Mißbrauch, Narzißmus und Vergebung
Die Forschung von Konrad Stauss und Vorschlag einer Revision
Gabi Ballwegs Gespräch mit Konrad Stauss im Novemberheft 2014 von Neue Stadt (S. 5-6) faßt Einsichten
und Thesen seiner Veröffentlichung Die heilende Kraft der Vergebung (2010) zusammen. Mit diesem Buch betritt Stauss
wissenschaftliches Neuland. Psychiatrie und Psychotherapie untersuchen das Phänomen der Schuldgefühle, welche
als Pathologie diagnostiziert und behandelt werden. Die fiktive Variante von Schuld ist somit ein Gegenstand der
Forschung. Zur faktischen Schuld jedoch, das Thema von Stauss, gab es bislang in der Medizin nur Weniges.
Das Neue an Stauss zeigt sich im Vergleich mit dem Werk des Psychoanalytikers und Daseinsphilosophens
Erich Fromm (1900-1985). Frühe Forschungen zum Thema Schuld finden sich in Anatomie der menschlichen
Destruktivität (1974), Haben oder Sein (1976) und Die Seele des Menschen: ihre Fähigkeit zum Guten wie Bösen (postum,
1987). Gerade letztere Studie ist relevant, da Fromm dort den Ursachen faktischer Schuld nachspürt, das Phänomen
des Bösen untersucht, und als dessen Wurzel den Narzißmus isoliert. Fromm war nicht der erste; die Pionierarbeit zu
Narzißmus leistete Freud. Allerdings enthält Freuds Einführung des Narzißmus (1914/1924) viel Fragwürdiges, so wie
die ethisch anstößigen und empirisch unhaltbaren Thesen, Homosexualität sei eine Krankheit und als diese eine
Spielart des Narzißmus. Solch unreflektierte Übernahmen eines sexualfeindlichen Zeitgeistes findet man auch bei
Nachfolgern Freuds, wie bei Fromm und auch bei Victor Frankls. Das ist ein Mangel. Trotzdem, ähnlich wie Frankl,
hat Fromm einen bleibenden Beitrag geleistet.
Fromm identifizierte also als erster den Narzißmus als Wurzel faktischer Schuld. Die seitdem entstandende
Fachliteratur zu diesem Thema hat die American Psychiatric Association veranlaßt, die Diagnose Narzißmus als
Persönlichkeitsstörung (personality disorder) in die 2013 erschienene 5. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders (DSM-5) aufzunehmen. Das Öffentlichkeitsinteresse am Thema, welches in Redewendungen wie
die narzisstische Gesellschaft und Zeitkrankheit Narzißmus sichtbar ist (ersteres auch ein Buch von HansJoachim Maaz; letzteres z. B. im Klappentext von Wenn Macht krank macht: Narzißmus in der Arbeitswelt von Werner
Berschneider), bestätigt postum Fromms Arbeiten zur klinischen Quelle der Schuld.
Stauss dagegen dreht es sich um Fragen der Schuldvergebung und Schadensbegrenzung. Man könnte also
sagen, Fromm untersucht die Ursachen, und Stauss die Wirkungen. Mehr noch: Fromm erforscht das Thema aus
theoretischem Interesse, geleitet von Ethik, philosophischer Anthropologie und medizinischer Phänomenologie;
Stauss erforscht es aus praktischen Beweggründen, geleitet, im Wesentlichen, von Medizin und Therapeutik.
Schnittmenge beider ist ein Interesse an Lebensweisheit—aber mit unterschiedlicher Betonung; humanistische
Theorie beim einen, Heilpraxis beim anderen. Was Schuld betrifft, beschreibt Fromm die strukturellen Grundlagen
und Strauss die traumatischen Folgen. Stauss’ praxisorientierte Arbeit zielt auf die Überwindung dieser Folgen und
damit auf die Eliminierung der Schuld. Buchtitel beleuchten den Unterschied: Anatomie der menschlichen Destruktivität
hier, Heilende Kraft der Vergebung dort—der eine ist philosophischer Anatom und der andere ist praktizierender Arzt.
