In: Philipp Zehmisch, Ursula Münster, Jens Zickgraf,
Claudia Lang (Hg.):
Soziale Ästhetik, Atmosphäre, Medialität. Beiträge aus
der Ethnologie.
Münster, Lit, 2017.
ZEIT IM FELD: FELDFORSCHUNG ALS PARADIGMA UND
ALS PRAXIS
Eveline DüRR und Martin SÖKEFELD
Einleitung
Das Münchner Institut fur Ethnologie hat keine regionale oder thematische Spezialisierung. Wir arbeiten zu sehr verschiedenen Fragestellungen mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Aber wir teilen dennoch ein gemeinsames Verständnis der Ethnologie, indem wir davon ausgehen, dass Ethnographie fur die
Ethnologie zentral ist, dass ethnologische Analysen ihre Verankerung in intensiver, längerfristiger Feldforschung haben sollen. Nach George Marcus' Auffassung hängen wir damit der ,Jcongenialen Orthodoxie" und dem "ideologischen
Schlüssel-Tropus" unserer Disziplin an (Marcus 2007b:362). Demzufolge wäre
das Insistieren auf Feldforschung also mehr eine rhetorische Figur als tatsächlicher methodischer Kern der Ethnologie. Vor zehn Jahren diskutierte Marcus in
der Zeitschrift Social Anthropology mit Judith Okely über die Frage: How short
canfieldwork be? Während Marcus ein "Design-Modell" der Feldforschung propagierte (Marcus 20017a), das auf Zusammenarbeit basiert und nicht notwendigerweise die langandauernde Feldforschung einzelner Forscherinnen voraussetzt,
verteidigte Okely (2007) das Modell der klassischen Feldforschung - auch vor
dem Hintergrund, dass die neoliberale britische Universitätspolitik der letzten Jahre mit ihrer Fixierung auf quantifizierbaren Nutzen und Evaluation der offenen
Forschungsmethodologie der Feldforschung nicht sehr wohlgesonnen war.
Für Marcus ist das Bestehen auf langfristiger Feldforschung malinowskischer
Prägung mehr eine symbolische Frage disziplinärer Identität als ein methodologischer Imperativ. Eher nebenbei hält er fest "Later projects of many, if not most,
anthropologists I lmow are never so Malinowskian again in the canÜnical sense"
(Marcus 2007a:353). Diese Beobachtung trifft zweifellos zu und bestätigt unsere eigene Erfahrung: Je länger wir in der universitären Ethnologie arbeiten, desto
kürzer werden unsere Feldforschungsaufenthalte -falls wir nicht gerade eines der
seltenen Forschungssemester genießen- und umso schwieriger wird es, während
der Forschungsaufenthalte wirklich auf die Forschung zu fokussieren. Während
wir etwa davon ausgehen, dass unsere Promovierenden ein oder eineinhalb Jahre
Feldforschung durchfuhren, um dann ihre Dissertationen zu schreiben, kommen
. wir selbst nur noch wenige Wochen arn Stück "ins Feld".
Lange Feldforschungsphasen sind kein Selbstzweck und sie sind keineswegs
in erster Linie nur ein Symbol disziplinärer Identität, wie George Marcus insinuiert. Die Dauer der Feldforschung ist eine wichtige Voraussetzung fur das zentrale
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EVELINE DÜRR UND MARTIN SÖKEFELD
Forschungsinteresse der Ethnographie: das Verstehen der Perspektiven der Akteure in ihremjeweiligen Kontext. Die Dauer der Forschung ermöglicht die ,,Immersion" in den untersuchten gesellschaftlichen Zusammenhang. Idealtypisch befinden wir uns während der Feldforschung in einer liminalen Phase, um mit Victor
Turner (1977) zu sprechen: Wir lösen uns aus unserem eigenen sozialen Alltagskontext und tauchen in den Kontext der Forschung ein, um uns erst nach Verlassen
des Feldes wieder in unseren Alltagskontext zu (re-)integrieren. Die ,,Immersion",
die die mehr oder weniger "dichte Teilnahme" im Untersuchungsfeld erst ermöglicht, erfordert Zeit, auch für unsere Forschungspartnerinnen, die sich mit uns
anfreunden" und uns kennenlernen müssen - wir können nicht mit der Tür ins
Haus fallen. Sie erfordert aber auch, dass wir in der liminalen Zeit der Forschung
tatsächlich ungestört sind und nicht von Erwartungen und Verpflichtungen aus
unserem Alltagskontext abgelenkt werden. Für Malinowski bestand die zentrale
Bedingung für gute ethnographische Forschung in "cutting oneself off from the
company of other white men" (Malinowski 1922:6), um möglichst engen Kontakt
zu den ,,natives" zu bekommen. Malinowskis Feldforschungsprogramm erlaubt
keine Teilzeitbeschäftigung.
