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Ghettos, Parallelgesellschaften, ethnische Enklaven: Mit den immer gleichen Zuschrei
bungen wird in Deutschland das Image migrantisch geprägter „Problemviertel“ repro
duziert – obwohl im internationalen Vergleich von einer großflächigen Segregation gar
nicht die Rede sein kann. Medien und Politiker können dabei auf Studien der Stadt
und Regionalforschung zurückgreifen, die mit Schlagworten wie „überforderte Nachbar
schaften“ die Bedrohungsszenarien noch verstärken. Wie entstehen diese „urbane
Paniken“, die nach 9/11 zunehmend in einen offenen Antiislamismus umschlagen?
Albert-Heijn-Moschee, Amsterdam I
Tarik Sadouma & Bastiaan Franken, 2001
Panische Räume
Text Vassilis S. Tsianos und Klaus Ronneberger
Die künstlerischen Arbeiten
auf dieser und den folgenden
Seiten sind in der Ausstel
lung „Kubus oder Kuppel“ zu
sehen, die noch bis zum
1. April in Stuttgart läuft und
am 27. Juni nach Berlin
kommt. Kuratorin ist Valérie
Hammerbacher.
Kubus oder Kuppel | ifaGale
rie Stuttgart | Charlottenplatz
17 | Di, Mi, Fr 12–18 Uhr, Do
12–20 Uhr, Sa, So 12–16 Uhr
▸ www.ifa.de
Seit den neunziger Jahren wachsen in Deutschland Befürchtungen, es würden sich „Ausländer-Ghettos“ mit ethnisch
homogenen und armen Bewohnern herausbilden, die ein
wachsendes Gefährdungspotenzial für die städtische Mehrheitsgesellschaft darstellen. In jüngerer Zeit verknüpfen sich
solche Bedrohungsszenarien mit Verweisen auf städtische
„Riots“, wie etwa in England im Sommer 2011. Thematisiert
werden dabei vor allem die „Grenzen der Integrationsfähigkeit“ von Minderheiten und die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Rassistische Diskriminierungs- und Ausschlusspraktiken sind sicherlich ein „globales“ Phänomen. In Deutschland
gibt es allerdings einige Besonderheiten zu beachten: Was die
Frage der Migration betrifft, besteht hierzulande ein weitgehender Konsens darüber, dass sich die Eingewanderten den
vorherrschenden Normen und Werten anzupassen hätten.
Diese Erwartung wird mit einem Begriff von Integration verknüpft, den große Teile der deutschen Gesellschaft sowohl mit
„Ausgleich“ als auch mit „sozialem Frieden“ assoziieren. Gegenüber Migranten funktioniert die Metapher der Integration
als Ideologie der „Eingliederung“, in der sich Vorstellungen sozialer Inklusion und normative Forderungen nach kultureller
Anpassung widersprüchlich überlagern.
Die verschlungenen Pfade der Integration
Auf die normalisierende und normierende Funktion von Integration zu setzen, hat in Deutschland eine lange staatspolitische Tradition. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt
sich mit der Ausbildung des Sozialversicherungssystems ein
neues Konzept der sozialen Steuerung, das den Antagonismus
zwischen Kapital und Arbeit befrieden, die Folgen der Armut
kompensieren und die Auswirkungen der Unterdrückung einschränken soll. An die Stelle der bis dahin dominanten Vorstellung einer Gesellschaft konkurrierender Individuen tritt
die Idee einer Solidargemeinschaft, deren Mitgliedschaft vor
allem auf völkisch-nationalen Kriterien basiert. Durch Metaphern wie „Volkskörper“ oder „Volksgemeinschaft“ wird die
Einheitlichkeit dieser imaginären Gemeinschaft erzeugt. Dieses Modell des Sozialstaats weist von der Weimarer Republik
bis zur Gegenwart eine erstaunliche Kontinuität auf. Zwar
findet in der Nachkriegszeit eine Verwissenschaftlichung der
politischen Diskurse statt, die völkische oder biologistische
Argumentationsmuster zugunsten systemisch-funktionaler
Gedankengebilde zurückdrängt. Gleichwohl macht sich die
völkische Komponente in der Integrationspolitik weiterhin
bemerkbar, man denke nur an Kategorien wie „Gastarbeiter“
und „Aussiedler“.
