SEHEPUNKTE - Druckversion: Rezension von: Vom Leib gesch...
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sehepunkte 18 (2018), Nr. 3
Sundar Henny: Vom Leib geschrieben
Vom Leib geschrieben - so heißt die Dissertation von Sundar Henny über Selbstzeugnisse im
Mikrokosmos Zürich des 17. Jahrhunderts. Und in der Tat hat man das Gefühl, hier habe sich ein Autor
ein Werk vom Leib geschrieben, das Lesefrüchte langer Zeit bündelt. Der Verfasser hat sich explizit
Biographien, Lebensnotizen und biographischen Dokumenten aus dem 17. Jahrhundert angenommen,
die im herkömmlichen historischen Diskurs eher wenig beachtet werden, aus theologischen oder
religionshistorischen Gründen uninteressant(er) erscheinen und denen der Mief des konfessionellen
Zeitalters, der protestantischen Orthodoxie, Sittenstrenge und Sozialdisziplinierung anhaftet. Und, um
direkt mit dem Schluss (313-320) zu beginnen, er vermag es tatsächlich, im Ansatz eine
"Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts" zu schreiben, indem er den Selbstzeugnissen zuhört, diese in
ihrer (wortwörtlichen) Gewichtigkeit ernst nimmt und zu interpretieren und einzuordnen versucht.
Genau dies ist die große Leistung dieser Dissertation.
Das 17. Jahrhundert ist pluriform, es zeigt Vieles zur selben Zeit (320), strotzt teilweise gar vor
quasisakralem Selbstbewusstsein (ebd.) und verbindet die Interessen von zünftischen
Magistratenfamilien, kirchlichen Aufsteigern und patrizischen Kaufleuten. Man kann anhand der
Selbstzeugnisse in das Panoptikum einer Stadtgesellschaft im 17. Jahrhundert eintauchen und erhält
Objekte, Texte und Zeugnisse wie Trinkbecher und Kalender staunend präsentiert und vielfach auch
mit möglichen Deutungen, Interpretationsansätzen und Assoziationsketten ausstaffiert. Eher weniger
gedacht ist der Band für Leser, die eine historische These an Quellen durchstrukturiert und
querschnittsmäßig erörtert haben möchten. Dazu fehlt es dem Band an klarer Struktur und dem
Verfasser vermutlich auch an einem klaren, historiographischen Konzept. Daran ist aber auch die
gewählte Methode mit schuldig. Es sind ganz einfach zu viele verschiedene Dinge, die er erfassen und
vergleichen will. Denn es heißt explizit, dass der Zugang zu den sog. Selbstzeugnissen, deren Definition
etwas summarisch anfangs diskutiert wird (29-47), auch mittels der haptischen und gar olfaktorischen
Ebenen dieser Dinge (13f.) erfolgen soll. Da ist dann in dieser Einleitung das eine oder andere nicht
mehr so ganz klar. Das Vorgehen ist etwas sprunghaft, von der Definition des Selbstzeugnisses (11)
geht es über deren objekthaften Charakter (13f.) zur "Geschichte des Körpers" und der Körperlichkeit
dieser Zeugnisse (15), um dann von der "Polymorphie" der Textkorpora (16) wiederum zur "Leiblichkeit
der Bucherfahrung" (17) und zur protestantischen Ikonographie des Buches im 16. und 17. Jahrhundert
zu gelangen (19-22). Hier wird zu Vieles angetönt, man vermisst aber eine wirklich tragfähige
heuristische These. Andererseits markiert der Verfasser auch eine bemerkenswerte intellektuelle
Fallhöhe im kulturwissenschaftlichen Diskurs, wenn er Foucault, Bynum und Taylor mit Francis Bacon
und dem heiligen Hieronymus zusammenbringt - da schwindelt dem Leser etwas, auch wenn er eine
wirklich witzige Bemerkung des Althistorikers Veyne über Joyce bemerkt (37).