Das aber ist eine progranunatische Vorstellung, die sich in unseren heutigen
Forschuno-eu kaum noch umsetzen lässt. Dies klingt bereits in dem vielzitierten
Gerd Spittler (200 1:22) an, der zwar eine "dichte Teilnahme" fordert
Aufsatz v~n
und damit die Methoden der Ethnologie radikalisieren will, gleichzeitig aber auch
selbst darauf hinweist, dass etablierte Wissenschaftlerinnen weniger Zeit zum
Feldforschen haben als zu Beginn ihrer Karriere. Weiter ausgeführt werden die
Verantwortung, die berufliche Aufgaben mit sich bringen, und die daraus resultierende Unfreiheit" heutiger Feldforscherinnen im Unterschied zur malinowskischen Situation auch bei Faubion und Marcus (2009). Zusätzlich zur Verkürzung
der Forschungszeit, schwindet nämlich auch noch die Zeit, die wir tatsächlich mit
Forschung verbringen, während wir physisch "im Feld" sind. Anders als zu Malinowskis Zeiten ist es in einer zunelnnend digitalen Welt kaum noch möghch, das
"Lager des weißen Mannes" (ibid.) tatsächlich zu verlassen.
Wir sind der Ansicht, dass diese doppelte Verkürzung der Feldforschung nicht
allein auf neue methodologisc[1e _yorgehensweisen _oder aufv,ri~senchtpol
sche Imperative zurückzufuhren ist, sondern vor allem mit der eigenen Biographie und den sozialen Positionen zu tun hat und damit im ur-ethnologischen Thema des Lebenszyklus und damit anhängigen Verpflichtungen bzw. Erwartungen
begründet ist. Flankiert wird dies durch die sich ständig erweiternde Präsenz des
Interneis und das Zusammenrücken von Raum und Zeit. Dies ist vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte nichts Neues - allerdings geht es nns hier
nicht um das Internet als Forschungsobjekt oder Forschungsraum, sondern darum, seine Wirkmacht in Kombination mit unserem spezifischen Aufgabenprofil
als Professorinnen im Feld aufzuzeigen. Im Folgenden werden wir über unsere
Feldforschungserfahrungen in diesem Sinne berichten.
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ZEIT IM FELD: FELDFORSCHUNG ALS PARADIGMA UND ALS PRAXIS
Martin Sökefeld: Feldforschung im Lebenszyklus
Malinowski hat es sich vermutlich nicht vorstellen können, dass Ethnologlnnen
einmal "im Feld", während der Feldforschung, studentische Hausarbeiten korrigieren werden. Aber genau das ist heutzutage Alltag der Forschung. Als ich mich
für meine Dissertation zur Feldforschung in Gilgit im nordpakistanischen Hochgebirge aufhielt, war so etwas ebenfalls völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Tübingen im DFGSchwerpunktprogranun "Kulturraum Karakorum" und hatte keine andere Aufgabe als einfach nur zu forschen. Ich blieb damals nicht das paradigmatische Jahr in
Gilgit, sondern jeweils über den Winter einmal acht und einmal sieben Monate.