Als es in den späten fünfziger Jahren zur Anwerbung von
„Gastarbeitern“ mit einer zeitlich begrenzten Aufenthaltsdauer kam, war die Vorstellung der Nichtintegration konstitutiv. Die damaligen Rückführungsbestimmungen gingen von
der Annahme aus, die Anwerbung von Immigranten sei nur
vorübergehend und bleibe für die Sozial- und Bevölkerungspolitik weitgehend folgenlos. Bereits 1973, als der erste Anwerbestopp in Kraft trat, wurde jedoch deutlich, dass ein Großteil
der Migranten dauerhaft bleiben würde. Mit dem politisch
nicht intendierten, aber verstärkt einsetzenden Familiennachzug kommt es in der deutschen Öffentlichkeit zu einer
Wahrnehmungsverschiebung. Die sichtbare Präsenz einer migrantischen Wohnbevölkerung löst eine Reihe von kontrollund sozialpolitischen Überlegungen aus. Der Migrationsdiskurs wird zum Problemdiskurs, und zwar in doppelter Hinsicht:
Zum einen geht es um Maßnahmen, die sich dagegen richten,
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Albert-Heijn-Moschee, Amsterdam I Tarik Sadouma
& Bastiaan Franken, 2001
Temporäre Einrichtung einer
Moschee in einer leerstehenden Filiale der Supermarktkette Albert Heijn. Aus dem
Firmenlogo entwickelten die
Künstler ein religiöses Logo.
Fotos: Tarik Sadouma & Bas
tiaan Franken
die damalige Bundesvorsitzende Renate Künast ihr Abrücken
damit, dass die Gestaltung der Einwanderungspolitik auf die
Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung angewiesen sei. Deshalb müsse man den Bedarf an Migranten ermitteln und Konzepte für die Regeln des Zusammenlebens entwickeln.
In der Zwischenzeit hat sich der Charme des kulturalistischen Differenzmodells weitgehend verflüchtigt. Das Abrücken von der „multikulturellen Gesellschaft“ geschieht unter
der Vorgabe, dass es sich dabei um ein „Schönwettermodell“
der Postmoderne gehandelt habe, das den veränderten Bedingungen der Berliner Republik nicht mehr standhalte. Die Existenz einer migrantischen Alltagskultur macht es den politisch
Verantwortlichen allerdings schwer, einfach an das Assimilationsmodell der Nachkriegsära anzuknüpfen. Die vollständige
Anpassung an die Lebensformen des Aufnahmestaates, so
heißt es, sei nicht mehr das Ziel.
Heute wird Migrationspolitik auch formal als Integrationspolitik definiert. Das „Ausländergesetz“ von 1965 heißt
nun „Aufenthaltsgesetz“. Ausdruck dieser Neuorientierung
sind der Integrationsgipfel von 2006, die „Islamkonferenz“ und
2011 die Feierlichkeiten um „50 Jahre Anwerbeabkommen“
zwischen der Bundesrepublik und der Türkei. Doch das Integrationskonzept zielt weniger auf die Erweiterung von Rechten, sondern versucht vor allem Homogenitätsvorstellungen
der Mehrheitsgesellschaft abzusichern. Ein solcher Machtanspruch wird jedoch in der öffentlichen Rede ausgeblendet
oder geleugnet.
Die Segregation und der Ghetto-Diskurs
als Einwanderungsland zu gelten, zum anderen verstärken
sich Forderungen nach einem Eingliederungsprogramm. Im
Laufe der siebziger Jahre entwickelt die SPD das sozialtechnokratische Modell der partiellen Integration, das insbesondere
die Kinder der „Gastarbeiter“ zu erfassen versucht. CDU und
CSU denunzieren diesen Ansatz unter anderem als „Zwangsgermanisierung der Türkenkinder“ und sprechen sich für eine
„rückkehrorientierte Integration“ aus.