Der strudelhafte Beginn ist etwas schade, weil das darauffolgende "historische" Kapitel über die Stadt
Zürich im 17. Jahrhundert (47-71) und die beinahe mikrohistorischen Besonderheiten des austarierten
Zusammenspiels von magistralen Familien, Zünften, kirchlichen Interessen und ökonomisch-politischen
Faktoren klug zusammengefasst und präsentiert werden.
Das liest man mit Gewinn, auch und vor allem weil der Verfasser die neuere Literatur der letzten 20
Jahre durchgekämmt hat und auf Verschiebungen aufmerksam macht: Es spielt durchaus eine Rolle, ob
man sozial- und kirchenkritisch das 17. Jahrhundert als Zeitalter der Verhärtung liest oder aus der
Sicht der Wissenschaftsgeschichte und Literaturwissenschaft als Hort der Musen und der
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Wissensproduktion oder aus Sicht der Kunstgeschichte als eine Zeit des blühenden ornamentalen
Kunsthandwerks, wie das am Beispiel kostbarer Trinkbecher und Badegeschenke der Patrizierfamilien
gezeigt wird.
In den folgenden fünf Kapiteln werden teils umfangreiche Nachlässe und Zeugnis-Korpora von sehr
unterschiedlichen Protagonisten untersucht. Es sind dies der Großmünsterpfarrer und Antistes - und als
solcher quasi Nach-Nachfolger Zwinglis - Johann Jakob Breitinger (73-117), der Kaufmann Salomon
Hirzel (119-156), der Bürgermeister Johann Heinrich Waser (157-220), der Pfarrer und Professor
Johannes Müller (221-273), sowie - quasi als "gescheiterter exotischer Außenseiter" der ambitionierte
Landpfarrer und dann als prophetischer Exilant und letztlich eigentlich als Geisteskranker inhaftierte
Johann Jakob Redinger (275-312).
Es kann hier weder auf die jeweiligen Besonderheiten der Hinterlassenschaften und Selbstzeugnisse
näher eingegangen werden noch auf die Biographien im Detail. Was dem Verfasser in klarer Art
gelingt, ist die Beschreibung der jeweiligen Personen und der mit der jeweiligen Stellung, ihren
Aufgaben und ihrem Beruf in Verbindung stehend Hinterlassenschaft. So unterschiedlich die einzelnen
Selbstzeugnisse sind - briefartige Klageschriften am Beispiel Redings über ein nicht erhaltenes
Bürgerrecht (275) oder aber ein in seinem Anspruch gigantisch anmutender "ewiger Kalender" der
Zürcher notablen Familien, ein veritables Holzungetüm, worauf sich der Bürgermeister Waser nicht
scheut, sich gleichsam als Sonnen- und damit Gott-gleicher Spross mit Wappen und Ehrenschild
darzustellen (185) - der Verfasser liest diese Zeugnisse als Versuch, das eigene Leben im Hinblick auf
spätere Leser und Betrachter deutend zu verewigen.
Es ist ein gleichsam "unparteiischer" Versuch, sich mittels der Hintertür der Hinterlassenschaft den
Personen zu nähern. Das ermöglich, herkömmliche Einschätzungen zu revidieren. So wird der
gemeinhin als eher konservativ und orthodox verstandene Antistes Breitinger zu einem kreativen
Gestalter von protestantischen "Reliquien" in der Form von Bullingers Hinterlassenschaft, die Breitinger
fast manisch konserviert, aber auch kopiert und in ähnlicher Form an sich und mittels eigener
biographischen Zeugnisse weiterschreibt. Leider verweist der Verfasser nirgends auf die
Habilitationsschrift von Stefan Laube [1], der gerade über die verschiedenen Kategorien und
museologischen Querbezüge von frühneuzeitlichen Hinterlassenschaften und Objekten gearbeitet hat.