Mehr unbewusst folgte ich dabei Malinowskis Forderung, sich von "den anderen Weißen" femzuhalten. Im Kulturraum Karakorum-Projek:t arbeiteten ziemlich
viele deutsche Geographen, die den Sommer über für Kurzzeitforschungen in der
Region waren. Als ich Mitte August 1991 in Gilgit ankam, fand ich nach einiger
Zeit das ständige Kommen und Gehen der Kolleginnen und Kollegen ziemlich
anstrengend; es hinderte mich tatsächlich daran, mich ganz auf Gilgit und meine
Forschung einzulassen. Ich zog daraus den Schluss, im nächsten Jalu im Frühsommer wieder abzureisen und erst im Herbst die Forschung fortzusetzen. Das
Wmterhalbjalu über war ich weitgehend allein- den Geographen war es im Winter in Gilgit zu kalt.
Dies war meine erste Feldforschung- und die letzte, bei der ich tatsächlich
ungestört forschen konnte. Die nächste Forschung zu Aleviten in Deutschland
hatte als "Feldforschung zu Hause" keinen eindeutigen Anfang und kein richtiges Ende (Sökefeld 2002). Diese Forschung fand grob gesagt zwischen 1998 und
2004 überwiegend in Harnburg statt, gewissermaJJen in meinem "Hinterhof' in
Hamburg-Altona. Mein Forschungsfeld und mein normales Lebensumfeld überlappten sehr stark. Das galt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, denn ich hatte keine Beurlaubung für die-Forschung, ichmachte sie "nebenher", neben meinen
Verpflichtungen als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ethnologie der
Universität Hamburg. Diese Konstellation hatte den Vorteil, dass ich tatsächlich
lange Zeit, mehrere Jalue, im Feld anwesend war, unterbrochen nur von kurzen
Forschungsaufenthalten an anderen Orten- hin und wieder einem Wochenende
in einer anderen Stadt in Deutschland oder ein paar Wochen in der Türkei: Aber
natürlich war ich nicht "ungestört", nicht "cut off" von meinem normalen Umfeld,
wie es Malinowski forderte. Inunerhin ließ mir die Assistentenstelle mit einer geringen Lehrverpflichtung relativ viel Zeit für die Forschung. Gleichzeitig konnte
ich die Forschung zu Hause gut damit verbinden, mich auch noch (hoffentlich
nicht nur ,,nebenher") um meine Kinder zu kürumern.
Die nächste Forschung startete ich während meiner Zeit als Assistenzprofessor an der Universität Bern. Sie bedeutete für mich das definitive Ende der
Langzeitfeldforschung. Ich arbeitete zur Kaschmiri-Diaspora in Großbritannien
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EVELINE DüRR UND MARTIN SöKEFELD
ZEIT IM FELD: FELDFORSCHUNG ALS PARADIGMA UND ALS PRAXIS
und kam nur noch sehr bruchstückhaft "ins Feld",. das auch noch räumlich fragmentiert war, denn ich arbeitete seit 2006 in verschiedenen englischen Städten:
in London, Birmingham, Manchester und Bradford. Meine Forschungsaufenthalte dauerten zwischen einer und sechs Wochen. Zerstückelt war diese Forschung
aber nicht nur zeitlich und räumlich, sondern darüber hinaus wegen einer technischen Entwicklung: Das Internet war inzwischen ,,normal" geworden und Email
war nun die gängige Form der Kommunikation im Wissenschaftssektor. Dies bedeutete, dass ich zwischen Begegnungen und Interviews mit Kaschmiris in Bradford oder Birmingham immer wieder in Intemetcafes saß, um Dinge zu erledigen,
die eigentlich in Bem stattfanden. Während man zuvor sein Institut tatsächlich
verlassen hatte, wenn man die Bürotür hinter sich geschlossen hatte und in die
Forschung abgereist war, war das Institut nun auf dem Laptop immer und überall
dabei. Während ich bei der Aleviten-Forschung in Harnburg das Forschungsfeld
in mein normales Lebensfeld verlegt hatte, folgte mir nun mein Arbeitsfeld ins
F orschungsfeld. Forschung war nur noch eine von vielen Aufgaben, die ich erledigen musste, während ich ja eigentlich "im Feld" war.
