mimesis
Romanische Literaturen der Welt
Band 54
herausgegeben von Ottmar Ette
Ottmar Ette
TransArea
Eine literarische Globalisierungsgeschichte
De Gruyter
ISBN
978-3-11-028709-7
e-ISBN 978-3-11-028720-2
ISSN
0178-7489
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Dankbar
den Freunden
in aller Welt
Ich sagte, daß sich die Insel nach der Gewalt ihrer Eroberung wieder verschließt. Ich sagte nicht, daß sie sich in
ihrer Vergangenheit verschließt, daß sie zur Gefangenen
des Gedächtnisses (mémoire) wird. Die Insel ist in Wahrheit einer jener Orte, wo das festgefügte Gedächtnis wohl
die geringste Bedeutung hat. Die Antillen, die Maskarenen, aber auch die Atolle des Pazifik, die Archipele der
Gesellschafts-Inseln und von Gambier, Mikronesien,
Melanesien, Indonesien. Sie waren so unerträglichen, so
abscheulichen Vergewaltigungen und Verbrechen ausgesetzt, daß ihren Bewohnern nichts anderes übrig bleibt, als
an einem Punkt in ihrer Geschichte den Blick davon
abzuwenden und wieder leben zu lernen, da sie sonst in
Nihilismus und Verzweiflung versinken müßten.
Jean-Marie Gustave Le Clézio, Raga. Approche du
continent invisible (2006, S. 123).
weltweit:
wiederholung der welt im weit
mit l und i als wortwörtlicher minimaldifferenz. zwischen der graphischen kontinuität des
nicht durchbrochenen l und der relationalen insularität
der beiden ungleichen inseln des i ein immer neues, anderes
programmieren und prospektieren künftiger welt. fraktale
diskontinuität, im durchbrochenen i gespeichert. das
weltweite insularium als imaginarium. widerständigkeit des ästhetischen gegen die unendliche
kontinentale kontinuität alternativloser phantasieloser weltsicht: weitsicht
weltweit
Inhaltsverzeichnis
Windrose der Begriffe:
1
Globalisierungen, Vektorisierungen, Literaturen der Welt:
Transareale Studien
Globalisierung und Literatur: Antworten auf die Weltentregelung. Was heißt
Globalisierung? Beschleunigungsphasen: Eins. Zwei. Drei. Vier. Grundlagen
für eine Poetik der Bewegung. Begrifflichkeiten: Auf der disziplinären / kulturellen / sprachlichen / medialen / zeitlichen / räumlichen / choreographischliterarischen / bewegungsgeschichtlichen Ebene. Wofür transareale Studien?
Mission Statement.
Globalisierung I.
53
Im Gitternetz des Abendlands:
Fülle und Falle der europäischen Projektion
weltweiter Bewegungs-Räume
Karte Macht Welt: eine Weltkarte beschleunigter Globalisierung. Inseln Wissen Meer: ein Inselbuch beschleunigter Globalisierung. West-östlicher Inselreichtum. Tropen der Tropen: Wendungen und Wandlungen. Fülle und Falle:
Himmel und Hölle. Fülle und Falle afrikanischer ZwischenWelten.
Globalisierung II.
105
Im Disput um die Welt:
Diskurse der Tropen und Tropen der Diskurse weltweiter Expansion
Welten diesseits und jenseits der Wendekreise. Die Kunst der Unabhängigkeit.
Vom Auftauchen einer künftigen Geschichte. Der Fall der Tropen und die
Fülle transarealer Bewegung. Die Tropen als Falle, die Tropen als Paradigma.
Konvivenz und Katastrophe.
Globalisierung III.
161
Im Zeichen einer neuen Weltmacht:
Von der Fülle der Abwesenheit und der Falle der Macht
Bilder eines verdoppelten Untergangs. Die Fülle der Abwesenheit. Fülle und
Falle der Globalisierung. Europäische und amerikanische Antike. Inklusionen,
Exklusionen und die beiden Amerikas. Von der Pluralität der Modernen und
den Wegen zu einem amerikanischen Humanismus. Die transarchipelische
Welt der Philippinen. Insel-Welt und Inselwelten einer transarchipelischen
Literatur.
IX
Globalisierung IV.
221
Im Netz transarchipelischer Beziehungen:
Von der Fülle des Polyperspektivischen und der Falle
einsprachiger Globalisierung
Vom Aufschreiben des Globalen. Unsichtbare Kontinente und Archipele der
Sichtbarkeit. Tropen und TransArea Studies. Nach dem Absolutismus der
Wirklichkeit: eine transareale Landschaft der Theorie. Amerikas Ausdruck:
Suche nach dem Jenseits der historischen Gewalt. Der gnostische Raum und
der Archipel der Literatur. Die magnetische Insel in einem weltweiten Polynesien. Inseln als Kontinente, Kontinente als Inseln. Exklusionen und
Inklusionen: von Kautschuk, Coolies und Korallen. Insularien im aktuellen
Globalisierungsschub. weltweit.
Abbildungsverzeichnis
Auswahlbibliographie
Sachregister
Namensregister
X
315
317
327
331
Windrose der Begriffe:
Globalisierungen, Vektorisierungen, Literaturen der Welt:
Transareale Studien
Globalisierung und Literatur: Antworten auf die Weltentregelung
In seiner im Jahre 2009 erschienenen Analyse einer aus den Fugen geratenen
Welt hat der in Beirut geborene und in Frankreich zwischen Paris und der Ile
d’Yeu pendelnde Romancier und Essayist Amin Maalouf unter dem Titel Le
dérèglement du monde – für die deutsche Übersetzung wurde die Formel Die
Auflösung der Weltordnungen1 bevorzugt – schonungslos all jene Gefahren
aufgezeigt, welche die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts an den
Rand eines Abgrunds geführt haben. Gleich die ersten Zeilen, das incipit dieses großangelegten Essays, lassen die Dimensionen der Maaloufschen Reflexion erkennen:
Ohne jeden Kompaß sind wir in das neue Jahrhundert eingetreten.
Bereits während der ersten Monate ist es zu beunruhigenden Ereignissen gekommen, die
nahelegen, daß die Welt einer grundlegenden Entregelung unterliegt, welche mehrere Bereiche zugleich erfaßt – geistige Entregelung, finanzielle Entregelung, klimatische Entregelung, geopolitische Entregelung, ethische Entregelung.2
Wer nach diesem Auftakt nun eine zutiefst pessimistische Sichtweise eines
Planeten und einer Weltgesellschaft erwarten würde, in der alles – der Metaphorologie des Eingangssatzes gemäß – vom Kurs abgekommen wäre und
sich unrettbar à la dérive befände, sieht sich in diesem Band, dessen Untertitel
von sich erschöpfenden Zivilisationen und Kulturen kündet, rasch eines Besseren belehrt. Denn Amin Maaloufs Essay über die Weltentregelung – und dieser
Begriff meint etwas anderes als die Rede von der „Weltunordnung“3 – liest
sich stellenweise wie eine entrüstete Richtigstellung von Samuel P. Hunting-
1 Vgl. Amin Maalouf: Die Auflösung der Weltordnungen. Aus dem Französischen von
Andrea Spingler. Berlin: Suhrkamp 2010.
2 Amin Maalouf: Le dérèglement du monde. Quand nos civilisations s’épuisent. Paris: Bernard Grasset 2009, S. 11. Wo nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von
Passagen, die nach dem fremdsprachigen Original zitiert werden, vom Verfasser (O.E.).
3 Vgl. auch Tzvetan Todorov: Le nouveau désordre mondial. Réflexions d’un Européen. Paris: Editions Robert Laffont 2003.
1
tons ebenso berühmten wie berüchtigten Buch über den Clash of civilizations4
(1996), auf den die zwar historisch gewordene, in ihren Auswirkungen aber
noch immer sehr präsente Administration von George W. Bush mit ihren
antagonistischen Denkstrukturen unbeirrt und unbeirrbar, wie in einer selffulfilling prophecy, zusteuerte. Demgegenüber versucht der libanesische und
französische Autor, jene Orientierungspunkte und jenen Kompaß entweder zu
finden oder zu erfinden, an denen sich das planetarische Narrenschiff im Sinne
einer alternativen Weltordnung neu ausrichten könnte.5
Anders als Huntington geht es Maalouf nicht um eine keiner wirklichen
Theorie standhaltende ideologische Konstruktion einander schroff gegenüberstehender homogener Kulturblöcke, sondern um ein differenziertes Verständnis des langanhaltenden Prozesses einer Globalisierung, deren kulturelle Implikationen lange Zeit unterschätzt wurden und in der anhaltenden Finanzkrise
durch die wirtschaftspolitischen Debatten um Milliardenbeträge erneut in den
Hintergrund gedrängt zu werden drohen.6 Es sind aber – und Maaloufs
Reflexionen lassen daran keinen Zweifel – diese konfliktiven kulturellen Dimensionen, die wesentlich über die Zukunft der Menschheit entscheiden werden. „Ausblendungen“ ganzer Weltteile sind stets nur scheinbarer Natur:
Spätestens seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung sind wir zu einem Zusammenleben im weltweiten Maßstab verdammt.7
Daß der große, im Libanon geborene Schriftsteller, der 1993 mit dem Prix
Goncourt für seinen Roman Le rocher de Tanios den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt, die kulturelle Dimension als die für Gegenwart
und Zukunft einer sich immer stärker selbst bedrohenden Menschheit entscheidende ansieht, vermag gewiß nicht allzu sehr zu überraschen. Welch
wichtige, ja vielleicht sogar grundlegende Rolle der Autor von Léon l’Africain
jedoch gerade der Literatur zuweist, wird schon anhand des dem gesamten
Band vorangestellten Mottos von William Carlos Williams deutlich. Es rückt
in der verdichteten Form des Gedichts ‘The Orchestra’ das Lebenswissen der
Literatur im Sinne eines ÜberLebenswissens der Menschheit in den Blickpunkt:
4 Vgl. die deutsche Übersetzung von Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations.
New York: Simon & Schuster 1996; dt. Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen
von Holger Fliessbach. München/Wien: Europa Verlag 1996.
5 Zu einer kritischen Einschätzung derartiger „Blaupausen einer alternativen globalen Ordnung“ vgl. Thomas Speckmann: Eine Welt, die uns gefällt. In: Internationale Politik (Berlin) LXV, 5 (September/Oktober 2010), S. 132.
6 Prägend für die frühen Debatten um Globalisierung waren zunächst wirtschaftswissenschaftliche und in der Folge gesellschaftswissenschaftliche Aspekte des Globalisierungsbegriffs; vgl. hierzu auch Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und
Kulturen des Globalen. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 12–14.
7 Vgl. hierzu Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010.
2
Der Mensch hat bislang überlebt,
weil er zu dumm war, um zu wissen,
wie er seine Wünsche verwirklichen könnte.
Nun, da er sie verwirklichen kann,
muß er sie entweder verändern
oder vergehen.8
Es sei entscheidend, so Maalouf, die jeweils ‘Anderen’ nicht länger aus der
Perspektive von Heterostereotypen zu sehen, wie sie uns ideologische, religiöse oder massenkulturelle Konstrukte vorgaukeln, sondern sie mit anderen
Augen – mit den Augen vieler Anderer – aus verschiedenen Blickrichtungen
gleichsam ‘intimer’ wahrzunehmen:
Dies aber kann nur durch ihre Kultur erfolgen. Und vor allem durch ihre Literatur. Die Intimität eines Volkes ist seine Literatur. In ihr enthüllt es seine Leidenschaften, seine Bestrebungen, seine Träume, seine Frustrationen, seine Glaubensvorstellungen, seine Sicht der
umgebenden Welt, seine Wahrnehmung von sich selbst wie von den Anderen, uns selbst
miteinbegriffen. Denn wenn man von den „Anderen“ spricht, darf man nie aus den Augen
verlieren, daß auch wir selbst, wer auch immer wir sein und wo auch immer wir uns befinden mögen, für alle Anderen „die Anderen“ sind.9
In dieser Aufwertung insbesondere der Literatur und ihres ‘intimen’ Wissens
sieht Maalouf eine Möglichkeit, aus jenem sinistren Zeitalter (ère sinistre)
herauszufinden, in dessen Verlauf eine massenkulturelle „inculture“ zum Zeichen des Authentischen geworden sei, eine Haltung, die in höchst schädlicher
Weise auf die Ausbildung demokratischer Strukturen einwirke, impliziere sie
doch in paradoxer Übereinstimmung mit einem überkommenen Elitedenken
ungesagt die Auffassung, daß ein komplexes kulturelles Verstehen nur einer
kleinen Führungsschicht vorbehalten sei, während man den weit überwiegenden ‘Rest’ der Bevölkerung mit großen Warenkörben, simplistischen Slogans
und billigen Amusements abspeisen oder stillstellen könne.10 Die Literatur
aber eröffnet hier neue Horizonte jenseits der Waren-Welt.
Denn gegen eine derartige Welt konsumierbarer Klischees schreibt die Literatur eines Amin Maalouf im Bewußtsein, mit dem eigenen Schreiben ein
spezifisches Wissen vom Leben und im Leben hervorzubringen, unermüdlich
an.11 Wie aber ließe sich dieses Wissen der Literatur literaturwissenschaftlich
8 „Man has survived hitherto / because he was too ignorant to know / how to realize his
wishes. / Now that he can realize them, / he must either change them / or perish.“ Es handelt sich um einen Auszug des zu dem Band The Desert Music and Other Poems (1954)
gehörenden Gedichts ‘The Orchestra’. In: William Carlos Williams: The Collected Poems
of William Carlos Williams. Bd. II: 1939–1962. Hg. von Christopher McGowan. New
York: New Direction Books 71991, S. 250–252.
9 Amin Maalouf: Le dérèglement du monde, S. 206.
10 Ebda., S. 207.
11 Vgl. Amin Maalouf: „Vivre dans une autre langue, une autre réalité“. Entretien avec
Ottmar Ette, Ile d’Yeu, 15 septembre 2007. In: Lendemains (Tübingen) XXXIII, 129
(2008), S. 87–101.
3
fassen? Sind die Literatur- und Kulturwissenschaften überhaupt darauf vorbereitet, einer scheinbar immer marginaler werdenden Rolle der Literatur argumentativ entgegenzuwirken und neue Aufgaben für eine auf die Vielfalt individuellen wie kollektiven Lebens bezogene Philologie zu definieren?
Seit einigen Jahren ist die Frage nach dem spezifischen Wissen der Literatur in den Brennpunkt aktueller literaturwissenschaftlicher Debatten gerückt.12
Diese Tatsache ließe sich leicht mit der sich immer deutlicher abzeichnenden
Tendenz in den Geistes- und Kulturwissenschaften in Verbindung bringen,
daß an die Stelle der über ein Vierteljahrhundert lang dominanten MemoriaThematik die Wissens-Problematik getreten ist – unabhängig davon, ob man
hier von einem wissenschaftsgeschichtlich signifikanten Paradigmenwechsel
sprechen mag oder nicht. Die Frage der Memoria wird selbstverständlich auf
der Agenda bleiben. Es wird in den nächsten Jahren aber zweifellos darauf ankommen, gerade auch mit Blick auf die von Amin Maalouf konstatierte Weltentregelung vielperspektivische Blickwinkel zu entwickeln, in deren Verbund
sich die historische Tiefenschärfe auf das Prospektive und damit auf die Modellierung von Zukunft hin öffnet. Eine Neuausrichtung der Philologien? Gewiß. Und sie ist schon im Gange.
Die Frage nach dem Wissen der Literatur ist nicht zuletzt – und auch die
Überlegungen Amin Maaloufs weisen in diese Richtung – die Frage nach der
gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Relevanz dieses Wissens innerhalb der unterschiedlich ausgeprägten aktuellen Informations- und (mehr
noch) Wissensgesellschaften.13 Was also will, was also kann die Literatur?
Und was kann sie dazu beisteuern, auf die Herausforderungen der Globalisierung neue phantasievolle, aus den Sackgassen des Denkens herausführende
Antworten zu finden?
Der vorliegende Band geht von der These, von der Einsicht und von der
Überzeugung aus, daß es keinen besseren, keinen komplexeren Zugang zu
einer Gemeinschaft, zu einer Gesellschaft, zu einer Epoche und ihren Kulturen
gibt als die Literatur. Denn über lange Jahrtausende hat sie in den unterschiedlichsten geokulturellen Areas ein Wissen vom Leben, vom Überleben und
vom Zusammenleben gesammelt, das darauf spezialisiert ist, weder diskursiv
noch disziplinär noch als Dispositiv kulturellen Wissens spezialisiert zu sein.
Ihre Fähigkeit, den Leserinnen und Lesern ihr Wissen als ein Erlebenswissen
bereitzustellen, das Schritt für Schritt nachvollzogen, ja mehr noch nacherlebend angeeignet werden kann, erlaubt der Literatur, auch über große räumliche
und zeitliche Distanzen hinweg Menschen erreichen und wirksam werden zu
können. Literatur – oder das, was wir verschiedene Zeiten und Kulturen überbrückend darunter in einem weiten Sinne verstehen können – hat sich schon
12 Vgl. u.a. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München: Wilhelm Fink Verlag
2007; Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge - Modelle - Analysen. Berlin/New
York: Walter de Gruyter 2008; sowie Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der
Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004.
13 Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Opladen: Leske & Budrich 2001.
4
immer durch ihre transareale und transkulturelle Entstehungs- und Wirkungsweise ausgezeichnet. Sie ist aus vielen Logiken gemacht und lehrt uns, viellogisch, polylogisch (und nicht monologisch) zu denken. Sie ist Experiment
des Lebens und Leben im Experimentierzustand.
Auf eine grundlegende, ja radikale Weise ist die Literatur, sind die Literaturen der Welt darauf ausgelegt, in unterschiedlichster Weise ausgelegt werden
zu können, mithin jenen Kosmos der Redevielfalt auszuspannen, dessen Koordinaten seit Michail Bachtins Überlegungen weitaus deutlicher ins Bewußtsein getreten sind.14 Literatur ist folglich eine Spielfläche des Viel-Deutigen,
des Polysemen, insofern sie es erlaubt, sich in unterschiedlichsten Logiken
gleichzeitig zu bewegen, ja bewegen zu müssen. Ihre fundamentale Vieldeutbarkeit provoziert die Entfaltung polylogischer Strukturen und Strukturierungen, die nicht an der Gewinnung eines einzigen festen Standpunkts, sondern
an den ständig veränderten und erneuerten Bewegungen des Verstehens und
Begreifens ausgerichtet sind. Ist dies nicht eine Fähigkeit, die für uns heute in
unseren aktuellen Formen widersprüchlicher Verweltgesellschaftung15 kostbarer ist als für jede andere Generation vor uns?
Literatur läßt das Mobile des Wissens hervortreten, ja sorgt als Mobile des
Wissens dafür, daß die unterschiedlichsten Wissensbereiche und Wissenssegmente einer, mehrerer, vieler Gemeinschaften und Gesellschaften ständig in
neuer Weise experimentell aufeinander bezogen werden. Dieser ununterbrochene Transfer beinhaltet notwendig Transformation: Die kulturelle Verdichtung, welche Literatur vornimmt, impliziert stets mehr als bloße Verflechtung16 – und eröffnet dergestalt Spielräume, die sich einer Vernichtung von
Kultur und von Kulturen widersetzen.
Literatur ist folglich ein Wissen in Bewegung, dessen viellogischer Aufbau
für die Welt des 21. Jahrhunderts, deren größte Herausforderung zweifellos ein
globales Zusammenleben in Frieden und Differenz sein dürfte, von überlebenswichtiger Bedeutung ist. Denn Literatur erlaubt es, innerhalb des ernsten
Spiels ihrer ästhetisch wie poetologisch jeweils unterschiedlich abgesicherten
Experimente ein gleichzeitiges Denken in verschiedenartigen kulturellen, gesellschaftlichen, politischen oder psychologischen Kontexten und Logiken experimentell zu erproben und weiterzuentwickeln. Literatur kreiert das Künftige, modelliert unsere Zukunft – aus den Traditionen eines vieltausendjährigen Weltbewußtseins heraus.
14 Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von
Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
15 Vgl. hierzu auch Mathias Albert: Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im
Kontext internationaler Vergesellschaftung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002.
16 Zum Konzept der Verflechtung und der histoire croisée vgl. Michael Werner/Bénédicte
Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der „Histoire croisée“ und
die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für
historische Sozialwissenschaft (Göttingen) 28 (2002), S. 607–636.
5
Daher rührt die herausragende Bedeutung, die ihr auf experimenteller
Ebene bei der Gestaltung von Zukunft unter den Bedingungen der Globalisierung zukommt. Der eklatante Mangel an Phantasie, der die globalen Beziehungen auf politischer und auf ökonomischer, auf ideologischer wie auf religiöser Ebene kennzeichnet, ist durch die experimentelle Vorstellungskraft der
Literatur vielleicht nicht zu beseitigen, wohl aber zu bekämpfen. Mit ihren
vielfältigen Bezügen zum Leben entfaltet die Literatur auf diese Weise ihre eigentliche Lebenskraft: ihr Vermögen, die Dinge so, wie sie sind oder in ihrem
So-Sein gedacht werden können, zur Kenntnis zu nehmen, zugleich aber so zu
transformieren, daß aus dem, „wie sie sind“, und dem, „wie sie hätten sein
können“, eine Bewegung, ja ein Sog dorthin entsteht, „wie sie werden müßten“. Mit anderen Worten: Die Verdichtung des Lebens in der Literatur bringt
nicht allein ein Leben (und damit auch eine Geschichte) der Literatur hervor,
sondern treibt in einem Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende umfassenden Prozeß ein Wissen vom Leben im Leben an, das in den Transferprozessen
der Literatur das Leben selbst transformiert – auf der individuellen wie selbstverständlich auch auf der kollektiven Ebene.
Wir sollten gewiß nicht damit aufhören, die Phänomene der Globalisierung
aus dem Blickwinkel der Ökonomie oder der Politik, des Finanzwesens oder
der Rechtsprechung, der Medizin, der Geschichte oder der Geographie zu betrachten; aber wir sollten uns der Tatsache bewußt werden, daß diese Perspektiven uns stets nur mehr oder minder begrenzte Ausschnitte und Ausblicke liefern, während uns die Literaturen der Welt ein Komplexität nicht
reduzierendes und Widersprüchlichkeit nicht ausblendendes sinnliches Denken und Erleben dessen ermöglichen, was das nur von vielen Logiken her zu
verstehende Leben unseres Planeten und auf unserem Planeten ausmacht. Das
Wissen der Literatur ist durch kein anderes ersetzbar: Es ist Wissen des Lebens vom Leben im Leben.
Seit dem Gilgamesch-Epos und den frühesten Traditionslinien der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht stellen sich die Literaturen der Welt auf
produktions- wie auf rezeptionsästhetischer Ebene den Phänomenen des Globalen. Literatur und Globalisierung stehen sich folglich nicht fremd und fern
gegenüber; sie müssen daher in diesem Band auch nicht in einen künstlich forcierten Zusammenhang gebracht werden. Sie bilden vielmehr eine Beziehung,
die im Zeichen von Transfer und Transformation – und damit zugleich unterschiedlichster Phänomene der Übersetzung und Translation – intimer nicht zu
denken wäre. Die gegenwärtige Weltentregelung findet im Weltbewußtsein
der Literatur(en) viele Antworten, die keine einfachen Rezepte, wohl aber LebensMittel und ÜberLebensMittel insofern darstellen, als sie sich als phantasievolle Erprobungsräume des Künftigen begreifen lassen. Für ein neues Begreifen aber bedarf es stets neuer oder neu definierter Begriffe, um das
Unübersehbare und doch oft Übersehene anders sichtbar zu machen.
6
Was heißt Globalisierung?
Der vorliegende Band geht von der These aus, daß Globalisierung kein rezentes Phänomen, sondern ein langanhaltender, sich über mehrere Jahrhunderte
erstreckender Prozeß ist, der sich in vier Phasen beschleunigter Globalisierung
unterteilen läßt und die Frühe Neuzeit der europäischen Geschichtsschreibung
über die weltweit unterschiedlich divergierenden Modernen mit unserer Gegenwart in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts verbindet17. Die angesichts einer Vielzahl komplexer und oftmals gegenläufiger Entwicklungen
notwendige Ausdifferenzierung zwischen verschiedenen Phasen der Beschleunigung soll dabei vermeiden, die aktuelle Globalisierungsphase entweder zu
enthistorisieren oder von ihr eine Art ‘Vorgeschichte’ abzutrennen, die – wie
dies etwa Ulfried Reichardt ausführt – mit dem Jahre 1492 begonnen habe,
„mit der europäischen Expansion zusammenfiel“ und endlich „Anfang des
20. Jahrhunderts abgeschlossen“ gewesen sei.18 Jede dieser Beschleunigungsphasen besitzt ihre je eigenen Zentren und Vorgehensweisen, Legitimationsstrategien und globalgeschichtlichen Folgen, ohne deren Verständnis die nachfolgenden Phasen beschleunigter Globalisierung nicht adäquat verstanden
werden können. Um die aktuelle Phase beschleunigter Globalisierung zu begreifen, ist geschichtliche, aber auch kulturelle Tiefenschärfe unverzichtbar.
Ungeachtet der unbestreitbaren Tatsache, daß der Begriff der „Globalisierung“ neueren Datums ist und sich erst im Verlauf der neunziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts durchzusetzen vermochte,19 hat sich nach der Jahrtausendwende gerade in den Kulturwissenschaften die sich schon bei
Alexander von Humboldt, dem wohl ersten Globalisierungstheoretiker, abzeichnende Einsicht durchgesetzt, daß sich Prozesse der Globalisierung nur
aus einer Langzeitperspektive adäquat erfassen lassen. Dabei besitzt jede einzelne dieser Hauptphasen Spezifika, die sie von früheren oder späteren Globalisierungsphasen abgrenzen und unverwechselbar machen. Doch werden wir
die aktuelle vierte Phase – und damit auch die von Amin Maalouf benannte
Weltentregelung – nur dann adäquat begreifen können, wenn es uns gelingt,
die ihr vorangehenden Phasen in ihrer Kontinuität wie in ihrer Differenz zu erfassen. Denn noch immer folgt der gegenwärtige Globalisierungsschub in
vielerlei Hinsicht jenen Bahnungen und Vektorisierungen, die am Ende des
15. Jahrhunderts einen entscheidenden Epochenwandel heraufführten.
17 Eine erste Skizze dieses Vier-Phasen-Modells habe ich vorgelegt in Ottmar Ette:
Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt oder das unvollendete Projekt einer anderen
Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 26–27. Aus einer spezifisch geschichtswissenschaftlichen Sicht vgl. auch Jürgen Osterhammel/Niels Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München: Verlag C.H.
Beck 2003.
18 Ulfried Reichardt: Globalisierung, S. 29.
19 Vgl. den Zwischenbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages
„Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“. Drucksache
14/6910 vom 13.9.2001, S. 3. Von 34 Nennungen im Jahr 1993 steigen die Zahlen über
175 Nennungen 1995 und 535 Nennungen 1996 auf 1062 Nennungen im Jahr 2000 an.
7
Die Tatsache, daß die hier nachgezeichneten Bahnungen wesentlich von
Europa aus geprägt wurden, bedeutet nicht, daß im vorliegenden Band ein eurozentristisches Erklärungsmodell vorgelegt würde. Selbstverständlich gab es
auch zum Zeitpunkt der ersten Phase beschleunigter Globalisierung Machtsysteme und Kulturen, die sich – wie etwa das Tawantinsuyu der Inkas im andinen oder das Aztekenreich im nordamerikanischen Raum – in rascher Expansion befanden, als die ersten spanischen Karavellen am Horizont
erschienen. Doch diese Expansionen, die nicht in einem globalen Maßstab
stattfanden, gerieten in den Sog und in den Wirbel einer weltweiten iberischen
Machtausdehnung, die sich dieser auf einzelne Areas begrenzten inkaischen
oder aztekischen Eroberungen bewußt zu bedienen verstanden, um ihre eigenen Machtziele umso wirkungsvoller und rascher realisieren zu können.
Diese komplexen militärischen, sozialen und ökonomischen Prozesse werden im vorliegenden Band aus unterschiedlichen geographischen Standorten
und kulturellen Perspektiven beleuchtet. Die zentrale Rolle der sogenannten
‘Alten Welt’, welche die europäischen und von Europa wesentlich geprägten
Globalisierungsschübe steuerte, wird gerade durch diese vielperspektivische
Sichtweise noch deutlicher erkennbar und sollte nicht in ein alles relativierendes Geschichtsbild aufgelöst werden, würden damit doch die Täterschaft Europas und die mit ihr einhergehende Verantwortung für einen Jahrhunderte
umspannenden und keineswegs abgeschlossenen Prozeß de longue durée dort
relativiert, wo es gilt, die Brutalität wie die langfristigen Konsequenzen dieses
Tuns herauszuarbeiten und zu beleuchten. Denn die Conquista, in unterschiedlichste kulturelle Konfigurationen und wirtschaftliche Formate übersetzt, geht weiter.
Beschleunigungsphasen:
Eins
Am Anfang des die Frühe Neuzeit20 sicherlich entscheidend prägenden und programmierenden Ereignisstranges steht als erste Phase beschleunigter Globalisierung die koloniale Expansion Europas, die – von Entwicklungen im gesamten Mittelmeerraum angetrieben – im wesentlichen von den
iberischen Mächten Spanien und Portugal getragen wurde. Beruhte das Projekt
des Christoph Columbus auch bekanntlich auf teilweise irrigen und viel zu
optimistischen Annahmen und Berechnungen, so daß die Schiffe des Genuesen, die längst ihren point of no return überschritten hatten, nur deshalb nicht
mit Mann und Maus im Meer versanken, weil ihnen der amerikanische Kontinent auf halber Strecke den Weg verlegte, so war dieses Vorhaben, den Osten
über den Seeweg nach Westen zu erreichen, doch von ungeheurer, die weitere
Geschichte wesentlich beeinflussender Wirkung. Und dies nicht etwa nur, weil
damit der weitgehend von arabischen Mächten kontrollierte Landweg umgangen und direkte Handelsbeziehungen mit den im Osten Europas liegenden
20 Vgl. Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen
des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft (Göttingen) 34 (2008), S. 155–224.
8
Gewürzinseln und großen asiatischen Reichen hergestellt werden konnten,
sondern weit mehr noch dadurch, daß die im Westen des europäischen Kontinents gelegenen und miteinander rivalisierenden iberischen Reiche unter aktiver Beihilfe des Papstes spätestens mit dem Vertrag von Tordesillas 1494 die
Welt unter sich aufteilten und eine expansionistische Weltpolitik im eigentlichen Sinne von Europa aus betrieben.
So leiten die Karavellen des Columbus rasch zu einer ebenso machtvoll wie
rücksichtslos vorgetragenen Weltpolitik über, die erstmals in einem in der Tat
planetarischen Maßstab konzipiert wurde. Das kurz zuvor erst unter den Katholischen Königen vereinigte Spanien setzte nach der Eroberung des Nasridenreiches von Granada, des letzten auf iberischem Territorium verbliebenen
arabischen Herrschaftsgebietes, die Bewegung der Reconquista nun nicht
mehr nach Süden, in den nordafrikanischen Raum, fort, sondern warf alle verfügbaren Kräfte auf die Neueroberung, die Conquista jener immensen Territorien, die den zahlreichen indigenen Kulturen weit über den Einflußbereich von
Azteken oder Inkas hinaus sehr rasch entrissen wurden. Spanien wie Portugal
arbeiteten unter Hochdruck daran, Reiche von weltumspannenden Dimensionen auf- und auszubauen.
Mit der sogenannten Entdeckung der ‘Neuen Welt’ durch die Europäer
kam es bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zu einer enormen, keineswegs
auf Amerika beschränkten Expansion europäischer Herrschaft, wobei die mit
erstaunlicher Geschwindigkeit aufgebauten kolonialen Institutionen, Machtmechanismen und Wissenszirkulationen21 Handelsverbindungen schufen, die
erstmals mit guten Gründen als global bezeichnet werden können. Das für
diesen Zeitraum emblematische globalisierende Transportmittel war die Karavelle, die den Stand avanciertester europäischer Schiffahrtstechnik verkörperte.
Gegenüber der Wucht dieses sich ungeheuer beschleunigenden und von
Genoziden und Massakern begleiteten Expansionsprozesses erscheinen alle
vorangegangenen Expansionen nicht allein europäischer, sondern auch außereuropäischer Mächte wie eine Vorgeschichte, welche die Dimensionen einer
faktisch weltumspannenden Bewegung22 bei weitem nicht zu erreichen vermochten. Angesichts dieses ungeheuer vielgestaltigen Prozesses erscheint es
aus heutiger Perspektive als geradezu selbstverständlich, daß das Wagnis
einer von Magellan und Elcano durchgeführten Weltumsegelung – wenn auch
unter enormen Verlusten – gelingen mußte. Die Dimensionen der Erde waren
dem abendländischen Menschen nun empirisch bekannt, die Erde in ihrer
Kugelgestalt folglich potentiell beherrschbar.