An der Person des Kaufmanns Salomon Hirzel zeigt der Verfasser eine überraschende Nähe von dessen
Buchführung mit dem Verfassen von Gebeten; der unscheinbare und höchstens im Zusammenhang mit
der gemeinhin als theologische Sackgasse verstandenen Konsensformel von 1675 bekannte Theologe
Johannes Müller wird unversehens aufgrund seiner Predigten zum Propheten, der sich deutend und
predigend um Wettererscheinungen, Blitze und das drohende Gericht Gottes über Zürich kümmert.
Eine derart nahe Verbindung von konkretem politischem und ökonomischem Handeln der Zürcher
Obrigkeit und dem Eingreifen Gottes wurde vermutlich in den vergangenen 400 Jahren selten mehr
postuliert. Man versteht die Faszination des Verfassers gegenüber dem beinahe unerschöpflichen
Quellenvorrat und der möglichen Deutungen.
Andererseits verführt diese schiere Menge an Dokumenten auch. Der Verfasser neigt dazu, jeder
möglichen Assoziation nachzugehen und verzettelt sich: Über Rolle und Bedeutung von Glocken kann
man sich auch andernorts informieren (256), der Stellenwert von Astrologie und Sternendeutung ist mit
dem Hinweis auf "eine Verzahnung verschiedener Diskurse" (181) mitnichten in der Breite erfasst.
Etliche Deutungen wirken fragmentarisch und allzu assoziativ, bei manchen längeren Passagen
beschleicht einen der Eindruck enzyklopädischer Aufzählung. Die erwähnten Bezüge von Gebet und
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Ökonomie bei Salomon Hirzel sind originell, vor allem weil sie natürlich implizit und mit
Augenzwinkern die Weber'sche These aufgreifen. Andererseits sind die theologiegeschichtlichen
Bemerkungen über das Gebet selbst wenig ausgereift und teilweise schlicht veraltet (mit Blick auf
Friedrich Heiler, 144). Dass der Verfasser dann Calvins und Bullingers Verständnis des Gebets als
sacrificium im Sinne eines do-ut-des-Vertrages versteht (146), ist so verkürzt, dass man es nur als
falsch bezeichnen kann.
Freilich: Die große Menge der unterschiedlichen Quellen und Quellenarten machen es natürlich leicht,
Fehler zu entdecken. Dem Verfasser gebührt das große Verdienst, Selbstzeugnisse (und was er
darunter versteht) in der Tat ausgebreitet, in ihrer mannigfaltigen Form dargelegt, beschrieben und
vor allem als unzählige Handschriften auch gelesen zu haben. Damit zeigt er - und das ist seine große
Leistung - dass es sich weiterhin lohnt, diese zu lesen und dass sie als Schätze weiterer historischer
Arbeiten und Entdeckungen harren. Und nicht zuletzt bricht er das Bild Zürichs im 17. Jahrhundert
auf. Es war nicht nur die Stadt der reformierten Orthodoxie, der zwinglianischen Sittenstrenge und der
(niemals gedruckten!) eidgenössischen Konsensformel, die selbst die hebräischen Pünktlein als
verbalinspiriert dogmatisierte. Es war auch eine Stadt der Kunstschmiede, Uhrmacher und
Gedichteschreiber, eine Stadt der antiken Theatertradition und der Zunftfeste. Dank der Studie kann
man wieder vom "Limmat Athen" sprechen. Das ist nicht wenig.
Anmerkung:
[1] Lucas Burkart: Rezension von: Stefan Laube: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort Wunderkammer - Museum, Berlin 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL:
http://www.sehepunkte.de/2012/07/20883.html
Rezension über:
Sundar Henny: Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert (= Selbstzeugnisse
der Neuzeit; Bd. 25), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 404 S., ISBN 978-3-412-50289-8, EUR 70,00
Rezension von:
Michael Baumann
Wiesendangen
Empfohlene Zitierweise:
Michael Baumann: Rezension von: Sundar Henny: Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im
17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL:
http://www.sehepunkte.de/2018/03/28840.html
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