Was sich während meiner Bemer Zeit ankündigte, entwickelte sich zu voller
Blüte, nachdem ich meine Professur an der LMU in München angetreten hatte.
Das Bologna-System wurde umgesetzt, was zur Folge hat, dass die Studierenden
viel mehr Prüfungen ablegen müssen als zuvor im Magisterstudium. Hausarbeiten müssen nun strikt terminiert in den Semester"ferien" abgegeben werden, sonst
ist man durchgefallen. Und auch die Prüfungsergebnisse müssen während der Semesterferien eingetragen werden. Das hat zur Folge, dass ich, während ich etwaeigentlich zur Forschung - in Gilgit-Baltistan bin, Hausarbeiten per Email geschickt bekomme. Ich habe inzwischen gelernt, sie auf dem Bildschirm zu lesen
und zu kommentieren. Und dann rechtzeitig die Noten ins elektronische System
der Prüfungsverwaltung einzutragen. Im Bologna-System ist ethnologische Feldforschung eindeutig nicht vorgesehen. In Gilgit-Baltistan kommt dazu, dass die
Stromversorgung ebenso prekär ist wie die Internetverbindung über Mobiltelefonie. Das führt aber nicht dazu, dass ich mich ganz entspannt der Forschung
widmen kann, weil der Akkn gerade leer und das Netz unerreichbar ist. Im Gegenteil, dann habe ich ständig die Frage im Kopf, wann es wohl mal wieder Strom
geben wird - nach -zWölf Stunden oder zwei Tagen? - urid dass ich mich dann
sofort an den Laptop setzen muss, um weiter Hausarbeiten zu lesen, damit ich,
falls der Strom mitspielt, doch noch rechtzeitig die Noten eintragen und den Studierenden meine Kommentare schicken kann. Dazu kommt, dass das Netz extrem
langsam ist. Manchmal dauert es eine halbe Stunde, eine Mai! auch nur zu öffnen, lUld es kann sein, dass man viele Ansätze braucht, um dann auch noch eine
Antwort abzuschicken. Zu der Korrektur der Hausarbeiten kommen zahlreiche
Verwaltungsaufgaben, die nun ebenfalls "enträumlicht" sind. All das ist Zeit, die
der Forschung fehlt und die die Forschung stört.
Bis vor kurzem gab es in Gilgit-Baltistan ein paar Täler, in denen mangels Mobilfunk das Internet tatsächlich unerreichbar war. Dort zu arbeiten, brachte aber
nur sehr vorübergehend Ruhe in die Forschung. Im Sommer 2013 war ich eine
Woche in Shimshal, einem solchen Tal ohne Netz. Diese Woche habe ich sehr
genossen, musst aber dafür "bezahlen" als ich wieder in die Welt des World Wide
Web zurückkam und hunderte Emails aufmeinem Rechner eintrudelten, die natürlich alle gleich bearbeitet werden wollten. Dennoch, eine Woche "ohne" war eine
interessante Erfahrung. Inzwischen istjedoch auch Shimshal ans Mobilfunknetz
angeschlossen. Dort war ich ebenso, wie bei Strom- oder Netzausfall an anderen
Orten in Gilgit-Baltistan "cut off from the company of other white men" (wobei
white" wirklich nur sehr metaphorisch zu verstehen ist - die Leute in GilgitBaltistan sind ebenso "weiß" wie ich). Allerdings nicht mit dem Effekt, dass ich
dann ganz ins Feld "eintauchen" kann, sondern dass ich doch darum bemüht bin,
die Verbindung möglichst schnell wiederherzustellen, um meine Aufgaben zu erledigen. Immersion im Feld ist da kaum noch möglich.