21 Vgl. hierzu auch Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der
spanischen Kolonialherrschaft. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2009.
22 Vgl. hierzu Serge Gruzinski: Les Quatre Parties du monde. Histoire d’une mondialisation. Paris: Editions de La Martinière 2006.
9
Europa brachte sich binnen kurzer Zeit in den Besitz ungeheurer Reichtümer23 – ein Startkapital für eine neue Zeit, die als Neuzeit für Jahrhunderte
wesentlich im Zeichen dieses weder gleichmäßig verlaufenden noch von denselben Zentren kontrollierten kolonialen Machtgefüges stehen sollte. Die
Machtstrukturen und Asymmetrien zwischen ‘Zivilisierten’ und ‘Wilden’24
zwischen ‘Christen’ und ‘Heiden’, zwischen dem ‘Westen’ und den ‘Resten’,
in denen Europa nicht nur diskursiv für lange Zeit das „Problem des Anderen“ behandelte, schienen damit ein für allemal festgelegt.25 Das Zeitalter dessen, was man in einem tatsächlich global ‘gerundeten’ Sinne als Weltwirtschaft bezeichnen könnte, hatte begonnen – noch bevor mit der Eroberung der
Philippinen und ihrer Anschließung an die von Spanien aus kontrollierte Kolonialwirtschaft der iberische Kreis um den Planeten endgültig geschlossen
werden konnte. Erst aus dieser Zeit datiert die Machtstellung einer von Europa aus zunehmend dominierten und geprägten Welt.
Die in dieser ersten Phase beschleunigter Globalisierung zum Ausdruck
kommende Asymmetrie europäisch-außereuropäischer Beziehungen wurde
zum Ausgangspunkt nachfolgender Phasen beschleunigter Globalisierung und
prägte die strukturelle Ausbildung asymmetrischer Relationen im militärischen, ökonomischen, politischen, technologischen und kulturellen Bereich
bis in die Gegenwart. Dabei entsprechen dieser Phase extrem einseitig verlaufende Wege eines Wissenstransfers über die ‘Neue Welt’, wie sie sich nicht
nur im Bordbuch des Columbus, sondern mehr noch in den Briefen und
Chroniken spanischer beziehungsweise europäischer Eroberer und Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts, aber auch in den Berichten, Untersuchungen und Spekulationen vieler Missionare niedergeschlagen haben. Die
Namen so unterschiedlicher Figuren wie Hernán Cortés und Bernal Díaz del
Castillo, Francisco López de Gómara und Gonzalo Fernández de Oviedo,
Garcilaso de la Vega el Inca und José de Acosta, Bartolomé de las Casas und
Bernardino de Sahagún stehen stellvertretend für einen Transferprozeß, der
Wissen über die Neue in der Alten Welt zu akkumulieren und für die Ausbildung globaler Herrschafts- und Austauschbeziehungen zu nutzen beginnt.26
23 Vgl. Stephen Greenblatt: Marvellous Possessions: the wonder of the New World. Oxford:
Clarendon Press 1992.
24 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und
Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: C.H. Beck’sche
Verlagsbuchhandlung 1976.
25 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Aus dem
Französischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.
26 Vgl. hierzu die Forschungsarbeiten von Birgit Scharlau: Beschreiben und beherrschen.
Die Informationspolitik der spanischen Krone im 15. und 16. Jahrhundert. In: Karl-Heinz
Kohl (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Berlin: Frölich und Kaufmann 1982, S. 92–100; dies.
(Hg.): Bild – Wort – Schrift. Beiträge zur Lateinamerikasektion des Freiburger
Romanistentages. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1989; dies: Nuevas tendencias en los
estudios de crónicas y documentos del período colonial latinoamericano. In: Revista de
10
Globalisierungsprozesse setzen stets nicht allein neue Anordnungsnormen,
sondern auch Zirkulationsformen des Wissens voraus.
In der ersten Phase beschleunigter Globalisierung kommt archipelischen
und transarchipelischen27 Verbindungen eine ungeheure Bedeutung zu. Für die
Entdeckungs-, aber auch die Eroberungsgeschichte waren die Kanarischen Inseln, die Kapverden, die Azoren und Madeira auf altweltlicher Seite von entscheidender Bedeutung, während die Inselwelt der Karibik – die im ersten Teil
dieses Bandes ausführlicher zu besprechende Weltkarte des Juan de la Cosa
aus dem Jahre 1500 wird es in aller Deutlichkeit zeigen – gleichsam zum Brückenkopf für die Eroberung des gesamten Kontinents wurde. Von diesen Inseln als sicheren Stützpunkten aus wurden Macht-Inseln auf dem Kontinent errichtet, so daß die Herrschaft der iberischen Eindringlinge über weite
Landflächen von den insularen Strukturen der Städte aus organisiert und
durchgeführt wurde: eine Inselstrategie, die sich grundsätzlich von der territorialen beziehungsweise kontinentalen Vorgehensweise einer vorrückenden
frontier unterschied, wie sie später im Norden des Kontinents durchaus erfolgreich zur Anwendung kam.28
Die erste Phase beschleunigter Globalisierung zeichnet sich auch bereits
dadurch aus, daß insbesondere im spanischen Einflußbereich die reflektierte
Sprachpolitik eines entstehenden Imperiums sehr zielgerichtet umgesetzt
wurde. Insgesamt wurden auf diese Weise drei europäische Sprachen globalisiert und als Weltsprachen etabliert: das Spanische, das Portugiesische und das
Lateinische (über dessen Präsenz im Prozeß der Eroberung und Verwaltung,
aber auch der transatlantischen Wissenszirkulation noch immer ein deutliches
Forschungsdefizit fortbesteht).
Mit Prozessen der Globalisierung gehen stets Globalisierungsängste einher,
die sich auch und gerade in Katastrophenzusammenhängen auszudrücken
pflegen. Die Europäer schleppten eine Vielzahl ‘neuer’ Krankheiten in die
‘Neue Welt’, die dort – teilweise von den spanischen Conquistadoren durch
die Verteilung infizierter Gegenstände bewußt eingesetzt – den Eroberungsprozeß erheblich beschleunigten, insofern die Widerstandsfähigkeit der
indigenen Bevölkerung zum Teil wesentlich geschwächt wurde. Umgekehrt
infizierten sich die Eroberer aber auch mit für sie zuvor unbekannten Krankheiten, wobei die iberischen Soldaten, die nicht nur auf dem amerikanischen
crítica literaria latinoamericana (Lima) 31–32 (1990), S. 365–375; dies. (Hg.):
Übersetzen in Lateinamerika. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2002.
27 Zum Begriff des Transarchipelischen vgl. Ottmar Ette: Le monde transarchipélien de la
Caraïbe coloniale. In: Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.): Caleidoscopios coloniales.
Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX. Kaléidoscopes coloniaux. Transferts
culturels dans les Caraïbes au XIXe siècle. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2010, S. 23–64.
28 Vgl. hierzu Walther L. Bernecker: Staatliche Grenzen – kontinentale Dynamik. Zur
Relativität von Grenzen in Lateinamerika. In: Marianne Braig/Ottmar Ette u.a. (Hg.):
Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Frankfurt
am Main: Vervuert Verlag 2005, S. 7–37.
11
Kontinent, sondern in den verschiedensten Teilen Europas, in Afrika wie in
Asien eingesetzt wurden, rasch diese Krankheiten verbreiteten.
Zur eigentlichen Leit-Epidemie der ersten Globalisierungsphase wurde die
Syphilis, die rasch nicht nur in Spanien und Italien, sondern auch in verschiedenen Teilen Nordafrikas auftrat, wie wir etwa aus den Berichten des später
noch zu besprechenden Giovan Leone L’Africano wissen. Das verstärkte Aufkommen von Seuchen und Epidemien begleitet stets jene Beschleunigungsphasen, die den Prozeß der mondialisation voranzutreiben pflegen. In seiner
Kulturgeschichte der Seuchen hielt Stefan Winkle aus medizingeschichtlicher
Sicht sehr prägnant fest:
Als am 15. März 1493 die zurückgekehrte Flotte des Kolumbus – nach dem Verlust eines
Schiffes – in ihren Ausgangshafen Palos an der Südküste Spaniens ankam, brachte sie außer den Erzeugnissen des neuen Kontinents als besonderes „Geschenk“ eine bisher unbekannte Geschlechtsseuche mit: die Syphilis. Von Palos aus fuhr man zunächst auf dem
Guadalquivir in das nahe Sevilla, wo man vier Wochen verweilte. Schon dort muß die nach
langer Seefahrt sexuell ausgehungerte Mannschaft die Bordelle reichlich frequentiert und
dabei die dort beschäftigten Dirnen mit der bisher gänzlich unbekannten Krankheit infiziert
haben. Dasselbe wiederholte sich in Barcelona, wohin sich Kolumbus mit seinen beiden
Schiffen auf dem Wasserweg begab, ohne das übrige Spanien zu berühren.29
Dieses „Berühren“ darf hier wortwörtlich verstanden werden. Und die Folgen
waren ungeheuer schnell beobachtbar, wie ein Augenzeuge, der damals in
Barcelona tätige Arzt Ruy Díaz de Isla, in seiner 1539 erschienenen Schrift
nachträglich festhielt: „Der göttlichen Gerechtigkeit gefiel es, uns eine bisher
unbekannte neue Krankheit zu schicken, die 1493 in der Stadt Barcelona auftauchte. Diese Stadt wurde zuerst angesteckt, danach ganz Europa und
schließlich die ganze bewohnte Welt.“30 Binnen weniger Jahre hatten Angehörige spanischer Truppenverbände und Verwaltungen in der Tat einen Kalamitätenzusammenhang zwischen Amerika und Europa, Asien und Afrika hergestellt.31
Die Seuche der Syphilis fasziniert bis heute nicht allein deshalb, weil sich
Historiker hier einer Epidemie zuwenden können, deren Beginn und Verlauf
erstmals in der Geschichte sehr gut dokumentiert ist.32 Der eigentliche Grund
für die anhaltende Faszinationskraft dieser Krankheit ist wohl weit mehr darin
zu sehen, daß sie – wie schon Albrecht Dürers Darstellung aus dem Jahre 1496
zeigt (Abb. 1) – sich mit einem (wohlgemerkt abendländischen) Imaginarium
des Globalen untrennbar verbindet. Das Jahr 1494, das der große deutsche
29 Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 1997, S. 541 f.
30 Zit. ebda., S. 542. Zur Ausbreitung der Krankheit vgl. S. 541–575. Der Abdruck eines ersten Flugblattes aus dem Jahre 1496 findet sich auf S. 546.
31 Vgl. hierzu auch Alfred W. Crosby jr.: The Columbian Exchange. Biological and Cultural
Consequences of 1492. Westport, Connecticut: Greenwood Press 1973, S. 122–164.
32 Ebda., S. 123.
12
Künstler in dieser ersten Darstellung eines an Syphilis erkrankten Menschen
dem über dem Haupt des Landknechts33 schwebenden Himmelskörper gut
sichtbar einschrieb, zeigt zusammen mit einem den frühen Holzschnitt rahmenden Text in lateinischer Sprache, wie sehr sich die Ereignisse im globalen
Maßstab überschlugen und wie rasch sich die Seuche – von der Dürer wenige
Jahre später möglicherweise selbst betroffen war34 – in der Alten Welt ausbreitete. Auch dieses in der Tradition des sogenannten Pestblattes stehende
Kunstwerk fängt es ein: Die zeitgenössischen Reaktionen auf die Syphilis prägen alle späteren Reaktionsweisen auf globale Epidemien bis in unsere erneut
im Zeichen beschleunigter Globalisierung stehende Gegenwart entscheidend
vor. Das Bild des schmerzensreichen, mit Pusteln übersäten Mannes auf seiner
Wanderschaft durch die Welt vermittelt uns auf künstlerisch verdichtete
Weise, was die Einschleppung immer ‘von außen’, aus der Ferne kommender
Seuchen und Epidemien für die so ruhig daliegenden Landschaften mit ihren
Kirchtürmen und Häusern bedeutet: eben der Abgeschiedenheit und vermeintlichen Ruhe des Lokalen im Zeichen des Globalen verlustig zu gehen. In der
Globalisierung schwingt immer auch die Angst vor ihr mit.
Abb. 1: Albrecht Dürer: Der Syphilitiker (1496).
33 Vgl. Colin Eisler: Who Is Dürer’s „Syphilitic Man“? In: Perspectives in Biology and
Medicine (London) LII, 1 (Winter 2009), S. 48–60.
34 Vgl. ebda., S. 57–59.
13
Zwei
Eine zweite Phase beschleunigter Globalisierung reicht von der
Mitte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und kommt vielleicht am
deutlichsten in den Reisen von Bougainville, Cook oder Lapérouse zum Ausdruck. In diesen Namen großer französischer und britischer Seefahrer verknüpfen sich auf exemplarische Weise die Entdeckungsreisen früherer Ausrichtung mit der zukunftsträchtigen Form der Forschungsreise, wie sie gerade
James Cook mustergültig vor Augen führte. Am Ende dieses Zeitraums sind
die größten ‘weißen Flecken’ auf der Landkarte unseres Planeten beseitigt.
Das zum gleichen Zeitpunkt beobachtbare Umschlagen der Utopien in die
Uchronien – also die Ersetzung der Projektionen an einen anderen Ort durch
Projektionen in eine andere Zeit – gibt in den unterschiedlichsten Literaturen
einen wichtigen Hinweis darauf, daß der mit der ersten Phase beschleunigter
Globalisierung einhergehende Aufschwung dieser verräumlichenden Gattung,
für die Thomas Morus’ erstmals 1516 erschienener Text Utopia paradigmatisch stehen darf, nun – im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – durch neue
Verzeitlichungsstrategien ersetzt zu werden begann.
Diese zweite Phase ist nicht mehr von den iberischen Mächten, deren Kolonialreiche zahlreichen Reformen unterworfen werden, sondern insbesondere
von Frankreich und England als aufsteigenden Kolonialmächten geprägt.
Diese beiden europäischen Führungsmächte, die wie ihre Vorgängernationen
dem Westen des europäischen Kontinents entstammen, stehen sich außerhalb
Europas in den verschiedensten Regionen der Welt und auf den unterschiedlichsten Weltmeeren feindlich als Konkurrenten gegenüber. Für England wie
für Frankreich gilt: Das für diese zweite Phase beschleunigter Globalisierung
emblematische Transportmittel ist die Fregatte.
Die Entwicklung der britischen wie der französischen Handelssysteme
greift zum Teil auf zuvor bereits existierende regionale und überregionale
Handelsverbindungen außereuropäischer Mächte und Völker zurück, die sukzessive in ein komplexer gewordenes weltweites Handelssystem ‘integriert’
werden, das in zunehmendem Maße von London und Paris aus gesteuert wird.
Lissabon, Madrid und seine spanischen Überseehäfen, aber auch Amsterdam,
das seinen Aufstieg in einer Zwischenphase genommen hatte, die viele Charakteristika mit der ersten Phase teilt, zugleich aber im ökonomischen Sektor
Entwicklungen der zweiten Phase vorwegnimmt, werden in ihrem Aktionsradius deutlich beschnitten. Wie schon in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung liegen auch in der zweiten Phase die europäischen Hauptstädte,
von denen aus diese weltweiten Expansionsprozesse gelenkt werden, in unmittelbarer geographischer Nähe zueinander.
Insbesondere die Berichte von den Entdeckungs- und Forschungsreisen der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit ihren an spezifischen Interessen europäischer Herrschaft und Wissenschaft ausgerichteten Aufbereitungs- und Anordnungsformen des Wissens dokumentieren auf bis heute beeindruckende
Weise ein Anschwellen von Wissensströmen, das nicht nur die europazentrischen Wege des Wissens global vervielfachte, sondern auch zu tiefgreifenden
14
epistemologischen Veränderungen in den universalistisch denkenden okzidentalen Wissenschaften führte. Das asymmetrisch an den Bedürfnissen Europas aufgebaute Zirkulationssystem des Wissens war durch die ungeheure
Quantität neuen Wissens, das es nicht nur aufzuhäufen, sondern neu anzuordnen galt, gezwungen, jene Verzeitlichungsstrukturen zu schaffen, die in den
Arbeiten von Michel Foucault35 und Wolf Lepenies36 eindrucksvoll
herausgearbeitet wurden und die die unterschiedlichsten sich ausdifferenzierenden Disziplinen und Bereiche der Wissenschaft wie des Wissens erfaßten.
Der Transfer von Wissen führte folglich zur Transformation aller Wissensanordnung. Im Zeichen dieser Verzeitlichung steht ebenso das Ende der Naturgeschichte wie das Ende eines Denkens, innerhalb dessen – wie Reinhart Koselleck auf nachhaltige Weise zeigte – die Historia noch die Magistra Vitae
sein durfte.37
Vor diesem Hintergrund eines sich herausbildenden zukunftsoffenen Geschichtsverständnisses scheint es mir notwendig und unumgänglich zu sein,
nicht allein die europäische Doppelrevolution des 18. Jahrhunderts – mithin
die von England ausgehende industrielle Revolution38 und die im Frankreich
von 1789 ihren eigentlichen ‘universalistischen’ Ausdruck findende politische
Revolution –, sondern auch die außereuropäische Doppelrevolution – folglich
die gegen den britischen Kolonialismus gerichtete und 1776 erreichte Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika und die sich gegen den französischen Kolonialismus und vor allem das transatlantische Sklavereisystem
des Black Atlantic39 erhebende Haitianische Revolution mit ihrer 1804 erzielten Unabhängigkeit – als höchst signifikante Phänomene dieser zweiten Phase
beschleunigter Globalisierung miteinzubeziehen. Gerade die bisweilen bewußte, bisweilen unbewußte Ausblendung der ersten erfolgreich zu einer
Staatsgründung führenden Sklavenrevolution von Saint-Domingue beziehungsweise Haiti aus einer ‘allgemeinen’ Revolutionstheorie40 hat dazu beige35 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1966; dt. Die Ordnung der
Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974.
36 Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller
Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1978.
37 Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 21984, S. 38–66.
38 Eine Verbindung zwischen einer zweiten Globalisierung und der industriellen Revolution
zieht Michael Zeuske: Humboldt, Historismus, Humboldteanisierung. Der „Geschichtsschreiber von Amerika“, die Massensklaverei und die Globalisierungen der Welt. In: HiN
- Alexander von Humboldt im Netz (Potsdam/Berlin) II, 3 (2001), <www.hin-online.de>.
39 Vgl. hierzu Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London: Verso 1993.
40 Vgl. hierzu Gesine Müller: Die koloniale Karibik zwischen Bipolarität und
Multirelationalität. Transferprozesse in hispanophonen und frankophonen Literaturen.
Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam, Potsdam
2011, S. 128 f. Der „Fall Haiti“ ist mit Blick auf die vorherrschende westliche Revolu-
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tragen, einerseits die Revolutionstheorie zu ‘europäisieren’ und andererseits
die fundamentalen Beziehungen der genannten Revolutionen zur zweiten
Phase beschleunigter Globalisierung geflissentlich zu ‘übersehen’.41 Dagegen
gilt es, die europäische wie die amerikanische Doppelrevolution gleichermaßen ins Feld zu führen und epistemologisch nutzbar zu machen.
Ohne die enormen nautischen, verkehrs- und kommunikationstechnischen
Verbesserungen wären die großen Seereisen der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts mit ihren Fregatten, deren Namen sich ins kollektive Gedächtnis der europäischen Nationen einbrannten, sicherlich nicht möglich gewesen. Diese Reisen zielten nicht in erster Linie auf das innere von Kontinenten, sondern waren an Küstenlinien, Meerengen, Durchfahrtsmöglichkeiten
und Archipelstrukturen interessiert, die sich für raschere und sicherere transatlantische und transpazifische Verkehrswege als nützlich erweisen könnten.
Gerade mit Blick auf den Pazifik, die größte Meeresfläche unseres Planeten,
spielten (und spielen) archipelische und transarchipelische Strukturen eine bedeutende Rolle. Der für die militärische Kontrolle wie für den Handel so
wichtige strategische Aspekt der Inselwelten war ebenso für die pazifischen
wie die atlantischen Inselwelten oder die Transportwege im Indischen Ozean
von entscheidender Relevanz. So spielten etwa innerhalb des französischen
Kolonialsystems die Inseln Saint-Domingue, Tahiti oder Mauritius eine kaum
zu überschätzende Rolle.
Daß die Beschleunigung und Intensivierung der weltweiten Verbindungen
nicht nur die Lebensbedingungen im französisch- oder englischsprachigen
Einflußbereich veränderte, mag die Tatsache anzeigen, daß sich die meisten
der im Deutschen bis heute üblichen Welt-Komposita (wie Welthandel, Weltverkehr, Weltbürgertum oder Weltfrieden, aber auch Weltbewußtsein, Weltwirtschaft oder Weltliteratur)42 der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung zuordnen lassen. Diese Komposita und Neologismen zeigen einen
tionstheorie mehr als problematisch: In ihrem Grundlagenwerk On Revolution (New
York: The Viking Press 1963) verzichtete Hannah Arendt selbst auf eine Erwähnung
Haitis. Kolonialismus und Sklaverei sind über lange Zeiträume in der Theorie der
Moderne – und speziell auch in der Revolutionstheorie – lediglich als Randphänomene
oder gar als Störfaktoren aufgefaßt worden (vgl. hierzu Sibylle Fischer: Modernity
Disavowed. Haiti and the Cultures of Slavery in the Age of Revolution. Durham/London:
Duke University Press 2004, S. 8 f.). Eine wissenschaftliche Hinwendung zur
Haitianischen Revolution ist in jüngster Zeit unverkennbar; vgl. hierzu u.a. Chris Bongie:
Friends and Enemies. The Scribal Politics of Post/Colonial Literature. Liverpool:
Liverpool University Press 2008.
41 Vgl. hierzu Susan Buck-Morss: Hegel and Haiti. In: Critical Inquiry (Chicago) 26 (Summer 2000), S. 821–865; sowie dies.: Hegel, Haiti, and Universal History. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2009.
42 Zu diesen ‘Weltbegriffen’ vgl. Ottmar Ette: Unterwegs zu einer Weltwissenschaft?
Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien. In: HiN – Alexander
von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam/Berlin)
VII, 13 (2006), S. 34–54, <www.hin-online.de>.
16
veränderten Denkhorizont an, der sich – selbstverständlich von Europa aus –
geradezu enzyklopädisch einer Welt bemächtigte, wie sie die sicherlich erfolgreichste, erstmals 1770 noch anonym von Guillaume-Thomas Raynal veröffentlichte Kolonialenzyklopädie der Histoire philosophique et politique des
établissemens et du commerce des européens dans les deux Indes entwarf.43
Daß in diesen (wesentlich auf die Impulse von Raynal und Denis Diderot
zurückgehenden) Bänden, aber auch in vielen Werken anderer zeitgenössischer europäischer Vorläufer einer Globalgeschichte wie Cornelius de Pauw,
William Robertson, Juan Bautista Muñoz oder Alexander von Humboldt zahlreiche Verweise auf Seuchen und Epidemien, insbesondere auf das gefürchtete
Gelbfieber, enthalten waren, stellt die Tatsache unter Beweis, daß auch in dieser Phase Phänomene der Globalisierung mit dem Erleben katastrophaler Seuchen verknüpft zu werden pflegten. Das Gelbfieber (yellow fever, vómito
negro), das sich bereits in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung seuchenartig insbesondere im karibischen Raum verbreitete,44 erlebte in der zweiten Phase eine erheblich beschleunigte Verbreitung, so daß an Bord britischer
Kriegsschiffe bald schon Maßnahmen ergriffen wurden, von denen 1761 ein
britischer Seeoffizier berichtete:
Täglich werden die Schießlöcher geöffnet. Bey trockenem Wetter wird das untere Verdeck
ausgefeget und ausgespühlt, bey feuchter Witterung aber trocken aufgescheuret, damit die
Balken, wo die Betten hängen, nicht schimmeln. Man brennet daselbst dürres Holz, worauf
Harz geworfen wird, von welchem Rauche nicht allein die Insekten getödtet, sondern auch
die üblen Dünste vertrieben werden.45
Die Furcht vor dem „gelben Fieber“ war weltweit enorm und erregte selbst im
provinziellen Berlin ein gewaltiges Publikumsinteresse, das kein Geringerer
als Heinrich von Kleist – der sich selbst aus guten Gründen mit dem besonders
furchterregenden Gelbfieber gesondert auseinandersetzte46 – im Jahre 1810 für
den Absatz seiner Berliner Abendblätter zu nutzen suchte. So heißt es etwa am
5. Dezember 1810:
Aus schweizerischen Nachrichten geht hervor, daß auf Kuba das gelbe Fieber „sehr stark
wüthet“. Aus Kopenhagen werden strengste Maßregeln der großköniglichen QuarantäneDirection „wegen der auf mehreren Punkten des Erdkreises herrschenden, ansteckenden
43 Zur Untersuchung dieser globalen Dimension vgl. die Akten des Wolfenbütteler Kolloquiums zur Histoire des deux Indes: Hans-Jürgen Lüsebrink/Manfred Tietz (Hg.): Lectures
de Raynal. L’„Histoire des deux Indes“ en Europe et en Amérique au XVIIIe siècle. Actes
du Colloque de Wolfenbüttel. Oxford: The Voltaire Foundation 1991. Vgl. hierzu
neuerdings den die Raynalschen Netzwerke beleuchtenden Band von Gilles Bancarel
(Hg.): Raynal et ses réseaux. Textes réunis et présentés par Gilles Bancarel. Paris: Honoré
Champion Editeur 2011.
44 Vgl. Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit, S. 972–986.
45 Zit. ebda., S. 978 f.
46 Vgl. Heinrich von Kleist: Kurze Geschichte des gelben Fiebers in Europa. In: Berliner
Abendblätter (Berlin) 19 und 20 (23. Januar und 24. Januar 1811), S. 73–75 und 77–79.
17
Krankheiten“ gemeldet. „Aus der deshalb erlassenen Verordnung geht hervor, daß die in
Otranto und Brindisi ausgebrochene Kontagion eine beulenartige Pest sei, die in den spanischen Seestädten Malaga und Carthagena herrschende hingegen scheint das gelbe Fieber zu
sein“.47
Die derartigen Eilmeldungen unmittelbar folgenden Maßnahmen nicht nur an
Bord von Kriegsschiffen, sondern ebenso in den Kolonien wie in den Mutterländern belegen, wie hoch der globale Vernetzungsgrad und ein von daher gesteuertes Weltbewußtsein bereits in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung waren. Nicht von ungefähr lassen sich gerade für die Zeit des zweiten
Globalisierungsschubs immer wieder Wellen der Ausbreitung von Gelbfieber
verfolgen, die schließlich auch zu den ersten für das Jahr 1768 belegten Fällen
in Afrika führen.48
Nicht immer aber reagierten die staatlichen Behörden schnell genug. So
wurden etwa die Konsequenzen aus den Berichten Alexander von Humboldts,
der den Begriff des Weltbewußtseins entscheidend geprägt hatte, auch im
weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht entschlossen genug gezogen.49
Auf seiner Reise war Humboldt selbst von einer Gelbfieberepidemie betroffen
worden, die sich nachweislich seit Ende des 18. Jahrhunderts aus der Karibik
bis hinein in den Mittelmeerraum ausgebreitet hatte. Diese Erfahrung, die notgedrungen zu einer grundlegenden Veränderung des Verlaufs seiner amerikanischen Forschungsreise führte, zeigte ihm mit ausreichender Deutlichkeit auf,
wie anfällig noch immer jene transozeanischen Verbindungen waren, die er
ein erstes Mal bei seiner Überfahrt von Spanien in die Karibik mit der Fregatte
Pizarro kennengelernt hatte. Und immer wieder bekam er auf seiner Reise zu
spüren, wie sehr die einst so stolzen spanischen Schiffe von der Allgegenwart
der britischen Seestreitkräfte abhingen. Es waren die Briten, die das Wettrennen der europäischen Mächte um die Herrschaft über die Weltmeere dank der
Übermacht ihrer Flotte längst für sich entschieden hatten.
Drei
Im Verlauf der dritten Phase beschleunigter Globalisierung tritt im
Zeitraum des letzten Drittels des 19. und dem ersten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts zu den europäischen Mächten erstmals eine außereuropäische, wenn auch kulturell, politisch und wirtschaftlich abendländisch geprägte
Macht hinzu, die sich erst in der vorhergehenden Phase ihrer kolonialen Abhängigkeit entledigt hatte: die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese dritte
Phase steht im Zeichen global geführter neokolonialer Verteilungskämpfe so47 Zit. nach Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit, S. 985. Dort findet sich eine
umfangreiche Zusammenstellung der von Kleist versammelten Meldungen des Jahres
1810.
48 Vgl. hierzu Jari Vainio/Felicity Cutts: Yellow Fever. Division of Emerging and Other
Communicable Diseases Surveillance and Control. Geneva: World Health Organisation
1998, S. 16–18.
49 Vgl. Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit, S. 985; das Kapitel ‘Alexander von Humboldts unbeachtete Beobachtungen’, S. 986–990.
18
wie von Prozessen abhängiger und ungleicher Modernisierung, die in unterschiedlich starkem Maße die verschiedensten Regionen des Planeten umformten. Es kommt während dieses Zeitraums in einem globalen Maßstab zur
Ausbildung divergierender Modernisierungskonzepte wie Modernisierungsprozesse, die es nicht länger erlauben, von der Moderne im Singular zu sprechen.
Diese dritte Phase steht folglich nicht nur im Zeichen eines unvollendeten
Projekts der Moderne50 oder des unvollendeten Projekts einer anderen Moderne51, sondern einer Fülle an Realisierungen unterschiedlicher Moderne-Projekte, die sich nicht allein im politischen und ökonomischen, sondern auch im
kulturellen Bereich – wie etwa in Lateinamerika mit dem hispanoamerikanischen modernismo und später dem brasilianischen modernismo der Avantgardisten – Gehör zu verschaffen suchten. Den prägenden sozioökonomischen
Kontext für diese Entwicklungen einer sich vervielfachenden Moderne52 und
divergierender Modernen aber bildet unstrittig jener sich im Zeitraum zwischen 1870 und 1914 deutlich beschleunigende Globalisierungsschub, bei dem
man durchaus mit Blick auf die weltweit verbundenen Handelsnetze von
einem multilateral modellierten „geschlossenen System“53 sprechen kann.
Auch wenn Modernisten wie der Kubaner José Martí – der wohl am frühesten die Konsequenzen dieser dritten Phase reflektierte – oder der Uruguayer José Enrique Rodó stimmgewaltig davor warnten: Auf dem amerikanischen Kontinent selbst kam es im Kontext des Aufbaus der American Sea
Power nun rasch zur Ausbildung einer kontinentalen Vorherrschaft der USA,
die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zusätzlich zu einer wirtschaftlichen
Präponderanz in der Karibik und Lateinamerika weithin sichtbar auch in häufigen militärischen Interventionen zum Ausdruck kam.
Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich nicht nur in der zweiten
Phase von der kolonialen Vormacht Großbritanniens befreit, sondern vermochten nun auch, sich dank ihrer technologisch weit überlegenen Kriegsflotte gegenüber der Führungsmacht der ersten Phase durchzusetzen. So
wurde die spanische Flotte 1898 mit ihren Verbänden vor Santiago de Cuba
und Manila in kürzester Zeit von den Panzerkreuzern der USA mitleidlos
versenkt, die nur einen günstigen Augenblick abgewartet hatten, um unter
einem Vorwand in den Unabhängigkeitskrieg Cubas gegen Spanien einzugreifen. Zugleich verwandelten die neuen, seit 1857 verlegten Überseekabel die militärische Auseinandersetzung zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten in der Karibik und auf den Philippinen in den ersten im eigentlichen Sinne globalen Medienkrieg der Weltgeschichte, hatte die
50 Vgl. hierzu Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980). In: ders.:
Kleinere politische Schriften (I-IV). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 444–466.
51 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Weltbewußtsein.
52 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): Multiple Modernities. New Brunswick, NJ: Transactions
Publ. 2002.
53 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 66.
19
Berichterstattung über Kriegshandlungen in den Medien der beteiligten
Länder doch unmittelbare Auswirkungen auf die strategische Ausrichtung
wie die jeweilige Kriegsführung vor Ort.