In der Legitimationskrise des integrativen Sozialstaats zu
Beginn der achtziger Jahre kommt es zu einer erneuten Verschiebung. Mit der Konjunktur postmoderner Ideologien wird
der „Kulturbegriff“ aufgewertet, was sich auch in der Einwanderungsdebatte niederschlägt. Ausgehend von der Vorstellung
einer ethnisch differenzierten Gesellschaft greifen die Befürworter eines „multikulturellen“ Modells die Integrationspolitik als intolerante, nivellierende Assimilation an. Aus ihrer
Perspektive stellen die Herkunftskulturen der Einwanderer
weniger eine Bedrohung als vielmehr eine Bereicherung dar.
Der Versuch der Modernisierung der Migrationspolitik scheitert an dem Konsens, sich weiterhin als ein „Nicht-Einwanderungsland“ zu verstehen. Es erfolgt eine Politik der Abschot-
tung, in erster Linie über eine Einschränkung des Asylrechts,
das neben dem Familiennachzug oder temporären Arbeitsverträgen als einzige legale Möglichkeit bleibt, nach Deutschland
zu kommen. Diese restriktive Politik findet 1993 mit der
„Drittstaatenregelung“ ihren gesetzlichen Abschluss, die das
Land für Asylbewerber fast vollständig abriegelt. Nach dem
Fall der Mauer verhandelte die Öffentlichkeit das Phänomen
der Migration vorwiegend als ein Problem der inneren Sicherheit. Bevorzugtes Thema ist „der Ausländer“ als Krimineller.
Die sozialdemokratisch-grüne Koalition tritt 1998 mit
dem Versprechen an, die „Einwanderungsfrage“ zu modernisieren und den Status der hier lebenden Migranten durch ein
neues Staatsbürgerschaftmodell zu verbessern – doch die angestrebte Reform endet 2005 mit einem Kompromiss, der nur
wenig vom ursprünglichen Entwurf übrig lässt. Mit der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ versuchen in der Folge
die Konservativen, ihre Hegemonie auf dem politischen Feld
der Migration zurückzugewinnen. Zur Integration, so heißt es,
gehörte mehr als Gesetzestreue und Sprachkenntnisse. Führende Grüne nehmen die Debatte zum Anlass, sich von der
„multikulturellen Gesellschaft“ zu distanzieren. So begründet
Die so genannte „ethnische Segregation“ gilt dabei als eine der
entscheidenden Integrationsfragen. Begriffe wie „Parallelgesellschaft“ und „Ghetto“ werden in der Debatte als Synonyme
verwendet. Doch wodurch zeichnet sich ein Ghetto aus? Folgt
man dem Soziologen Loïc Wacquant, dann handelt es sich
nicht nur um eine Verdichtung von Armut und physischem
Verfall, sondern auch um ein Instrument der Kontrolle, das
auf räumlicher Verbannung, Ausbeutung und rassistischer
Stigmatisierung basiert. In der deutschen Öffentlichkeit werden für das Schreckensbild von der „Parallelgesellschaft“ oft
die US-amerikanischen „Schwarzen-Ghettos“ bemüht. Doch
dieser Raumtypus taugt kaum zur Kennzeichnung hiesiger
Verhältnisse. Eine Angleichung der Lebensbedingungen
durch zentralstaatliche Institutionen, wie sie der deutschen
Raumordnungspolitik als gesetzliche Verpflichtung vorgegeben sind, gilt in den USA als unnötig, sogar als „unamerikanisch“. Während der intervenierende Sozialstaat in Westeuropa
den Urbanisierungsprozess der letzten Jahrzehnte entscheidend geprägt hat, führte das US-amerikanische Modell zu
einer scharfen Trennung zwischen verarmter Kernstadt und
saturierter Vorstadt. In den letzten Jahrzehnten sind zudem
aus den vormals sozial integrierten „Schwarzen-Ghettos“, in
denen sich alle Gesellschaftsschichten abbildeten, „HyperGhettos“ der Armen, Marginalisierten und Obdachlosen ge-
worden. Peter Marcuse spricht in diesem Zusammenhang von
einem „Ghetto der Ausgeschlossenen“, das an die Stelle des
„Ghettos der Ausgebeuteten“ getreten ist.