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Eveline Dürr: Im Feld, im Büro und zu Hause
Ich sitze in einem Restaurant in Oaxaca, Mexiko, trinke Kaffee und lese Emails
aufmeinem Laptop. Ich bin etwas gereizt, da alles viellänger dauert als in meinem
Büro an der Universität "zu Hause", außerdem kann ich nicht immer abschätzen, wie "wichtig" die jeweiligen Nachrichten sind- ich müsste sie im Grunde
öffnen, um dies herauszufinden. Dies wiederum würde eben viel Zeit und Geduld in Anspruch nehmen. Auch wenn ich eine autoreply message aktiviert habe,
um freundlich meine Abwesenheit und meinen eingeschränkten Internetzugang
zu kommunizieren, setzen mich die vielen Emails unter Druck - da ich gerrau
weiß, dass ich die Bearbeitung bestenfalls aufschieben kann, sie aber schlussendlich doch irgendwann in Angriff nehmen muss. Soll ich das also jetzt tun oder
später? Was ist jetzt wichtiger und sinnvoll? Warm ist der "richtige:'. Zeitpunkt,
um Emails zu bearbeiten? "Was habe ich heute noch vor?", überlege Ich mrr, um
mir die Entscheidung leichter zu machen. Verpasse ich was "im Feld", wenn ich
noch zwei Stunden im Cafe bleibe und meine Emails schreibe? Warm kann ich das
nächste Mal ins Netz? Allein diese Fragen führen mir vor Augen, wie sehr sich
meine Feldforschung durch die Präsenz des Intemets und die dadurch hervorgerufene Überlappung unterschiedlicher Räume, Zeiten und sozialer Welten verändert
hat. Ich bin zwar im ,,Feld" im geographischen Sinne, allerdings bin ich lediglich
physisch anwesend, mit meinen Gedanken bin ich gerade Tausende von Kilometern weit weg und befasse mich mit Dingen, die nicht das Genngste mit Mexiko
und dem eioentlichen Zweck meines Aufenthalts zu tun haben. Viehnehr bin ich
zurück" v:rsetzt in die universitäre Welt. Aber das ist nur die "eine" Welt, die
~ich
virtuell einholt und beschäftigt. Ich erhalte ja nicht nur dienstliche Emails,
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EVELINE DüRR UND MARTIN SÖKEFELD
ZEIT IM FELD: FELDFORSCHUNG ALS PARADIGMA UND ALS PRAXIS
sondern auch private - die ebenfalls meine Aufmerksamkeit erfordern und mich
ne online-Präsenz erfordert. Also bin ich doch wieder häufig im Netz, merke aber
auch im Laufe der Zeit, wie ich beginne, Emails stärker zu klassifizieren und
anders zu bewerten. Die Bedeutnng einiger dienstlicher Angelegenheiten relativiert sich, je länger ich in Mexiko bin, und ich gehe die Beantwortung deutlich
entspannter an als zu Beginn meiner Feldforschung. Andere Nachrichten hingegen dulden aus verschiedenen Gründen keinen Aufschub, u.a. weil daran wiederum weitere Entscheidungen geknüpft sind, wie etwa bei Berufungsangelegenheiten. Ich verbringe also doch einen guten Teil meiner eh schon knapp bemessenen
Feldforschungszeit im Internet. Hinzu kommen die ,,klassischen" Aufgaben, wie
Feldtagebuch schreiben, Situationsprotokolle verfassen, Fotos sichern und herunterladen etc., was zur täglichen Routine gehört, aber ebenfalls Zeit erfordert.
Allerdings -und das ist ein entscheidender Unterschied- stehen diese Aufgaben
inhaltlich in enger Verbindung mit meiner Feldforschung.