Die neuen, rascheren Kommunikationsmöglichkeiten, die erneut enorm
verbesserten nautischen und militärischen Technologien sowie die sich im
Vorfeld des Ersten Weltkriegs neu entwickelnde Interessenlage, in der nun
auch Deutschland – nach vergeblichen Versuchen Brandenburgs am Ausgang
des 17. Jahrhunderts – ernsthaft als Kolonialmacht aufzutrumpfen begann,
führten zu einer Situation, in welcher der Aufbau und Ausbau transarchipelischer Flottenstützpunkte und Transportmöglichkeiten von größter militärischer
und ökonomischer Bedeutung wurde. Die Flottenstützpunkte der USA im
Einflußbereich der neuen amerikanischen Hegemonialmacht ließen eine inselgestützte Struktur entstehen, die geeignet war, den politischen oder ökonomischen Interessen überall auf dem Kontinent, aber auch in der pazifischen
Einflußsphäre militärisch Nachdruck zu verleihen. Längst war das Dampfschiff ebenso in seiner zivilen wie in seiner militärischen Nutzung zum emblematischen globalisierenden Transportmittel avanciert.
In dieser dritten Phase beschleunigter Globalisierung läßt sich keine weitere
Sprache ausmachen, die zu den zuvor globalisierten Sprachen Europas hinzugetreten wäre. Alle Versuche, etwa das Deutsche in den vom noch jungen,
aber militärisch hochgerüsteten Kaiserreich abhängigen Überseegebieten in
Afrika oder Ozeanien durchzusetzen, waren aufgrund des schon bald wieder
zerstobenen Kolonialtraums zum Scheitern verurteilt. Doch läßt sich durchaus
eine gewisse globale Kräfteverschiebung zugunsten des Englischen und – damit verbunden – der angelsächsischen Kultur konstatieren, gegen die man unter der Fahne des Panslavismus, des Pangermanismus, vor allem aber des
Panlatinismus vehement aufzubegehren begann, war doch die bis zu diesem
Zeitpunkt unbestrittene Vormachtstellung der sich vom Lateinischen ableitenden Sprachen Französisch, Spanisch und Portugiesisch zunehmend zerbröckelt. Doch der Panlatinismus, der mit der ‘Erfindung’ Lateinamerikas54 um
die Mitte des 19. Jahrhunderts dem Vordringen der angelsächsischen Welt
massiven Widerstand entgegenzusetzen versuchte, geriet mit den Niederlagen
der Führungsmacht Frankreich im Krieg von 1870/71 gegen Preußen sowie
der Kolonialmacht Spanien 1898 gegen die USA in eine tiefe weltpolitische
Krise, welche die dritte Phase in ihrer Gesamtheit überschattet.
Auch mit dieser Phase beschleunigter Globalisierung ging eine vermehrte
Ausbreitung von Seuchen und Epidemien einher, wobei hier wohl in erster
54 Vgl. zur interessengeleiteten Idee Lateinamerikas sowie des Panlatinismus u.a. John
Leddy Phelan: Pan-Latinism, French Intervention in Mexico (1861–1867) and the Genesis
of the Idea of Latin America. In: Conciencia y autenticidad históricas. Escritos en
homenaje a Edmundo O’Gorman. Mexico 1968, S. 279–298; Joseph Jurt: Entstehung und
Entwicklung der LATEINamerika-Idee. In: Lendemains (Marburg) 27 (1982), S. 17–26;
sowie Miguel Rojas Mix: Bilbao y el hallazgo de América latina: Unión continental,
socialista y libertaria... In: Caravelle (Toulouse) 46 (1986), S. 35–47.
20
Linie die wellenartige Verbreitung der Pocken (smallpox) zu nennen wäre.
Der auf der Insel Lefkas als Sohn einer griechischen Mutter und eines britischen Militärarztes geborene, in Irland und England aufgewachsene und erzogene, lange Jahre in den USA und im karibischen Raum verbringende und
bis zu seinem Lebensende in Japan lebende Lafcadio Hearn55 – der viel von
transarchipelischen Beziehungen wußte – hat in eindrucksvollen Szenen dargestellt, von welch desaströser, mit Europa und den USA nicht vergleichbarer
Wirkung das Auftauchen der Pocken in der karibischen Inselwelt sein
konnte.56 In diesen literarisch anspruchsvollen, aber lange Zeit eher unbeachtet gebliebenen Szenen aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt
sich, wie zerbrechlich das dichte Netz an Schiffsverbindungen war, mußten
doch die Häfen wegen auftretender Pandemien für längere Zeit gesperrt werden. Gewiß waren die Pocken, die petite vérole beziehungsweise small pocks
bzw. pox,57 bereits in der ersten Globalisierungsphase bekannt und gefürchtet;
doch das „epidemiologische Wetterleuchten“58 des US-amerikanischen
Sezessionskrieges (1861–1865) hob noch einmal die ganze zerstörerische
Kraft dieser Seuche ins (weltöffentliche) Bewußtsein.
Gerade im spanischsprachigen Raum antworten Autoren wie der auf den
Philippinen aufgewachsene, später in verschiedenen Ländern Europas, in den
USA, Hongkong oder Japan lebende José Rizal oder sein ebenfalls weitgereister nicaraguanischer Schriftstellerkollege Rubén Darío auf die Herausforderungen des für sie unmittelbar wahrnehmbaren Globalisierungsschubs mit
originellen literarischen Schöpfungen und mit unterschiedliche Kulturen miteinander verbindenden Identitätsentwürfen zugunsten eines eigenen Weges in
der Moderne. Dabei verweisen die Korrespondententätigkeiten wie die Zeitschriftengründungen des Kubaners José Martí beispielhaft auf das Bestreben,
die Richtung des Wissenstransfers zwischen Neuer und Alter Welt umzukehren und die Wege des Wissens im Interesse eines zunehmend als „krisengeschüttelt“ und „krank“ dargestellten Lateinamerika auf globaler Ebene neu zu
gestalten.
Denn für diese Autoren zeichnete sich am Horizont der von ihnen erlebten
und dargestellten Beschleunigungsprozesse unzweifelhaft ab, daß der Meridian der politischen Macht, aber auch der künstlerischen Kraft und Potenz bereits in naher Zukunft von Europa nach Amerika überspringen würde. So galt
es, Vorkehrungen dafür zu treffen, einer neuen, weniger von asymmetrischen
55 Vgl. u.a. Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies. Oxford: Signal Books
2001; ders.: The ghostly Japan. London: Kegan Paul 1905; ders.: A Japanese Miscellany.
London: Kegan Paul 2005. Im vorliegenden Band soll vorwiegend auf seine auf die
amerikanische Inselwelt bezogenenen Schriften eingegangen werden.
56 Vgl. hierzu Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies. In: ders.: American
Writings. New York: The Library of America 2009, S. 340.
57 Vgl. Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit, S. 853. Zu dieser ersten Phase vgl. S. 853–
860.
58 Ebda., S. 892. Dort finden sich auch statistische Angaben zur Vakzination.
21
Abhängigkeitsbeziehungen geprägten Weltordnung den Weg (eines neuen,
anders perspektivierten Wissens) zu weisen.
Vier
Die aktuelle und noch unabgeschlossene vierte Phase beschleunigter
Globalisierung umfaßt die beiden letzten Jahrzehnte des 20. sowie (wohl) die
beiden ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts und wird insbesondere von einer
rasch zunehmenden Globalisierung der Finanzmärkte, dem Aufbau neuer den
Erdball umspannender Kommunikationssysteme in real time sowie der Überwindung eines binären, ideologisch motivierten Blocksystems charakterisiert.
Dies bedeutet keineswegs – wie die sich wieder verschärfenden und oftmals
religiös verkleideten Gegensätze zwischen ‘Orient’ und ‘Okzident’ in aller
Deutlichkeit zeigen –, daß wir damit kurz vor dem Durchbruch zu einer einheitlichen Weltgesellschaft stünden oder Grenzen zwischen Staaten obsolet
geworden wären. Denn auch die Zahl unabhängig gewordener Staaten auf unserem Planeten nimmt ständig weiter zu.
Inwieweit diesen Entwicklungen gerade im Kontext des neuen (da alten)
Gegensatzes zwischen ‘Osten’ und ‘Westen’ künftig vermehrt militärische
Aktionen an die Seite gestellt werden und diese ihrerseits die Funktion einer
self-fulfilling prophecy von Huntingtons berüchtigter These vom „Kampf der
Kulturen“59 einlösen, bleibt einstweilen abzuwarten. In jedem Falle erlaubt die
rasante Entwicklung computergestützter elektronischer Datenaustauschsysteme im Verbund mit ihrer weltweiten Vernetzung eine massenmediale Kommunikation nahezu in Echtzeit, was zu einer veränderten Wahrnehmung globaler politischer oder ökonomischer, vor allem aber auch kultureller und alltagskultureller Phänomene führt. Die populäre Rede vom Global Village freilich greift nur auf ganz bestimmten (und jeweils politisch gewollten) Ebenen.
Und wie zuvor Karavelle, Fregatte und Dampfschiff steht auch das Flugzeug,
dessen erste Entfaltung in die dritte Globalisierungsphase fällt und das in der
vierten Phase beschleunigter Globalisierung zum emblematischen Transportmittel im eigentlichen Sinne geworden ist, längst nicht allen Bewohnern des
Planeten zur Verfügung.
Der durch eine Vervielfachung des raschen Umschlags von Menschen, Waren und Ideen ausgelöste und kommunikationstechnologisch beschleunigte
Bewußtseinswandel, den man auch in Begriffen eines neuen Weltbewußtseins
durchbuchstabieren könnte, findet im Rahmen einer nicht mehr nur punktuell
verbundenen virtuellen Öffentlichkeit im globalen Maßstab statt und kommt in
der bereits erwähnten neuen Begrifflichkeit der Globalisierung zum Ausdruck,
einer diskursiven „Verweltgesellschaftung“60, in der sich jedoch bis heute die
strukturellen Asymmetrien der vorangehenden Phasen beschleunigter Globalisierung durchpausen. Die Phänomene der aktuellen Phase wird nur begreifen
können, wer die Bahnungen und Geschichten früherer Globalisierungsphasen
59 Vgl. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations.
60 Vgl. hierzu auch Mathias Albert: Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im
Kontext internationaler Vergesellschaftung.
22
so zu fassen vermag, daß die Globalisierungen unter der Globalisierung
strukturell hervortreten. Im Bereich der Literatur entspricht diesen Phänomenen eine an Intensität gewinnende Entwicklung von Literaturen ohne festen
Wohnsitz, auf deren Entfaltung ich bereits an anderer Stelle ausführlich eingegangen bin.61
Die neuen Kommunikations- und Speichertechnologien sind – wie die Entstehung des Internet oder von GPS leicht zeigen können – selbstverständlich
aufs Engste mit den militärischen Bedürfnissen und Strategien gekoppelt. Inseltechniken zur militärischen Beherrschung weiter Kontinente sind insofern
weiter verfeinert worden, als mit Flugzeugträgern oder U-Boot-gestützten Raketen mobile ‘Inseln’ geschaffen wurden, von denen aus riesige Territorien
kontrolliert, bedroht oder um Jahrzehnte ‘zurückgebombt’ werden können. Im
Bild des Flugzeugträgers, in dem sich gleichsam das Dampfschiff der dritten
und das Flugzeug der vierten Phase beschleunigter Globalisierung überschneiden, läßt sich die Inselstrategie des aktuellen technologischen Entwicklungsstands in aller historischen Tiefenschärfe vielleicht am eindruckvollsten vor
Augen führen.
Abb. 2: Weltkarte HIV/AIDS (2009).
Auch auf der Ebene von Seuchen und Epidemien sind zu den Globalisierungsängsten früherer Phasen analoge Bedrohungen entstanden, die sich insbesondere in Form von AIDS, als Ebola-Virus oder in unterschiedlichsten
Pandemien materialisieren. Am 5. Juni 1981 erschien im Mitteilungsblatt
Morbidity and Mortality Weekly Report der US-amerikanischen Seuchen61 Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2005.
23
überwachungsbehörde erstmals ein Bericht über die Erkrankung fünf
homosexueller Männer in Los Angeles; rasch folgten weitere Berichte aus
anderen Landesteilen.62 Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde spätestens
1985 unübersehbar; so hieß es etwa in einem öffentlichen Aufruf eines USamerikanischen Arztes: „Jedesmal, wenn wir etwas Neues über dieses Virus
oder den Verlauf der Krankheit lernen, erweitert es unsere schlimmsten Befürchtungen um eine neue Dimension.“63 Auch der Global Report des Jahres
2010 hielt nüchtern fest, daß Ende 2009 etwa 33,3 Millionen Menschen
weltweit mit dem HI-Virus infiziert sind – eine Steigerungsrate von 27 Prozent, vergleicht man diese Zahl mit jener des Jahres 1999, als man noch von
26,2 Millionen Infizierter ausging.64 Die Visualisierung dieser Entwicklung
auf den Weltkarten der WHO (Abb. 2) macht deutlich, daß AIDS – wie zuvor
Syphilis, Gelbfieber oder Pocken – ein Erleben globaler Zusammenhänge
fördert, dessen Intensität hinter der Wahrnehmung angenehmer, ‘positiver’
Aspekte von Globalisierung keineswegs zurücksteht. Entscheidend dabei ist:
Die mit Hilfe des Flugzeugs wesentlich schnelleren und zudem auch ‘punktgenaueren’ transkontinentalen Transportmöglichkeiten verbreiten entsprechende Viren binnen weniger Stunden weltweit, wobei die betroffenen Gebiete nun nicht mehr an den Außengrenzen (in Gestalt von Häfen oder
Grenzstädten) verortbar sind, sondern von Beginn an auch die zentralen Orte
des Binnenraums betreffen.
Dezentrale, rhizomatisch strukturierte Kommunikationsnetze vermögen –
wie die jüngsten Entwicklungen in vielen arabischen Ländern zeigen – autokratische Herrschaftsgebilde ins Wanken zu bringen, können von effizient
vorbereiteten Unterdrückungsmaschinerien – wie der Fall China zeigt – aber
auch behindert, lahmgelegt und entschärft werden.
Die Protagonisten dieser vierten Phase beschleunigter Globalisierung sind
zweifellos die USA und (mit sich derzeit abschwächender Tendenz) der Inselstaat Japan, aber auch – einmal mehr – Europa. Man mag sich mit Jürgen Habermas darüber wundern, daß sich Europa erneut unter den Führungsmächten
der Globalisierung befindet, habe die Weltgeschichte doch den großen Imperien stets nur eine einzige Chance geboten, was „für die Reiche der Alten
Welt wie für die modernen Staaten – für Portugal, Spanien, England, Frankreich und Rußland“, gelte.65 Doch sei Europa nun als Ganzem diese zweite
Chance zuteil geworden, wohlgemerkt unter der Voraussetzung, diese Chance
62 Vgl. Stefan Winkle: Geisseln der Menschheit, S. 605. Zur Entwicklung von Aids in den
achtziger Jahren vgl. S. 605–617.
63 Zit. ebda., S. 612.
64 Vgl. hierzu das zweite Kapitel in Global Report. UNAIDS Report on the Global AIDS
Epidemic: 2010. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) 2010. In:
<http://www.unaids.org/globalreport/documents/20101123_GlobalReport_full_en.pdf>
[7.9.2011]. Die Weltkarte der Aids-Verbreitung findet sich für das Jahr 2009 auf S. 23.
65 Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990). In: ders.: Faktizität
und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 651.
24
„nicht mehr im Stile seiner alten Machtpolitik“, sondern nur noch unter der
„Prämisse einer nicht-imperialen Verständigung“ und „des Lernens von anderen“ nutzen zu können.66
Amin Maalouf würde dieser Analyse von Jürgen Habermas zweifellos zustimmen, steht für ihn die Geschichte der Europäischen Union doch bei aller
notwendigen Kritik für die Hoffnung auf die konkrete und realistische Möglichkeit ein, jahrhundertealte Feindschaften und kriegerische Auseinandersetzungen dauerhaft überwinden zu können. Ob die Europäische Union in der
aktuellen Globalisierungsphase auch stets in der Lage war, auch auf der Ebene
der Weltpolitik alten imperialen Machtmechanismen zu entsagen, wird man
sicherlich sehr unterschiedlich beurteilen. Zugleich aber kann man in ihr den
Versuch erkennen, neue und stabile Rahmenbedingungen für die Entfaltung
eines ZusammenLebensWissens zu entwickeln, das allerdings keineswegs auf
das Territorium der Staaten der Union beschränkt bleiben darf. Amin Maalouf
hat hierfür vom Feld der Literatur und überdies von einer Position aus, die
gleichzeitig eine Innen- und eine Außenperspektive miteinander kombiniert,
wichtige Leitlinien für künftig weitsichtigere Konvivenzpolitiken formuliert.
Nach diesem ersten (notwendig gedrängten und in den nachfolgenden Kapiteln erheblich aufzufächernden) Durchgang durch vier Phasen beschleunigter Globalisierung scheint mir die Überzeugung evident, daß sich ohne die
Kenntnis der ersten Phase jene historischen, politischen, ökonomischen, kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen nicht verstehen lassen,
die in den unterschiedlichen geschichtswissenschaftlichen Traditionen Europas
entweder als „Neuzeit“ oder als modern times beziehungsweise les temps modernes bezeichnet zu werden pflegen. Die zweite Phase beschleunigter Globalisierung darf wiederum als eine der unmittelbaren Grundvoraussetzungen für
die Ausprägung der (abendländischen) Moderne angesehen werden, deren
Verzeitlichungsstrukturen und veränderte epistemologische Grundlagen sich
im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und insbesondere nach der US-Amerikanischen, der Französischen sowie der Haitianischen Revolution – wobei die
letztgenannte von den Zeitgenossen durchaus als freilich rasch wieder zu verdrängendes Paradigma empfunden wurde – manifestieren. Phasen beschleunigter Globalisierung sind Phasen historischer wie kultureller Verdichtung, in
denen langfristige Traditionsstränge und Tendenzen in eine unmittelbare
Wechselbeziehung zueinander treten, wobei den Fragen multi-, inter- und
transkultureller Beziehungen eine zentrale, wenn auch häufig unterschätzte
Bedeutung zukommt.
Dies gilt selbstverständlich auch für andere Konstellationen zwischen verschiedenen Globalisierungsschüben. Die Öffnung der abendländischen Moderne hin auf einen gemeinsamen und zukunftsoffenen Raum, mit dem sich in
den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Netzzeitalter technologisch wie kulturell konfigurierte, ist wiederum ohne eine Berücksichtigung
66 Ebda.
25
der als dritte Phase beschleunigter Globalisierung bezeichneten Prozesse –
insbesondere der Herausbildung divergierender Modernen – nicht umfassend
zu begreifen. Dabei treten neben die Globalisierung ‘von oben’ (insbesondere
der Finanzmärkte und des Kapitals) eine Globalisierung ‘von unten’ (auf der
Ebene massenhafter Migrationen und damit einhergehender fundamentaler
Globalisierungskritik) sowie eine ‘transversale’ Globalisierung (auf der Ebene
einer weltweit vernetzten Informations- und Wissensgesellschaft, deren
Zentren – lassen wir uns nicht täuschen – gleichwohl weiterhin in den USA
und teilweise in Europa liegen). Unter den Bedingungen dieser vierten Phase
sind China, Indien und wohl auch Brasilien zu global players geworden, die
künftig nicht nur im politischen und sozialen, sondern auch im ökonomischen
wie im kulturellen Bereich ein gewichtiges Wort mitzureden haben werden.
Gerade China dürfte sich aktuell in einer Position befinden, die in mancherlei
Weise mit jener der USA während des Zeitraums der dritten Phase verglichen
werden könnte. Daß der nächste, vielleicht noch für das 21. Jahrhundert zu
erwartende Globalisierungsschub sich notwendig allein des Englischen bedienen wird, ist angesichts der wachsenden Bedeutung asiatischer Märkte und
Mächte wenig wahrscheinlich.
Die Charakteristika der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung sind
zweifellos sehr spezifisch; doch sind sie weder spezifischer als jene vorausgegangener Phasen noch von jenen unabhängig. Nur dann, wenn man die aktuelle Globalisierung nicht als etwas völlig Neues, als eine creatio ex nihilo begreift, kann man die Lehren aus den vorangegangenen Phasen dieses Prozesses
ziehen. Dann erst verfügt man über die Möglichkeit, den seit der Expansion
Europas im ausgehenden 15. Jahrhundert beobachtbaren Bahnungen und
Vektorisierungen neue Wege sowie neue Wissensformen zu weisen, die an die
Stelle der aktuell zu konstatierenden Weltentregelung treten und Modelle und
Maßstäbe entwickeln könnten, wie sie für ein friedliches Zusammenleben in
Differenz unabdingbar sind. Auf der Suche nach diesen neuen Wegen, nach
diesem anderen Wissen sind die Literaturen der Welt – davon geht die vorliegende Arbeit aus – von unschätzbarem Wert. Denn ihr Wissen ist ein Wissen,
das nicht auf bestimmte Regionen oder Nationen begrenzt ist, sondern ganz
selbstverständlich einzelne kulturelle Areas überschreitet und sich in ständiger
Bewegung befindet.
Grundlagen für eine Poetik der Bewegung
Dringlicher denn je stellt sich heute daher die Aufgabe, nicht allein im
Bereich der Literaturwissenschaft, sondern weit darüber hinaus eine Poetik
der Bewegung voranzutreiben.67 Während in der bereits wieder historisch
gewordenen postmodernen Denkkonstellation die zeitlichen, in der
67 Auf diese Notwendigkeit habe ich aufmerksam gemacht am Ausgang von Ottmar Ette:
Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewusstsein und den Literaturen der Welt. In:
Sabine Hofmann/Monika Wehrheim (Hg.): Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 169–184.
26
europäischen Moderne so dominanten historisch-chronologischen
Fundamente unseres Denkens und unserer Wirklichkeitsverarbeitung
schwächer geworden sind, wurden zugleich räumliche Konzepte und
Denkweisen, aber auch Wahrnehmungsmuster und Erfahrungsmodi
aufgewertet und semantisch potenziert. Spätestens seit der zweiten Hälfte der
achtziger Jahre wurden neue Raumkonzepte entwickelt, die sich vielleicht am
überzeugendsten in den Entwürfen von Edward W. Soja68 niederschlugen.
Vor dem Hintergrund eines aus nachvollziehbaren historischen Gründen in
Deutschland problematischen Verhältnisses zum Raum vollzog die deutsche
Sonderkonjunktur einer Wendung zum Spatialen, wie sie etwa der Historiker
Karl Schlögel mit seiner Forderung nach einem „Spatial turn, endlich“69
erfolgreich propagierte, lediglich eine Ausrichtung nach, die im neuen
Jahrtausend angesichts der Entwicklungen im Bereich der unterschiedlichsten
turns70 sicherlich im internationalen Kontext nicht mehr als neu bezeichnet
werden kann.
Gewiß ist der hier nur kurz skizzierte Prozeß keiner, der innerhalb einer
postmodern geprägten Logosphäre gleichförmig gerichtet und widerspruchsfrei verlaufen wäre. Doch wurden die Diskussionen der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts – und dies bis in die Gegenwart hinein – ganz
wesentlich von geopolitischen, geokulturellen und geopoetischen Fragestellungen bestimmt, die keineswegs auf den cyberspace beschränkt blieben, sondern Verräumlichungen, mappings und remappings71 im Zeichen des
Postkolonialen oder des Zusammenstoßes der Kulturen hervorbrachten.
Vor diesem Hintergrund ließe sich selbst Samuel P. Huntingtons Vorstellung vom Clash of Civilizations noch einem – geokulturell und geostrategisch
gewendeten – spatial turn zuordnen, der eindeutig kontinental territorialisierenden Zuschnitts ist. Kartierungen und Neukartierungen zuvor vermeintlich
stabiler Front- und Grenzlinien sind seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Im
Sinne von Amin Maaloufs eingangs erwähnten Überlegungen wäre es aber
notwendig, diese – auf welcher Datenbasis auch immer fest-gestellten – Kartierungen in lebendige mobile mappings zu überführen, um der vorherrschenden Territorialisierung jeglicher Form von Alterität72 wirksam entgegentreten
zu können. Dazu aber bedarf es einer Poetik der Bewegung, die ausgehend
von der seismographischen, auf gegenwärtige wie auf künftige Erschütterun68 Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social
Theory. London: Verso 1989.
69 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik.
München/Wien: Carl Hanser Verlag 2003, S. 60.
70 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006.
71 Vgl. Wai Chee Dimock/Bruce Robbins (Hg.): „Remapping Genre“. In: PMLA – Publications of the Modern Language Association of America (New York) CXXII, 5 (october
2007), S. 1377–1570.
72 Vgl. hierzu auch Julia Kristeva: Etrangers à nous-mêmes. Paris: Gallimard 1991.
27
gen hinweisenden Funktion der Literaturen der Welt in der Lage wäre, Raumstrukturen aus der Perspektive der Bewegung neu zu verstehen und bewegungsgeschichtlich darzustellen.
Noch immer fehlt im Bereich der Philologie ein ausreichend ausdifferenziertes und präzises terminologisches Vokabular für Bewegung, Dynamik und
Mobilität.73 In der Regel haben wir es mit einer oft recht subtilen Kolonisierung von Bewegungen durch eine Flut an Raumbegriffen zu tun, welche die
Dynamiken und Vektorisierungen im Zeichen einer obsessiven Spatialisierung
fest-stellen und begrifflich reduzieren, indem sie die Dimension der Zeit74
geflissentlich übergehen. Der vorliegende Band geht von frühneuzeitlichen
mappings aus, die dieser Falle mit Hilfe verschiedener Verfahren entgehen,
um die Dynamiken des damaligen europäischen Expansionsprozesses adäquat
darstellen zu können.
Denn auf der Grundlage eines in rasanter Veränderung begriffenen vektoriellen Bildes der Welt entstand ein Weltbild, das in seinen geopolitischen wie
geokulturellen Grundzügen bis heute fortbesteht, zugleich aber verräumlicht
und kontinental territorialisiert wurde. Es ist beschämend zu sehen, wie weit
Samuel P. Huntingtons Weltkarte vom Ende des 20. Jahrhunderts hinter den
Entwurf eines Juan de la Cosa aus dem Jahre 1500 zurückgefallen ist, obgleich
sich nicht nur bei dem US-amerikanischen Politologen und Präsidentenberater,
sondern auch bei dem spanischen Protagonisten des Descubrimiento geopolitische Machtansprüche zuhauf finden lassen. Sind wir in unseren spätneuzeitlichen Welt-Bildern wirklich so viel weiter gekommen?
Der Armut an Bewegungsbegriffen entspricht in der Gegenwart eine
schädliche und verzerrende Reduktion raum-zeitlicher Entwicklungsprozesse
und Choreographien auf räumliche Standbilder und mental maps, die das dynamische Element gleichsam herausfiltern und zum Verschwinden bringen.
Spatialisierung aber hat einen hohen Preis, solange sie sich der Bewegung beraubt. Denn sie stellt fest, was nur aus der Bewegung – und als Bewegung –
Sinn erzeugt.
Erst die Bewegungen bringen mit ihren Mustern und Figuren, mit ihren
spezifischen Kreuzungen und Querungen, einen Raum im vollen (und nicht
nur im euklidischen) Sinne hervor. Können wir den Raum einer Stadt wirklich
begreifen, ohne ihn vektoriell zu erfassen? Können wir einen Vortragssaal in
seiner Funktion wirklich verstehen, wenn wir aus ihm die Bewegungen der
Vortragenden wie der Zuhörenden und Interagierenden herausfiltern? Begreifen wir die Qualität eines Konzertsaals, ohne in ihm je eine Aufführung erlebt
73 Dieser Problematik habe ich mich erstmals gestellt in Ottmar Ette: Literatur in Bewegung.
Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001.
74 Diese Argumentation beinhaltet keinerlei Rückkehr zu einer dominant Zeit-orientierten
Geschichtsauffassung, wie sie seit dem Entwicklungs- und Fortschrittsparadigma des
ausgehenden 18. Jahrhunderts in Europa vorherrschend wurde; vgl. hierzu Doris
Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 286.
28
zu haben? Können wir eine geokulturelle Area wirklich beschreiben und untersuchen, wenn wir die sie kreuzenden, durchlaufenden Bewegungen und
Migrationen einfach aus unserer Darstellung ausblenden?
Wer die Bewegungen aus seinem Untersuchungsgegenstand herausfiltert,
blendet das Leben aus. Gerade die offenen Strukturierungen der Literatur zeigen die Hoffnungslosigkeit eines solchen Unterfangens auf – und dies keineswegs nur im Bereich der Reiseliteratur. Walter Benjamins Passagen etwa bilden nicht nur Räume, sondern konfigurieren – ganz wie es das Passagen-Werk
bereits in seinem Titel anzeigt – mobile, vektorisierte Bewegungs-Räume, in
denen sich unter den Orten immer andere Orte, unter den Bewegungen immer
andere Bewegungen zu erkennen geben.
So wird ein Raum durch jeweils spezifische Bewegungsmuster und Bewegungsfiguren geschaffen, wobei die Kontinuität eines bestimmten Raumes von
der Kontinuität jener Choreographien und Bahnungen abhängt, die ihn überhaupt erst generieren. Brechen bestimmte Bewegungsmuster ab, brechen auch
die entsprechenden Räume mit ihren Abgrenzungen zusammen: ebenso auf
der Ebene architektonischer oder urbaner wie auf der Ebene nationaler oder
supranationaler Räume. Die Mobilität der Europa-Vorstellungen75, aber auch
die sich seit der sogenannten ‘Entdeckung’ von 1492 ständig verändernden
hemisphärischen Konstruktionen des amerikanischen Kontinents bieten hierfür
durch die Jahrhunderte ein reiches Anschauungsmaterial.76 Denn ist nicht der
spanischsprachige Raum, der überdies durch die komplexen transarchipelischen Beziehungen zwischen den Kanaren, der Karibik und den Philippinen in
seiner Mobilität hervortritt, ein globaler Bewegungs-Raum par excellence?
Diese und viele andere vergleichbare Fragen sollen im vorliegenden Band entfaltet und vielperspektivisch beantwortet werden.
Die Speicherung alter (und selbst künftiger) Bewegungsmuster, die in
aktuellen Bewegungen aufscheinen und von neuem erfahrbar werden, läßt sich
wohl am genauesten als Vektorisierung bezeichnen. Sie greift weit über das je
individuell Erfahrene und lebensweltlich Erfahrbare hinaus: Vektorisierung erfaßt gerade auch den Bereich der kollektiven Geschichte, deren Bewegungsmuster sie im diskontinuierlichen, vielfach gebrochenen post-euklidischen
Vektorenfeld künftiger Dynamiken speichert. Unter den gegenwärtigen Bewegungen – und hierauf zielt der Begriff der Vektorisierung in seinem epistemischen Kern ab – werden die alten Bewegungen wieder erkennbar und wahrnehmbar: Sie sind als Bewegungen in der festen Struktur wie in der mobilen
Strukturierung von Räumen allgegenwärtig. Räume können wir folglich nur
dann adäquat begreifen, wenn wir die Komplexität der sie konfigurierenden
Bewegungen und damit ihre spezifischen Dynamiken untersuchen und erfassen. Ist nicht die seit 1492 fest im kollektiven Wissen verankerte Bewegungs75 Vgl. hierzu Anne Kraume: Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent (1815–1945). Berlin/New York: Walter de Gruyter 2010.
76 Vgl. hierzu Peter Birle/Marianne Braig u.a. (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der
Amerikas. Frankfurt am Main: Vervuert 2006.
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form eines transatlantischen Kreises bis heute von grundlegender Bedeutung
für ein gleichsam spatialisiertes Verstehensmodell der Neuen Welt – und zwar
von Europa aus?
Es läge aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts, dem „Jahrhundert der
Migrationen“, Vertreibungen, Deportationen, Delokalisierungen und Bewegungen unterschiedlichster Art nahe, an die Stelle von Territorialisierung die
Vektorisierung, an die Stelle von Grenzziehungen die Grenzüberschreitungen
ins Zentrum zu rücken. Die Gründe für die Tatsache, daß dieser Weg von einer
in statischen Entitäten denkenden Epistemologie hin zu hochgradig dynamisierten Bewegungsmodellen kaum wirklich beschritten wurde, sind sicherlich
vielfältig und haben mit den Kohäsions- und Beharrungskräften akademischer
Institutionalisierungen zu tun.
Und doch hätte es im Bereich der Philologien umfangreichstes Anschauungsmaterial gegeben, das erst in neuester Zeit stärker in Augenschein genommen wurde. Gerade die im vergangenen Jahrhundert zu beobachtende
Entfaltung von Literaturen ohne festen Wohnsitz im Sinne translingualer und
transkultureller Schreibformen77 hat dazu geführt, daß alle produktions-,
distributions- und rezeptionsästhetischen Dimensionen und Aspekte in den
Literaturen der Welt weitaus radikaler als je zuvor „aus den (nationalphilologischen) Fugen“ geraten und folglich an rein nationalliterarische Bezugsräume allein nicht länger rückzubinden sind. Die längst beobachtbare fundamentale Vektorisierung aller Raum-Bezüge muß literatur- wie
kulturtheoretische Konsequenzen haben, die uns erlauben, die unterschiedlichen Phasen beschleunigter Globalisierung, aber auch die zwischengeschalteten Phasen globaler oder regionaler Entschleunigung, besser und präziser zu
fassen und zu erfassen.