Was die Entwicklung in deutschen Großstädten betrifft,
kommen jüngere Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass es
hierzulande bislang keine großflächigen Segregationsprozesse gibt. Von einer zunehmenden „ethnischen Segregation“
kann nicht die Rede sein. Die rasche Verdichtung sozialer Probleme in ganzen Stadtbezirken ist die Ausnahme, und selbst
so genannte Brennpunkte sind in vieler Hinsicht nicht homogen. Die „sozial durchmischte Stadt“ stellt nach wie vor das
Ideal dar. Dies hängt auch mit der Regulation des Wohnungsmarktes zusammen. In den meisten Kommunen existieren
Vorgaben von lokalen Behörden und Wohnungsbaugesellschaften zur Herstellung „ausgewogener“ Bewohnerstrukturen
in den Stadtteilen. Allerdings bleibt es im Ermessen der jeweiligen Akteure, wie sie soziale Durchmischung definieren: Das
Ideal der Ausgewogenheit wird daher selektiv ausgelegt. So erregen die Territorialstrategien einkommensstärkerer Haushalte, das Wohnumfeld möglichst homogen zu halten, selten
Anstoß. Dagegen ist man bemüht, eine räumliche Konzentration von migrantischer Bevölkerung und von Sozialtransferempfängern zu vermeiden. Die wohnungspolitisch Verantwortlichen sehen ihre Hauptaufgabe darin, subalterne
Gruppen im städtischen Raum zu verteilen. Die Stadt Frankfurt am Main zum Beispiel wendete in den neunziger Jahren
bei Neubausiedlungen folgenden Quotierungsschlüssel an:
30 Prozent Ausländer, 10 Prozent Aussiedler, 15 Prozent Sozialhilfeempfänger, 25 Prozent Quartiersbewohner, 20 Prozent andere Personen. Ähnliche Regularien kommen auch in anderen
Großstädten zum Einsatz. Dieses Modell ist mit verantwortlich dafür, dass in der Bundesrepublik die soziale Segregation
Zentrales Motiv des Ghetto-Diskurses ist
der explosive Raum, in dem sich „Sprengstoff“ ansammelt, der sich „entladen muss“
deutlich weniger ausgeprägt ist. Freilich sollen die Exklusionsprozesse nicht klein geredet werden. So kommt eine
Zwischenevaluierung des Programms „Soziale Stadt“ zu einer
ambivalenten Einschätzung: Die städtebauliche Situation
habe sich verbessert, die Armutsprobleme konnten dagegen
kaum entschärft werden. Dies bestätigen auch neue Studien.
Die räumliche Konzentration von Armen und Prekären hat
weiter zugenommen.
Obwohl in deutschen Städten der Raumtypus „Ghetto“
also nicht existiert, taucht der Ausdruck regelmäßig bei der
Beschreibung von „Problemquartieren“ auf. Zentral ist in diesem Diskurs die Figur des explosiven Raums, in dem sich
„Sprengstoff“ ansammelt, der sich irgendwann „entladen
muss“. Solche Dramatisierungsszenarien mobilisieren zwar
Sichtbar unsichtbar. Moscheen in Stuttgart |
Johannes Buchhammer, 2010
Eine neue Doppelseite für
den Neufert, Kapitel Sakralbauten, entstanden im Rahmen
des Seminars „Die unsichtbare Stadt“ (2010) an der
Uni Stuttgart
Abbildung: Johannes Buch
hammer
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Ceci n’est pas un Minaret | Frei + Saarinen Architekten,
Zürich 2010
Mosque
Restaurant
Offices
Library
Offices
Hamam
Offices
Library
Multipurpose Rooms
Offices
Offices
Aula
Park, Playground, Coffee Shop
Kommentar zum Schweizer
Minarettverbot: ein Büroturm
mit den Funktionen eines
islamischen Gemeindezentrums und einem Hohlraum
in Minarettform
Pläne ohne Maßstab, Renderings: Architekten. Die Arbeit
ist der Beitrag zu einem
Ideenwettbewerb: http://faszine.blogspot.com/search/
label/COMPETITION
Dachaufsicht
Empore
Gebetsraum
Kulturzentrum
Die deutschsprachige Stadtforschung
zeichnet sich durch eine weitgehende „Machtund Staatsblindheit“ aus
unter Umständen staatliche Ressourcen, tragen aber gleichzeitig dazu bei, die Stigmatisierung von Minderheiten zu verfestigen. Die Etikettierung von Quartieren als „gefährliche
Räume“ bildet die Grundlage für eine restriktive Politik. So
fordern viele Kommunalpolitiker, bestimmte Stadtteile vor
einem „ungesteuerten Zuzug von Ausländern“ zu bewahren.