Schuldfolgen und Überwindung sind auch Themen für eine andere praktizierende Ärztin, die Psychiaterin
Marie-France Hirigoyen. Mit ihrer viel beachteten Studie Le harcèlement moral: la violence perverse au quotidien (1998;
auf deutsch Die Masken der Niedertracht: seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann, 15. Auflage
2015) erscheint sie auf den ersten Blick als Vorläuferin Stauss und damit als Pionierin dieses Themas. Aber dem ist
nicht so, denn trotz gleicher Zielsetzung—Heilung—schlagen Hirigoyen und Stauss andere Wege ein. Hirigoyen
dreht es sich um die Heilung des Opfers, aber Stauss dreht es sich auch um die Heilung der Opfer-Täter-Beziehung.
Die Schwerpunktverlagerung auf Beziehungen ist Ausdruck eines ganzheitlich-kollektiven Therapieziels:
kaputte Familien sind das Problem, unbeeinträchtigte Familien sind die Lösung. In der Familientherapie herrscht
also die Hoffnung vor, die an Schuldfolgen zerbrochenen Familien zu kitten, Opfer und Täter an einen Tisch zu
bringen und durch das Erarbeiten eines gegenseitigen Verständnis die Grundlage zur Überwindung der Dysfunktion
zu schaffen. Ist eine neue Funktionalität erreicht, dann ist aus ganzheitlicher Warte Heilung gelungen. Stauss gehört
zu dieser Gruppe von Therapeuten, Hirigoyen aber nicht. Daß es Gründe für Hirigoyens Alternative gibt, wird am
öffentlichen Echo auf eine Studie deutlich, deren Autorin zu Stauss’ Gruppe gehört, nämlich Sandy Hotchkiss’ Why is
it always about you? The seven deadly sins of narcissism
00
Warum muß sich alles immer um dich drehen? Die
sieben Tods(nden des Narzißmus . Dieses Werk erfreut sich in Amerika großen Erfolges, wurde allerdings wegen
seiner ganzheitlich-kollektiven Zielsetzung kritisiert. Auf den fast dreihundert Besprechungen auf der Netzseite von
amazon.com haben im Januar 2016 die Leser folgende Rezension als most helpful critical review gewählt:
Hotchkiss’ ”uch versucht, als eine Art Straßenkarte den Weg aus der Hölle zu zeigen. Es durchleuchtet verschiedene
narzisstische Charakterz(ge die sieben Tods(nden
und wie Menschen diese im “lltag zum “usdruck bringen. Es
bietet auch Richtlinien für den Umgang mit solchen Menschen an ... der Ratgeber ist wohl durchdacht und durchaus
nützlich—das Schl(sselwort hier ist bewältigen —aber anscheinend fehlt in meiner Ausgabe das allerwichtigste Kapitel,
das nur aus drei Sätzen bestehen sollte Renn weg! Schmeiß hin! Flüchte!
[Meine Übersetzung von Hotchkiss’s book ... mainly attempts to provide a map leading out of hell. It illustrates various
narcissistic traits the seven deadly sins
and how people exhibit them in everyday life, and it offers guidelines for
dealing with such people. ... the advice is well thought-out and useful—the operative word here is coping—but my copy
seemed to be missing the single most essential chapter, which simply reads: Run! Leave! Get out!