Die Literaturen der Welt als das sicherlich komplexeste und zugleich die
unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen erschließende Speicher- und
Generierungsmedium von Wissen bieten uns hier eine Vielzahl an Lebensformen und Lebensnormen des Mobilen an, die uns erlauben sollen, unsere
Welt polyperspektivisch und polylogisch neu zu lesen, zu durchdenken und
durchzuerleben. Sie unterlaufen letztlich jeden Versuch, die Welt von einem
Punkt aus, von einem einzigen Ort des Schreibens aus allumfassend zu systematisieren. Anders als der von Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur
sind die Literaturen der Welt nicht von Europa her zentriert und statisch, sondern bilden ein hochdynamisches Kräftefeld, das von ständigen Wechseln
zwischen kulturellen Logiken, Sprachen und Koordinaten gekennzeichnet ist
und das nicht mehr allein von Europa aus gedacht und ‘bewertet’ werden
kann. Dabei bilden die translingualen Phänomene der Literaturen ohne festen
77 Vgl. hierzu Ursula Mathis-Moser/Birgit Mertz-Baumgartner (Hg.): La Littérature „française“ contemporaine. Contact de cultures et créativité. Tübingen: Gunter Narr Verlag
2007; Ursula Mathis-Moser/Julia Pröll (Hg.): Fremde(s) schreiben. Innsbruck: Innsbruck
University Press 2008; sowie Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne
festen Wohnsitz.
30
Wohnsitz zweifellos neue Herausforderungen für eine Theorie des Translationalen, die zunehmend aus dem alleinigen Anspruch einer linguistisch
konzipierten Übersetzungswissenschaft herausgetreten ist.78
Nicht nur auf (kollektive) Geschichte, sondern auch auf den Mythos greift
Vektorisierung in der Literatur zurück: auf jenes Reservoir an Mythen, Legenden und tradierten Bild- und Glaubensvorstellungen, dessen historisch akkumulierte und nur vermeintlich fixierte Bewegungen Literatur wieder in gegenwärtige Bewegungsabläufe ‘übersetzt’ und integriert. Um die europäische(n) Literatur(en) zu verstehen, müssen wir ebenso ein Europa in Bewegung79 als auch – aus transarealer Perspektivik – ein Europa als Bewegung80
in unsere Überlegungen miteinbeziehen und zugleich mit Blick auf die ‘Neue
Welt’ versuchen, die Entfaltung transarchipelischer Modellierungen und Verstehensmodelle voranzutreiben.
Erst aus einem derartigen Blickwinkel werden in der Literatur unter den
Bewegungen eines Protagonisten viele vorgängige Bewegungsmuster als
vektoriell gespeichert erkennbar. So werden beispielsweise unter Edouard
Glissants karibischem Entwurf der pazifischen Osterinsel81 nicht nur die Antillen, sondern Inseln im weltweiten Maßstab sichtbar: Inseln, die in ihren unterschiedlichen Logiken aufeinander verweisen und in diesem mobilen, vielfach
gebrochenen Netzwerk82 posteuklidische Verstehensprozesse von Bewegungen und Bewegungsräumen in Gang setzen. Wir führen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Denk- und Reisebewegungen aus, die wir programmieren, die uns programmieren und die zugleich von sehr weit her zu uns
gekommen sind. So verleihen beispielsweise der Auszug aus Ägypten oder die
Irrfahrt des Odysseus, aber auch die Verschleppung und Vergewaltigung der
Europa oder die sagenumwobene Fahrt des Columbus in die Neue Welt noch
den Migrationsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts ein zusätzliches
Sinnpotential, das selbst die einfachsten Choreographien semantisch auflädt
und verdichtet. Bewegungen sind vielfach mit Lebensprozessen verknüpft.
78 Vgl. hierzu Doris Bachmann-Medick: Introduction: The Translational Turn. In: Translational Studies (London) II, 1 (2009), S. 2–16; sowie Naoki Sakai: Translation and
Subjectivity. On „Japan“ and Cultural Nationalism. Minneapolis/London: University of
Minnesota Press 2009, S. 3 f.
79 Vgl. Klaus Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. München: Verlag C.H. Beck 2000.
80 Vgl. Ottmar Ette: Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa.
In: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich u.a. (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration,
Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 257–296.
81 Vgl. Edouard Glissant: La terre magnétique. Les errances de Rapa Nui, l’île de Pâques.
En collaboration avec Sylvie Séma. Paris: Seuil 2007.
82 Zur Epistemologie des Netzwerks in den Sozialwissenschaften vgl. auch Bruno Latour:
Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; sowie
Christian Stegbauer (Hg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma
in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
31
Nicht nur die vorgefundenen, sondern gerade auch die erfundenen Bewegungen prägen unser Leben, unser Denken, unser Handeln. Die Literaturen der
Welt legen diese Motionen (motions) und Emotionen (emotions) immer wieder polyperspektivisch frei und zeigen auf, was alles in unserem Leben lebt,
was alles in unserem Sprechen spricht.
Nicht nur die Worte unter den Worten83 oder die Orte unter den Orten, sondern gerade die Bewegungen unter den Bewegungen deuten auf die Verflochtenheit von Literatur und lebendiger Mobilität wie auf die zentrale Bedeutung
gespeicherter, vektorisierter Bewegungsmuster für ein Verständnis literarischer wie kultureller Prozesse. Das aus der Tradition der Nationalphilologien
heraus erklärbare weitgehende Fehlen von Bewegungsbegriffen hat für die
Literatur- und Kulturwissenschaften die Folge, daß sie sich heute der mobilen
mappings der Literatur erst wieder bewußt werden müssen, um die Herausforderungen und vielleicht mehr noch die Chancen zu begreifen, welche die seit
längerer Zeit bereits bestehende Krise der Regionalwissenschaften, der AreaStudies, ihnen bietet.
Ziel sollte es daher zunächst sein, nachhaltig für eine stärkere Ausrichtung
wissenschaftlicher Untersuchungen, die sich kulturellen und literarischen Phänomenen widmen, an Formen und Funktionen von Bewegung zu sensibilisieren und den Übergang von einer bloßen Raumgeschichte zu einer Bewegungsgeschichte zu bewerkstelligen. Hierzu bedarf es einer Begrifflichkeit, die bei
der Untersuchung hochgradig vektorieller Prozesse und Phänomene im Bereich der Literatur entwickelt wurde. Ich greife daher im folgenden auf eine
Terminologie zurück, die ich erstmals zusammenhängend im Kontext meiner
Untersuchung der Literaturen ohne festen Wohnsitz erprobt und erläutert
habe,84 um diese begrifflichen Werkzeuge selbstverständlich auch für Gegenstandsbereiche auszulegen, die über die Analyse literarischer Texte wie
auch die Behandlung ästhetischer, semantischer oder narrativer Grundfragen
von Literatur weit hinausreichen. Dazu soll im folgenden eine Reihe terminologischer Differenzierungen vorgenommen werden, die von der literaturwissenschaftlichen Analyse ausgehen, keineswegs aber auf diese beschränkt verstanden werden sollen.
Begrifflichkeiten:
Auf der disziplinären Ebene
Im Bereich der Area Studies sind Regionalforschungszentren traditionellen Zuschnitts als Einzeldisziplinen überschreitende Institutionen einerseits multidisziplinär und andererseits interdisziplinär
aufgestellt. Sie beruhen gewöhnlich einerseits auf einem multidisziplinären
Nebeneinander unterschiedlicher und jeweils disziplinär verankerter Einzelwissenschaften und andererseits auf einem interdisziplinären Dialog zwischen
den jeweiligen Vertreterinnen und Vertretern bestimmter Disziplinen im in83 Vgl. Jean Starobinski: Les mots sous les mots. Paris: Gallimard 1971.
84 Vgl. hierzu Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, S.
20–22.
32
stitutionellen Rahmen des jeweiligen Zentrums. Dieser recht statische, gleichsam ‘disziplinierte’ Aufbau sollte künftig durch transdisziplinäre Strukturierungen ergänzt werden, die nicht auf den interdisziplinären Austausch zwischen disziplinär fest verankerten Gesprächspartnern, sondern auf eine beständige Querung unterschiedlicher Disziplinen abzielen.
Dabei versteht es sich von selbst, daß die Entwicklungen und Ergebnisse
dieser ‘nomadischen’, im eigentlichen Sinne transdisziplinären Wissenschaftspraxis durch fortlaufende Kontakte (mono-)disziplinär und interdisziplinär
überprüft und abgesichert werden müssen. Eine sich ‘autonom’ setzende
Ebene transdisziplinärer Wissenschaft könnte eher kontraproduktive Wirkungen zeitigen. Im Kontext einer transdisziplinär agierenden, aber disziplinär jeweils verstrebten Wissenschaftspraxis können die unterschiedlichsten Wissensbereiche dynamisiert werden und wesentlich stärker sowie flexibler miteinander kommunizieren.
Analog zu dieser terminologischen Abgrenzung sollen in der Folge Begriffsbestimmungen eingeführt und in die Logik der jeweiligen Forschungsbereiche übersetzt werden, welche die soeben vorgeschlagenen Unterscheidungen auf den verschiedensten Analyseebenen mit Hilfe der vier genannten Präfixe „mono“, „multi“, „inter“ und „trans“ präzisieren. Ziel dieser Vorgehensweise ist die Schaffung einer hohen terminologischen Transparenz und Kohärenz, wobei weitere Ausdifferenzierungen selbstverständlich wünschenswert
und notwendig sind.
Eine verstärkt transdisziplinäre Ausrichtung ergibt mit Blick auf die Beziehungen zur Welt der Romania im übrigen nicht allein auf der Analyseebene,
sondern auch auf der Gegenstandsebene Sinn. So ist – um nur ein Beispiel zu
nennen – der disziplinäre Ort der Philosophie im spanischsprachigen Raum
aufgrund eines gegenüber der deutsch-, französisch- und englischsprachigen
Welt anders verlaufenen Ausdifferenzierungsprozesses ein anderer. Daher haben sich – wie etwa die Werke von Miguel de Unamuno, José Ortega y Gasset
oder José Enrique Rodó zeigen – Überschneidungsformen von Philosophie
und Literatur herausgebildet, denen im transarealen Zusammenhang der spanischsprachigen Welt auch eine andere Funktionalität innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Wissenszirkulation zukommt: auch und gerade dann, wenn
sich die drei erwähnten Autoren in intensiver Weise auf Friedrich Nietzsche
(und damit einen Vertreter der deutschsprachigen Philosophie) beziehen. Traditionelle disziplinäre Grenzziehungen werden den Dynamiken derartiger
transarealer Beziehungen in aller Regel nicht gerecht, beruhen sie doch auf
Exklusionsmechanismen, die keine Universalgültigkeit für sich beanspruchen
können. Auf der disziplinären Ebene ist folglich eine viellogische Vorgehensweise ratsam und den Gegenständen adäquat.
Auf der kulturellen Ebene
Mit Blick auf die Analyse kultureller Phänomene ist jenseits monokultureller Monaden zwischen einem multikulturellen
Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen, die sich in räumlicher Hinsicht
33
etwa in verschiedenen Vierteln oder Zonen einer Stadt ansiedeln, und einem
interkulturellen Miteinander zu unterscheiden, das Begegnungen jeder Art
zwischen den Angehörigen von Kulturen bezeichnet, die sich zwar austauschen, dabei aber nicht ihre jeweils vorherrschende Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Kultur oder kulturellen Gruppe in Frage stellen. Die transkulturelle Ebene grenzt sich – in kritischer Fortführung der bahnbrechenden Arbeiten des kubanischen Ethnologen und Kulturtheoretikers Fernando Ortiz aus
dem Jahre 1940 zur transculturalidad85 – von den beiden vorangegangenen
dann insofern ab, als es hier um unterschiedliche Kulturen querende Bewegungen und Praktiken geht: um ein ständiges Springen zwischen den Kulturen,
ohne daß sich eine stabile und beherrschende Zugehörigkeit oder Beziehung
zu einer einzigen Kultur oder kulturellen Gruppe beziehungsweise Konfiguration ausmachen ließe.
Transkulturelle Grenzgänge und Querungen sind in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung zweifellos auch weiterhin weltweit von wachsendem Gewicht und steigender Relevanz. Ihre Untersuchung sollte nicht auf die
Ausdifferenzierung mehr oder minder stabiler „Zwischenräume“, sondern auf
die Erkundung labiler Spielflächen von oszillierenden Bewegungsmustern und
Kippfiguren abzielen. Gerade mit Blick auf die Zirkulationsprozesse und Interdependenzen zwischen Frankophonie, Hispanophonie, Lusophonie und
Anglophonie ließe sich festhalten, daß eine Analyse der bisherigen vier Phasen
beschleunigter Globalisierung es nicht länger erlaubt, (scheinbar) monadische
gegenüber nomadischen Konzeptionen zu bevorzugen. Zwischen den italienischen Insularien an der Wende zum 16. und den global icons in der Kunst
eines Ai Weiwei an der Wende zum 21. Jahrhundert, zwischen den reiseliterarischen Formgebungen eines al-Hassan al-Wazzan alias Johannes Leo Africanus aus der ersten und jenes eines Jean-Marie Gustave Le Clézio aus der vierten Phase beschleunigter Globalisierung werden im vorliegenden Band
transkulturelle Erprobungsräume untersucht, die uns in variierenden transarealen Perspektivierungen die Welt von gestern anders und die Welt von
morgen kühner und phantasievoller verstehen lassen.
Auf der sprachlichen Ebene
In sprachlicher Hinsicht ließe sich jenseits
einer monolingualen Situation, bei der die Logosphäre von einer bestimmten
Sprache ausschließlich dominiert wird, prinzipiell zwischen einem multilingualen Nebeneinander verschiedener Sprachen und Sprachräume, die keine
oder nur geringe Überlappungen aufweisen, und einem interlingualen Miteinander unterscheiden, bei dem zwei oder mehrere Sprachen intensiv miteinander in Verbindung stehen und kommunizieren. Anders als bei einer intralingualen Übersetzung, die man im Sinne Roman Jakobsons als ein rewording
85 Vgl. Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Prólogo y Cronología
Julio Le Reverend. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978.
34
innerhalb derselben Sprache bezeichnen könnte,86 überträgt eine interlinguale
Übersetzung von der einen in die andere Sprache, wobei beide Sprachen klar
voneinander geschieden sind, nicht miteinander verwechselt werden können
und voneinander getrennt bleiben wollen. Von der multilingualen und interlingualen läßt sich wiederum eine translinguale Situation abgrenzen, wobei
hiermit ein unabschließbarer Prozeß ständiger Sprachenquerung gemeint ist.87
Zwei oder mehrere Sprachen sind dabei nicht mehr ohne weiteres voneinander
zu scheiden, sondern durchdringen sich wechselseitig so, daß neue translinguale Gestaltungsformen entstehen.
Bezogen auf das literarische Schreiben würde eine translinguale Praxis
folglich das Hin- und Herspringen eines Autors zwischen verschiedenen Sprachen ebenso im Rahmen seines gesamten Werkes wie auch innerhalb eines bestimmten Einzeltextes bezeichnen. Wie weitgespannt die Hoffnungen sein
können, die sich mit einer darauf bezogenen konkreten Sprachenpolitik verknüpfen, belegt Amin Maalouf in einer seine eigenen sprachpolitischen Aktivitäten reflektierenden Passage seines jüngsten Essays:
Würde man bereits von Kindesbeinen an und ein ganzes Leben hindurch alle Menschen
dazu ermutigen, sich für eine andere als die eigene Kultur und für eine Sprache zu begeistern, die frei und ganz den eigenen Vorlieben entsprechend gewählt werden könnte –
und die auf noch intensivere Weise studiert würde als das unverzichtbare Englisch –, dann
wäre das Ergebnis ein dichtes kulturelles Gewebe, das den gesamten Planeten überzöge, insofern es die furchtsamen Identitäten stützen, die Abneigungen schwächen, Stück für Stück
den Glauben an die Einheit des Abenteuers der Menschheit stärken und aus all dem einen
heilsamen Ruck erzeugen würde.88
Die herausragende Bedeutung translationaler Fragestellungen für die Entfaltung der Literatur- und Kulturwissenschaften89 erweist sich auf der von Goethe
mit seinem Begriff der Weltliteratur mitbedeuteten Ebene von Übersetzungen
in einem planetarischen Maßstab, aber sicherlich auch in einer kontinentalen
Dimension im Kontext der hemisphärischen Konstruktionen der Amerikas.
Die translinguale Dynamik der Literaturen der Welt im allgemeinen und der
Literaturen ohne festen Wohnsitz im besonderen hat längst auch zu
Entwicklungen geführt, die uns – denken wir etwa an die Romane von Autoren wie Daniel Alarcón oder Junot Díaz – mit einer hispanoamerikanischen
Literatur in englischer Sprache konfrontieren, die nicht simpel in die USA
‘ausgelagert’ oder der US-Amerikanistik überantwortet werden kann.
86 Vgl. Roman Jakobson: On linguistic aspects of translation. In: ders.: Selected Writings. II.
Word and Language. The Hague/Paris: Mouton 1971, S. 260.
87 Zu einer alternativen Begriffsdefinition vgl. Lydia H. Liu: Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity - China, 1900–1937. Stanford: Stanford
University Press 1995.
88 Amin Maalouf: Le dérèglement du monde, S. 106 f.
89 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Introduction: The Translational Turn, S. 2–16.
35
Translationale Prozesse durchziehen unsere gegenwärtigen Literaturen der
Welt – auch im deutschsprachigen Bereich. Herta Müller oder Melinda Nadj
Abonji haben als (durchaus zunächst mit Erstaunen aufgenommene) Trägerinnen des Literaturnobelpreises sowie des Deutschen Buchpreises diese Problematik der Wörter unter den Wörtern, der Orte unter den Orten, der Sprachen
unter den Sprachen, endgültig wohl auch im öffentlichen Bewußtsein einer
deutschsprachigen Leserschaft einschließlich ihrer Literaturkritiker verankert.
Neue Bewegungs-Räume sind entstanden, für die statische nationalliterarische
Konzepte mit Sicherheit zu kurz greifen. Auch die literaturwissenschaftlichen
Studien der Hispanophonie und der Lusophonie, in noch stärkerem Maße aber
wohl der Frankophonie und Anglophonie sehen sich hier neuen Herausforderungen gegenüber, die nur mit Hilfe einer Poetik der Bewegung und einer
vektoriell reflektierten Begrifflichkeit für ein besseres Verständnis nicht nur
der Gegenwartsliteraturen in einem weltweiten Maßstab fruchtbar gemacht
werden können. Die in diesem Band versammelten Literaturen im Zeichen
von vier Phasen beschleunigter Globalisierung halten hierfür zahlreiche Beispiele bereit.
Auf der medialen Ebene
Mit Blick auf die mediale Konstellation könnte
analog zur bislang entwickelten Terminologie – und jenseits monomedialer
Kontexte – zwischen einer multimedialen Situation, in der eine Vielzahl von
Medien nebeneinander besteht, ohne daß es zu größeren wechselseitigen
Überschneidungen und Kontaktfeldern käme, und einer intermedialen Situation unterschieden werden, wobei in der letztgenannten verschiedene Medien
intensiv miteinander korrespondieren und dialogisieren, ohne aber ihrer je eigenen Unterscheidbarkeit und Trennschärfe verlustig zu gehen. In einer
transmedialen Situation hingegen durchdringen und queren sich unterschiedliche Medien in einem unabschließbaren Prozeß ständiger Grenzüberschreitung,
Kreuzung und ‘Übertragung’, wie dies bei Ikonotexten und Phonotexten – also
transmedialen Verschränkungen, bei denen sich die Texte und die Bilder beziehungsweise Klänge nicht gegenseitig ‘illustrieren’, sondern wechselseitig
transformieren – auf exemplarische Weise der Fall ist.
Aus einem derartigen Transfer- und Transformationsprozeß heraus sollen
auch die jeweiligen visuellen Anfänge der vier Hauptkapitel verstanden werden, handelt es sich doch nicht um ‘bloße’ Illustrationen, sondern um komplexe Verschränkungen von Bild und Schrift, bei denen weder das Bild die
Schrift noch die Schrift das Bild ‘illustrieren’ soll. Jedes transmediale incipit
zielt darauf ab, die angestrebte Sichtbarmachung als einen Prozeß wechselseitiger medialer Transformation sinnlich erfahrbar zu machen und komplexe
Verknüpfungen zum Vorschein zu bringen, welche die Literaturen der Welt
mit unterschiedlichsten künstlerischen Formen verbinden.
Selbstverständlich gilt hier wie in den zuvor genannten Definitionsbereichen, daß sich multi-, inter- und transmediale Phänomene weder in räumlicher
noch in zeitlicher Hinsicht stets ‘sauber’ voneinander abtrennen lassen. Die
36
hier angestrebte definitorische Transparenz und Stringenz zielt jedoch darauf
ab, gerade auch derartige Überlappungszonen und Überschneidungen in einem
zweiten Schritt hinzuweisen, um sie sodann mit höherer Auflösung und Genauigkeit untersuchen und weiter differenzieren zu können. Ziel ist nicht die
Kartierung statischer Wurzeln (roots), sondern ein möglichst präzises Verstehen der unabschließbaren Prozeßhaftigkeit dynamischer Wege (routes) in Literatur und Kultur: eine bewegungsgeschichtliche Dimension, die im transmedialen Hin-und-Her vermittelt werden soll.
Auf der zeitlichen Ebene
Innerhalb des hier vorgestellten terminologischen Rasters ließe sich auch die Dimension der Zeit in ihrer Prozessualität in
ähnlicher Weise begrifflich strukturieren. Betreffen multitemporale Prozesse
das Nebeneinander verschiedener Zeitebenen, die unabhängig voneinander
existieren und ‘ablaufen’, so sollen intertemporale Prozesse eine ständige
wechselseitige Korrespondenz und Kommunikation zwischen verschiedenen
Zeitebenen bezeichnen, die sich weder miteinander vermischen noch miteinander verschmelzen. Transtemporale Prozesse oder Strukturierungen beziehen
sich dann auf ein unablässiges Queren unterschiedlicher Zeitebenen, wobei ein
derartiges Verweben von Zeiten eine höchst eigene Zeitlichkeit erzeugt, die in
ihrer Transtemporalität gerade auch transkulturelle oder translinguale Phänomene stark in den Vordergrund rückt und entsprechende Austauschprozesse
auszulösen vermag. Die Intensivierung transtemporaler Vielverbundenheit ist
weder ein Privileg der Gegenwart noch der Gegenwartsliteraturen.
Bezüglich der Dimension der Zeit und ihrer Periodisierung kann an dieser
Stelle auf die bereits vorgestellten vier Phasen beschleunigter Globalisierung
hingewiesen werden, die für die zeitliche Strukturierung ökonomischer, politischer und sozialer, vor allem aber auch kultureller Prozesse im Zeichen von
Kolonialismus und Postkolonialismus von größter Relevanz sind. Diese Phaseneinteilung bildet die inter- wie transtemporale Grundstrukturierung des
vorliegenden Bandes. Diese sehr unterschiedlichen, und doch miteinander eng
verbundenen Beschleunigungsphasen haben gerade in der ‘Neuen Welt’ – und
diese zeitliche Bestimmung Amerikas ist keineswegs zufällig –, aber auch
etwa in Ozeanien verschiedenartigste Zeitkonzeptionen gegeneinander geführt
und miteinander verflochten. Diese zeitlichen Differenzierungen gilt es gerade
auch in ihrer Zusammengehörigkeit innerhalb der kolonialen Studien der spanischsprachigen Welt noch schärfer zu profilieren. Transkulturelle Prozesse
erzeugen zumeist auch transtemporale Formen und Normen des Erlebens:
eines Erlebens, das durch die intellektuelle Auseinandersetzung mit neuen,
präzisen Begrifflichkeiten weiter geschärft und intensiviert werden kann.
Auf der räumlichen Ebene
Es dürfte in diesem Zusammenhang kaum
überraschen, daß sich auch mit Blick auf die Raumstrukturen eine Unterscheidung zwischen einem multispatialen Nebeneinander höchst berührungsarmer
Räume und einer interspatialen Struktur miteinander intensiv korrespondie37
render, aber nicht verschmelzender Räume vornehmen läßt. Transspatiale
Strukturierungen wiederum sind von ständigen Querungen und Kreuzungen
verschiedenartiger Räume und damit von einem Bewegungsmuster geprägt, das
in der Folge begrifflich noch sehr viel stärker entfaltet und präzisiert werden soll.
Dabei sei an dieser Stelle nochmals an die Tatsache erinnert, daß Räume
durch Bewegungen und spezifische Bewegungsmuster90 hervorgebracht werden, so daß auch in der Folge selbstverständlich nicht von einem statischen
Raumbegriff ausgegangen werden kann. Der innerhalb der Entwicklung der
hispanoamerikanischen Romangeschichte so wichtige Periquillo Sarniento
von José Joaquín Fernández de Lizardi mag mit seiner diegetischen Koexistenz multispatialer, interspatialer und transspatialer Räume belegen, wie komplex die Raummodelle sind, welche die Literaturen des spanischsprachigen
Amerika schon früh hervorgebracht haben.91 Denn die scharfe Asymmetrie
transatlantischer Beziehungen, welche gerade die beiden ersten Phasen beschleunigter Globalisierung prägt, hat Räume generiert, die – denkt man allein
schon an den Antagonismus zwischen Stadt und Land – von einer höchst unterschiedlichen Vektorizität gekennzeichnet waren. Dies aber schlägt sich auf
der Ebene spezifischer Bewegungsfiguren nieder.
Auf der choreographisch-literarischen Ebene
Ausgehend von einer
Analyse reiseliterarischer Schreibpraktiken,92 deren Ergebnisse sich oftmals
als friktionale, mithin zwischen fiktionalen und diktionalen Schreibformen oszillierende Texte verstehen lassen, können zunächst verschiedene Dimensionen des Reiseberichts – neben den drei Dimensionen des Raumes jene der
Zeit, der Sozialstruktur, der Imagination, des literarischen Raumes, der Gattungsbezüge und des kulturellen Raumes – voneinander abgegrenzt werden.
In einem zweiten Schritt lassen sich dann verschiedene reiseliterarische
Orte – insbesondere Abschied, Höhepunkt, Ankunft oder Rückkehr – als Passagen von besonderer semantischer Verdichtung voneinander abgrenzen und
differenzieren. Diese Orte sind ihrerseits einbezogen in grundlegende Bewegungsfiguren, die – wie etwa Kreis, Pendel, Linie, Stern oder Sprung – die
hermeneutischen Verstehensbewegungen auf seiten des Lesepublikums vorgeben und gleichsam choreographisch vor Augen führen. Die Literaturen der
Welt greifen ständig auf all diese über Jahrtausende in unterschiedlichen kulturellen Kontexten gespeicherten Bewegungsmuster zurück.
Diese bereits vor einigen Jahren eingeführten begrifflichen Unterscheidungen sind gerade für die Untersuchung des höchst komplexen Bereichs einer
90 Eine Abfolge von grundlegenden Bewegungsmustern in der Literatur wird entfaltet in
Ottmar Ette: Literatur in Bewegung.
91 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Fernández de Lizardi: „El Periquillo Sarniento“. Dialogisches
Schreiben im Spannungsfeld Europa – Lateinamerika. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXII, 1–2
(1998), S. 205–237.
92 Vgl. hierzu ausführlich Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 21–84.
38
Globalisierungsgeschichte der Literatur beziehungsweise der Untersuchung
von Phasen beschleunigter Globalisierung von großer Relevanz, erlauben sie
doch eine in der Regel intersubjektiv leicht überprüfbare raum-zeitliche Präzisierung und Konkretisierung von Textanalysen. Die vektorielle Dimension von
Literatur konfiguriert dabei Bewegungs-Räume, die sich keiner Logik der
Still-Stellung, keiner reduzierenden zweidimensionalen Verräumlichung mehr
unterwerfen lassen, sondern die mobile Strukturierung allen literarischen Wissens nachvollziehbar, ja trajektoriell nacherlebbar gestalten.
Die Analyse der Bewegungen unter den Bewegungen (in) der Literatur belegt höchst anschaulich, in welch grundlegendem Maße Räume erst durch
Bewegungen, durch motions und emotions, gebildet werden. Das hier in aller
gebotenen Kürze vorgestellte Begriffsmodell soll im vorliegenden Band für
die Entfaltung einer Literatur- und Kulturwissenschaft fruchtbar gemacht werden, die sich als Kernstück einer Poetik der Bewegung versteht.
Auf der bewegungsgeschichtlichen Ebene
Um gerade auch gegenüber
raumgeschichtlichen Vorstellungen bewegungsgeschichtliche Konzepte und
Modelle terminologisch genauer und griffiger entwickeln zu können, bedarf es
notwendig einer terminologischen Präzisierung der Verhältnisse von Kultur
und Sprache, Raum und Zeit, Medium und Disziplin, um die eigentlichen Bewegungen im Raum mit Blick auf die Generierung einer Poetik der Bewegung
präziser fassen zu können. Dabei sollen auf der bewegungsgeschichtlichen
Ebene vor allem fünf verschiedene Gradierungen voneinander unterschieden
werden, um die jeweilige Tragweite der entsprechenden Relationalität plastischer zu perspektivieren.
Bewegungen auf einem translokalen Niveau siedeln sich zwischen urbanen
oder ruralen Orten und Räumen von begrenzter Ausdehnung – im Sinne von
Bharati Mukherjees landscapes and cityscapes93 – an, wobei es hier zu einer
offenkundigen, bisweilen weite, dazwischen liegende Territorien überspannenden Diskontinuität der Bewegungen kommt, so daß wir es häufig mit Verbindungen zu tun haben, wie sie entfernt auseinander liegende, aber miteinander verbundene Inseln charakterisieren.
Demgegenüber situieren sich Bewegungen auf einem transregionalen Niveau zwischen bestimmten landschaftlichen und/oder kulturellen Räumen, die
entweder unterhalb der Größe einer Nation angesiedelt sind oder sich als überschaubare Einheiten zwischen verschiedenen Nationalstaaten ausgliedern lassen. Der Begriff der „Region“ wird hier ausdrücklich nicht mit jenem der
„Weltregion“ verwechselt, wie dies beim konventionellen Term der „Regionalwissenschaft“ und allen sich daraus ableitenden Komposita in oftmals verwirrender Weise der Fall ist.
93 Vgl. Bharati Mukherjee: Imagining Homelands. In: André Aciman (Hg.): Letters of Transit. Reflections on Exile, Identity, Language, and Loss. New York: The New Press 1999,
S. 65–86.
39
Transnational sind dieser Begrifflichkeit entsprechend Bewegungen zwischen verschiedenen nationalen Räumen beziehungsweise Nationalstaaten,
während sich transareale Bewegungen zwischen unterschiedlichen Areas –
wie etwa der Karibik, dem Maghreb oder Südostasien – situieren, wobei der
Begriff der Area wie in der geläufigen Bezeichnung der sogenannten Area
Studies durchaus unterschiedlich genutzt wird und ebenso eine Weltregion wie
einen spezifischen Kulturraum bezeichnen kann. Beim Rückgriff auf den Begriff des Transnationalen gilt es zu berücksichtigen, daß er – anders als beim
Term „transareal“ – die Existenz der Nation voraussetzt, so daß etwa eine
„transnationale Literatur“ oder „transnationale Literaturwissenschaft“ im
eigentlichen Sinne nur im Kontext eines weit fortgeschrittenen Nationbildungsprozesses gedacht werden können. Demgegenüber siedeln sich transkontinentale Bewegungen zwischen verschiedenen Kontinenten wie etwa
Asien oder Australien, Afrika, Amerika oder auch Ozeanien an, wobei die
geographischen Grenzen des nur im übertragenen Sinne als Kontinent zu bezeichnenden Europa und seiner verschiedenen Regionen sicherlich am unbestimmtesten sind.94
Daß Dynamiken auf den einzelnen Niveaus gleichsam nach ihrem Bewegungstyp etwa in multi-, inter- und transnationale Prozesse untergliedert werden können, läßt sich im Kontext des hier vorgeschlagenen Begriffsmodells
leicht nachvollziehen. Analog hierzu sind im Sinne der gewählten terminologischen Kohärenz und Transparenz die weiteren begrifflichen Applikationen
entsprechend leicht zu bilden.
Zur Konstituierung und Semantisierung von Lebens-Räumen tragen Bewegungen (auch im Sinne von Motionen und Emotionen) ganz entscheidend bei,
ist doch die interne Relationalität innerhalb eines gegebenen Raumes in ihrem
Verhältnis zu einer externen Relationalität, die einen bestimmten Raum mit
anderen verbindet, von erheblicher Relevanz. Interne und externe Relationalität sind hierbei getrennt voneinander zu untersuchen, aber stets aufeinander zu
beziehen.