Als „realistische Techniker der Sozialpsychologie“ warnen sie
vor der Überschreitung von „Toleranzschwellen“ und „Belastungsgrenzen“.
Die Politik kann sich dabei auf sozialwissenschaftliche
Expertisen stützen. Exemplarisch dafür stehen die Studien
von Wilhelm Heitmeyer. Der Gewaltforscher setzt unbedacht
die räumliche Segregationen von Migranten mit „Desintegration“ gleich: Konzentrierten sich Einwanderer in strukturell
benachteiligten Bezirken, würden sich jene Quartiere zu
einem „ethnisch-sozialräumlichen Schraubstock“ für die
nachfolgenden migrantischen Generationen entwickeln. Unberücksichtigt bleibt in Heitmeyers Untersuchungen nicht
nur die rassistische Dimension der Ausgrenzung; auch die im
Alltag tatsächlich relevanten Räume werden ignoriert – ganz
zu schweigen von den kompensatorischen Effekten ethnischer Enklaven und Ökonomien. Die Raumbezüge, die für die
Bewohner eines Stadtteils im Alltag von Bedeutung sind (und
von ihnen hervorgebracht werden), haben kaum etwas mit
den administrativen Kategorien des Raumes gemein. So wer-
den Gebiete aufgrund einer statistisch messbaren Abwanderung deutscher Familien bei gleichzeitiger Zuwanderung von
„Ausländern“ als „Problemgebiete“ eingeschätzt, obwohl sie
nach anderen Parametern Aufwertungstendenzen aufweisen.
Der Ghetto-Diskurs steht für eine Verräumlichung der
„sozialen Frage“. Studien wie das politisch einflussreiche empirica-Gutachten „Überforderte Nachbarschaften“, erstellt im
Auftrag des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen (GdW), fordern eine Neuausrichtung der Sozialpolitik in
„Problemquartieren“, die man als „Regieren durch Community“ umschreiben kann. In ihren Empfehlungen setzten die
Autoren auf die „Motivierung“ und „Aktivierung“ der Bewohner. In der Alltagspraxis reduziert sich das Idealbild des „selbständigen Gemeinwesens“ auf ein Sparmodell, das die Rücknahme von staatlichen Interventionen ermöglichen soll.
Darüber hinaus zeichnet sich das Gutachten durch rassistische Konnotationen aus. Hier ein Beispiel: „Vor allem den Einheimischen erscheinen die Sozialämter als Orte der Inquisition und der Erniedrigung. Robuster und unbekümmerter
gehen viele Ausländer vor. Für sie sind die Leistungsträger offensichtlich ein großer Teppichhandel, den man mit Zähigkeit
und Cleverness bis zur Erschöpfung der Schalterbeamten
führt.“ Der Begriff der „überforderten Nachbarschaften“, der
heute zum festen Bestandteil des „Sozialen-Stadt-Diskurses“
gehört, wurde nach dem Abschluss der Studie gewählt, um die
Ergebnisse „besser vermarkten zu können“. „Überfordert“, so
das Gutachten, „sind viele einheimische Bewohner, denen im
Zusammenleben mit Ausländern und Aussiedlern zuviel an
Integrationsarbeit und Konfliktbewältigung abverlangt wird.
