, den Napolas, wurde die kommende Elite für Hitlers Staat und Partei ausgebildet. Wie der Unterricht im Fach Kunst an der Napola in Stuhm aussah, wird in einem kurzen Abschnitt deutlich, den Manfred Peter Hein gleich ebenfalls vorlesen wird.
Im Januar 1945 erobert die Rote Armee Ostpreußen. Die Menschen fliehen. Mit ihnen auch die Napola-Zöglinge aus Stuhm. Fluchtfährte meint zunächst ganz konkret die Route dieser Flucht von Stuhm in Ostpreußen über Dirschau, Danzig, Stolp, Köslin und Stettin nach Plön in Holstein im Januar 1945. Aber es bleibt nicht bei dieser einen Ortsveränderung. Die „Januarfluchtroute von Stuhm nach Plön“ (141) zieht sich durch die Jahre weiter; erst Finnland und Helsinki scheinen um 1956/58 ein „Ende der Flucht“ (184) zu ermöglichen. An die Stelle der phantasmagorischen Träume des Vaters von einer ganz besonderen Aufgabe der Deutschen im Osten tritt beim Sohn Mitte der 50er Jahre – ganz vage zunächst – ein neues Zugehörigkeitsgefühl zu Osteuropa. Finnland wird immer mehr als „Fluchtpunkt auf einer weit in die Kindheit zurückgehenden Fluchtlinie“ gesehen.
Schwierigkeiten mit dem Studium – sie resultierten aus einer Krankheit, aus einem schweren Konflikt mit dem Vater, aus einem lebensgeschichtlichen Bruch, dessen Wucht für uns Jüngere kaum noch nachspürbar ist. Sie resultierten aber auch schon aus dem Wissen, dass die eigene Zukunft vielleicht weniger der Wissenschaft, der Universität oder der Schule gehören wird, als der Dichtung. Davon spricht der Auftakt des letzten Abschnitts der Fluchtfährte, von dem Besuch einer großen Klee-Ausstellung 1956 in Bern und von der Wirkung, die Klees Bilder auf den deutschen Studenten hatten, auf sein Schreiben. Hier dürfte die Öffnung zur Sprache der Moderne in Heins Dichtung zu verorten sein. Diese Sprache der Moderne in Heins Poesie ist für uns bei einer ersten Annäherung so schwer zu verstehen wie die Sprache der Bilder Klees. Fast wie eine Fremdsprache muss man dieses Hein’sche Deutsch lernen, seine besondere Syntax und Semantik und seine eigenwilligen poetischen Wortfährten: „KREUZVERHÖR der Wege. Schnee. / Schwarze Spiegelfrucht / erlischt“ – diese Verse entstehen 1956 unter dem Eindruck der Klee-Bilder, wir finden sie wieder in Heins erstem, 1960 bei Hanser in München erschienenen Gedichtband Ohne Geleit.
1960 wohnte Hein bereits in Finnland, in einem Vorort von Helsinki, hatte dort seine Familie, machte auf den Reisen nach Westdeutschland unterwegs in Stockholm Station, bei der aus Berlin verscheuchten großen jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Aber der 29-jährige konnte damals gewiss nicht vorhersehen, dass es für ihn aus Finnland kein dauerhaftes Zurück mehr geben würde nach Deutschland, nach D-land, wie die Fluchtfährte es nennt. Das bald ein halbes Jahrhundert währende Migrantenleben im Ausland und in einem völlig anderen Sprachgebiet hat Heins Dichtung in vielfacher Hinsicht geprägt. Besonders hervorgehoben wird zu recht – auch in Jürgen Joachimsthalers unlängst erschienener, perspektivenreicher Analyse der Fluchtfährte – der konsequent interkulturelle Charakter seines gesamten Lebenswerks. Zu dem ja nicht nur dieser Prosatext und seine (u.a. mit dem Huchel-Preis ausgezeichneten) Gedichte gehören, sondern auch seine viel zu wenig bekannten Essays zu den Literaturen Nordosteuropas und zur „Utopie einer Weltkultur“, seine Arbeit als Herausgeber mittel- und osteuropäischer Literaturen und natürlich seine Übersetzungen und Nachdichtungen – aus dem Finnischen, dem Sámischen, dem Tschechischen, dem Lettischen usw.