Während ich "früher" nahezu jeden Abend mit meiner Familie im Patio sitzend und mich unterhaltend verbracht habe, ist dies heute nur noch bedingt der
Fall. Doch- und auch das ist ein wichtiger Aspekt- liegt dies nicht nur an mei-
wiederum in eine andere soziale Welt versetzen, die ich ebenfalls physisch verlassen habe, aber die mich weiterhin begleitet und beschäftigt. Während ich darüber
nachdenke und immer noch überlege, ob ich nun noch im Internet verweilen soll
oder nicht, blinkt eine Benachrichtigung auf, dass M. im Skype ist - und kurz
daraufhöre ich die vertrauten Töne zur Kontaktaufnalune und klicke auf "annehmen". Ich plaudere mit einer Freundin, die gerade umgezogen ist und mich per
Skype durch ibre neue Wohnung in Deutschland führt.
Schließlich klappe ich nach dem ungeplanten Ausflug über den Atlantik meinen Laptop etwas genervt zu. ,,Ich bin erst seit zwei Tagen im Land", sage ich
mir zu meiner eigenen Beruhigung, und das Sich-Einlassen auf das Feld und das
malinowskische Eintauchen wird schon noch kommen - zumal es mir doch eh
nicht schwer fallen sollte, da ich mich hier ja ganz und gar nicht fremd fühle.
Vielmehr ist mir alles recht vertraut, ich ,,kenne mich aus" und weiß, was ich in
den mir verbleibenden Wochen während der vorlesungsfreien Zeit herausfinden,
wen ich gerne treffen und welche Schwerpunkte ich setzen möchte. Der Wissensund Informationsvorsprung wirkt beruhigend auf mich- eben auch im Sirme der
Zeitersparnis, kann ich doch gezielt an über viele Jahre gewachsene Kontakte anknüpfen und muss diese nicht erst herstellen. Gleichzeitig, und das spielt für mich
mindestens eine ebenso große Rolle, will ich aber "offen" sein für neue, sich erst
im Laufe einer Feldforschung entwickelnde Themen und genau dazu ist das Einlassen auf die Situation und die Menschen vor Ort zentral. Meine konkrete F orschungssitnation jedoch gleicht in diesem Moment eher einem Spagat als einem
Eintauchen und ist geprägt von der gleichzeitigen Präsenz in mehreren sozialen
Welten oder vom Oszillieren zwischen diesen.
Ich merke deutlich, wie sehr sich durch die Präsenz des Internet die räumliche Gebundenheit meines Selbst im Feld enorm verändert hat. Ebenso wird mir
klar, dass sich Räume und Zeiten durch die digitale Kommunikationstechnologie
nicht nur verdichten und überlappen, sondern im Gegenteil stark fragmentieren
und ausdifferenzieren -was Switchen zwischen ihnen nicht einfacher macht und
wodurch auch meine Aufmerksamkeit im Feld fragmentiert wird.
Mit verschiedenen Strategien versuche ich dieser Situation zu begegnen. Ich
beschließe;-während meiner F eldforschungszeit.so lange wie mÖglich offline zu
sein und spezifische online-Zeitfenster einzubauen, um nur die wichtigsten dienstlichen Aufgaben zu erledigen. Dies sollte als Distanzierungstechnik fimktionie-
ren, um mich also von der Welt "zu Hause'' zu entfernen und mich "frei" zu machen für das Feld. Lokale Themen und das Leben vor Ort sollten nun Priorität besitzen, möglichst durchgängig für mehrere Tage. Dies gelingt mir streckenweise,
allerdings mit Einschränkungen, da eben zunehmend meine hiesigen Gesprächs-
partnerinnen auch online sind. Sie vereinbaren Treffen mit mir via Email, posten
ibre News und weisen mich auf Ereignisse hin - im Wesentlichen via Internet.