URL
http://www.amazon.com/gp/customer-reviews/R2P5C1Q9WVBY0X/ref=cm_cr_pr_viewpnt?ie=UTF8&ASIN=0743214285#R2P5C1Q9WVBY0X]
In der Verfolgung des ganzheitlich-kollektiven Therapieziels wird die Wiedervereinigung von Familien mit
dem Preis erkauft, daß die Heilung des Opfers der Reparatur der Beziehung untergeordnet wird. Das verlangt vom
Opfer, die Beziehung bewältigen zu müssen (to cope) anstelle sich ihr ein für allemal entziehen zu dürfen. Die Kritik
an der Priorität der Bewältigung (coping) erklärt den Kontrast zu Hirigoyen. Hirigoyen stellt die narzißtische Wurzel
des Bösen in Familien auf die gleiche Stufe wie Trunksucht, Gewalt und sexuellen Mißbrauch. Hirigoyen schreibt als
Ärztin, die Patienten helfen will—und, kontra Stauss, die nur den Patienten helfen will. Die Täter—die Narzißten,
Trinker, Schläger und Vergewaltiger—sind ihr keiner Überlegung wert. Für sie sind sie nicht Thema der Therapie,
sondern Aufgabe der Gerechtigkeit und ggfls. der Justiz. Hirigoyen analysiert den Schaden der Täter und kümmert
sich um die Heilung der Opfer. Die Pflege oder Wiederaufnahme der Beziehungen zu Tätern macht nur kränker und
soll daher vermieden werden. Im Bezug auf dysfunktionale Familien dreht es sich ihr in Masken der Niedertracht also
darum, wie sich Opfer (meist Kinder) vor den Manipulationen der von Empathiemangel und Realitätsverweigerung
geprägten Täter (oft Väter) und deren verhuschten Koabhängigen (häufig Mütter, Geschwister) schützen können.
Ärztliches Drängen auf Versöhnung um der Bewältigung willen kann Heilungsprozesse zurückwerfen. Das
weiß Hirigoyen und so verweigert sie strikt den Tätern jegliches Verständnis—den für Staussens Ansatz so wichtigen
Rollentausch lehnt sie also rundweg ab. Täter, für die französische Therapeutin, sind quasi Terroristen, die weder
Empathie noch Sympathie verdienen; aus ärztlichen Gründen müssen sie aus der Lebenswelt der Opfer verbannt
werden. Auf englisch gesagt, übernimmt Hirigoyen den Ratschlag für Opfer aus der Hotchkiss-Kritik: Run! Leave!
Get out! Für Täter, für die narzißtischen Väter und Mütter, hat sie sozusagen nur zwei Wörter übrig: fuck them.
Ganz anders Stauss. Ihm dreht es sich nicht nur um die Heilung der von traumatischen Beziehungen
entflohenen Patienten, sondern auch um die Heilung der Beziehungen, also der Opfer-Täter-Verhältnisse. Dieses
therapeutische Doppelziel verweist auf seine Neuerung. Sein Beitrag besteht in der therapeutischen Rolle der
Vergebung. So gesehen ist er ein Pionier, und seine Einsichten zur Vergebung sind tiefgründig. Theoretisch interessant
ist die Integration theologischen Ideen in einem seelenärztlichen Bezugsrahmen; eine interdisziplinäre Synthese, die
an Frankls Werk erinnert. Gelungen daran ist die therapeutische Einbindung von lebensweisheitlichen Einsichten,
die aus dem Neuen Testament herrühren und althergebrachte Lebenserfahrungen zum besseren Verheilen spiegeln.
Vergebung hat also eine heilende Kraft. Diese kann sie in einer geordneten Struktur entfalten. Stauss stellt
diese in sieben Schritten dar. M. E. läßt die Kraft sich auf drei Kernaussagen reduzieren: erstens, Vergebung ist
Handlung des Opfers frei von Reue des Täters (was in dem Jesuswort Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was
sie tun zum “usdruck kommt). Vergebung setzt keine Besserung des Täters voraus. Sie kann auch dann stattfinden,
wenn Täter uneinsichtig-selbstmitleidig bleiben, in Feigheit und Verleugnung flüchten, und Entschuldigung für den
verbrochenen Schaden verweigern. Gerade wenn die menschliche Entwicklungsbedürftigkeit des Täters dessen
Taten als unverzeihlich erscheinen lassen, werden sie verzeihbar. Darin besteht die freie Macht der Vergebung.