Überfordert sind die Wohnungsunternehmen, weil sie als Verwalter der ungelösten Sozialstaatsprobleme deren Ursachen
nicht bekämpfen können. Überfordert sind aber auch die
Bürogeschoss
Erdgeschoss
Parkgeschoss
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Darf ich mal Ihr Minarett anmalen? | Boran Burchhardt,
Hamburg 2009
Kommunen, die durch ihre auf einen zu kleinen Bestand begrenzte Belegungspolitik zahlreiche Schwierigkeiten selber
hervorrufen oder verschärfen.“ Mit dem französischen Soziologen Etienne Balibar kann man diese und ähnliche Studien
als Belege für eine neoliberale Variante des „modernen institutionellen Rassismus“ bezeichnen, der zwei gegensätzliche Vorstellungen vereinigt: die Ethnisierung sozialer Verhältnisse –
und die Propagierung eines Aktivierungsmodells, das „eine
allgemeine individuelle Selektion institutionalisiert, deren
untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und
‚Unnützen‘ darstellt.“
Leerstelle Rassismus
Die deutschsprachige Stadtforschung zeichnet sich insgesamt
durch eine weitgehende „Macht- und Staatsblindheit“ aus. Im
Gegensatz zur angloamerikanischen Stadtsoziologie spielen
bei der Analyse städtischer Räume Diskussionen über „Rassismus“ kaum eine Rolle. Dieser Begriff ist fast ausschließlich für
die Kennzeichnung der NS-„Rassenpolitik“ reserviert und entsprechend tabuisiert. Bei der Mehrheit der „städtischen Spezialisten“, vom Stadtplaner bis zum Stadtentwicklungspolitiker,
scheint es sich noch nicht herumgesprochen zu haben, dass
der Verweis auf „andere Kulturen“ die Konstruktion des Fremden dominiert und als naturalisierende Kategorie fungiert, die
den Begriff der „Rasse“ ersetzt hat. Es erweist sich deshalb als
problematisch, Begriffe wie „Ethnie“ oder „ethnische Minderheiten“ rein beschreibend zu verwenden, da sie dazu tendieren, kulturelle Unterschiede zu verdinglichen und ihren Entstehungskontext auszublenden. Ebenso wenig wie es „Rassen“
gibt, ist eine den sozialen Verhältnissen vorgängige Existenz
von „Ethnien“ zu unterstellen. Mit dem Erklärungsmuster „Ethnizität“ hat sich eine Sichtweise etabliert, die dazu tendiert, die
Ursache des Rassismus bei seinen Opfern zu suchen.
Das Thema Einwanderung wird noch immer vorwiegend
aus der Perspektive empiristischer Ansätze behandelt. Viele
Analysen beschränken sich auf demografische Erhebungen,
die Aufschluss geben sollen, in welchen Stadtteilen wie viele
Ausländer welcher Nation wohnen und arbeiten. Dies ist nicht
zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Stadt- und Regionalforschung zu großen Teilen Auftragsforschung für staatliche
Institutionen und Privatstiftungen betreibt: Untersucht werden die „Grenzen der Integrationsfähigkeit“ oder „ethnische
Konflikte“, weniger jedoch die Ausschlusspraktiken. Die Studien bekräftigen so erwartungsgemäß die Evidenz der Spaltung des „Eigenen“ vom „Fremden“, statt ihre soziale Genese
selbst zum Gegenstand zu machen. Insofern ist die urbanistische Wissensproduktion selten unabhängige Forschung, sondern Bestandteil der staatlichen Bevölkerungspolitik.