Außerdem möchte ich auch privat auf dem Laufenden bleiben, was ebenfalls mei234
ner sozialen Position als Professorin 1Uld den genannten dienstlichen ,,Zwängen",
sondern auch daran, dass die überwiegende Zahl der Familienmitglieder auf einen
Display schaut, sich entweder im Chat befrndet oder ein Video verfolgt, das in
der Regel außerhalb Mexilcos angesiedelt ist. Auch dadurch wird mein Gefühl der
Fragmentierung verstärkt, da ich nicht nachvollziehen kann, wer was im Internet
macht oder ansieht, während wir uns alle im gleichen physischen Raum -übrigens
nach wie vor im Patio- aufhalten. Ich beobachte, dass auch im Leben meiner Familie vor Ort die virtuellen Welten und das Switchen zwischen ihnen eine große
Rolle spielen. Dadurch fühle ich mich wiederum ein Stück weit ,,normalisiert".
Schließlich profitiere ich in Deutschland sehr von der digitalen Vernetzung, die es
mir erlaubt, auch zu Hause "ins Feld" zu gehen und an den dorligen Entwicklungen teilzuhaben.
Rückblickend stelle ich noch eine weitere Dynamik fest. Während meines
Aufenthalts vor zehn Jahren existierte zwar schon eine Handvoll Internetcafes in
meinem Feldforschungsort, aber es gab kein WLAN. Das erschwerte die Situation dahingehend, dass meine Wege und Planungen während der Feldforschung
nicht zuletzt dadurch bestimmt wurden, wo und wann ich über Internetzugang
verfugen konnte- wie in der obigen Situation beschrieben. So verließ ich meinen
Feldforschungsort häufiger, um in die Provinzhauptstadt zu fahren und "online
zu gehen" - was sich auch dort oft als mühsam herausstellte, insbesondere dann,
wenn es darum ging, an strikte Deadlines gebundene Druckfalmen herunterzuladen, die im sich nur sehr langsam öffnenden PDF-Format in meiner In-Box lagen
und auf zügige Bearbeitung warteten. Mühsame Unterfangen dieser Art wirkten
sich nicht nur auf den räumlichen und zeitlichen Verlauf meiner Forschung aus,
sondern auch auf meine Laune. Gerade in jüngerer Zeit wird in der Forschung
verstär!ct auf die Bedeutnng von Emotionen hingewiesen und untersucht, wie die235
EVELINE
DüRR UND MARTIN SöKEFELD
se den Forschungsverlauf und die Ergebnisse beeinflussen (Davies und Sperrcer
2010; Stodulka 2015). Ich erinnere mich gut daran, dass ich oft gereizt aus dem
lnternetcafe ging, weil es aufgrund von instabiler Verbindung nicht möglich war,
effektiv etwas "abzuarbeiten" - wollte ich ein Dokument losschicken, brach die
Verbindung zusammen und ich konnte von Vorn anfangen. Heute können es unerfreuliche Emails sein, die sich weder förderlich auf meine emotionale Verfasstheil
noch auf meine Aufmerksamkeit im Feld auswirken und mir das dichte Einlassen
vor Ort erschweren. Die Intensität meiner Feldforschungsaufenthalte, die zeitlichen Abläufe und auch meine Emotionen im Feld werden von der nun möglichen
"Ausweitung" (extensibility) des Selbst (Adams 1995) stark geprägt. Es bleibt
bei dem oft bemühten Ausbalancieren von "Nähe" und "Distanz" als ein zentraler
Aspekt der ethnologischen Wissensproduktion, allerdings in anderem Sinn.