Die Macht wird real durch eine Wandlung des Opfers von einer leidenden zu einer handelnden Position.
Als Handlung des Opfers befreit die Vergebung das Opfer von der passiven Identität des einstmals Leidenden.
Vergebung löst das Opfer von der Energiebindung an den Schaden, an die Tat, und damit an den Täter. Das
Machtgefüge der Opfer-Täter-Beziehung verschiebt sich. Vergebung entmächtigt den Täter und ermächtigt das
Opfer. In der Vergebung wird das Opfer zum Täter einer Vergebungshandlung und der Täter zum Opfer der
Verzeihung. Diese Neuordnung des Kräftefeldes ist für Heilung entscheidend. So hilft Vergebung.
Allerdings ist Heilung zweitens ein Prozess und keineswegs ein plötzliches Ereignis. Dieser Prozess wird
vorangebracht durch beharrliche Wiederholung der Vergebungshandlung. Mit einmaliger Tat ist es nicht getan.
Damit Handlung zur Haltung wird, muss sie eingeübt werden. Nur als kognitiv-emotionelle Gewohnheit
verwirklicht Vergebung ihre therapeutische Macht. Ihre heilende Kraft entfaltet sich also in Repetition.
Drittens, letztens, erfordert Vergebung einen empathetischen Rollentausch: damit das Opfer zum Täter der
Vergebungshandlung werden kann, muss es sich erstmal in die Rolle des Täters hineinfinden und in dieser gewollten
Identifikation ein nachfühlendes Verstehen suchen. Vergebung ist also umso schwerer, desto unverständlicher der
Mißbrauch des Täters erscheint, und umso einfacher, desto verständlicher er dem Opfer werden kann. Stauss
verweist mit dieser dritten Kernaussage auf die zentrale Rolle der Empathie im Heilungsprozess.
Mit dieser Empathieübung begibt sich das Opfer allerdings auf eine Gratwanderung. Richtig und heilsam
ist es, den Versuch zu wagen, den Täter in seiner Unzulänglichkeit zu begreifen: anzuerkennen und nachzufühlen,
daß wir alle Menschen sind; daß jeder von uns Fehler macht/Schaden anrichtet; kurzum, daß wir als Sterbliche
unvollkommen sind. Falsch und krankmachend ist es allerdings, vom Hineinfinden in die Tat zur Begreiflichkeit des
Mißbrauchs und damit zur Rechtfertigung des Täters hinüberzugleiten. Empathie hat für Opfer klare Grenzen—nie
darf sie zur Annahme der Tat und Übernahme der Schuld pervertiert werden. Die empathetische Gratwanderung
muß also ein Balanceakt zweier sich gegenseitig bedingender Ziele sein: die Annahme des Täters als Mitmenschen im
Geiste der Solidarität—und die Ablehnung der Tat im Geiste der Menschenwürde.
Kurzum, Vergebung dient nicht nur dem fragwürdigen Ziel einer Beziehungsbewältigung, welche unter
Umständen, um der Familie willen, auf Kosten des Opfers geht. Sie dient auch dem schlicht am Patienten orientierten
Therapieziel, welches Hirigoyen betont. Bis zu diesem Punkt kann ich Stauss folgen. Allerdings kommt in dem
Stauss-Interview in Neue Stadt ein Denkfehler vor, der im Buch nur latent vorliegt. Daß er im Gespräch deutlich wird,
liegt nicht nur an der im Dialog unausweichlichen Vereinfachung der dargelegten Theorie (also daß etwas über
Seiten Dargelegtes im Gespräch in aller Kürze, undifferenziert, gesagt werden muß), sondern auch daran, daß die
Journalistin Stauss klipp und klar nach seiner Meinung fragt—und so kommen neben fundierten Schlußfolgerungen
und Forschungserkenntnissen eben auch schlichte Meinungen ans Licht.