Schöner ohne Döner?: antimuslimischer Urbanismus
In den letzten Jahren ist eine soziale Gruppe in das Blickfeld
der Stadt- und Migrationsforscher geraten, die bislang selten
berücksichtigt wurde: die neuen städtischen Eliten. Im Hamburger Stadtteil St. Georg, einem innerstädtischen „multikulturellen“ Viertel, das durch Gentrifizierung zunehmend „entmischt“ wird, etabliert sich ein „New Metropolitan
Mainstream“ (in Anlehnung an das Konzept der Schweizer
Christian Schmid und Daniel Weiss). Dessen Rhetorik fordert
natürlich nicht offen die Verdrängung „bildungsferner“ Anwohner, sondern artikuliert sich hauptsächlich über die Verteidigung der Gay-Community im Stadtteil. 2007 begann im
lesbisch-schwulen Stadtmagazin hinnerk eine Debatte mit
dem Titel „Schöner ohne Döner?“ über homophobe Ressentiments und Übergriffe im Stadtteil, die sehr schnell von der Lokalpresse aufgegriffen wurde und gezielt in die Inszenierung
eines Konfliktes mit der örtlichen Centrum Moschee einmündete. Ein Sozialarbeiter aus St. Georg bringt es auf den Punkt:
„Ich glaube, dass jeder Überfall in St. Georg in der Wahrnehmung potenziert wird. Wenn in Barmbek etwas passiert, sagt
man: ‚Ja, ja, das passiert.‘ Oder: ‚Wie schlimm, auch hier!‘ Wenn
in St. Georg was passiert, gibt es gleich eine Schlagzeile in der
Morgenpost.“ Dieses Phänomen nennt Stanley Cohen „moralische Paniken“. In seiner grundlegenden Studie „Folk devils
and moral panics“ (1972) versteht er Moralpaniken als elitäre
Initiativen zur autoritären Bewältigung eines sozialen Wandels. Spielen sich diese im öffentlichen Raum der Stadt ab,
können wir von „urbanen Paniken“ sprechen. Durch die Skandalisierung homophober Äußerungen der „muslimischen Anderen“ konstituieren sich also die neuen städtischen Eliten:
Sie verkörpern die vermeintliche Toleranz der Mehrheitsgesellschaft und treiben zugleich urbane Paniken voran. Die Beschreibung der „überforderten Nachbarschaften“ erfolgt auf
der Basis von Statistiken, Experten- und Bewohner-Interviews:
eine Ansammlung von städtebaulichen und sozialen Pathologien mit den immer gleichen Bildern und Erzählungen („keine
islamische Übermacht“), die das vorherrschende Image des
Problemquartiers reproduzieren. Die Wirksamkeit solcher
„Paniken“ besteht gerade in der affektgeladenen Intensität:
Die neuen städtischen Eliten müssen einen „zivilisatorischen
Auftrag“ durchsetzen, in dem sie abweichendes Verhalten
disziplinieren. Es entsteht ein antimuslimischer Urbanismus,
bei dem Sicherheits- und Stadtpolitik zusammengefügt werden. Bereits einige Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt der Terrorismusbekämpfung nach 9/11, wurden die „ethnischen Parallelgesellschaften“ zu einem Laboratorium für eine neue Form
des Regierens im Stadtteil, die in Moschee-Razzien und der
Schließung der Taiba-Moschee gipfelte. Der antimuslimische
Urbanismus ist ein Rassismus der „radikalisierten“ Mittelschicht, die ihre Hegemonie jenseits des Parteienspektrums
sucht und organisiert. Ihre Markenzeichen sind autoritärer
Sozialrevanchismus und der Tabubruch mittels antimuslimischer Rhetorik.
▪
Vassilis S. Tsianos | ist Migrations und Stadt
soziologe und erforscht derzeit an der Univer
sität Hamburg „Die Produktion panischer
Räume am Beispiel St. Georg“.
Centrum Moschee, HamburgSt. Georg: Die 20 Meter
hohen Stahlminarette, die
1992 in einer Hamburger
Werft gefertigt wurden, werden abgenommen und mit
neuer Gestaltung wieder aufgesetzt
Kleines Foto: Fatih Yildiz;
großes Foto: Marcel Stamm /
Boran Burchhardt, VG Bild
Kunst; Infos: www.minare.de