Ausblick
Mit unserem Beitrag wollen wir die in unserer Disziplin ganz selbstverständlich formulierte Forderung des Eintaueheus in das Feld aus unserer spezifischen
Sicht als Professorinnen der Ethnologie problematisieren und darauf verweisen,
dass die soziale Rolle und die damit einhergehenden Aufgaben ,,zu Hause" nicht
in jedem Fall einfach "abgestreift" werden können, sondern sich auf den Verlauf des Feldaufenthalts auswirken und diesen in vielerlei Hinsicht mitbestimmen. Schließlich gehen wir als Ethnologinnen nicht als isolierte Individuen ins
Feld, sondern ausgestattet mit einem weiteren sozialen Umfeld und sich damit
verknüpfenden vielfaltigen Erwartungen. Während auf die Bedeutung der Person
und Persönlichkeit des Feldforschenden in der Literatur immer wieder verwiesen
wird und es zwischenzeitlich zum Standard einer Ethnographie gehört, die eigene
Rolle im Feld zu reflektieren, plädieren wir dafur, auch die soziale Position der
Forschenden "zu Hause" als relevant fur die Situation im Feld zu begreifen und
eben nicht als eine gänzlich obstreifbare Welt, sondern als eine, die unser Feld
mitkonstituiert.
. . Gupta und F erguson ( 1997) haben. die räumliche Metapher des ,,F e1des" in
Frage gestellt und betont, dass sich ein Forschungsfeld kaum je eindeutig abgrenzen lässt. Dies gilt jedoch nicht nur, weil unsere Forschungssubjekte mobil sind
und sich selbst nicht an die Grenzen von Feldern halten, sondern eben auch, weil
in Folge des technologischen Wandels die Welt noch viel stärker im Sinne Robertsons (1990) "eine gemeinsame" geworden ist. So wie wir zum Teil Ereignisse
und Entwicklungen in unseren Forschungsfeldern von zu Hause aus perE-Mail
oder Facebook verfolgen können und "das Feld" "zu Hause" eindringt, ragt auch
das heimische Lebens- und Arbeitsumfeld in die Forschung hinein, wenn wir uns
"im Feld" befinden. Und es geht nicht nur um Raum, sondern auch um Zeit. Während die Temporalität der Feldforschung selbst, etwa das Fortschreiten von emer
236
ZEIT IM FELD: FELDFORSCHUNG ALS PARADIGMA UND ALS PRAXIS
explorativen Phase zur fokussierten Forschung, selbstverständlich Beachtung findet, gilt es auch, Veränderungen im Laufe der Lebenszeit zu beachten. Das Ideal der ungestörten Feldforschung, in der man ganz und gar ins Feld eintaucht
lässt sich in den meisten Fällen wohl nur während der Disertaonfchu~
umsetzen, da mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen Biographie Verpflichtungen zunehmen, die nicht alle fur die Zeit der Forschung einfach ausgesetzt
werden können. Während es fur eine Chemikerin vielleicht normal ist, irgendwann im Verlauf ihrer Karriere nicht mehr selbst im Labor das Reagenzglas in
die Hand zu nehmen, sondern dies ihren Mitarbeiterinnen zu überlassen, ist fur
die Ethnologie die langfristige Feldforschung so stark in die disziplinäre Identität
eingeschrieben, das wir manchmal Zweifel an unser wissenschaftlichen Tätigkeit
bekommen, wenn wir ausgerechnet diesen Kern der Ethnologie nicht mebr vollständig praktizieren können. Zum Teil können wir das Problem der Verkürzuno0
der Forschungszeit und des Eindringens heimischer Verpflichtungen ins Feld dadurch ausgleichen, dass wir nicht mehr ganz von vom aufangen, sondern aufviele
bestehende Kontakte und eine gute Kenntnis des Feldes zurückgreifen können.
Dies gilt aber natürlich nur, wenn wir immer wieder ins selbe Feld gehen und
bedeutet umgekehrt, dass die Erschließung neuer Forschungsfelder sehr schwierig wird. Unsere eigenen, über Jahrzehnte hinweg gesammelten Feldforschungserfahrungen erst ermöglichen uns Einsichten darüber, wie sich Feldforschung in
unterschiedlichen Lebensabschnitten gestaltet und durch die globale Vemetzung
und Kommunikationstechnologie verändert. Dies wiederum führt uns die Bedeutung der fortlaufenden Reflexion der methodischen Grundlagen der Ethnologie in
ihrer konkreten Anwendung und als gelebte Praxis erneut vor Augen.
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