Konkret liegt der Fehler in der Meinung, Vergebung und Versöhnung dürften nicht instrumentalisiert
werden. Begründet wird sie mit dem Argument, Vergebung und Versöhnung hätten einen religiösen Ursprung, und
daher wäre an ihnen etwas Heiliges. Laut diesem Argument verliehe jener Ursprung ihnen einen Eigenwert, der eine
Verpflichtung bedeute. Ein Problem ist formal: der Schluß folgt nicht. Daß ein Ursprung gewisse Eigenschaften
besitzt, heißt keineswegs, daß das, was dem Ursprung entspringt, die gleichen Eigenschaften haben muß. Aus der
religiösen Quelle der Vergebung folgt noch lange nicht ein angenommenes religiöses Wesen. Eine Idee kann vom
Glauben herrühren, ohne auf diese Herkunft begrenzt sein zu müssen. Wurzeln und Äste sind verschiedene Dinge.
Ein anderes Problem dieses Arguments ist methodologisch. Die Methoden der Theologie und die der
Wissenschaft lassen sich nur bedingt annähern. Notwendige Bedingung der Akzeptanz einer Idee in einer breiteren
Öffentlichkeit jenseits der Glaubensgemeinschaft, in der sie ihren Ursprung haben mag, ist deren weltliche Relevanz.
Nur Weltliches kann Wissenschaft sein. Himmlisches gehört nicht in die Wissenschaft. Es geht nicht anders.
Aber das Hauptproblem ist ein Konflikt zwischen Glaubensmeinung und ärztlicher Verantwortung. Müßte
man das Wesen von Vergebung und Versöhnung auf eine heilige Wurzel reduzieren, dann dürfte man sie nicht
instrumentalisieren. Staussens Beitrag dreht sich aber um die heilende—nicht erlösende—Kraft. Wäre seine Arbeit Teil
der kirchlichen Seelsorge, gehörte sie also in die Theologie, dann würde der Schluß zwar immer noch nicht von der
Prämisse folgen, aber dann wäre er zumindest widerspruchsfrei. Doch als Beitrag zur Medizin muß die Kraft der
Vergebung dem Primat der Heilung gehorchen. Und sobald nun Vergebung als Mittel zur Heilung begriffen wird,
liegt der Widerspruch offen zu Tage. Heilmittel sind Mittel zum Zweck. Sie dienen der Heilung. Sie sind ohne wenn
und aber instrumentalisiert. Wären Vergebung und Versöhnung das nicht, hätten sie in der Heilkunde keinen Platz.
Die Medizin soll Stauss’ ”eitrag zur heilenden Kraft der Vergebung übernehmen, weil ihre Anwendung
bzw. Durchführung hilft und in der Behandlung einen Unterschied macht. Aber Stauss unterläuft seinen eigenen
Forschungsbeitrag, wenn er sich gegen die konsequent-instrumentalisierte Bindung von Vergebung und Versöhnung
an das Heilungsziel stellt. Das wäre wie, als würde ein Forscher eine Arznei entwickeln und dann Ärzte warnen,
diese wäre heilig und dürfe nie als profanes Mittel zum Zweck entweiht werden. Aber gerade dazu ist sie ja da!
Als Mittel zum Zweck ist Vergebung an die Regeln der Heilprozesse gebunden, aber als Selbstzweck
unterliegt sie ihren eigenen Regeln, und erstere und letztere stimmen nicht überein. In Rahmen eines Heilprozesses
braucht Vergebung Zeit, nicht nur die Zeit der Vergebungsarbeit, sondern auch die ihr vorauslaufende Zeit. Man soll
ein Opfer nicht zur Vergebung antreiben, denn diese kann nur dann aufrichtig, frei, und konstruktiv sein—also der
Heilung dienen—wenn die Zeit dafür reif ist. Der Arzt soll den Patienten zur Vergebung ermutigen, ihn aber nicht
drängen. Übereilte Vergebung zur Unzeit macht das Trauma nur schlimmer und ist bekanntlich kontraproduktiv.