Adolf Muschg hat vor genau einem Jahr in der Bayerischen Akademie der Künste von „einer tief gespaltenen Quelle“ gesprochen, aus der sich Heins Liebe zum „Deutsch Hölderlins und Celans“ nährt. Hein „besteht darauf“, sagte Muschg in München,
das Schlimmste, was sie, diese Sprache, nicht nur gelitten, sondern auch verbrochen hat, zusammenzuhalten mit ihrem Besten. Fast ohne Absatz, in einem Atem, der nie atemlos wirkt, arbeitet Hein [in der Fluchtfährte; afk] die Kapitel seiner Jugend nach. Jeder Satz würde Stoff hergeben für eine große Abrechnung oder eine politisch-moralische Nachbesserung: der Dichter hätte allen Grund, den Missbrauch seiner Jugend einzuklagen. Er tut nichts dergleichen; als wäre die Selbstgerechtigkeit, die dabei in sein Urteil einfließen müsste, nur eine Fortsetzung des Verbrechens. Nein: seine Sprache zeigt an, mit jedem Wort, dass er den verlorenen, den veruntreuten Raum seiner Heimat, noch mehr: dass er alles, was die deutsche Sprache mit Todeskommandos überzogen hat, wieder besetzen möchte; besetzen mit einer anderen Sprache. Wie sie lauten könnte, kann ihm niemand besser sagen, als diejenigen, die an den Orten, die einmal seine Heimat waren, die ihre eingerichtet haben, und ihre ganz andere Sprache sprechen. Er lernt diese Sprache, so gut es geht, in ihren Dichtern; er arbeitet an einem Deutsch, das sie verstehen, obwohl – oder weil – es die Sprache der Feinde war. Dieses andere Deutsch […] ist nicht die Sprache der Reue, des Schuldbekenntnisses, der Scham, so geboten all das sein mag, und so gut die Politiker daran tun mögen, all das zu üben. Es ist allein die Sprache der Dichtung; sie ist es, die Hein an jedem Ort verlorener Heimat brauchen kann, ohne sofort als Fremder, als Feind erkannt, oder auch: als Deutscher mit widerwilligem Respekt behandelt zu werden. Es ist die wahre Heimatsprache, denn die andern, die diese Heimat jetzt bewohnen, verstehen sie auch dann, wenn sie jetzt polnisch, russisch, tschechisch reden. Wenn sie der Dichtung fähige Menschen sind (und als solche brauchen sie nicht Dichter zu sein) antworten sie in derselben Sprache: derjenigen des Verlusts, und seiner Anerkennung.
Treffender ist m.E. der für Heins poetisches Idiom ganz spezifische Konnex zwischen eigener Dichtung sowie Lektüre und Übersetzung fremder Dichtung noch nicht benannt worden. Es bleibt eine lohnende Aufgabe vor allem für die jungen Germanisten aus der östlichen Hälfte Europas, diesen so entschieden ihren eigenen Heimatregionen zugewandten deutschen Dichter aus Finnland für sich zu entdecken.
Dass Heins Werk allerdings auf diese wichtigen östlichen Perspektiven keineswegs reduziert werden darf, weiß jeder, der in seinen Gedichtbänden auch nur einmal geblättert hat. Immer wieder werden dort auch südliche Landschaften und Orte und Gestalten evoziert: italienische, spanische, griechische, türkische, portugiesische – der Mittelmeerraum ist in seinem Denken und Dichten überaus präsent ... Und in seinem jüngsten Gedichtband Aufriß des Lichts (2006) findet sich sogar ein umfangreicher, durch gründliche Goethe-Lektüre inspirierter, in unsre dunkle Zeit transponierter west-östlicher Divan mit Gedichten über die Zerstörung der Buddha-Statuen im afghanischen Bamijan im Frühjahr 2001, über die brennenden Wolkenkratzer in New York, die Bombenteppiche am Hindukusch, über die Kämpfe im Flüchtlingslager Dschenin im April 2002 und über die deprimierenden Beratungen im UN-Sicherheitsrat im Februar 2003, kurz vor dem Angriff auf den Irak.
Aufriß des Lichts endet mit vier Gedichten, die 2005 im Anschluss an eine Reise Heins nach Palästina entstanden sind, nach Ramallah, Nablus und Hebron, den Ort, an dem der Stammvater der drei verwandt-verfeindeten Buchreligionen bestattet sein soll: Abraham. Auch diese vier Gedichte wird Manfred Peter Hein Ihnen vortragen. Im Zentrum freilich steht heute die Prosa, die Erzählung Fluchtfährte. Wer von dem Lyriker und dem Gedichte-Übersetzer mehr hören möchte, kann Sonntag Vormittag nach Germersheim kommen, wo es im Rahmen einer Matinee eine weitere Lesung geben wird.
Ich danke Manfred Peter Hein auch in Ihrem Namen für seinen Besuch hier am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie in Heidelberg.
PAGE 5