Wofür transareale Studien?
Auf der Grundlage des zuvor skizzierten bewegungsgeschichtlichen Perspektivenwechsels, der vektorisierten Vervielfachung von Logiken und Blickpunkten sowie des bereits beschriebenen begrifflichen Instrumentariums lassen sich die enormen Möglichkeiten und Reichweiten transarealer Studien
sicherlich leicht nachvollziehen. So dürfte man – um bereits ein für diesen
Band wichtiges Beispiel zu nennen – die Karibik in ihrer Spezifik nur dann
adäquat verstehen, wenn man nicht allein ihre interne, archipelische Relationalität vielfältiger Kommunikationen zwischen ihren Inseln und Archipelen,
sondern auch die Dynamiken der externen Relationalität in ein weltweites Pa94 Vgl. Maria Todorova: Wo liegt Europa? Von der Einteilung eines Kontinents und seinen
historischen Regionen. In: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin (Berlin) 2004–
2005 (2006), S. 294–316.
40
norama miteinbezieht. Dies sollte unter dem Gesichtspunkt des Transarchipelischen ebenso mit den Kanaren beziehungsweise den Philippinen wie mit
Blick auf die sich wandelnden Beziehungen zu verschiedenen europäischen
(Kolonial-)Mächten geschehen. Denn wie etwa das Beispiel des Black Atlantic95 und die Zwangsdeportation von Millionen von Sklaven zeigt, ist es unumgänglich, auf der Ebene der externen Relationalität die jeweiligen Besitzungen
dieser Kolonialmächte in Afrika, Asien oder Ozeanien, in den Amerikas oder
in der arabischen Welt miteinzubeziehen, um die ganze Komplexität kolonialer und imperialer Biopolitiken transareal – und damit zugleich bewegungsgeschichtlich – erfassen zu können. Von welch großer historischer und kulturtheoretischer Bedeutung diese weltweiten Verbindungen sind, hat der aus
Mauritius stammende Kulturtheoretiker und Dichter Khal Torabully in seinen
Reflexionen über die indischen Coolies und dem sich daraus ableitenden Begriff der Coolitude eindrucksvoll aufgezeigt.96
Wird ein Raum also durch die auf ihn bezogenen Bewegungen in der Vergangenheit, in der Gegenwart wie (prospektiv) in der Zukunft in wesentlicher
Weise herausgebildet und modelliert, so ist die Kombinatorik zwischen den
fünf hier voneinander unterschiedenen Gradierungen höchst aussagekräftig für
politische, kulturelle oder spezifisch literarische Phänomene, die ohne diese
Bewegungen nicht adäquat zu denken wären und beschrieben werden können.
TransArea zielt darauf ab, weltweite Relationalität ebenso in einem internen
wie in einem externen Verflochtensein so zu perspektivieren, daß Europa keineswegs im Schnittpunkt oder gar im Fokus der unterschiedlichsten Bewegungsfiguren stehen muß. Im Gegenteil: Transareale Studien interessieren sich
in besonderer Weise für Süd-Süd-Relationen, wie sie seit Beginn der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung und den ersten Sklavenmärkten der
‘Neuen Welt’ an der Tagesordnung sind. Daß diese Phänomene und Prozesse
rücksichtsloser Ausplünderung im übrigen auch für ein Verständnis der Entwicklungen im globalen Norden von enormem Wert sind, muß an dieser Stelle
gewiß nicht mehr betont werden.
Am Beispiel der Istanbul-Berlin-Trilogie97 der in der Türkei geborenen
und zu den renommiertesten deutschsprachigen Autorinnen zählenden Emine
Sevgi Özdamar konnte in einer früheren Studie98 bereits gezeigt werden, wie
sich translokale urbane Bewegungen zugleich in einem transnationalen und
transarealen Bewegungs-Raum anordnen, verweisen die Pendelbewegungen
95 Vgl. neben dem bereits angeführten ‘Klassiker’ von Paul Gilroy auch den Band Der Black
Atlantic. Herausgegeben vom Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina
Campt und Paul Gilroy. Berlin: Haus der Kulturen der Welt 2004.
96 Vgl. Khal Torabully: Cale d’Etoile – Coolitude. La Réunion: Editions Azalées 1992;
sowie Marina Carter/Khal Torabully: Coolitude. An Anthology of the Indian Labour
Diaspora. London: Anthem Press/Wimbledon Publishing Company 2002.
97 Emine Sevgi Özdamar: Sonne auf halbem Weg. Die Istanbul-Berlin-Trilogie. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 2006.
98 Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, S. 181–
203.
41
der Protagonistin zwischen dem europäischen und dem asiatischen Ufer Istanbuls doch schon immer auf jene Bewegungen voraus, welche die junge Frau
im zweigeteilten Berlin zwischen Osten und Westen ausführen wird. Wie sehr
in den sich überlagernden Bewegungsfiguren auf experimentelle Weise neue
vektorielle Konzeptionen von Großstädten entstehen, läßt sich dabei auch anhand von Erzähltexten Assia Djebars, Yoko Tawadas oder Cécile Wajsbrots99
– um nur einige der vielen möglichen Beispiele zu nennen – aufzeigen. Die
im vorliegenden Band anhand immer wieder anderer Beispiele und Phasen
verfolgten transarchipelischen Beziehungen weiten diese transareale Perspektivik in einen globalisierten Zusammenhang aus.
Ziehen wir dazu in aller Kürze noch ein zusätzliches transareales Beispiel
heran. Denn kaum weniger komplex als Emine Sevgi Özdamars Trilogie ist
die Diegese des im Jahre 1999 erschienenen Romans Das afrikanische
Ufer100 des guatemaltekischen Autors Rodrigo Rey Rosa aufgebaut. Hier werden in Gestalt der drei zentralen Protagonisten Afrika, Europa und Amerika
beziehungsweise Marokko, Frankreich und Kolumbien so miteinander verflochten, daß die transkontinentale und transnationale Dimension im marokkanischen Tanger gleichsam einen translokalen Mikrokosmos erzeugt, an
dem in geraffter Form die lange Geschichte des spanischen und portugiesischen, englischen und französischen Kolonialismus eingeblendet wird. Wohlgemerkt: von einem guatemaltekischen Autor, der durch die langen Jahre seines sehr eigenen Exils mit vielen der Originalschauplätze von La orilla
africana bestens vertraut ist. Die Zufallsbegegnungen zwischen den drei
Hauptfiguren führen ein höchst verschiedenartiges kollektives wie individuelles Lebenswissen gegeneinander, das die transareale Dimension dieses
zentralamerikanischen Romans nicht nur auf der Ebene der Romandiegese,
sondern auch der unterschiedlichen Formen und Normen von Körperlichkeit
eindrucksvoll vor Augen führt. Die vektorielle Dimension steht dabei im
Vordergrund aller Translationsprozesse, die sich zwischen den Sprachen,
zwischen den Kulturen, zwischen den Körpern an einem hochgradig translokalisierten Ort – in der fraktalen ‘insularen’ Welt von Tanger – vollziehen.
Die Literaturen der Welt enthalten und entfalten in ihren vielsprachigen
Texten nicht nur die unterschiedlichsten Lebensformen und Lebensnormen,
sondern generieren ein komplexes transareales Lebenswissen und ZusammenLebensWissen,101 das in den vorgefundenen wie in den erfundenen
Landschaften der Theorie dieser Texte experimentell erprobt wird. An
welchem Punkt läßt sich das Vorgefundene noch vom Erfundenen unterscheiden? Sind beide nicht an ein Erleben und Gelebtwerden rückgebunden,
99
Vgl. hierzu Ottmar Ette: Urbanity and Literature – Cities as Transareal Spaces of Movement in Assia Djebar, Emine Sevgi Özdamar and Cécile Wajsbrot. In: European Review
(Cambridge) XIX, 3 (2011), S. 367–383.
100 Vgl. Rodrigo Rey Rosa: La orilla africana. Prefacio de Pere Gimferrer. Barcelona:
Editorial Seix Barral 1999.
101 Vgl. Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen.
42
die in ihren nomadischen, transarealen Dimensionen die Lebenswelt von
Millionen von Menschen heute prägen?
Wie in den ständigen Pendelbewegungen und den damit verbundenen Zirkulationen von Wissen und Gütern zwischen Exilkubanern in Miami und ihren
kubanischen Herkunftsfamilien im Oriente Kubas, zwischen indigenen Gemeinschaften Guatemalas und urbanen comunidades im Großraum von Los
Angeles choreographische Figuren erscheinen, die auf translokale Weise
ebenso transnationale und transareale wie selbstverständlich auch transdisziplinäre Fragen aufwerfen, werden hier doch die Grenzen disziplinärer Aufteilungen im akademischen Feld in Frage gestellt, so konnten bereits die im
19. Jahrhundert102 entstandenen Wanderungen von Leiharbeitern aus dem
indischen Raum ebenso Beziehungen translokaler Art in einem transkontinentalen Rahmen generieren, wie dies bereits in der zweiten wie in der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung in einem anderen transatlantischen
Machtgefüge zwischen Dörfern in der spanischen Extremadura und den Hochflächen Neuspaniens oder der Inselwelt der Philippinen der Fall gewesen war.
Alles ist mit allem verbunden und duldet nicht, in kleine Stücke zerhackt zu
werden: Unter den Bewegungen stoßen wir auf frühere Bewegungen, unter
den Orten auf andere Orte. Une mondialisation peut en cacher une autre.
Als ein Musterbeispiel für die bewußt vektorielle, mit den Bewegungen des
Protagonisten immer wieder auf neue Weise die alten Migrationen nachvollziehende Konstruktion weltweiter Vernetzungen könnte etwa auch Amin
Maaloufs 2004 erschienener Text Origines angeführt werden:103 kein Weg, der
nicht durch frühere Wege gebahnt wäre, kein Dorf im Libanon, das nicht mit
anderen Dörfern und Städten weltweit in Verbindung stünde. So öffnet sich
jedweder Versuch, die ‘Ursprünge’ einer Bewegung zu identifizieren, immer
wieder auf andere, frühere oder spätere Bewegungen, so daß sich der gesuchte
Ursprung immer wieder anders in unzähligen pluralen Ursprüngen verliert.
Bewegungen verweisen stets auf ihre Bahnungen und bahnen ihrerseits wieder
neu und von neuem, was immer wieder auf Früheres wie auf Künftiges verweist und vorausweist. Auch den transarealen Studien geht es nicht um einen
Ursprung, sondern um möglichst viele Ursprünge, nicht um eine Herkunft,
sondern um möglichst viele Herkünfte, die neue, vielleicht noch nicht erdachte
Zukünfte im Experimentierraum der Literaturen der Welt – und nicht einer europäisch zentrierten Weltliteratur – erproben.
Literarische Landschaften – und auch die in Frankreich stark ausgeprägte
Untersuchung des paysage littéraire104 könnte hierfür eine Vielzahl von Bei102 Vgl. hierzu auch Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des
19. Jahrhunderts. München: C.H. Beck 52010.
103 Amin Maalouf: Origines. Paris: Editions Grasset & Fasquelle 2004.
104 Aus der mittlerweile recht umfangreichen Forschungsliteratur, die freilich nicht selten
eher statischen Landschaftskonzeptionen anhängt, seien hier nur genannt Simon Schama:
Paysage et mémoire. Paris: Seuil 1999; sowie Marc Desportes: Paysages en mouvement
– Transports et perception de l’espace, XVIIIe–XXe siècles. Paris: Gallimard 2005.
43
spielen liefern – sind in der abendländischen Tradition seit langer Zeit als
Landschaften der Theorie105 lesbar. Sie verkörpern anschaulich bis pittoresk
komplexe Verstehensbewegungen innerhalb eines von ihnen aufgespannten
Bewegungs-Raumes, der insbesondere während der Phasen beschleunigter
Globalisierung so oft in den unterschiedlichsten Literaturen die nationalen
Grenzziehungen unterläuft oder überspannt. Gleichviel, ob es sich bei diesen
Landschaften der Theorie um menschenleere Wüsten oder dicht bevölkerte
Archipele, um einsame Bergregionen oder überschwemmte Flußlandschaften
handelt: Stets verkörpern und inszenieren sie das Bewegungsmodell von Lebensformen und Lebensnormen, in denen sich historische Bahnungen und
zeitgenössische Brechungen in ein mobiles Netz von Koordinaten eintragen,
um die von ihnen angestrebten hermeneutischen Verstehensbewegungen
nachvollziehbar zu verräumlichen.
Landschaften der Theorie sind auch Landschaften der Politik – und umgekehrt. Transnationale Beziehungen auf einer transarealen und zugleich transkontinentalen Ebene charakterisieren – um auch hier nur ein Beispiel herauszugreifen – die politischen Anstrengungen, die im Mai 2005 auf Initiative des
damaligen brasilianischen Staatspräsidenten zur Einberufung eines Gipfels
zwischen Ländern Lateinamerikas und Staaten der Arabischen Liga in Brasilia
geführt haben. Auch sie stehen in einer langen Traditionslinie politischer Bahnungen und Anbahnungen, wobei in diesem Falle die Folgen von veränderten
weltpolitischen Konstellationen und Handlungsmöglichkeiten bis hin zu Formen intensiverer kultureller Zusammenarbeit geführt haben. Brasilien ist
längst zu einem Machtfaktor im globalen Süden geworden.
Im politischen Bereich stehen zweifellos die transkontinentalen und transnationalen Süd-Süd-Beziehungen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten
und der weltpolitischen Aufmerksamkeit. Von erst langfristig sichtbarer, aber
keineswegs geringerer Wirkung sind die sich verstärkenden arabamerikanischen Kulturbeziehungen auf transarealem Niveau.106 Sie betreffen nicht allein
die ArabAmericas, sondern werfen auch ein bezeichnendes Licht auf neue
Formen, Verfahren und Methoden, Lateinamerika innerhalb eines weltweiten
Kontextes transareal zu denken und neu zu begreifen. So liegt mittlerweile
eine Vielzahl von Studien vor, die nicht nur die arabisch-amerikanischen, sondern in einem nicht geringeren Maße die amerikanisch-afrikanischen, die amerikanisch-europäischen oder die amerikanisch-asiatischen Beziehungen untersuchen, deren mobile Geflechte den hemisphärischen Raum der Amerikas wie
einzelne Nationen oder Nationalstaaten konfigurieren.107
105 Vgl. zu diesem Begriff Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 531–538.
106 Vgl. hierzu Ottmar Ette/Friederike Pannewick (Hg.): ArabAmericas. Literary Entanglements of the American Hemisphere and the Arab World. Frankfurt am Main /Madrid:
Vervuert Verlag/Iberoamericana 2006.
107 Vgl. hierzu u.a. Marianne Braig/Ottmar Ette u.a. (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der
Grenzen; Peter Birle/Marianne Braig u.a. (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der
Amerikas; Ottmar Ette/Friederike Pannewick (Hg.): ArabAmericas; Ineke Phaf-
44
Diese Intensivierung transarealer Studien bezieht sich selbstverständlich
nicht allein auf die aktuelle Phase beschleunigter Globalisierung, sondern läßt
– wie auch der vorliegende Band im Anschluß an die aufgeführten Tagungsbände zeigen soll – auch frühere Phasen beschleunigter Globalisierung seit der
Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in einem neuen Licht erscheinen. Wie
könnten wir – um nur wenige Beispiele aus dem dritten Teil dieses Bandes
herauszugreifen – ohne eine Poetik der Bewegung ein so faszinierendes translinguales Werk wie das des auf den Philippinen geborenen Autors und Befreiungskämpfers José Rizal verstehen, der ähnlich wie der Kubaner José Martí
seine Einsicht in die beschleunigte Globalisierung seiner Zeit an der Wende
zum 20. Jahrhundert aus seinen Erfahrungen auf verschiedenen Kontinenten
bezog? Und welche Herausforderungen birgt für unser geokulturelles und
geopolitisches Denken das facettenreiche, in der dritten Phase beschleunigter
Globalisierung entstandene Werk von Lafcadio Hearn, wenn wir die von ihm
nicht nur biographisch geschaffenen Verbindungen zwischen der Ägäis, den
Britischen Inseln, der Inselwelt des Mississippi-Deltas und der Karibik sowie
des japanischen Archipels aus einer transarealen Bewegungsperspektive analysieren? In diesem Sinne versuchen die TransArea-Studien, eine kreative
Antwort auf die Herausforderungen der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung zu formulieren, die selbstverständlich nicht auf die Untersuchung
der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert beschränkt bleibt. Transareal ausgerichtete Untersuchungen zielen epistemologisch fundiert auf die Bewegungen
unter den Bewegungen, auf die Globalisierungen unter der Globalisierung.
Regionalwissenschaftlich ausgerichtete Forschungen und Institutionen traditionellen Zuschnitts neigen nachweislich dazu, transareale Bewegungsmuster entweder ganz zu übersehen oder doch zumindest in ihrer Bedeutung
zu minimieren, scheinen derartige Phänomene doch nicht in den territorial beziehungsweise kontinental ausgespannten Rahmen zu passen, der das eigene
Untersuchungsgebiet – sei es Großbritannien oder Italien, Südostasien oder
Lateinamerika – konstituiert und institutionell (etwa als interdisziplinäres
Zentrum) stabilisiert. Denn Bewegungsmuster, die über die jeweils vertraute
Rheinberger/Tiago de Oliveira Pinto (Hg.): AfricAmericas. Itineraries, Dialogues, and
Sounds. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2008; Ottmar Ette (Hg.):
Caribbean(s) on the Move – Archipiélagos literarios del Caribe. A TransArea
Symposium. Frankfurt am Main/New York u.a.: Peter Lang Verlag 2008; Ottmar Ette
/Dieter Ingenschay u.a. (Hg.): EuropAmerikas. Transatlantische Beziehungen. Frankfurt
am Main/Madrid: Vervuert/Iberoamericana 2008; Ottmar Ette/Horst Nitschack (Hg.):
Trans*Chile. Cultura – Historia – Itinerarios – Literatura – Educación. Un
acercamiento transareal. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana /Vervuert 2010;
Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.): Caleidoscopios coloniales; Ottmar Ette/Werner
Mackenbach u.a. (Hg.): Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un
simposio transareal. Berlin: edition tranvía/Verlag Walter Frey 2011; Ottmar
Ette/Gesine Müller (Hg.): Worldwide/weltweit. Archipiélagos como espacios de prueba
de convivencia global. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2012.
45
Area hinausreichen, erscheinen nicht selten als vermeintlich weit weniger relevant, solange sie nicht die Zentren in Europa oder in den USA betreffen.
Für die Namban-Kunst interessierten sich lange Zeit weder die Spezialisten
für japanische noch für kolonialspanische noch für europäische Kunst. Und
doch stellen diese Kunstwerke im Spannungsfeld asiatischer, amerikanischer
und europäischer Bildtraditionen faszinierende Zeugnisse einer künstlerischen
Kreativität dar, die aus der Querung unterschiedlichster Kulturen entsteht.108
Die weitgehende Ausblendung der kulturellen Ausstrahlungskraft indischer
Leih- und Wanderarbeiter oder die arabisch-amerikanischen Beziehungen in
den tropischen Gebieten der Amerikas bieten für die hier skizzierte Problematik ebenso aussagekräftige Beispiele wie die Aufteilung der Karibikstudien
unter den verschiedensten Disziplinen und deren disziplinären Logiken. Gerade in derart komplex angelegten kulturellen Überschneidungsbereichen kann
eine transareal aufgestellte Philologie Pionierleistungen erbringen, die dazu
beitragen werden, die nationalliterarischen und zum Teil rassistischen Altlasten der im 19. Jahrhundert gegründeten Nationalphilologien kritisch zu hinterfragen und zu entsorgen.109
Nicht selten erklären disziplinäre ‘Zuständigkeiten’ oder ‘Zugehörigkeiten’
Defizite im Wahrnehmungsmuster ganzer Forschungszweige oder hochspezialisierter Regionalforschungszentren. Mögen die arabisch-amerikanischen
Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Literaturen Lateinamerikas
oder die Ausdrucksformen von Namban-Künstlern in der neuspanischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts auch noch so präsent sein: Sie erscheinen
nicht oder kaum auf dem Radarschirm von nur disziplinär und bestenfalls interdisziplinär verankerten Regionalstudien, die sich ganz auf ihre jeweilige
Area konzentrieren und darüber hinaus allenfalls deren Bezug zum (europäischen) Standort der Institution berücksichtigen. Transareale Studien versuchen, diese mentalen mappings zu mobilisieren und für transversale Bewegungen zu sensibilisieren. Denn die Dinge sind im Verlauf des zurückliegenden Jahrzehnts – und zwar gerade nicht durch einen spatial turn – nachweislich in Bewegung gekommen.
Phänomene wie die hier nur kurz skizzierten sind im Kontext unterschiedlicher Phasen beschleunigter Globalisierung von enormem Interesse für eine
Wissenschaft, die sich am Forschungshorizont der TransArea Studies ausrichtet. Die Literaturen der Welt – und nicht allein jene ohne festen Wohnsitz – arbeiten diese vektorielle Dimension des Transarealen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit heraus. Und das in der Literatur gespeicherte Wissen kann
sehr wohl als Korrektiv disziplinär eingeschränkter Wahrnehmungsmuster
dienen. Ließe sich nicht mit Roland Barthes formulieren, daß die Literatur
108 Vgl. hierzu etwa den eindrucksvollen Band von Rodrigo Rivero Lake: Namban Art in
Viceregal Mexico. México: Estilo México Editores/Turner 2005.
109 Vgl. hierzu Markus Messling/Ottmar Ette (Hg.): Wort – Macht – Stamm. Rassismus und
Determinismus in der Philologie des 19. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink 2012.
46
„toujours en avance sur tout“110, also immer allem – einschließlich der
Wissenschaften – voraus ist und damit einen Schatz an Erfahrungen, Erkenntnissen und Erlebnissen birgt, den es wissenschaftlich und lebenswissenschaftlich erst noch zu entdecken und zu heben gilt? Und wäre es dann nicht eine
wichtige Aufgabe der Literaturwissenschaft, dieses Wissen entsprechend zu
übersetzen und zu vermitteln, also auch gesellschaftlich nutzbar zu machen?
Auch die Zukunft der Area Studies liegt folglich – und dies nicht nur im
Bereich von Hispanistik und Lateinamerikanistik – in einer Öffnung hin auf
TransArea Studies, die Area-bezogene Kompetenzen mit transdisziplinären
Forschungspraktiken verbinden. Eine der vornehmsten und dringlichsten Aufgaben der Philologie ist es, im Bewußtsein der bereits skizzierten besonderen
Relevanz von Literatur diesen Schatz nicht allein zu heben, sondern – und
auch hierin liegt eine ethische Verpflichtung – möglichst breiten Bevölkerungsteilen demokratisch verfügbar zu machen.
Für die Zukunft der Literatur- und Kulturwissenschaften ist mithin eine
transareale und bewegungsorientierte Neuausrichtung von größter Dringlichkeit. Wollte man – gewiß stark konturierend – eine transareale Literaturwissenschaft im Verbund verschiedenster Disziplinen der TransArea Studies von
traditionellen komparatistischen Ansätzen unterscheiden, so ließe sich formulieren, daß die letztgenannten die Politiken, Gesellschaften, Ökonomien oder
symbolischen Produktionen verschiedener Länder statisch miteinander vergleichen und gleichsam gegeneinander halten, während eine transareale Wissenschaft pointierter auf die Mobilität, den Austausch und die wechselseitig
transformatorischen Prozesse hin ausgerichtet ist. Transarealen Studien geht es
weniger um Räume als um Wege, weniger um Grenzziehungen als um Grenzverschiebungen, weniger um Territorien als um Relationen und Kommunikationen: Sie untersuchen die ihnen zugänglichen Traditionen aus einem transversalen Blickwinkel, der sich für die Transfers, vor allem aber auch für die
von diesen ausgelösten Transformationen interessiert. Denn unser Netzzeitalter verlangt nach mobilen und relationalen, transdisziplinären und transarealen
Wissenschaftskonzepten und einer bewegungsorientierten Begrifflichkeit, die
etwa im Bereich der Philologien nicht länger nur anhand einiger weniger europäischer Nationalliteraturen entwickelt und durchbuchstabiert werden kann.
Daß es zugleich gilt, dieses Wissen in unsere Gesellschaften zu übersetzen
und damit gesellschaftlich produktiv zu machen, scheint mir gerade im Zeichen einer weltgeschichtlichen Situation der Entregelung, der dérive und des
dérèglement, evident zu sein. Die Literatur als Labor des Viellogischen hat
über Jahrtausende ein Wissen angehäuft, das dazu beitragen kann, die immer
bedrohlicher werdende Kluft zu überbrücken, auf die Amin Maalouf in seinem
jüngsten Essay aufmerksam machte:
110 Roland Barthes: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques
espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976–1977.
Texte établi, annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil/IMEC 2002, S. 167.
47
Es geht um den Graben, der sich zwischen unserer raschen materiellen Evolution, die uns
Tag für Tag mehr Fesseln abstreifen läßt, und unserer allzu langsamen moralischen Evolution vertieft, die es uns nicht erlaubt, den tragischen Konsequenzen dieser Entfesselung
entgegenzutreten. Wohlverstanden: Die materielle Evolution kann und darf nicht verlangsamt werden. Vielmehr muß unsere moralische Evolution beträchtlich beschleunigt, muß
dringlichst auf das Niveau unserer technologischen Evolution gehoben werden, was eine
wahrhaftige Revolution der Verhaltensweisen erforderlich macht.111
Wo aber ist je eine derartige Revolution in den Verhaltensweisen quer zu den
Kulturen, quer zu den politischen Systemen, quer zu den geschichtlichen Zeiten experimentell auf intensivere Weise erprobt worden als in den Literaturen
der Welt? Ihren faszinierenden, ebenso provokativen wie prospektiven Experimenten mit dem Wissen um Lebensnormen und Lebensformen soll in den
sich anschließenden Kapiteln quer durch vier Phasen beschleunigter Globalisierung gefolgt werden.
Am Ausgang dieser Windrose der Begriffe kann TransArea im Sinne eines
Theoriehorizonts, wie er im Rahmen unterschiedlicher nationaler und internationaler Projekte bereits erprobt und in der Praxis angewandt wurde, prospektiv klar umrissen werden.112 Dieser Theoriehorizont ist in seiner vektorisierten
Begrifflichkeit den Literaturen der Welt und damit einer Poetik der Bewegung
verpflichtet.
Mission Statement
Beyond Area Studies,
TransArea Studies point out mobile conceptions of spaces and places.
Beyond spatial history,
TransArea Studies emphasize vectorial dynamisms and processes.
Beyond traditional comparative studies,
TransArea Studies focus on border-crossing, on entanglements and multiple
logics.
Beyond interdisciplinary studies,
TransArea Studies intensify transdisciplinary approaches and perspectives.
111 Amin Maalouf: Le déréglement du monde, S. 81.
112 Das nachfolgende Mission Statement habe ich an den Beginn eines Internet-Portals gerückt, das derartige Projekte darstellt, in ihrem wechselseitigen Verwobensein sichtbar
macht und zu künftigen Projekten im transarealen Forschungsbereich anregen soll.
Dieses Portal mit der Bezeichnung POINTS (Potsdam International Network for
TransArea Studies) findet sich unter <www.uni-potsdam.de/tapoints> und bietet
vielfältige Möglichkeiten für Einblicke in konkrete Vorhaben, aber auch Raum für
Anmerkungen, Hinweise und Kritik.
48
Beyond international relationships,
TransArea Studies analyze translocal, transregional, transnational and transcontinental phenomena.
Beyond continous territorial conceptions,
TransArea Studies design innovative discontinous and fractal forms of understanding: internal and external relations of archipelagic and transarchipelagic patterns.
For TransArea Studies, spaces and territories are made out of movements and
vectorizations: frontiers are understood by their criss-crossings at a global
scale: circulations of knowledge in specific historical periods of accelerated
globalization: transcultural landscapes translated into new prospective horizons.
49
Abb. 3: Weltkarte von Juan de la Cosa (1500).
Abb. 4: Weltkarte von Benedetto Bordone (1528).
Globalisierung I.
Im Gitternetz des Abendlands:
Fülle und Falle der europäischen Projektion
weltweiter Bewegungs-Räume
Karte Macht Welt: eine Weltkarte beschleunigter Globalisierung
Der erste Geschichtsschreiber und Chronist der Neuen Welt, der in Spanien
lebende und zunächst im Handels- und Bankwesen tätige Italiener Pietro Martire d’Anghiera, hat in seinem großen, die ersten Jahrzehnte der sogenannten
‘Entdeckung’ und Eroberung der Neuen Welt begleitenden Werk wie kaum
ein anderer das Lebensgefühl einer neuen Epoche, die wir heute als Frühe
Neuzeit bezeichnen, festgehalten. So heißt es in den berühmten Dekaden jenes
Mannes, der nahezu alle entscheidenden Protagonisten der iberischen Expansion persönlich kannte, in bewegenden Worten, die zugleich die Bewegung
seiner Zeit auf den Punkt brachten:
Jeder Tag bringt uns neue Wunder aus jener Neuen Welt, von jenen Antipoden des Westens, die ein gewisser Genuese (Christophorus quidam, vir Ligur) aufgefunden hat. Unser
Freund Pomponius Laetus (derselbe, welcher in Rom seiner religiösen Ansichten halber
verfolgt wurde: bekannt als einer der ausgezeichnetsten Beförderer der klassischen römischen Literatur) hat sich kaum der Freudentränen enthalten können, als ich ihm die erste
Nachricht von diesem unverhofften Ereignisse erteilte. [...] Wer von uns mag nun noch
heutzutage über die Entdeckungen staunen, welche man dem Saturn, dem Triptolemus und
der Ceres zugeschrieben hat?1
Die von den strahlenden Erfolgen der iberischen Entdeckungsfahrten geschaffene Eröffnung neuer geistiger Horizonte2 trug zu einer sich in vielen Teilen
Europas verbreitenden Atmosphäre bei, in der die vorbildgebende Antike im
1 Pietro Martire d’Anghiera: Opus Epistolarum, cap CLII, hier zitiert nach Alexander von
Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen
Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15.
und 16. Jahrhundert. Mit dem geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas
der von ihm untersuchten Kartenwerke. Mit einem vollständigen Namen- und
Sachregister. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler
ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. Frankfurt am Main/Leipzig:
Insel Verlag 2009, Bd. 1, S. 84.
2 Pedro Mártir de Anglería: Décadas del Nuevo Mundo. Estudio y Apéndices por el Dr.
Edmundo O’Gorman. Traducción del latín del Dr. Agustín Millares Carlo. 2 Bde. México,
D.F.: Editorial José Porrúa e hijos 1964, hier Bd. I, S. 201.
53
Zeichen ihrer Renaissance zugleich – die obige Passage deutet es an – durch
fundamentale Erweiterungen des Wissens ‘korrigiert’ und übertroffen wurde.
Es ließ sich freudiger im Zeichen der Antike leben, wenn und weil man sich
ihr in vielem ebenbürtig wußte. Denn konnte nicht die neue Zeit zur ersehnten
figuralen3 Einlösung der Antike werden?
Seit den Ausführungen von Samuel Y. Edgerton wird man kaum mehr die
enorme Bedeutung jener europäischen ‘Wiederentdeckung’ des Ptolemäus
unterschätzen, dessen Geographia um 1400 in Gestalt eines heute verlorenen
Exemplars von einer Gruppe für das griechische Altertum entflammter Florentiner aus Konstantinopel in die Stadt am Arno gebracht worden war.4 Denn
nicht nur die drei von Ptolemäus angegebenen Möglichkeiten der Projektion
der Erdkugel auf eine plane, zweidimensionale Fläche waren von enormer Bedeutung für die Experimente und Traktate, für die Bau- und Denkformen der –
wie man heute sagen würde – Florentiner ‘Stararchitekten’ Leon Battista Alberti und Filippo Brunelleschi im Zeichen einer alles beherrschenden linearen
Perspektive. Auch das Gitternetz selbst, das der große alexandrinische Geograph über die ihm bekannte Welt zwischen den Inseln der Glückseligen und
China ausgeworfen hatte, ließ sich – wie der Florentiner Paolo dal Pozzo Toscanelli zeigte – nicht nur nach Süden, Norden oder Osten, sondern vor allem
nach jenem unbekannten Westen hin erweitern, an dessen Horizont man schon
seit langer Zeit immer wieder die Bilder oder Trugbilder mehr oder minder
naher Inseln zu erblicken geglaubt hatte.
Auch wenn uns die neuere Studie von Hans Belting die ganze Komplexität
der inter- und transkulturellen Wissensbewegungen aufgezeigt und in Erinnerung gerufen hat, die im Zusammenspiel von Orient und Okzident, von Bagdad und Florenz die Findung und Erfindung der Zentralperspektive im 15.