Das wird noch deutlicher am Phänomen der Versöhnung. Als Arzt erkennt Stauss, daß Versöhnung nur
gelingen kann, wenn der Täter die Konsequenzen seiner Tat wahrnimmt, den vom Opfer erlittenen Schaden nicht
bagatellisiert, und dem Opfer zu verstehen gibt, fortan sich nicht mehr der Realität zu verweigern. Konkret setzt das
Gelingen der Versöhnung eine Entschuldigung des Täters voraus. Ohne ein aufrichtiges sorry ist sie zum Scheitern
verurteilt. Unaufrichtige, wirkungslose Spielarten von Entschuldigung wären beispielsweise, daß der Täter die Tat
anerkennt—aber dem Opfer sagt, es hätte sie verdient; oder daß er Bedauern ausdrückt—aber dem Opfer mitteilt, er
wüßte nicht, was er eigentlich getan hätte; oder daß er die Tat anerkennt und sein Bedauern ausdrückt—aber nur
anderen gegenüber, nie dem Opfer selber: all das ist respektlos, und nichts davon kann funktionieren. Der Arzt soll
den Patienten zur richtigen Zeit zur Versöhnung ermutigen, aber er darf ihn nicht dazu drängen, vor allem dann
nicht, wenn sich der Täter bezüglich der Anerkennung und des Bedauerns weiterhin uneinsichtig zeigt. Dann würde
das ärztliches Drängen auf Versöhnung zuviele Risiken mit sich bringen: nicht nur den zu erwartenden Rückfall des
Patienten, sondern auch die Gefahr, daß die durch Versöhnungsinitiativen verstärkte Verwundbarkeit des Opfers bei
Nichterfüllung der Erfolgsbedingungen in Haß, Verachtung und Rachegelüsten umschlägt und unter unglücklichen
Umständen eine vergeltende Waffengewalt motiviert, was nur noch mehr Leid aufhäufen würde.
Gegen Staussens unzulässige Vermischung theologischer und medizinischer Beweggründe ist also
anzuführen, daß aus medizinischer Sicht Vergebung und Versöhnung konsequent therapeutisch instrumentalisiert
werden müssen. Sie sind taktisch-strategische Mittel zum Zweck. Sie dienen Heilung, nicht Erlösung. Sie sind
weltliche Werkzeuge der Medizin, nicht himmlische Wege der Religion. Ziel der Medizin ist, Patienten zu helfen,
und nicht, sie zum Glauben zu führen. Um Patienten nicht zu schaden, muß ein verantwortungsbewußter Arzt von
Versöhnung abraten, solange die nötigen zwischenmenschlichen Bedingungen für Versöhnung nicht erfüllt sind.
Der Kern des Schadens ist ein Wertekonflikt zwischen Medizin und Glaube. Ein Opfer von Mißbrauch leidet
letzten Endes an der Verletzung seiner Menschenwürde. Vergebung und Versöhnung sind Mittel, die verletzte
Würde wiederherzustellen. Das geht mit Vergebung sobald die Zeit dafür reif ist. Das geht mit Versöhnung unter
den genannten Bedingungen. Sollte aber des Täters Uneinsichtigkeit weiterhin zutreffen, dann würde die erhöhte
Verwundbarkeit des versöhnungsbereiten Opfers zwangsläufig zu neuerlichen Verletzungen führen. Die müßten
dann wieder bewältigt werden, obwohl sie im Prinzip völlig vermeidbar gewesen wären. Letztlich hat das Opfer
dann wieder einmal das Nachsehen. Aus medizinischer Sicht ist eine Pflicht zur Versöhnung also unsinnig.