Jahrhundert zustande brachte,5 so bleibt doch richtig, wie sehr die perspektivisch-kartographische Projektion des Ptolemäus einer ganzen Epoche ihren
Stempel aufdrückte, darüber hinaus aber auch ein Weiterdenken der Antike
dank des Einbaus neu erworbenen Wissens erlaubte. Wenn es also möglich, ja
im Grunde unumgänglich ist, die „Geburt der geometrischen Perspektive“6
und die sogenannte Entdeckung der Neuen Welt zusammenzudenken, ohne
dabei neben Florenz Bagdad zu vergessen, dann darf man durchaus das von
Ptolemäus verwandte Gittersystem, dank dessen jedem Punkt der Erdoberflä3 Vgl. zu unterschiedlichen Traditionen des Figuralen und figuraler Geschichtsdeutung
Erich Auerbach: Figura. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie.
Herausgegeben von Fritz Schalk und Gustav Konrad. Bern/München: Francke Verlag
1967, S. 55–92.
4 Vgl. hierzu Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive. Aus dem Englischen
von Heinz Jatho. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, insbes. S. 85–112. Die Originalausgabe erschien ein gutes Vierteljahrhundert früher unter dem Titel The Renaissance Rediscovery of Linear Perspective. New York: Basic Books 1975.
5 Vgl. Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: C.H. Beck 32009.
6 Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 111.
54
che mathematisch genau bestimmbare Koordinaten zugewiesen werden konnten, als den „modus vivendi des 15. und 16. Jahrhunderts“7 bezeichnen. Denn
dieses Gittersystem ist weit mehr als ein bloßes mathematisch-kartographisches Werkzeug: Es erzeugt vielmehr eine Lebensweise und ein damit einhergehendes Lebenswissen, das die Welt in ihrer Totalität zu erfassen und den Ort
des Menschen im Universum neu zu bestimmen sucht. Es steht für die neuen
Bau- und Denkformen der Welt – wohlgemerkt: aus der Perspektive und mit
der Perspektive des Abendlands.
Die Allgegenwart Italiens in der von den iberischen Mächten Portugal und
Spanien vorangetriebenen ersten Phase beschleunigter Globalisierung ist nicht
nur im Bereich der Schiffahrt und konkreten Navegation, sondern auch der
Mathematik, der Erkenntnistheorie, der Geschichtsschreibung und nicht zuletzt der Literatur folglich alles andere als ein Zufall. Die von Pietro Martire
d’Anghiera, der in der spanischsprachigen Welt unter dem Namen Pedro
Mártir de Anglería bekannt geworden ist, buchstäblich Tag für Tag kommentierte Bewegung des ‘Auftauchens’ neuer Umrisse zuvor den Europäern unbekannter Länder und Inseln ließ bald auch kartographisch eine neue Welt entstehen, die – wie es die Weltkarte des Martin Waldseemüller (der seinen Namen mit „Hylacomylus“ gräcolatinisierte), zeigte – nicht länger in den der
Antike verpflichteten Raum-Begriffen des Ptolemäus zu denken war.
Der erstmals in Waldseemüllers Karte eingetragene Name „Amerika“ ist
mithin eine kartographische Erfindung, die ohne die Notwendigkeit neuer, die
Antike übersteigender Horizonte nicht gefunden worden wäre. Dabei muß uns
in diesem Zusammenhang nicht in allen Details interessieren, auf Grund welcher wohlbekannten Irrtümer und Mißverständnisse der ehemalige Freiburger
Student, junge Geograph und Kartograph Martin Waldseemüller im Jahre
1507 in seiner Cosmographiae universalis introductio den Vornamen des Florentiner Reisenden Amerigo Vespucci als Benennung für den von diesem diskursiv in die Welt gesetzten „neuen Kontinent“ vorschlug und in seine Weltkarte übertrug8. Denn seine ‘Erfindung’ Amerikas war bereits ein Resultat jener Bewegung, in der die abendländisch genordete Karte mit aller Macht Welt
schafft.
Auch wenn dies den Protagonisten der ersten Phase beschleunigter Globalisierung wie etwa Christoph Columbus, den Brüdern Pinzón oder Amerigo
Vespucci selbst nicht unbedingt in allen Einzelheiten bewußt sein mußte: Das
Wissen der abendländischen Antike von der Welt wurde mit enormer Geschwindigkeit korrigiert, adaptiert und erweitert, zugleich aber in die Gitternetze des großen Kartographen aus Alexandria eingetragen. In diesem fundamental-komplexen Wechselspiel zwischen Orient und Okzident, zwischen
7 Ebda.
8 Mit großer Akribie und auf Hunderten von Seiten wurde diese Geschichte eindrucksvoll
dargestellt von Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der
nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert.
55
Antike und Früher Neuzeit mußte die europäische Bewußtwerdung von der
Existenz der Neuen Welt noch während des Verlaufs der ersten Expansionsphase zur Konzeption einer neuen Welt führen, die nur in einer ungeheuren
räumlichen Ausdehnung, aber auch dynamischen Vektorisierung allen Wissens zu denken war. Neuzeitliches Denken ist für Europa ohne neuweltliches
Bewußtsein nicht zu verstehen, nicht zu begreifen. Amerika wurde von vielen
Orten her gefunden und erfunden; und es erhielt in den Gittersystemen und
Gitternetzen, welche die Europäer von nun an – und bis heute – über die Welt
auswarfen, eine immer wieder andere figura, eine immer wieder andere Gestalt. Sie macht uns auf die Macht, aber auch die Gewalt dieser Prozesse aufmerksam.
In seiner faszinierenden, heute im Museo Naval zu Madrid aufbewahrten
Weltkarte des Jahres 1500 (Abb. 3) hat Juan de la Cosa diese beeindruckende
Verräumlichung und ebenso gewaltige wie gewaltsame Vektorisierung des
Wissens seiner Zeit von der Welt kartographisch wie in einer Momentaufnahme festgehalten. Der spanische Seemann und Kartograph, der als piloto
und später piloto mayor an der Expansion Spaniens in den karibischen Raum
und entlang der Küstenlinien Südamerikas aktiven Anteil hatte und sich als der
wohl versierteste Navigator der spanischen Flotte bei den Expeditionen des
Columbus, aber auch des Amerigo Vespucci auszeichnete, darf mit seinem
kartographischen Meisterwerk wohl als einer der maßgeblichen Schöpfer eines
frühneuzeitlich europäischen Welt-Bildes verstanden werden, dessen Konzeption bis in unsere heutigen Kartendarstellungen des Planeten Erde fortwirkt.
Eine neue Welt und eine neue Welt-Ordnung waren in Entstehung begriffen:
Die erste von bislang vier Phasen beschleunigter Globalisierung wirkte weltweit mit einer Wucht, die man – um den von Goethe geprägten Begriff zu
verwenden – sehr wohl als velociferisch, als teuflisch schnell bezeichnen
könnte9.
Die besondere Relevanz und Bedeutung der kartographischen Leistung des
spanischen Seefahrers wird deutlich, wenn wir seine Weltkarte mit jener des
Hylacomylus alias Martin Waldseemüller vergleichen, die – im Jahre 1507
entstanden – zwar erstmals den Namen Amerika auf die von den Europäern
neu ‘aufgefundenen’ Gebiete jenseits des Atlantik heftete, aber keineswegs die
erste kartographische Darstellung des frühneuzeitlichen Weltbildes repräsentiert.10 Waldseemüllers zweifellos epochemachender Entwurf ist durch eine
9 Vgl. zu der bei Goethe insbesondere zwischen 1825 und 1827 wiederholt auftauchenden
Rede von einem „velociferischen Zeitalter“ im Zusammenhang mit Goethes Konzept
einer Weltliteratur Anne Bohnenkamp: „Den Wechseltausch zu befördern“. Goethes
Entwurf einer Weltliteratur. In: Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1824–
1832. Über Kunst und Altertum V–VI. Hg. v. Anne Bohnenkamp. Frankfurt am Main:
Deutscher Klassiker Verlag 1999, S.937–964.
10 Vgl. die Darstellung in dem ansonsten sehr nützlichen Band von Ulfried Reichardt:
Globalisierung, S. 117. Der kartographische Entwurf des Hylacomylus ist keineswegs die
„erste Weltkarte“ (S. 117); und Martin Behaims berühmter Globus in Form eines
56
stark die Kontinente und das Kontinentale hervorhebende Darstellungsweise
geprägt, die seinem kartographischen Weltbild trotz aller historischen Beschleunigung der Entdeckungsfahrten seiner Zeit etwas sehr Statisches vermittelt, auch wenn seine ‘Neue Welt’ sich erst am äußersten Rand der zuvor
den Europäern bekannten Welt herausschält.
Demgegenüber zeichnet sich die Weltkarte des Juan de la Cosa durch ihren
hohen Bewegungskoeffizienten, durch ihre ausgeprägte Vektorizität aus. Seine
Karte aus dem Jahre 1500 enthält nicht nur das erste kartographische Bild
Amerikas, das auf uns gekommen ist, sie entwirft nicht nur das avancierteste,
mit ungeheurer Präzision das damalige kartographische, nautische und geographische Wissen integrierende Kartenbild der Neuen Welt als Teil einer in
Aufbau befindlichen neuen Welt-Ordnung, sondern verschränkt dieses Wissen
auch mit den seit der Antike tradierten abendländischen Bildvorstellungen von
den außereuropäischen Regionen.11 Mit einer beeindruckenden Genauigkeit ist
bis heute abzulesen, wie in diesem Weltentwurf des spanischen Steuermanns
nicht nur ein detailreiches Kartenbild der Antillen und einiger zirkumkaribischer Festlandsäume skizziert, nicht nur die geostrategische Bedeutung dieser
Region im Zentrum des sich abzeichnenden amerikanischen Kontinents vor
Augen12 geführt wurde, sondern all jene okzidentalen Projektionen wieder auftauchten, die nun auf eine den Europäern noch ‘unbekannte’ Welt gerichtet
werden konnten.
Wir finden in dieser Weltkarte daher nicht nur eine außerordentlich scharfe
Momentaufnahme jener Kartennetze, die von verschiedenen ‘Nullpunkten’,
verschiedenen ‘Greenwichs’ aus von Europa über die außereuropäische Welt
geworfen wurden, stoßen nicht nur auf das Wissen und die Konfigurationen
jener Portulane, welche die Schiffahrtslinien im Mittelmeer seit Ende des
13. Jahrhunderts so viel sicherer gemacht hatten, sondern auch auf das Land
von Gog und Magog, die Ungeheuer und die Menschen ohne Kopf, die uns
mit ihren Augen auf der Brust genauso ‘getreu’ anblicken wie die Küstenlinien
dessen, was man künftig als Greater Caribbean bezeichnen sollte.
So navigieren wir durch einen neuen und zugleich seltsam vertrauten
Raum, der von den Flotten der großen Seemächte Europas ausgemessen
wurde. Und wir bewegen uns zugleich durch das im Verlauf vieler Jahrhunderte in großen Sammlungen zusammengeführte und immer wieder veränderte
technologische und mythologische Wissen, das – von vielen Weltgegenden
herkommend – in Europa gesammelt worden war. Erst auf der Grundlage dieses Wissens, dieses über den Planeten geworfenen Netzes, macht die Karte
Erdapfels entstand ein halbes Jahrhundert vor den hier für den „erste[n] Globus“
angegebenen vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts (S. 24).
11 Zu diesen Bilderwelten vgl. u.a. die zahlreichen Abbildungen in Miguel Rojas Mix: América imaginaria. Barcelona: Editorial Lumen/Quinto Centenario 1992.
12 Vgl. hierzu auch Ricardo Cerezo Martínez: La Cartografía Náutica Española de los
Siglos XIV, XV y XVI. Madrid: Centro Superior de Investigaciones Científicas 1994, S.
82–83 sowie die dazugehörigen Kommentare.
57
Welt. Die Lektüre des auf diese Weise Gesammelten – und damit ist im etymologischen Sinne eine Verdoppelung gemeint, insofern sich „Sammeln“ und
„Lesen“ aus derselben Quelle speisen13 – erzeugt in Juan de la Cosas historischer Momentaufnahme eine fast schwindelerregende Tiefenschärfe, die nicht
nur durch ihre geographisch-historiographische Ausleuchtung, sondern mehr
noch durch ihre bewegungsgeschichtliche Dynamik beeindruckt.
Wie aber passen technologisches und mythologisches Wissen, geographische und literarische Kenntnisse, Navigations- und Glaubensvorstellungen zusammen? Es wäre gänzlich unbefriedigend und irreführend, wollte man die
beiden Traditionslinien abendländischen Wissens künstlich voneinander trennen und die eine anachronistisch dem Bereich der Faktizität, die andere jenem
der Fiktionalität zuordnen. Bei Juan de la Cosa ist auf eine für seine Zeit gänzlich selbstverständliche Weise das Vorgefundene mit dem Erfundenen verwoben, so daß man sehr wohl formulieren könnte, daß Amerika im Grunde von
Europa aus erfunden worden ist, bevor es von denselben Europäern aufgefunden und in die eigenen Kartennetze eingetragen werden konnte.14 Auf die
faktenschaffende Wirkkraft des Erfundenen, der Mythen, Legenden und Glaubensüberzeugungen ebenso der Seefahrer wie der Theoretiker, ebenso der Reisenden wie der Daheimgebliebenen, hat wie kaum ein anderer schon früh Alexander von Humboldt als der erste Globalisierungstheoretiker im eigentlichen
Sinne aufmerksam gemacht.15
Besonders deutlich scheint mir all dies am Beispiel nicht der karibischen
Inselwelt, sondern jenes Teiles der Amerikas zu werden, den wir heute als
Mexico bezeichnen. Denn noch vor seiner geographischen Auffindung und
Eroberung ist Mexico – wie sich bei einer genaueren Lektüre der entsprechenden Kartensegmente erschließt – bereits Teil eines weltweiten geschichtlichen
Prozesses de longue durée.
Denn Mexico beziehungsweise das vizekönigliche Neuspanien existiert an
der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert noch nicht auf den Kartenwerken der
Europäer; und doch ist es auf diesen bereits global vernetzt. Jahrzehnte vor
dem Erscheinen von Hernán Cortés im Hochtal von Anáhuac zeichnen die
Kartenwelten der Spanier ein erstes Bild dessen, was das künftige Mexico erst
noch sein wird: ein Teil jener gewaltigen und gewalttätigen Empresa de Indias16, jener ersten Phase beschleunigter Globalisierung, die in den
Capitulaciones de Santa Fe zwischen den Katholischen Königen und
13 Vgl. hierzu Yvette Sánchez: Coleccionismo y literatura. Madrid: Ediciones Cátedra 1999.
14 Vgl. hierzu das Standardwerk von Edmundo O’Gorman: La invención de América.
México: Fondo de Cultura Económica 1958.
15 Vgl. Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der
geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen
Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Vgl. zu dieser Dimension des Humboldtschen
Schaffens Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des
Wissens. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 2009.
16 Zur Aktualität dieses Themas vgl. den Roman von Erik Orsenna: L’Entreprise des Indes.
Paris: Stock/Fayard 2010.
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Christoph Columbus sowie im Vertrag von Tordesillas zwischen Spaniern und
Portugiesen unmittelbar vor und nach der ersten Landung der drei spanischen
Schiffe an jenen Küsten, die erst Amerigo Vespucci als Mundus Novus bezeichnen wird, die Verteilung von Macht und Gewalt über die Erdoberfläche
für lange Jahrhunderte festlegte. So ist die erste Sichtbarmachung Mexicos auf
europäischen Karten, von der wir wissen, die Visualisierung dessen, was es
noch nicht gibt, das aber in seinem Noch-Nicht-Sein oder Noch-Nicht-So-Sein
längst zu existieren begonnen und konkrete Gestalt angenommen hat. Die Erfindung geht der Findung mithin voraus.
Die einfache Scheidung zwischen Faktizität und Fiktionalität, gleichsam
zwischen Wahrheit und Lüge, scheint mir bei weitem zu schlicht zu sein, um
der Komplexität jener Wahrheit der Lügen – und der Lügen der Wahrheit –
gerecht werden zu können, von der die jahrtausendealte Wissenszirkulation
dessen, was wir heute als Literatur bezeichnen, im Spannungsfeld von Dichtung und Wahrheit zu berichten weiß.17 Jenseits einer seit geraumer Zeit um
sich greifenden Verarmung des Vokabulars, die sich zunehmend auch über die
Grenzen des englischsprachigen Raumes hinaus der Unterscheidung zwischen
fiction und non-fiction bedient, scheint es mir aus heutiger Sicht entscheidend
zu sein, daß sich das vor Ort Vorgefundene und das Erfundene miteinander in
einem Erleben und Erlebten verbinden oder – mit anderen Worten – im Zusammenhang eines Erlebenswissens stehen, das auch die Rezeptionsvorgänge
prägt. Denn es ist im selben Maße möglich, nicht nur das in Amerika ‘Gefundene’, sondern auch das auf Amerika Projizierte und damit ‘Erfundene’ zu leben und zu durchleben. Gelebte Findungen und Erfindungen also, wie die Literatur seit ihren Anfängen weiß.
Der kostbare Kartenentwurf von Juan de la Cosas Mappamundi wird damit
zum vielgestaltigen, Bild-Schrift und Schrift-Bild miteinander transversal verbindenden Medium des Wissens, das die wechselseitigen Verschränkungen
von Vorgefundenem, Erfundenem und Erlebtem, welches der Seefahrer, Steuermann und Kartograph festhielt, auf eindrucksvolle Weise sichtbar macht.
Dabei bilden Finden, Erfinden und Erleben zwar keine Dimensionen, die in
diesem kartographischen Meisterwerk scharf und eindeutig voneinander abgrenzbar wären, wohl aber einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang,
der noch heute auf faszinierende Weise in seiner Relationalität erlebbar und
nacherlebbar ist. Würde sich Columbus je auf den Weg gemacht haben, hätte
er seine Lügen nicht intensiv gelebt?18
Doch das ‘Unternehmen Indien’ ist kein bloßes Gedankenspiel. Vergessen
wir daher nicht: Juan de la Cosas Karte ordnet die Welt nicht nur anders an,
17 Ich spiele hier selbstverständlich nicht nur auf Goethes berühmte Titelfindung an, sondern
auch auf Mario Vargas Llosa: La verdad de las mentiras. Barcelona: Seix Barral 1990.
18 Bei Orsenna klingt dies in der letzten Frage seines Erzählers an den Genuesen ähnlich an:
„Hättest Du nicht gelogen und zuallererst Dich selbst belogen, würdest Du den Mut
gehabt haben, dich so weit gen Westen einzuschiffen?“ Erik Orsenna: L’Entreprise des
Indes, S. 372.
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sie ordnet sie in Teilen auch bereits unter. In die Findung der karibischen
Inselwelt wird die geostrategische Erfindung dieses Raumes im globalen Maßstab teilweise kryptographisch, teilweise aber auch mit aller wünschenswerten
Deutlichkeit eingeschrieben. Die Weltkarte wird so zu einer Anordnungsform
des Wissens und der Macht, die in der transmedialen Verschränkung von Bild
und Schrift die grundlegenden Konfigurationen des Wissens von der Welt –
und der Beherrschung der Welt – am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert
machtvoll und globalisierend vor Augen führt. Juan de la Cosas Karten- und
Schriftbild der damals bekannten und zum Teil vermuteten Welt reflektiert
nicht nur das Bild einer gegenwärtigen Welt, die sich ihrer Vergangenheiten
auf verschiedensten Ebenen bewußt ist: Es modelliert auch in einem prospektiven Sinne ein künftiges Weltbild, das in der Tat das Antlitz unserer Erde seit
der frühen Neuzeit entscheidend prägen sollte.
In die komplexe Relationalität zwischen dem Aufgefundenen und Vorgefundenen, dem Erfundenen und Imaginierten sowie dem Erlebten und Gelebten schreibt sich die Existenz des Noch-Nicht-Existierenden, die Präsenz des
für die Europäer noch unzugänglichen Mexico prospektiv ein. Es ist eine
dunkle Fläche am äußersten westlichen Rand des gewaltigen Kartenausschnitts, fast schon in Reichweite jener durch Fähnchen markierten europäischen Besitzungen im karibischen Raum, welche die Karte mit präzisen
Umrissen stolz verzeichnet, eine Terra incognita im Zeichen jenes Christophorus, der in deutlicher Anspielung auf jenen Genuesen, der den Christusträger,
die Taube und den Kolonisten gleichermaßen in seinem Namen führt, zur
nicht nur kartographischen Legitimationsfigur einer die Weltgeschichte fundamental verändernden Expansionsbewegung wird. Wir haben es mit einer
Visualisierung, einer Sichtbarmachung Neuspaniens beziehungsweise Mexicos noch vor dessen ‘Entdeckung’ und Findung, nicht aber – auch im Sinne
Ernst Blochs19 – vor dessen eigentlicher Erfindung zu tun. Und verbirgt auf
Juan de la Cosas Weltkarte die Christophorusfigur mit dem Christuskind nicht
auch noch das mögliche Versprechen einer Meerenge, einer Teilung der sich
abzeichnenden Landmassen, die den Europäern die Durchfahrt zu jenem anderen Meer gestatten könnte, das sich im äußersten Osten des Mappamundi ausbreitet? Zu jenem Meer, von dem den Europäern erstmals Marco Polo ausführlich berichtete, jenem Meer, aus dem sich die Umrisse des
sagenumwobenen Cipango erheben, das Columbus so sehr in seinen Bann
schlug?
Auf welch fundamentale Weise dieses Wissen mit der Macht verbunden ist,
braucht gewiß nicht eigens ausgeführt zu werden: Zu deutlich sind die Flaggen
europäischer Mächte etwa auf die Inseln der Antillen aufgepflanzt. Die in die
Weltkarte des piloto mayor eingetragenen Zeichen, Flaggen und Insignien
geostrategischen Kalküls machen es überdeutlich: Die Karibik wurde für die
Spanier sehr rasch zum militärischen Ausgangspunkt ihrer erfolgreichen Er19 Vgl. hierzu Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1973, S. 874.
60
oberungszüge in den Norden, in die Mitte und in den Süden dessen, was man
erst Jahrzehnte später – auf einer Weltkarte Mercators20 aus dem Jahre 1538 –
als amerikanischen Doppelkontinent begreifen sollte.
Die amerikanische Hemisphäre entstand folglich aus ihrer asymmetrischen
Beziehung zu Europa. Die Vektorizität dieser Karte des Juan de la Cosa beleuchtet aus zeitgenössischer Perspektive die Asymmetrie dieses Machtgefüges mit scharfem, fixierendem Licht. Und zugleich macht sie deutlich: Wenn
es eine Area auf unserem Planeten gibt, die in höchst verdichteter Form keine
eigentliche Raumgeschichte, sondern eine Bewegungsgeschichte repräsentiert,
dann ist es die sich hier erstmals abzeichnende Welt des transozeanisch wie
binnenamerikanisch verknüpften Archipels der Karibik.
So entsteht auf dieser Bewegungs-Karte ein Bild der Erde, innerhalb dessen
den Inseln und Archipelen eine wichtige, weltweite transareale Verbindungsfunktionen übernehmende Bedeutung zukommt. Mit ihren Umrissen zeichnen
sie nicht nur die militärischen Insel-Strategien einer iberischen Eroberung der
Welt nach, sondern verwandeln die gesamte Welt in eine Inselwelt, die über
die Meere miteinander verbunden ist und eine sich abzeichnende Relationalität
aufweist, welche von Europa, von der Iberischen Halbinsel aus, transkontinental gebündelt wird. Auf keiner anderen Karte wird die Dynamik des europäischen Expansionsprozesses, wird die Geschwindigkeit und historisch-mythologische Tiefenschärfe der ersten Phase beschleunigter Globalisierung mit
solcher Kraft, ja mit solcher Gewalt vor Augen geführt wie auf diesem anspruchsvollen, sich aus unterschiedlichsten Teilen zusammensetzenden Weltentwurf nicht einer Raum-, sondern einer Bewegungs-Geschichte. Sie dokumentiert und imaginiert die Macht einer Expansion, die alles in den von ihr
ausgelösten Wirbel zu ziehen suchte.
Die angesichts des Verlaufs der Conquista unbestreitbare militärische
Übermacht der spanischen Eroberer gründete sich nicht allein auf ihren gleichsam wissenschaftlich (oder protowissenschaftlich) verankerten Umgang mit
dem Vorgefundenen, sondern auch auf ihre Projektionen und die Formen des
Gelebten und Erlebten, die dem Eroberten sogleich einen Platz im eigenen
Wissen und Erleben – gleichsam in den Koordinaten vorab existierender Gittersysteme – zuwiesen. Von der Karibik aus – jener Weltregion, an deren
Rändern Christoph Columbus den Ort des irdischen Paradieses vermutete, den
er dann vor der Mündung des Orinoco eindeutig lokalisiert zu haben glaubte –
erfolgte die bewegungsgeschichtliche Übersetzung der spanischen beziehungsweise europäischen Expansion. In ihrem Verlauf ging es nicht zuletzt
darum, die Ordnungen, Anordnungen und Unterordnungen, aber auch die Verschränkungen ihres Wissens wenn nicht durchzusetzen, so doch weltweit beherrschend zu positionieren.
20 Vgl. hierzu Stefan Zweig: Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums. In: ders.:
Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902–1942. Frankfurt am
Main: S. Fischer Verlag 1990, S. 423.
61
In diesem Sinne kann man vom Gitternetz in der Tat als von einem modus
vivendi sprechen: Es perspektiviert das bereits Erlebte wie das noch zu Erlebende auf eine zugleich verortende und an ein Zentrum des Sinns rückgebundene Weise. Es konfiguriert dergestalt ein Lebenswissen, das in der Verortung
der je eingenommenen eigenen Position ein (nautisches, technologisches,
ideologisches oder religiöses) Überlebenswissen, zugleich aber auch ein Erlebenswissen programmiert, das alles neu Erlebte räumlich anordnet, zuordnet
und einem zentrierenden, globalisierenden Sinnmittelpunkt – sei er weltlicher
oder transzendenter Natur – unterordnet.
Juan de la Cosas Weltkarte ist dabei – dies mag auf den ersten Blick überraschen – von einer doppelten Zentrierung geprägt. Denn zum einen rückt er
ganz selbstverständlich in west-östlicher Beziehung jenes Iberien und damit
jenes Europa in den Mittelpunkt, von dem aus die Gebiete im Osten (Indias
Orientales) wie im Westen (Indias Occidentales), aber auch das von den Portugiesen längst umrundete und mit Befestigungen aller Art versehene Afrika in
einen in Entstehung begriffenen weltweiten Kolonisierungs- und Handelsverkehr unter europäischer Führung einbezogen werden konnten.
Die wohl im südspanischen Puerto de Santa María angefertigte Karte des
Jahres 1500 zeigt, wie sehr hier ein geographisch kleiner, aber hochdynamischer Teil der Erde als Machtzentrum der Globalisierung jenen um ein Vielfaches größeren Teilen des Planeten gegenübertritt: Weite Gebiete der Erdkugel
werden von den Globalisierern in erstaunlich kurzer Zeit in Objekte ihrer Expansion verwandelt. In der genordeten Kartographie liegt Europa selbstverständlich ‘oben’, thront räumlich ‘über’ den von ihm ins Fadenkreuz genommenen Gebieten: Die kleine, stark untergliederte westliche Erweiterung Asiens
zeichnet sich durch ihre im mehrfachen Sinne überlegene Position aus. Ein an
den Interessen Europas ausgerichtetes Wissen von der Welt beginnt sich immer stärker in den rasch wachsenden europäischen Machtzentren zu bündeln.
Wie schnell sich dieses Wissen erfassen und in die Gitternetze eintragen läßt,
zeigt Juan de la Cosas Meisterwerk, wurde es doch kaum sieben Jahre nach
der Rückkehr des Columbus aus der ‘Neuen Welt’ abgeschlossen.
Doch dieser ersten ist noch eine zweite Form der (ebenfalls nicht allein)
kartographischen Zentrierung beigegeben. Denn es dürfte schwerfallen, die
Bedeutung jener bereits mit Blick auf die Künste wie die Kartographie erwähnten Tatsache zu überschätzen, daß die Weltkarte des Juan de la Cosa eine
Entwicklung und mentalitätsgeschichtliche Konstellation repräsentiert, die –
zugleich auf arabischen und europäischen Impulsen fußend – im Florenz des
15. Jahrhunderts die Einführung der Zentralperspektive in Malerei und Kunst,
in Architektur und Städtebau auf so folgenreiche Weise vorantrieb. Im kreativen Schnittpunkt all dieser Entwicklungen: Portugal, Spanien und die großen
Städte Italiens.
Mit guten Gründen darf man wohl behaupten, daß neben die Erfindung der
kunstgeschichtlich so epochemachenden Zentralperspektive insbesondere
62
durch Brunelleschi und Alberti21 eine nicht weniger kunstvolle (und ebenfalls
arabische Einflüsse weiterführende) Erfindung trat: die Zentrierung der Welt
entlang und mit Hilfe der Äquatoriallinie, flankiert von den Wendekreisen des
Krebses und des Steinbocks. Sie begleitet uns auf ebenso ‘natürliche’ Weise
wie die Nordung unserer Karten und eröffnet jenen vektorisierten Raum der
Tropen, deren Begrifflichkeit sie stets als Bewegungs-Raum weltumspannenden Ausmaßes ausweist. Die Tropen bilden so auf dieser Weltkarte Mittelpunkt und Übergangsraum, Zentrum des Erdballs (oder Erdapfels wie bei
Martin Behaim) und Schwelle zum Anderen einer den Europäern vertrauten
Welt zugleich: eine Kippfigur, die in der abendländischen Bildtradition immer
wieder neu gestaltet und ebenso künstlerisch wie kartographisch ausgemalt
wurde.
Auf diese Weise entstand das für uns noch immer gegenwärtige und alle
anderen Projektionen beherrschende abendländische Bild von unserer Erde,
ein Welt-Bild, das mit seiner Verknüpfung von Wissen und Macht, aber auch
von Vorgefundenem, Erfundenem und schon Erlebtem oder noch zu Erlebenden die bewegungsgeschichtliche Epistemologie jedweder (europäisch geprägten) Globalisierung bildet. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Was
weltweit ist und wie weltweit gedacht werden kann, so ließe sich sagen, wird
bis heute in einer von Europa kulturell markierten Welt noch immer von jenen
Grundlagen des Denkens, Verstehens und Erlebens geregelt, die als Epistemologie in der doppelten Zentrierung jener Weltkarte des Jahres 1500 auf so beeindruckende Weise sichtbar gemacht worden sind. Wir haben es mit der Visualisierung einer transarealen Epistemologie zu tun, die Welt nur aus der
Zentrierung denken kann.
Inseln Wissen Meer: ein Inselbuch beschleunigter Globalisierung
Vor diesem epistemologischen wie machtpolitischen Hintergrund gewinnt eine
bestimmte Tradition der Repräsentation des Wissens von der Welt an
Signifikanz, die zwischen dem Ausgang des 15. und dem Übergang zum 17.
Jahrhundert ihre eigentliche Blütezeit erreichte. Sie ist als Gattung mit der Bezeichnung Isolario oder „Inselbuch“ verknüpft und läßt sich weit weniger dem
iberischen Raum – auch wenn es etwa in Spanien den berühmten und in den
vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstandenen Islario general de todas las
islas del mundo („Allgemeines Inselbuch aller Inseln der Welt“) von Alonso de
Santa Cruz gab22 – als der Einflußsphäre der Seemacht Venedig zuordnen.23 In
der Lagunenstadt liegt gleichsam die Matrix dieser historisch so reichen, aber nur
auf den ersten Blick auch historisch gewordenen Gattung der Insel-Bücher.
21 Vgl. hierzu aus kunstgeschichtlichem Blickwinkel Hans Belting: Florenz und Bagdad,
S. 180–228.
22 Vgl. hierzu Tom Conley: Virtual Reality and the „Isolario“. In: Annali d’Italianistica
(Chapel Hill) 14 (1996), S. 126 f.
23 Vgl. hierzu Silvana Serafin: Immagini del mondo coloniale nella cultura veneziana dei secoli XVI e XVII. In: Rassegna Iberistica (Venezia) 57 (Juni 1996), S. 39–42.
63
Im folgenden soll die Form des Isolario, wie sie gattungsgeschichtlich in
etwa parallel zu den Kartenwelten eines Juan de la Cosa entstanden und zu
Beginn des 16. Jahrhunderts mit weltweitem Zuschnitt entfaltet worden ist, als
eine Anordnungsform von Wissen verstanden werden, die das zeitgenössische
Wissen von der Welt in einer sicherlich komplementären, zugleich aber auch
alternativen Form als Epistemologie einer anderen Sichtbarmachung zuführte.
Welche Grundlagen des Denkens aber führt uns die Gattung des Insulariums
vor Augen?
Ein Blick auf die Entfaltung dieser literarische und kartographische, lyrische und geographische Traditionen raffiniert miteinander verbindenden Gattung in der Frühen Neuzeit soll uns die Beantwortung dieser Frage erleichtern.
Der Reigen großer venezianischer Insel-Bücher wurde von Bartolomeo dalli
Sonetti eröffnet, der im Jahre 1485 einen Isolario über die Inseln der Ägäis
veröffentlichte, welcher aus neunundvierzig Karten von Inseln sowie ebenso
vielen den jeweiligen Insel-Karten zugeordneten Sonetten bestand und als
komplexer Ikonotext aufgefaßt werden kann.24 In diesem in Venedig
veröffentlichten Werk ging es nicht mehr um handgezeichnete Karten von
praktischem Nutzen, sondern um eine – wie sich zeigen sollte – künstlerisch
produktive und erfolgreiche Kombinatorik von Bild und Schrift. Das ikonotextuelle Aufeinanderbezogensein von Schrift-Bild und Bilder-Schrift, das sich
nicht auf eine wechselseitig bloß illustrierende Funktion beschränkt, brachte
die lyrische Form des Sonetts als Verdichtungsform einer Abgeschlossenheit
in einen unmittelbaren Zusammenhang mit jener Isolation, wie sie die Insel
selbst als in sich abgeschlossene, rundum von Wasser umgebene Struktur charakterisiert. Insel-Karten korrespondierten in diesem für die Entwicklung des
Genres so wichtigen Werk auf ästhetisch gelungene Weise mit Insel-Texten,
die sich als Ausdrucksformen der Lyrik verdichteter Schreibweisen bedienten.
Die lyrische Form des Sonetts bildet dergestalt eine Text-Insel, die als Insel-Text eine ebenso klar konturierte graphische ‘Außengrenze’ markiert wie
die kartographische Zeichnung ein zunächst in sich geschlossenes Zeichensystem präsentiert. Daß diese Affinität zwischen Gedicht und Insel keineswegs
als ein historisch wie geographisch begrenztes Phänomen der Frühen Neuzeit
angesehen werden darf, sollte die Tatsache belegen, daß der große Dichter der
englischsprachigen Karibik Derek Walcott am 7. Dezember 1992 in seiner
Rede aus Anlaß der Entgegennahme des Literatur-Nobelpreises die Dichtkunst
mit der Insularität gleichsetzte und pointiert betonte: „Poesie ist eine Insel, die
24 Vgl. Tom Conley: Virtual Reality and the „Isolario“, S. 121. Diese Traditionslinie bleibt
weitestgehend unreflektiert in der Übersicht von Volkmar Billig: Inseln. Geschichte einer
Faszination. Berlin: Matthes & Seitz 2010. Die dort zu findende Aussage, daß es „vor
dem Ende des 18. Jahrhunderts niemandem in den Sinn gekommen zu sein [scheint], von
einer Insel der Poesie oder Fantasie zu reden, wie es seit der Goethezeit und der
Romantik in einer Fülle von Textstellen bezeugt ist“ (ebda., S. 13), ist zweifellos nicht
haltbar.
64
vom Hauptland wegbricht.“25 Gerade im Kontext von Archipelen gelte es, die
Besonderheit jeder einzelnen Insel zu begreifen und sie nicht allesamt – wie
etwa die Inseln der Karibik – in homogenisierenden Werbediskursen miteinander verwechselbar und austauschbar zu machen.26 Dieses komplexe Verhältnis zwischen Insel und Kontinent hatte der große Dichter der Karibik bereits
zuvor in einem Sinnbild erläutert:
Zerbrich eine Vase, und die Liebe, welche die Fragmente wieder zusammensetzt, ist stärker
als jene Liebe, welche ihre Symmetrie als gegeben annahm, solange sie ganz war. Der
Klebstoff, der die Stücke zusammenfügt, ist das Siegel seiner ursprünglichen Gestalt. Solch
eine Liebe ist es, die unsere afrikanischen und asiatischen Fragmente wieder zusammensetzt, die zerbrochenen Erbstücke, deren Restaurierung ihre weißen Narben zeigt. Dieses
Aufsammeln zerbrochener Stücke ist Pflege und Leid der Antillen; und wenn die Stücke
disparat sind und schlecht passen, dann wohnt ihnen mehr Leid inne als ihrer ursprünglichen Skulptur, diesen Ikonen und heiligen Gefäßen, die an ihren altehrwürdigen Orten als
gegeben gelten. Antillanische Kunst ist diese Restaurierung unserer zerschmetterten Geschichten, unseres Vokabulars in Scherben, unserer Archipele, die zu Synonymen dafür
wurden, vom ursprünglichen Kontinent weggebrochene Stücke zu sein.27
Es kann und soll an dieser Stelle nicht um die vielfältigen Beziehungen
gehen, die man zwischen der Vorstellung vom zerbrochenen Gefäß bei Derek
Walcott und den Überlegungen Walter Benjamins zur Aufgabe der
Übersetzung herstellen könnte, wo mit Blick auf die Multiplizität der
Sprachen sinnreich von den „Scherben eines Gefäßes“28 die Rede ist. Für
unseren Zusammenhang relevanter scheint mir hier die Vorstellung vom
Archipel der Antillen als Sammlung von Scherben, die den ‘ursprünglichen’
Kontinenten – und damit ebenso Amerika wie Afrika, Asien oder Europa –
entstammen. Das Insel-Fragment wird so bei Walcott parallel zur Text-Insel
des Gedichts als Teil einer Totalität gedacht, ja avanciert zu deren Präsenz im
eigentlichen (und konzentrierten) Sinne, wird aber zugleich im Pathos einer
Zerbrochenheit in ihrer Vernarbung präsent, die dem Gefäß, der Vase, gerade
in diesem zerschmetterten Zustand Leben einhaucht. Die Inselwelt der
Karibik inszeniert sich in den Worten Walcotts als eine Totalität in
Fragmenten, zeigt sich als Welt, in der das Nicht-Ursprüngliche die
25 „Poetry is an island that breaks away from the main.“ Derek Walcott: The Antilles, Fragments of Epic Memory. The 1992 Nobel Lecture. In: World Literature Today (Oklahoma)
LXVII, 2 (Spring 1993), S. 261–267; hier zitiert nach Derek Walcott: The Antilles: Fragments of epic Memory. In: ders.: What the Twilight Says. Essays. New York: Farrar,
Straus and Giroux 1998, S. 70. Vgl. hierzu im Kontext insularer Epistemologie Ottmar
Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik.
In: Marianne Braig/Ottmar Ette u.a. (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen, S.
135–180.
26 Derek Walcott: The Antilles, Fragments of Epic Memory. The 1992 Nobel Lecture, S. 81
f.
27 Ebda., S. 69.
28 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV,
1. Herausgegeben von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 18.
65
Ursprünge dramatisch überhöht, gibt sich als ein Mikrokosmos zu erkennen,
in welchem alle Kontinente zueinander finden, ohne die ihnen angetane
Gewalt doch je verleugnen zu wollen. Noch in den Scherben der Worte sind
die Worte der Schergen hörbar.
Doch kehren wir an dieser Stelle wieder von der vierten zur ersten Phase
beschleunigter Globalisierung zurück: zu jenen zerschmetterten Geschichten,
aus denen die Antillen schon seit dem ersten Globalisierungsschub gemacht
sind.
Daß Insel-Bücher keineswegs allein mit den Sprachen und Formen der Lyrik kombinierbar sind, zeigte über vierzig Jahre nach Bartolomeo dalli Sonettis
Isolario der ursprünglich aus Padua stammende Benedetto Bordone, der ebenfalls in Venedig erstmals im Jahre 1528 sein Insel-Buch erscheinen ließ. Mit
diesem Buch, das in einen Zeitraum sich deutlich intensivierender literarischer
Insel-Produktion fällt, für die Thomas Morus’ Utopia (1516) stellvertretend
stehen mag,29 gilt es, sich etwas ausführlicher zu beschäftigen – und dies nicht
allein, weil zum selben Zeitpunkt, also für das Jahr 1528, gerade im Englischen die ersten Belege für ein Reden von „der ganzen Welt“ (the whole
world) nachgewiesen sind.30 Denn sein Erscheinungszeitpunkt liegt nicht nur
nach der sogenannten ‘Entdeckung’ Amerikas, sondern auch nach der Eroberung der Hauptstadt des Aztekenreiches durch die Spanier unter Hernán Cortés
– und damit nach der ersten dauerhafteren Konfrontation mit amerikanischen
Hochkulturen.
Vor dem Hintergrund dieser gerade auch kulturellen Herausforderungen für
das Selbstverständnis der Europäer kann dieses überaus erfolgreiche Werk für
sich in Anspruch nehmen, anders als Bartolomeo dalli Sonettis Isolario nicht
nur einen Teil des Mittelmeeres, sondern eine ganze Welt von Inseln in weltweiter Projektion entworfen zu haben. In Bordones Isolario stoßen wir auf
eine frühe Antwort ebenso auf die erste Phase beschleunigter Globalisierung
wie auch auf all jene Problematiken, die aus der Frage nach der Konvivenz mit
einer unbestreitbaren Vielfalt an Religions-, Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen entstanden.
Der wohl um 1460 geborene „Intellektuelle aus Padua“31, der am 10. April
1539 in Venedig verstarb und dessen unehelicher Sohn Scaliger eine der bekanntesten Figuren des europäischen Humanismus werden sollte,32 veröffentlichte 1528 die Erstausgabe seines Insel-Buches unter dem recht ausführlichen
Titel Libro di Benedetto Bordone nel qual si ragiona de tutte l’isole del
mondo, con li lor nomi antichi & moderni, historie, favole, & modi del loro vi29 Vgl. hierzu Volkmar Billig: Inseln. Geschichte einer Faszination, S. 81–88.
30 Vgl. hierzu Steven Connor: „I Beliebe That the World“. In: Vera Nünning/Ansgar
Nünning u.a. (Hg.): Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives. Berlin/New
York: Walter de Gruyter 2010, S. 30.
31 Silvana Serafin: Immagini del mondo coloniale, S. 39.
32 Vgl. hierzu Robert W. Karrow: Benedetto Bordone. In: ders.: Mapmakers of the Sixteenth
Century and their Maps. Chicago: Speculum Orbis Press 1993, S. 89.
66
vere & in qual parte del mare stanno, & in qual parallelo & clima giacciono.33 Nachfolgende Editionen, die noch zu Lebzeiten des Autors ebenfalls in
Venedig erschienen, trugen seit 1534 den bündigeren Titel Isolario, der sich
mit Bezug auf dieses Werk auch weitgehend in der Forschung durchgesetzt
hat. Daher soll im folgenden Bordones Libro als Isolario bezeichnet und damit
deutlich auf die skizzierte venezianische Gattungstradition des Insularium bezogen werden.
Bordones Insel-Buch besteht aus drei schon in ihrem Umfang sehr ungleichen Teilen, deren erster mit insgesamt neunundzwanzig Karten die atlantische Inselwelt einschließlich der Ostsee enthält, deren zweiter mit dreiundvierzig Karten die Inseln des Mittelmeers beleuchtet, und deren dritter mit nur
mehr zehn Karten die Inseln des Fernen Ostens aufruft. Dabei versucht Bordone, in einer sich im Aufbau wiederholenden Abfolge gleichsam wissenschaftlich geordnet Informationen zur geographischen Lage, zu Klima und
Geschichte, zur Bevölkerung, zu Fauna oder Flora und vielen weiteren Aspekten von allgemeinem Interesse für seine europäische Leserschaft zu geben.
Schematische Zeichnungen zur Gradeinteilung der Erdkugel (die ohne die
zeitgenössischen Diskussionen um Ptolemäus’ kartographische Projektionen
gewiß nicht so umfangreich ausgefallen wären), Angaben zu den Wendekreisen sowie zur Schiefe der Ekliptik des Globus, zur Segmentierung der Windrose in Antike und Gegenwart, aber auch Überblickskarten von Europa, dem
östlichen Mittelmeer sowie der gesamten zum damaligen Zeitpunkt bekannten
Welt runden Bordones Isolario ab und vermitteln dem zeitgenössischen Leser
– und darin dürfte ein Gutteil der Attraktivität des Werkes gelegen haben – ein
ebenso anschauliches wie farbenfrohes Bild von unserem Planeten. Gerade die
‘wissenschaftliche’ Rahmung signalisiert den Anspruch des Isolario, seinen
Betrachtern und Lesern verlässliche, faktenbezogene Informationen und damit
ein ‘wahres’ Wissen über die unterschiedlichsten Weltteile zu verbreiten.
Translokale Bezüge etwa zwischen unterschiedlichen Inseln desselben Archipels runden die jeweiligen Textteile ab.
Vergleicht man Benedetto Bordones Weltkarte34 von 1528 (Abb. 4) mit jener des Juan de la Cosa aus dem Jahre 1500, so zeigt sich zum einen zwar
deutlich, wie sehr die europäischen Kartennetze nun den gesamten Planeten
33 Benedetto Bordone: Libro di Benedetto Bordone nel qual si ragiona de tutte l’isole del
mondo, con li lor nomi antichi & moderni, historie, favole, & modi del loro vivere & in
qual parte del mare stanno, & in qual parallelo & clima giacciono. Con il breve di papa
Leone. Et gratia & privilegio della Illustrissima Signoria com’ in quelli appare. Vinegi
[Venezia]: per Nicolo d’Aristotile, detto Zoppino 1528. Im folgenden beziehe ich mich
auf diese Ausgabe, die überdies als elektronische Fassung 2006 im Harald Fischer Verlag
in Erlangen erschien. Die Übersetzung des Titels ins Deutsche könnte lauten: „Buch des
Benedetto Bordone, worin von allen Inseln der Welt berichtet wird, mit ihren alten &
modernen Namen, ihren Geschichten, Erzählungen & Arten ihres Lebens & in welchem
Teil des Meeres sie sind & unter welchem Breitenkreis & Klima sie liegen“.
34 Ein Abdruck dieser Karte findet sich im „Unsichtbaren Atlas“ in der bereits genannten
Edition von Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung, Bd. 2, Abb. 28.
67
erfassen und in die gleiche Spatialität und Temporalität integrieren (oder
zwingen). Bordone erweist sich hier als ein Kartograph, der sich der wesentlich von Florenz ausgehenden Diskussionen um die Perspektive bewußt ist
und diese in sein eigenes Kartenbild zu integrieren versteht. Zum anderen aber
wird deutlich, daß die im Vergleich zu Juan de la Cosa wesentlich geringere
Präzision des venezianischen Isolario auf eine andere Ausrichtung und Zielsetzung dieses Inselbuches hindeutet. Gewiß: Die spanische Karte von 1500
war nicht für ein größeres Publikum, sondern für sehr begrenzte politische und
militärische Eliten im spanischen Kolonialsystem bestimmt. Sie repräsentiert
das Herrschaftswissen einer Weltmacht, die über detaillierte, aber geheim zu
haltende Informationen verfügt, ohne die nachfolgende Eroberungen ferner
Weltteile gar nicht möglich gewesen wären.
Juan de la Cosas Karte ist folglich direkt in eine Pragmatik eingebunden, in
der das vor Ort Vorgefundene, das in einer anderen Zeit und in einem anderen
Raum Erfundene sowie das eigene Erlebte in eine nautisch-militärische Zielsetzung integriert werden, die man mit Fug und Recht als expansionistische
Weltpolitik der spanischen Krone in Konkurrenz zu anderen Weltmächten
(und insbesondere der Seemacht Portugal) bezeichnen muß.
Dies ist in Benedetto Bordones Isolario in weitaus geringerem Maße der
Fall, auch wenn die Interessen der Handelsmacht Venedig in allen Teilen dieses Weltentwurfes spürbar sind. In Bordones Insularium stößt man im Vergleich mit der spanischen Weltkarte von 1500 nicht nur auf zahlreiche Ungenauigkeiten, sondern auch auf eine Vielzahl an Widersprüchen, die sich dem
aufmerksamen Blick des Betrachters rasch enthüllen.
Vergleicht man etwa die Einzelkarte der Insel Cuba35 aus dem ersten Teil
mit jenen Inseln der Karibik, die auf der Weltkarte desselben Bandes eingezeichnet sind, so erkennt man leicht, daß sich die Zeichnung der Umrisse Cubas – die nicht das Geringste mit der Genauigkeit bei Juan de la Cosa 28 Jahre
zuvor zu tun hat – nirgendwo wiederfinden läßt. Auf der separaten Karte von
Cuba erscheint bei Bordone eine Insel, deren im Grunde schematisiert und
austauschbar gezackte und gebuchtete Küstenverläufe das Kartenbild eines
Eilands erfinden, in dessen Binnenraum Gebirge und Hügel, Wälder und
Äcker, aber auch italienisch anmutende Gehöfte zu sehen sind. Die erste kartographische Einzeldarstellung von Cuba bietet das Bild einer erfundenen Insel.
Es wäre zu einfach, wollte man Bordone hier der Lüge bezichtigen und seinem Werk jedwede Glaubwürdigkeit bestreiten. Denn das Insularium entpuppt
sich hier zugleich als Imaginarium. Auf durchaus andere, mit Juan de la Cosa
35 In der von ihr kuratierten Ausstellung „Faszination Kuba“, die erstmals an der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vom 7. März bis 19. Mai 2007 gezeigt und am 23.
April 2009 an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken wiedereröffnet wurde, hat
Birgit Oberhausen die Bedeutung dieser Karte zurecht hervorgehoben. Vgl. den
Ausstellungskatalog von Birgit Oberhausen: Faszination Kuba in der Landesbibliothek:
Literatur und Kultur 1492/2006. Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek 2007.
68
nur begrenzt vergleichbare Weise gehen Finden und Erfinden bei Bordone
Hand in Hand, entwerfen zugleich aber auch eine Welt, in der in den Begleittexten die unterschiedlichsten menschlichen Lebensformen und Lebensnormen
kopräsent sind. Denn gerade die Differenz in Fragen der Konvivenz wird im
Isolario immer wieder in den Vordergrund gestellt.
Auch wenn die in Benedetto Bordones Isolario integrierte Weltkarte versucht, ein Gesamtbild der Erde gleichsam als ‘Totaleindruck’, auf einen Blick,
zu ermöglichen, weisen die zahlreichen Abweichungen zwischen den separaten Insel-Karten und der ‘vollständigen’ Gesamtkarte doch darauf hin, daß der
Schwerpunkt dieses Werkes von 1528 darauf gelegt wurde, die Dimension des
Weltweiten nicht aus einer homogenisierenden Perspektive zu betreiben, sondern naturgeschichtliche, klimatische, historische und kulturelle Diversität
plastisch vor Augen zu führen. Darin, so scheint mir, liegt die Besonderheit
der dieser transmedialen Gattung eingeschriebenen Traditionslinie. Denn sie
beharrt auf Polyperspektivität.
Dies wird bereits im ersten, transatlantischen Teil in aller Deutlichkeit
sichtbar. An die jeweils mit ausführlichen Textteilen versehenen Karten von
Island, Irland, Südengland, von der Bretagne, Nordwestspanien und Skandinavien schließen sich die nicht weniger textuell eingebetteten Karten von Nordamerika und des Nordatlantik, der Stadt Temistitan (also Tenochtitlán, das
spätere Mexico), von Zentral- und Südamerika, Hispaniola, Jamaica, Cuba
sowie weiterer karibischer Inseln an, bevor wir über Porto Santo, Madeira, die
Kanarischen Inseln, die Kapverden und die Azoren wieder die Bucht von
Cádiz in Südspanien und damit die Alte Welt in einem sich rundenden Kreis
erreichen. Bereits die Nennung der Stationen dieser transatlantischen ‘Rundreise’ demonstriert, daß wir es hier nicht nur mit im tranditionellen Sinne in
Gänze von Wasser umschlossenen Inseln zu tun haben, sondern Teile von
Kontinenten einbezogen sind, auch wenn nicht alle dieser zuletzt Genannten
bereits für die Zeitgenossen als Kontinente erkennbar und bekannt sein konnten. Aufgrund der nicht flächigen, sondern punktuellen Vorgehensweise entsteht ein translokales Beziehungsgeflecht der Differenz, das weltumspannend
angelegt ist.
Offenkundig ist, daß die nicht nur mit Blick auf Labrador, Zentralamerika,
Mexico oder Südamerika, sondern auch auf Skandinavien, das spanische Galizien oder die kontinentaleuropäische Bretagne unstrittig überaus weite Fassung des Begriffes „Insel“ eine Welt modelliert, die sich aus den verschiedenartigsten Lagen und Größen, Formen und Figuren von Inseln zusammensetzt.
Mithin dominiert nicht eine kontinentale, das heißt zusammenhängende, kontinuierliche Sichtweise der Welt – wie sie durch die untereinander zusammenhängenden altweltlichen Kontinente Asien, Europa und Afrika nahegelegt
wird –, sondern eine hochgradig diskontinuierliche und fragmentierte Weltsicht, die eine gleichsam zersplitterte, in einzelne Scherben zerborstene Welt
69
vor Augen führt. Es ist – um es mit einer Formel von Clifford Geertz36 zu sagen – eine Welt in Stücken: eine höchst komplex in Inseln zerstückte Welt, die
nur sehr schwer einer einzigen Macht zu unterwerfen und in eine menschheitsoder heilsgeschichtliche Kontinuität zu bringen ist. Denn jede Insel ist zwar
Teil einer zusammenhängenden Welt, eröffnet aber eine je besondere Perspektive auf diesen definitiv zur Erdkugel gerundeten Planeten.
Daß sich die Insularien gerade in der venezianischen Welt entwickelten und
zu einer eigentlichen „Spezialität“ der Lagunenstadt wurden,37 ist sicherlich
nicht dem Zufall geschuldet. Auch in Bordones Libro oder Isolario läßt sich
die Sonderstellung Venedigs im weltweiten Maßstab bereits auf den ersten
Blick erkennen. Denn der auf Pfählen errichteten Stadt ist – neben Einzelkarten zu den Inseln Murano oder Mazorbo – ein besonders liebevoll und mit 230
x 326 mm kaum kleiner als die Weltkarte ausgeführter Stadtplan beigegeben,
der die Inselstadt mit ihrem Lido und dem Festland als das Zentrum eines Archipels entwirft.38 Urbi et orbi: Wir haben es mit einer Stadt als Mikrokosmos
einer ganzen Welt zu tun. Stadt und Welt werden hierbei als Inseln perspektiviert und in Szene gesetzt.
Aus diesem Blickwinkel aber wird deutlich, warum im ersten Teil Tenochtitlán, La gran citta di Temistitan, als Hauptstadt der Azteken eine besonders
herausgehobene Stellung zuerkannt wurde. Zwar blieb der Plan des späteren
Mexico-Stadt mit einer Größe von 164 x 163 mm deutlich kleiner als der Plan
Venedigs; doch waren die der Hauptstadt Moctezumas gewidmeten und vielfach auf die zeitgenössischen, insbesondere von Nicolò Liburnio39
ausgearbeiteten Darstellungen zurückgreifenden Seiten, in welchen die Cartas
de relación beziehungsweise deren Verfasser Hernán Cortés explizit genannt
wurden, überaus umfangreich.40 Kein Zweifel: Tenochtitlán war für Bordone
mehr als ein Klein-Venedig, als ein ‘Venezuela’. Was Venedig in den Augen
von Bordone für die Alte Welt, das war die Hauptstadt der Azteken für die
Neue Welt.
Mit größter Sorgfalt und Bewunderung werden im Isolario die „wunderbaren Besitztümer“41 der in der Tat schon zum damaligen Zeitpunkt größten
Stadt des amerikanischen Kontinents geradezu besungen. Und zugleich wird
bei allen ebenfalls markierten Unterschieden – etwa zwischen der Lage in einem salzigen Meer oder einem Süßwassersee in den Bergen, zwischen unterschiedlichen Klimaten in der Alten und der Neuen Welt etc. – doch das Phä36 Vgl. Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts.
Aus dem Englischen übersetzt von Herwig Engelmann. Wien: Passagen Verlag 1996.
37 Robert W. Karrow: Benedetto Bordone, S. 93.
38 Benedetto Bordone: Libro, Bl. XXX.
39 Vgl. Nicolò Liburnio: La preclara narratione di Ferdinando Cortese della nuova
Hispagna del mare Oceano. Venetia: Bernardino de Viano 1524. Vgl. hierzu Silvana
Serafin: Immagini del mondo coloniale, S. 40.
40 Benedetto Bordone: Libro, Bl. X.
41 Vgl. hierzu Stephen Greenblatt: Marvellous Possessions: the wonder of the New World.
70
nomen herausgestellt, daß Tenochtitlán wie Venedig auf unzähligen kleinen
Inseln aufruht, was beide in spezifischer Weise als Inselstädte ausweist, die
aus und auf einer Vielzahl von Inseln und Inselchen erbaut sind. In diesem
Sinne sind sie InselInseln42, denen innerhalb einer transarchipelischen Welt
eine herausgehobene Machtstellung mit besonderen Machtansprüchen zukommt, bilden sie doch Fraktale einer Welt als Archipel. Man könnte hier sehr
wohl von einer transarealen Weltsicht in der Frühen Neuzeit sprechen.
Benedetto Bordones Isolario entfaltet in diesem Sinne eine vielgestaltige
Welt, in welcher die Aufspaltung in eine ungeheure Zahl an Inseln jede einzelne dieser für sich isolierten Einheiten als eine Insel-Welt mit jeweils spezifischen Charakteristika repräsentiert. Keine dieser Inseln ist auf eine andere reduzierbar: Alle besitzen sie im globalen Gitternetz mit Blick auf ihre Koordinaten, ihr Klima oder ihre Geschichte, hinsichtlich ihrer Sprachen, Sitten und
Gebräuche eine Eigenständigkeit, die sie – man würde im gegenwärtigen Bürokratendeutsch von einem „Alleinstellungsmerkmal“ sprechen – von allen
anderen Inseln abhebt. Auch wenn nicht wenige dieser Inseln Teile größerer
Archipele sind, werden ihre Verbindungen untereinander doch als sehr begrenzt dargestellt, so daß die Eigen-Logik dieser Insel-Welten mit ihren separaten Eilanden immer wieder unverkennbar hervorsticht.
Wenn jede Insel aber nicht nur eine für sich abgeschlossene Welt, mithin
eine Insel-Welt, sondern zugleich eine durch vielfache Relationen ausgezeichnete Inselwelt darstellt, dann zeigt sich in diesem Isolario sehr rasch, daß Benedetto Bordone die Eigenständigkeit zuungunsten der Relationalität oder der
Relationierbarkeit deutlich privilegierte. Dahinter aber, so steht wohl zu vermuten, verbirgt sich letztlich ebenfalls ein Machtanspruch: jener nämlich, von
Europa aus eben jene Vielverbundenheit und Relationalität herstellen zu können, die in der bisherigen Geschichte zwischen diesen Inseln noch nicht bestanden habe. Venedig erscheint als die im eigentlichen Sinne translokale und
vielleicht mehr noch translokalisierende Kraft, deren Politik und Handelsmacht die Welt in dieser ersten Phase beschleunigter Globalisierung zu verändern vermag.
Denn welche Macht wäre besser für die Herstellung weltweiter Relationalität geeignet als eine Seemacht, deren Hauptstadt selbst aus ungezählten Inseln besteht und deren Handelsmacht sich auf eine der größten Flotten der
Welt zu stützen vermag, eine Seemacht, die jederzeit in der Lage wäre, zwischen den Stützpunkten dieses weitgespannten Archipels rasch und effizient
zu übersetzen? Für Benedetto Bordone mußte Venedig prädestiniert dafür sein,
von Europa aus ein weltweites Beziehungsgeflecht aufzubauen, das die eigene
Inselwelt in eine globale, weltweit sich erstreckende Inselwelt umzuwandeln
verstünde. Eine Propagandaschrift für die im globalen Wettrennen ins
42 Vgl. hierzu meinen Beitrag Ottmar Ette: Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln,
Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive. In: Anna E. Wilkens/Patrick Ramponi
u.a. (Hg.): Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und
Entgrenzung. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 13–56.
71
Hintertreffen geratene Republik der Serenissima? Ganz zweifellos ist eine solche Deutung nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
So spiegeln sich im Wasser jenes gewaltigen Sees, in dessen Mitte sich die
Hauptstadt des Aztekenreichs als Insel erhebt, die Umrisse von Venedig –
ganz so, wie man den Stadtplan von Temistitan als unzweifelhaft venezianisiert bezeichnen könnte. In der Beschreibung oder besser Inszenierung der
Schönheit dieser Stadt, die mit menschlicher Sprache43 kaum zum Ausdruck
zu bringen sei, stoßen wir folglich nicht nur auf eine die gesamte Landschaft
umfassende Tropikalisierung eines locus amoenus,44 sondern auch auf eine
Hommage an jene Lagunenstadt, die parallel zu ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht zu einem der Zentren für die Zirkulation von Wissen über die
außereuropäische Welt geworden war. Denn jenseits aller Fehler, welche die
Werke der „antichi“45 – und man fühlt hier den ganzen Stolz eines Menschen
der Renaissance – hinterlassen hätten, ist ein neues Wissen über den gesamten
Erdkörper und dessen Bewohner entstanden, das Benedetto Bordone in der erprobten Form eines Inselbuches zusammenzuführen versuchte, das sich nun
aber nicht mehr nur auf einen Teil des Mittelmeeres, sondern auf die gesamte
Welt, auf – so der Titel – tutte l’isole del mondo bezieht.
Dieses Wissen von der Welt bündelte sich in Europa; und so schien es aus
dieser Perspektive auch Europa vorbehalten zu sein, die so unterschiedlichen
Inseln der Welt translokal miteinander in Verbindung zu setzen. Wohlgemerkt:
von Europa aus und im Interesse der Alten Welt. Allein die Europäer und in
besonderem Maße die Venezianer – die gegenüber den Portugiesen und
Spaniern als Handelsimperium von den Gewürzinseln wie den Luxusgütern
des Fernen Ostens abgeschnitten zu werden drohten – verfügten über die infrastrukturellen Mittel und das dafür notwendige Wissen und Kapital. Der Isolario des aus Padua nach Venedig gekommenen Künstlers und Kartographen
schloß bewußt Insel und Meer mit dem Wissen zusammen und untermauerte
den fortgesetzten Anspruch der Lagunenstadt auf den Rang einer Großmacht
im Weltmaßstab.
West-östlicher Inselreichtum
Doch Bordones Insularium ist ohne Zweifel weitaus mehr als ein pro-venezianisches Plädoyer. Denn zugleich kommt in Bordones Werk anders als in den
zusammenhängenden, am Kontinentalen ausgerichteten graphischen wie
skripturalen Repräsentationen der Welt eine andere Weltanschauung zum
Ausdruck, die auf die Diversität aller Erscheinungen und Ausdrucksformen
hin angelegt ist. Betrachten wir etwa die Darstellung des Archipels der Karibik, welche in vielerlei Hinsicht noch den Informationsstand und die auf diesen Raum projizierten Mythen der Antike reflektiert, so bemerken wir rasch,
wie sehr sich die einzelnen kleineren Inseln nicht nur naturräumlich und natur43 Benedetto Bordone: Libro, Bl. 9 und 12.
44 Ebda., S. 12.
45 Ebda., unpaginierter Auftakt, S. 3.
72
geschichtlich, sondern vor allem funktional und kulturell voneinander unterscheiden. Bei den später so genannten Großen Antillen, die eine größere
Landmasse repräsentieren, findet sich wiederum eine starke Binnendifferenzierung, die ebenfalls viele Bereiche von Natur und Kultur umfaßt. Die Inseln
sind hochgradig ‘individualisiert’, auch wenn bei Benedetto Bordone – anders
als bei dem weitgereisten Steuermann Juan de la Cosa – das in anderen Quellen Vorgefundene wie das Erfundene dominieren und nicht im eigenen Erlebten verankert werden können. Gleichwohl präsentiert Bordone sein Inselbuch
im Sinne dreier verschiedener Parcours, die deutlich an die Wege eines Reisenden, nicht aber an die eines Gelehrten am heimischen Schreibtisch erinnern.
Das vielleicht beste Beispiel für die Binnendifferenzierung der Großen Antillen bildet die Insel Cuba, deren weltweit wohl erste separate Darstellung im
Kartenbild des Isolario von einem im Verhältnis zu anderen Inseln umfangreichen Schrift-Text begleitet wird. Diese Insel, die Christoph Columbus am 20.
Oktober 1492 nicht nur für „das Schönste, was Augen je gesehen“46, sondern
auch wegen ihrer Längenerstreckung für einen Kontinent hielt, erscheint auch
bei Bordone als „sehr große Insel“ (isola molto grande)47. Sie sei wie ein
Krokodil geformt und schare mehr als siebenhundert weitere Inseln und Inselchen um sich, die allesamt bewohnt seien.48 Cuba selbst erscheint damit –
ganz so, wie es bis heute in kubanischen Schulbüchern steht – als Archipel für
sich.