Aus der Sicht des Glaubens schaut das anders aus. Überspitzt gesagt, kann ein Christ nur bedingt am
Schutz der Würde des Opfers interessiert sein. In der christlichen Ethik ist Demut eine Tugend und Stolz eine Sünde
im Unterschied zur heidnischen Weisheitslehre man denke an “ristoteles’ Nikomachische Ethik). Schutz der Würde
paßt hier nicht richtig hinein, denn die Verwirklichung christlicher Demut verlangt barmherzige Selbstverneinung,
welche sozusagen einen edlen Verzicht auf den Schutz eigener Würde darstellt. Das rückt Verletzungen in ein
anderes Licht. Aus der Sicht des Glaubens liegt im Ertragen von Leiden etwas Heiliges—wie es eben in der
Passionsgeschichte und insbesondere im Emblem der stabat mater dolorosa zum Ausdruck kommt. Für einen Arzt ist
Leid das Problem und Heilung die Lösung. Aber ein Christ sieht in Leid mehr als ein Problem: es ist auch auferlegte
Prüfung. Diese wird bestanden nicht durch Heilung (das wäre Schummelei), sondern durch Bewältigung, also nicht
durch Lösung des Problems, sondern durch beharrliches Ausharren im Problem. Diese Leidensbereitschaft wird im
Christentum idealisiert. So beten Christen Jesus an—gerade weil er sich freiwillig ans Kreuz hat schlagen lassen, weil
er sich widerstandslos dem Leid ausliefert, und weil er am Kreuz diese Leidensprüfung ohne Milderung bewältigt
(ein in Essig getränkter Schwamm zählt nicht). Und so verehren Christen Maria, gerade weil sie als Mutter, am Kreuz
stehend, im Leiden ihres Sohnes verharrt. Wäre in der Passionsgeschichte Maria unter dem Kreuz gleich ohnmächtig
geworden, dann gäbe es die zu ergreifender Betrachtung einladende Figur der stabat mater gar nicht. Eine jacebat
mater oder quiescebat mater, eine Maria, die liegt oder ruht, wäre nicht erbaulich. Doch das stabat, das erstaunliche
Vermögen, nicht hinzusinken, sondern stehen zu bleiben—das ist verehrungswürdig. Man stelle sich das heidnische
Gegenteil vor: eine Berserkerin unter den antiken Vandalen, ein Flintenweib unter den sowjetischen Kommunisten—
eine Kriegerin, die angesichts der Passion des Gekreuzigten um sich schlägt, die Folterknechte niedermetzelt und
den sterbenden Sohn und sich selbst in die Luft sprengt, um aus rebellierender Menschenwürde Ausharren im Leid
zu vermeiden! Anders jedoch im Christentum, und dort wie Mutter, so Kind: so legt Jesus den Christen ans Herz,
ihre Feinde zu lieben und die andere Backe hinzuhalten. Sobald also ein auf Schuld spezialisierter Arzt, von
christlichen Werten motiviert, zur Versöhnung rät, kann es für den Patienten unter Umständen gefährlich werden.
Im christlichen Glauben ist die Versöhnungspflicht nicht nur mit der Tugend der Demut und dem Ideal der
Bewältigung (coping) zu erklären. In dysfunktionalen Familien kommt noch eine weitere Dimension hinzu, die den
Gegensatz zwischen Medizin und Religion verschärft. Das vierte Gebot des Dekalogs fordert eine Rangordnung von
Eltern und Kindern. Ist diese Rangordnung im Katholizismus ein pragmatischer oder hypothetischer Imperativ—
man soll Vater und Mutter ehren, damit man lange lebe und es einem auf Erden wohlergehe—so wird sie im
Protestantismus zum kategorischen Imperativ verkürzt: du sollst Vater und Mutter ehren, punktum! Rangordnung
in der Medizin dagegen wird relevant in gerade dem Machtgefälle, welchem der Vektor des Mißbrauchs folgt. So
sind in der Regel Täter Eltern und Opfer Kinder. Da gibt es Ausnahmen, die vor allem zutreffen, wenn Kinder
erwachsen und Eltern alt sind, aber eben auch Ausnahmen von Ausnahmen (wenn z. B. erwachsene Kinder in einer
Krise auf die Solidarität der Eltern angewiesen sind, die ihnen verweigert wird), die wiederum die Regel bestätigen.
Das Machtgefälle der Rangordnung verweist auf eine Hierarchie von Deutungen. Im Glauben liegt die
Deutungshoheit bei den Eltern. Die Eltern haben das Sagen, sie haben das letzte Wort, und die Kinder sollen folgen.
Täten Kinder das nicht, dann versündigten sie sich. Im Zweifelsfall haben Eltern recht, vor allem im Protestantismus.
Die Religion ehrt also die Eltern, nicht die Kinder. Die Heilkunde dagegen kümmert sich um Opfer des Mißbrauchs.
Insofern ist im Bezug auf Familien, deren Zerstörung oft von Eltern verursacht ist, das Machtgefälle umgekehrt: man
soll Söhne und Töchter ehren, nicht nur um deren Heilung willen, sondern auch damit die Eltern nicht zur
Zielscheibe verdienter Abweisung werden. In der Medizin liegt die Deutungshoheit also bei den Kindern. Das ist der
Punkt, an dem der christliche Arzt in einen unausweichlichen Interessenkonflikt rutscht—soll er sich als Arzt oder
als Christ verhalten? Soll er seinem hippokratischen Eid folgen oder das vierte Gebot anraten? Beides geht nicht.
Soviel also zum Forschungsbeitrag einerseits und zum versteckten Denkfehler und dem daraus folgenden
Interessenkonflikts andererseits. “bschliessend noch ein Wort zu Stauss’ These des heiligen Raums der Versöhnung.
Trotz des religiösen Jargons liegt hier eine Einsicht vor. Sie besteht in dem Umstand, daß die Opfer-Täter-Beziehung
kontextbezogen ist. Für die Heilung der ”eziehung ist dieser Kontextbezug wegweisend. Kontext ist also nicht das
Wegwerfwort, das man von postmodernen Relativisten kennt, sondern bildende Identität. Mit Hinzunahme des
Kontexts der Opfer-Täter-Beziehung wird aus einer Zweierbeziehung (Opfer, Täter) eine Dreierbeziehung (Opfer,
Täter, Kontext). Die Verortung im Kontext formt ein Netzwerk und bildet den Raum, in dem die Opfer-TäterBeziehung steht. Für Stauss ist dieser Raum heilig. Das dritte Element ist seiner Ansicht nach Gott. Es ist allerdings
möglich, diese Meinung weltlich zu deuten und damit die Integration von Stauss’ Beitrag in die Wissenschaft zu
erleichtern. Weltlich gedeutet besteht das dritte Element im Sachverhalt andere Menschen” bzw. in der Menschheit,
Humanität oder der Menschlichkeit an sich. Verortet man die Opfer-Täter-Beziehung auf unsere biologische Gattung
und damit in einen Raum, den wir als Individuen einer Art jenseits und unbeschadet aller kulturellen Unterschiede
nun einmal einnehmen—und in einer Zeit, die wir als existierende Glieder einer Generationenkette von Vorfahren zu
Nachkommen jenseits und unbeschadet aller historischen Variabilität nun einmal durchmessen—dann wird
Himmlisches weltlich und Religiöses natürlich. Für die Heilkunde heißt das, daß die Dynamik von Vergebung und
Versöhnung sich in einem Raum entfalten soll, zu dem neben Opfer und Täter auch das maßgebende Faktum gehört,
daß beide Menschen sind, mit all ihren Stärken und Schwächen. Darin besteht der weltliche Raum der Versöhnung:
es gibt von jedermann, jederfrau, nachvollziehbare Spielregeln. Diese Regeln der Empathie und der Fairneß laufen
auf ein Wörtchen hinaus—Solidarität. So revidiert, kann Stauss’ ”eitrag zur heilenden Kraft der Vergebung und zum
solidarischen Raum der Versöhnung in die interdisziplinäre und strenge Wissenschaft eingehen.
MARTIN SCHÖNFELD
UNIVERSITY OF SOUTH FLORIDA
mschonfe@usf.edu
Januar 2016