Benedetto Bordone, der offenkundig nur aus schriftlichen, nicht aber aus
kartographischen Quellen von der (angeblichen und bis heute tradierten) Krokodilsform der Insel erfahren haben dürfte und sich redlich bemühte, nach eigener Phantasie eine derartige Form im Kartenbild entstehen zu lassen, betonte
die „hohe Diversität bei den Sprachen und Sitten der Menschen“49, durch die
sich die große Insel auszeichne. Dies gelte nicht nur für die auf der Insel benutzten Sprach- und Lebensformen, sondern auch für die naturräumliche Ausstattung, für Fauna und Flora der Insel, in deren Binnenland sich dichte Urwälder ausdehnten.
Bordones Isolario läßt eine Welt aus Inseln entstehen, in der sich große und
kleine Landflächen, Eilande und Kontinente wie Inseln zueinander verhalten
und von einer jeweils sehr stark ausgeprägten Eigen-Logik charakterisiert sind.
Wir haben es in einem umfassenden Sinne mit einer Landschaft der Theorie zu
tun. Die Vielzahl an Eigen-Logiken führt zu einer Viel-Logik, zu einer Polylogik, die mit der Polyperspektivität einhergeht.
Damit erscheint die Welt in ihrer Gesamtheit nicht nur als eine Insel, wie
sie in einer späten Blüte des Genres im Jahre 1697 im Isolario von Vincenzo
46 Cristóbal Colón: Los cuatro viajes. Testamento. Edición de Consuelo Varela. Madrid:
Alianza Editorial 1986, S. 82.
47 Benedetto Bordone: Libro, Bl. XIII.
48 Ebda.
49 Ebda., Bl. XIIII: „molta diversita di parlare, di costumi di huomini“.
73
Maria Coronelli – „ein Weltatlas in Form eines Inselbuchs“50 – konfiguriert
wurde, sondern als eine Welt, die aus Inseln gebildet ist, die ihrerseits (wie
Cuba) aus Inseln bestehen oder deren Machtzentren (wie Venedig) aus Inseln
modelliert sind. Die ganze Welt ist in Bordones Isolario im fraktalen Sinne
eine Insel aus Inseln aus Inseln – eine Sichtweise, die nicht nur die Vektorisierung, sondern auch die Venezianisierung der künstlerisch-kartographischen
Projektionen unserer Erdkugel mit sich bringt. Das Insel-Fraktal wird gleichsam zur graphischen Welt-Formel.
So kann eine Insel auch stets eine andere Insel bergen (oder verbergen) sowie relational auf andere Inseln verweisen. Nicht umsonst hatte Christoph
Columbus als aufmerksamer Leser von Marco Polo die Insel Cuba mit jener
Insel Cipango oder Cipangu identifiziert, von deren Reichtum in Il Milione so
ausführlich die Rede ist. So hieß es zu Beginn dieser Beschreibung Cipangos
in Marco Polos ursprünglich in den Jahren 1298 und 1299 erstellten Bericht:
Gehen wir nun zur Beschreibung der Regionen Indiens über; dabei beginnen wir mit der
Insel Ciampagu, die eine Insel im Osten ist, draußen im offenen Meer, tausendvierhundert
Meilen von der Küste von Mangi entfernt. Sie ist äußerst groß, und ihre Bewohner, die
weiß sind und ein hübsches Aussehen besitzen, sind Götzendiener und haben einen König,
wobei sie an niemanden anderen Tribut zahlen müssen. Hier gibt es Gold in übergroßer
Fülle (abundancia), doch der Monarch erlaubt nicht leicht, daß es von der Insel ausgeführt
werde, so daß nur wenige Händler dorthin fahren und selten Schiffe anderer Regionen in
ihre Häfen gelangen. Der König der Insel besitzt einen großen Palast mit Dächern aus sehr
feinem Gold, so wie bei uns die Kirchen Bleidächer tragen. Die Fenster dieses Palastes sind
allesamt reich mit Gold verziert, und die Fußböden der Säle und vieler Wohnräume sind
mit goldenen Dielen versehen, welche zwei Finger dick sind. Hier gibt es Perlen in
äußerster Fülle, rund und dick und von roter Farbe, die an Preis und Wert die weißen Samenperlen übertreffen. Es gibt auch viele Edelsteine, so daß die Insel Ciampagu auf wunderbare Weise reich ist.51
Kein Zweifel: Spätestens mit Marco Polos Il Milione begann sich jenes koloniale Kaleidoskop zu drehen, in dessen Bewegungen sich Finden, Erfinden
und Erleben, mithin „Fakten“, „Fiktionen“ und Leben, zugleich aber Inselwelten Asiens und Inselwelten der Amerikas auf immer wieder neue Weise
miteinander transareal kombinierten. So ließe sich mit Blick auf Christoph
Columbus mit guten Gründen sagen: Die erste Reise eines Europäers durch die
Karibik war eine Reise des Lesens. Und Le livre de Marco Polo citoyen de
Venise, dit Milione, où l’on conte les merveilles du monde hatte daran einen
wohl kaum zu überschätzenden Anteil.
Selbst wenn Christoph Columbus noch Jahre nach seiner ersten Fahrt ‘seinen’ Marco Polo nur aus vielen indirekten Quellen geschöpft und diese zu50 Robert W. Karrow: Benedetto Bordone, S. 93: „a world atlas in the form of an island
book“.
51 El libro de Marco Polo anotado por Cristóbal Colón. El libro de Marco Polo versión de
Rodrigo de Santaella. Edición, introducción y notas de Juan Gil. Madrid: Alianza
Editorial 1987, S. 132.
74
nächst ohne die Kenntnis eines unmittelbaren Quellentextes auf die antillanische Inselwelt projiziert haben sollte,52 so tragen die Anmerkungen von der
Hand des Admirals in der ihm spätestens seit 1497 zur Verfügung stehenden
und auf uns gekommenen Abschrift doch mit aller Deutlichkeit die Handschrift einer Lektüre, die nach direkter, pragmatischer Übertragung und folglich nach konkretem Handeln drängt. So lauten die direkten Anmerkungen des
Genuesen zu der hier angeführten Passage des Millione schlicht: „Gold in
übergroßer Fülle“ (oro en grandísima abundancia) – „rote Perlen“53. Das von
Columbus betätigte koloniale Kaleidoskop projizierte seine glänzenden Bilder
in Hülle und Fülle: traumhafte Tropen, transarchipelisch.
So verkörpert sich die Inselwelt Asiens mitsamt ihren altweltlichen Nymphen und Meerjungfrauen in jener archipelischen Welt der Karibik, ohne deren
unvermitteltes – wenn auch fälschlich erwartetes – Auftauchen Columbus mit
seinen Schiffen im Meer versunken wäre, hätte er mit seinen Karavellen doch
aufgrund der immensen Entfernung die Küsten und Inseln Asiens nie und
nimmer erreicht. Die archipelische Struktur der Großen wie der Kleinen Antillen aber ließ ihn unter Rückgriff auf die Karte Toscanellis sicher werden, die
von dem Venezianer beschriebene asiatische Inselwelt um Cipango erreicht zu
haben. So ließ er sich bis zum Ende seines Lebens niemals mehr von seinem
festen Glauben abbringen, mit jenen Inseln und Teilinseln, die wir heute Cuba
und Jamaica, Haiti, Santo Domingo oder Martinique nennen, das archipelische
Asien des Marco Polo erreicht zu haben. AsiAméricas: Die Insel-Welten und
die Inselwelten Asiens und der Antillen überlagern sich in einem transarchipelischen Netz weltweiten Zuschnitts von der ersten Fahrt des Columbus an.
Es erscheint vor diesem Hintergrund als überaus bedeutungsvoll, daß der
Admiral im Dienste der Katholischen Könige im Jahre 1498 in das untere
linke Feld seines viergeteilten Wappens jene Welt von Inseln aufnahm, deren
Auftauchen aus dem Meer ihm buchstäblich das Leben gerettet hatte – und deren Auffindung ihn für alle Zukunft berühmt machen sollte.54 In gewisser
Weise könnte man in dieser schematisierten Darstellung die erste (europäische) Karte der Karibik erblicken. Aber war dies nicht zugleich eine Illustration der im Millione entworfenen asiatischen Inselwelt?
Denn schon bei Marco Polo zeichnete sich im achten Kapitel des dritten
Buches die Überzeugung ab, daß wir es nicht mit einer Insel, sondern einer
vielgestaltigen, dem asiatischen Kontinent vorgelagerten Inselwelt zu tun haben:
52 Vgl. hierzu Juan Gil: Libros, descubridores y sabios en la Sevilla del Quinientos. In: El
libro de Marco Polo anotado por Cristóbal Colón, S. vi f.
53 El libro de Marco Polo anotado por Cristóbal Colón, S. 132.
54 Eine Abbildung dieses Wappens findet sich im „Unsichtbaren Atlas“ des soeben neu
edierten Werkes über die Entdeckung der Neuen Welt von Alexander von Humboldt:
Kritische Untersuchung, Bd. 2, S. 219.
75
Das Meer, in dem sich die Insel von Ciampagu findet, ist ein Ozean und wird das Meer von
Cim genannt, folglich „das Meer von Mangi“, da die Provinz Mangi die Küste bildet. In
diesem Meer, in welchem Ciampagu liegt, finden sich weitere äußerst zahlreiche Inseln, die
nach sorgfältiger Zählung durch die Seeleute und Steuermänner jener Region eine Zahl von
siebentausend ccclxxviii ergeben, wobei der größte Teil von Menschen bewohnt ist. Auf
allen diesen erwähnten Inseln tragen die Bäume Gewürze, denn hier wächst kein Strauch,
der nicht sehr aromatisch und nützlich wäre. Hier gibt es eine unendliche Zahl an Gewürzen; es gibt Pfeffer, der so sehr weiß ist wie der Schnee; auch gibt es höchste Fülle an
schwarzem Pfeffer. Trotz alledem landen die Händler aus anderen Ländern nur selten hier,
denn sie verbringen ein ganzes Jahr auf See, da sie im Winter hin- und im Sommer zurückfahren. Nur zwei Winde herrschen über dieses Meer, der eine im Winter und der andere im
Sommer.55
Auch in Benedetto Bordones Inselbuch kommt Marco Polos Cipango oder Japan eine große Bedeutung zu, galt diese Gruppe von Eilanden den Europäern
doch – dem asiatischen Kontinent und der Küste des Großen Khan vorgelagert
– als sicherlich reichste Inselgruppe der Welt. Wie hätte Bordone auch der
gewaltigen Versuchung widerstehen können, sich im Archipel der Texte bei
seinem Landsmann, dem 1254 in Venedig geborenen und dort im Jahre 1324
verstorbenen Reisenden ins Reich des Großen Khan, bei Marco Polo also zu
bedienen?
Die Insel Cipangu ist daher auch die erste, die nach dem etwas abrupten
Ende des zweiten Teiles des Isolario nun als Auftakt des dritten, dem fernen
Asien gewidmeten Teils beschrieben wird.56 Sie wird von Beginn an als große
Insel dargestellt, „bestens bewohnt, mit schönsten Palästen, & es gibt Menschen von guter Statur, die unterschiedliche Götzen anbeten, welche unterschiedliche Formen aufweisen“57. Bordone weist auf weitere Besonderheiten
dieser Insel hin: „Diese stehen nicht im Verkehr mit irgendeiner anderen Sprache, und man findet hier einen unglaublichen Reichtum, & dies aus dem
Grunde, daß es nicht erlaubt ist, jegliche Menge (so klein sie auch sei) an Gold
von der Insel woandershin auszuführen, unbeschadet der Tatsache, daß mit
vielen unterschiedlichen Waren gehandelt wird“58.
Somit wird Japan als eine hochgradig isolierte Sprach-Insel vorgestellt, die
sprachgeschichtlich keinerlei Austausch kenne und überdies auf der Ebene ihres Reichtums darauf achte, bei allem Handel keinerlei Gold und Reichtum an
das Ausland abzugeben und somit zu verlieren. Kein Wunder also, wenn die
europäischen Kolonialmächte der ersten Phase beschleunigter Globalisierung
(wie auch in späteren Zeiten die USA) ihr ureigenstes Interesse darin erblick55 El libro de Marco Polo anotado por Cristóbal Colón, S. 136.
56 Benedetto Bordone: Libro, Bl. LXVII.
57 Ebda.: „benissimo habitata, con bellissimi palazzi, & ha huomini di bona statura, li quali
adorano diversi idolii, che diverse forme tengono.“
58 Ebda., Bl. LXVII f: „Questi non hanno comercio con alcuna altra lingua, Qui una richezza
incredibile vi si trova, & questo adviene per cio che, alcuna quantita (per piccola che se
sia) di oro, fora de lisola ad alcuno non vi è conceduto portarnela, nondimeno de molte
diverse mercatantie se traficano“.
76
ten, diese Abgeschlossenheit der überreichen Insel, deren Königspalast selbstverständlich nach dem Vorbild, das wir bereits kennen, mit reinstem Gold
überzogen sei,59 mit Macht aufzubrechen. Cipango, daran lasse der unfaßbare
Reichtum nicht zweifeln, gelte als Insel zu Recht als „la piu riccha del
mondo“60: als die reichste Insel weltweit.
Auch wenn die Kartenumrisse der von Bordone beigefügten Darstellung
ebenso erfunden sind wie die sehr abendländisch anmutenden Gebäude, Festungen und Straßen, welche die Häfen wie das Binnenland auf seiner Karte
schmücken, ist das vom venezianischen Kartographen auf der Grundlage der
von ihm vorgefundenen Bezugstexte gezeichnete Japan doch eine fernöstliche
Macht, die von noch größeren Mächten wie Cathay beziehungsweise China
immer wieder habgierig angegriffen werde. Die Grausamkeit derartiger fremder Überfälle und Plünderungen wird von Bordone mit Bedacht ausführlich
dargestellt, war es den Europäern doch darum zu tun, den Handel mit Japan in
ihre eigene Gewalt zu bringen und immer stärker zu kontrollieren. Doch Cipango – daran läßt Bordones Text keinerlei Zweifel – sei längst eine verteidigungsbereite Insel, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen ihrerseits ausreichend Schauderhaftes verübe, um sich der Fremden, woher diese auch immer kommen mögen, entschlossen zu erwehren.
Indem Bordones Isolario von 1528 versuchte, neben der geographischen
Lage und der naturräumlichen Ausstattung die Geschichte wie die Geschichten, die Sprachen wie die Gebräuche der jeweils behandelten Inseln und Archipele zu erfassen, entstand ein weltweites Panorama möglicher Lebensformen und Lebensnormen, das – wenn auch gewiß aus europäischer und venezianischer Perspektivierung – die Welt als zutiefst polylogischen und folglich
von vielen unterschiedlichen Logiken durchzogenen Bewegungs-Raum erkennen ließ. Die Form des Inselbuches bot dabei die Möglichkeit, zumindest in
nuce derartige Vorstellungen des Poly-Logischen weltweit zu entwickeln und
in einer die gesamte Erdkugel umspannenden Bewegung durchzuspielen. Insofern tritt bei Bordone die Dimension des Erlebten und noch zu Erlebenden auf
andere Weise in ihre trianguläre Relation mit dem Vorgefundenen und Erfundenen ein als in der Weltkarte des Juan de la Cosa.
Der spanische wie der venezianische Kartograph stimmen in ihren Entwürfen des aktuellen wie künftigen Bewegungs-Raumes europäischer Expansion
freilich in weitem Maße darin überein, die Welt der Tropen in den Mittelpunkt
zu rücken. Dies betraf bei beiden auch und gerade transarchipelische Beziehungen. Denn stellte Bordone die Relationalität der von ihm entworfenen Insel-Welten und Inselwelten insofern in einen weltweiten Zusammenhang, als
sich bei ihm auch Relationen zwischen Inseln unterschiedlicher Weltteile –
wie etwa Cuba und Cipango – herstellen ließen, machte die starke kartographische Akzentuierung der Archipele der Kanaren, der Kapverden oder der Karibik auf die enorme Relevanz all jener transarchipelischen Beziehungen auf59 Ebda., Bl. LXVIII.
60 Ebda.
77
merksam, die es den Spaniern wie den Portugiesen in ihrer inselgestützten
Strategie vor den Küsten Afrikas, Amerikas oder Asiens erlaubten, ihr weltweites Gitternetz über die Welt erfolgreich auszuwerfen. Ins Zentrum aber
dieser expandierenden Welt, dies zeigte bereits unser erster Blick auf Juan de
la Cosas Mappamundi, rückten mehr und mehr die Tropen. Was aber ist unter
diesem Begriff aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu verstehen?
Tropen der Tropen: Wendungen und Wandlungen
Konsultiert man die einschlägigen Nachschlagewerke der Literaturwissenschaft, so erfährt man, daß der Begriff der Tropen sich von gr. trópos (Wendung, Richtungswechsel) herleitet und „jede Form der Rede“ meint, die das
Gemeinte nicht direkt ausdrückt, sondern „im Streben nach Ausschmückung
und Verlebendigung des Gesagten“ durch einen anderen, uneigentlichen Ausdruck wiedergibt.61 Als wichtiges Element der „rhetorischen Stillehre“ sind
Tropen „einzelne Wörter oder Wendungen, die im uneigentlichen (übertragenen, figurativen) Sinne gebraucht werden“.62 Man könnte daher sagen, daß sie
eine ständige Bewegung zwischen dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen,
zwischen dem proprium und dem improprium auszeichnet. Tropen sind folglich in erster Linie Bewegungsfiguren.
Mit Heinrich Lausberg ließen sich diese Bewegungen und Wendungen der
Tropen je nach dem Grad der Distanz zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Ausdruck unterscheiden in „Grenzverschiebungs-Tropen“63 (wie
etwa die Metonymie), in „Sprung-Tropen“, für welche die Metapher als beispielhaft angesehen werden darf,64 sowie in „kombinierte Tropen“65, die beide
Grundtypen miteinander verbinden. Dies impliziert letztlich jedoch nicht allein
die Angabe einer bestimmten Distanz innerhalb einer breiten Skalierung von
Abständen, sondern auch drei unterschiedliche Bewegungsweisen, die man als
kontinuierlich und als diskontinuierlich sowie als eine hybride Verbindung
zwischen beiden Bewegungstypen bezeichnen und voneinander abgrenzen
könnte.
Bekanntlich hat der Geschichts- und Kulturtheoretiker Hayden White in
seinen einflußreichen Schriften nicht allein auf die Bedeutung der Form und
insbesondere der Narrativität in der und für die Geschichtsschreibung hinge-
61 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 51969,
S. 807.
62 Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen
– Grundbegriffe. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler
2008, S. 732.
63 Vgl. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München: Hueber 31967,
S. 66.
64 Ebda., S. 78.
65 Ebda., S. 79.
78
wiesen,66 sondern in einem ganz allgemeinen Sinne auf das Oszillieren der
Historiographie zwischen den (Fehl-)Deutungen der Dokumente und der Rekonstruktion mit dem Anspruch aufmerksam gemacht, die „wahre Geschichte“
herauszuarbeiten.67 Die Historiographie aber habe sich größtenteils der Einsicht in die Tatsache verschlossen, daß diese Rekonstruktionen weniger Defigurationen als Refigurationen darstellen68 – eine zutreffende Beobachtung, an
deren Richtigkeit sich auch nach Whites bahnbrechenden Arbeiten wohl kaum
etwas grundsätzlich geändert haben dürfte. In seinem sicherlich wirkungsmächtigsten Werk, seinen Tropics of Discourse, entwickelte der Geschichtstheoretiker seine zentrale These von der Prägung allen historiographischen Erzählens durch vorgängige, in wesentlicher Weise literarisch vorstrukturierte
Denk- und Darstellungsmuster, was für die Sinngebung (empirisch) erhobener
Fakten von entscheidender Bedeutung sei. So hieß es bereits in Whites Einleitung zu seinem weithin diskutierten Hauptwerk bedeutungsvoll:
An eben dieser Stelle muß der Diskurs selbst die Adäquatheit der verwendeten Sprache
etablieren, indem er das Feld mit den Gegenständen analysiert, die es zu besetzen scheinen.
Und der Diskurs setzt diese Anpassung mit Hilfe einer präfigurativen Bewegung um, die
eher tropisch als logisch ist.69
Der Begriff der Bewegung (move) greift zweifellos auf die Hayden White
überaus bewußte etymologische Dimension der Wendung (trópos) zurück,
wobei uns vor dem Hintergrund der hier gewählten Fragestellung weniger die
vier von White unterschiedenen Arten des emplotment (nämlich Komödie,
Tragödie, Romanze und Satire) oder die vier aus seiner Sicht für die Historiographie gerade des 19. Jahrhunderts zentralen Tropen (Metapher, Metonymie,
Synekdoche und Ironie) interessieren. Denn nicht weniger spannend und aufschlußreich als diese Zuordnungen ist die Tatsache, daß es aus einer derartigen
Perspektive insbesondere die Bewegungen selbst sind, die immer wieder in
den Fokus der Untersuchung rücken.
So heißt es etwa am Ende der von White weniger am logical als am tropical move ausgerichteten Untersuchung der Formen der Wildheit, die ja nicht
umsonst aus europäischer Perspektive über lange Jahrhunderte immer wieder
auf die planetarische Area der Tropen projiziert wurde, sehr treffend zur wildness:
66 Vgl. etwa die Aufsatzsammlung von Hayden White: Die Bedeutung der Form.
Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Margit
Smuda. Frankfurt am Main: Fischer 1990.
67 Hayden White: The Real, the Truth, and the Figurative in the Human Sciences. In: Profession (New York) (1992), S. 15.
68 Ebda.
69 Hayden White: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore/London:
The Johns Hopkins University Press 1978, S. 1.
79
Bisweilen erscheint diese opprimierte oder reprimierte Menschlichkeit als eine Bedrohung
und als ein Albtraum, zu anderen Zeiten als ein Ziel und als ein Traum; bisweilen als ein
Abgrund, in den die Menschheit stürzen könnte, und dann wieder als ein Gipfel, der erstiegen werden müßte; aber stets als eine Kritik an jedweder Art von Sicherheit und Geistesfrieden, welche eine Gruppe von Menschen sich in der Gesellschaft auf Kosten eines aneinander Leidens erkaufte.70
Wildheit erscheint folglich – so White in dieser Studie über „The Forms of
Wildness: Archaeology of an Idea“ – als eine Art Kippfigur, die sich in beständiger Bewegung befindet und bisweilen als Traum, bisweilen als Albtraum
auftritt. Und sie zeigt sich – so könnten wir hinzufügen – eingebettet in eine
komplexe Vielbezüglichkeit von Tropen des Diskurses, die zugleich auch für
die Diskurse der Tropen und über die Tropen von entscheidender Bedeutung
sind. Von diesem mobilen Kreuzungspunkt aus aber läßt sich ein neues Verständnis der Tropen im Zeichen dessen gewinnen, was im hier untersuchten
Zusammenhang als eine Bewegungsgeschichte verstanden und entwickelt
werden soll.
Dabei versteht es sich fast von selbst, daß die Tropen im geographisch-planetarischen Sinne mit den Tropen im eingangs behandelten Verständnis eine
gemeinsame etymologische Herkunft und damit dieselbe Rückbindung an die
Semantiken von ‘Wendung’ und ‘Bewegung’ teilen. Denn jene mathematisch
bestimmbare Zone unseres Planeten, in der die Sonne im Zenit stehen kann,
erstreckt sich (in einem zumindest historischen Sinne) zwischen den Wendekreisen, genauer: zwischen dem Wendekreis des Krebses und dem Wendekreis
des Steinbocks. Diese Bewegungszone kann wiederum aus klimatologischer
Perspektive auch als Zone einer Zirkulation feucht-labiler Luft um den Äquator (bei stärker tageszeitlichen als jahreszeitlichen Temperaturschwankungen)
beschrieben werden – selbstverständlich im Verein mit Phänomenen jener tropischen Wirbelstürme oder gewaltigen tropischen Niederschläge, für welche
die Tropen nicht nur bei europäischen Reisenden ebenso berühmt wie berüchtigt sind.
Ohne an dieser Stelle auf Phänomene wie die „Innertropische Konvergenzzone“, auf die Unterscheidungen zwischen Innertropen und Randtropen oder
die Schwierigkeiten einer geographischen Bestimmung der Tropen eingehen
zu wollen, ist für die hier gewählte Perspektive doch entscheidend, daß sowohl
die astronomisch-mathematische als auch die klimatologisch-naturräumliche
Ausstattung die Tropen als einen Bewegungsraum erscheinen lassen, der
schon früh als eine Art eigene Welt zwischen den Wendekreisen erschien und
als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten kulturell bestimmten und kodierten Konstruktionen (wie etwa jene von wildness) diente. Zumindest die
abendländischen Diskurse über die Tropen stehen stets im Zeichen der Wendung und der Wandlung und damit im Zeichen von Bewegungen, die sich sowohl – um die Formulierungen Lausbergs ebenso zu verwenden als auch zu
70 Ebda., S. 180.
80
wenden – im Sinne von Grenzverschiebungen, im Sinne von Sprüngen und im
Sinne von Kombinationen zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen
Bewegungstypen verstehen lassen. Die Tropen konfigurieren eine Welt in zirkumplanetarischer Bewegung.
Es überrascht daher nicht, da die Querung der Wendekreise beziehungsweise der Äquatoriallinie in vielen abendländischen Reiseberichten – wie bei
Louis-Antoine de Bougainville, Georg Forster oder Antoine-Joseph Pernety –
mit dem Eintritt in eine neue Welt gleichgesetzt oder in vielen europäischen
Romanen mit Wendepunkten innerhalb des Erzählstrangs – wie bei Jules
Verne, Lafcadio Hearn oder Blaise Cendrars (und die Beispiele aus allen Phasen beschleunigter Globalisierung ließen sich leicht häufen) – assoziiert
wurde. Die riesige Land- und Wasserfläche diesseits und jenseits des Äquators
zwischen den Wendekreisen, die einer langen, aus der Antike stammenden
und bis in die Neuzeit hinein wirksamen Tradition gemäß auf Grund der starken Sonneneinstrahlung für den Menschen unbewohnbar schien und daher der
anoekumene zugerechnet wurde, markiert im abendländischen Bildgedächtnis
den Übergang in eine Welt, die das Andere der eigenen Welt repräsentierte:
die Antipoden.
Die Tropen bilden folglich Mittelpunkt und Übergangsraum, Zentrum des
Erdballs und Schwelle zum Anderen einer den Europäern vertrauten Welt
zugleich: eine Kippfigur, die in der abendländischen Bildtradition immer wieder neu gestaltet und ebenso künstlerisch wie kartographisch ausgemalt
wurde.71 So entwarf Juan de la Cosa in seiner Weltkarte nicht nur ein kartographisch präzises Bild der Insel-Karibik, die im Zentrum des amerikanischen
Doppelkontinents zum logistischen Ausgangspunkt für alle militärischen Operationen und Eroberungen auf dem Kontinent wurde,72 sondern zeichnete erstmals den erstaunlich korrekt angegebenen Verlauf der Äquinoktiallinie sowie
des Wendekreises des Krebses ein, ohne darüber zu vergessen, eine Vielzahl
europäischer Bildvorstellungen und Legenden in dieses mit den wissenschaftlichen Methoden jener Zeit erstellte Bild der überseeischen Gebiete zu projizieren, die man bereits als die Indias bezeichnete.
So verschränken sich kartographische Bildwelten und Weltbilder am Beginn der Frühen Neuzeit unauflöslich. Ihre Schnittstelle bilden die Tropen, die
zunächst den Radius zwischen dem Indien des Ostens und dem Indien des
Westens umfassen – die englischsprachige Bezeichnung der West Indies markiert nur mehr eine letzte begriffliche Schwundstufe.
Die Zeichnung eines Menschen ohne Kopf, die auf dieser Karte von 1500
mit dem Zusatz „sin cabeza“73 versehen war, findet sich im Land von Gog und
71 Vgl. die zahlreichen Beispiele im bereits erwähnten Band von Miguel Rojas Mix:
América imaginaria.
72 Vgl. Ricardo Cerezo Martínez: La Cartografía Náutica Española de los Siglos XIV, XV y
XVI, S. 82–83.
73 Zur Geschichte und den unterschiedlichen Kategorien derartiger „acéfalos“ vgl. Miguel
Rojas Mix: América imaginaria, S. 67–70.
81
Magog im äußersten Osten des Kartenblattes. Auf anderen kartographischen
Entwürfen wiederum werden ähnliche Darstellungen, die auf antiken Vorstellungen beruhen, in den äußersten Westen gespiegelt. Die Welt zwischen den
Wendekreisen ist für den abendländischen Blick eine Welt der Wendungen
und der Wandlungen, eine Welt, in der das Vorgefundene neu erfunden und
wieder aufgefunden, vor allem aber intensiv erlebt und gelebt werden kann. So
bildeten die Tropen nicht nur für die schnellen Karavellen der ‘Entdecker’ und
Eroberer den planetarischen Bewegungs-Raum par excellence. Bis heute sind
Weltkarten nicht nur in einem kartographischen Sinne Projektionsflächen des
Anderen im Eigenen: Sie verzeichnen auf transmediale, Bild und Schrift ständig querende Weise die Wechselbeziehungen zwischen einem Finden, Erfinden und Erleben, dessen einzelne Bestandteile im Grunde nicht mehr ohne Erkenntnisverlust voneinander gelöst oder gar abgetrennt werden können.
Die oft schon kritisch dargestellte Geschichte der Projektion dieser Bilderwelten insbesondere auf die Zone zwischen den Wendekreisen soll uns hier
freilich weniger beschäftigen als die lang anhaltende Wirkkraft von Vorstellungen, welche die Tropen zum Ort nicht allein beständiger Wendungen, sondern auch erstaunlicher Wandlungen und Metamorphosen dieses Anderen im
Eigenen (wie des Eigenen im Anderen) machen. Wie aber geht die Wandlung
des Transfers in Transformation vonstatten? Oder handelt es sich hierbei nur
um „die andere Seite“ des Planeten, „die andere Seite“ des Menschen, „die andere Seite“ menschlichen oder unmenschlichen Lebens?
Eine der vielleicht eindrucksvollsten Darstellungen derartiger Wandlungen
findet sich – aus kolonialismuskritischer Sicht – in jenem Bestseller der europäischen Aufklärung, der die zweite Phase beschleunigter Globalisierung
buchstäblich begleitete und sich noch ganz in jene Vorstellung einschrieb, in
der Europa im genauen Mittelpunkt der Welt zwischen „beiden Indien“ liegen
mußte. Im neunten Buch von Guillaume-Thomas Raynals Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des européens dans
les deux Indes, die als die Enzyklopädie der kolonialen Expansion Europas
weit über die Grenzen der Alten Welt hinaus ein gebildetes Publikum gerade
auch in Übersee erreichte, heißt es über den Europäer wenig schmeichelhaft:
Überschreitet er erst den Äquator, ist der Mensch weder Engländer noch Holländer noch
Franzose noch Spanier noch Portugiese. Er behält von seinem Vaterland allein diejenigen
Prinzipien & Vorurteile bei, die sein Verhalten autorisieren oder entschuldigen. Kriechend,
wenn er schwach ist; gewalttätig, wenn er stark ist; er eilt, um zu erwerben, eilt, um zu genießen; & er ist fähig, alle Übertretungen zu begehen, solange ihn diese am raschesten zu
seinen Zielen führen. Er ist ein domestizierter Tiger, der wieder in den Urwald zurückkehrt.
Der Durst nach Blut packt ihn wieder. So zeigten sich unterschiedslos alle Europäer in den
Gebieten der Neuen Welt, wo sie eine gemeine Wut einschleppten, den Durst nach Gold.74
74 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes. Bd. 5. Genève: Chez Jean-Léonard Pellet
1781, neuntes Buch, S. 2.
82
Es ist ein Bild des Anderen, der Wildheit, im Eigenen. Die Angehörigen aller
hier präzise aufgelisteten europäischen Führungsnationen, welche die erste
und die zweite Phase beschleunigter Globalisierung vorantrieben, erweisen
sich in dieser Passage wohl aus der Feder Denis Diderots als nur kurzfristig
vom zivilisatorischen Prozeß ‘domestizierte’ Raubtiere, die sich – haben sie
erst einmal die Äquatoriallinie überquert – unmittelbar wieder in blutdürstige
Tiger verwandeln, die allein nach der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und ihres
unbändigen Verlangens nach Gold streben und keinerlei Rücksichten auf die
jeweilige indigene Bevölkerung nehmen. Der dünne Firnis der Zivilisation
scheint bei den Vertretern aus aller Herren Länder abzublättern, ist erst die
Grenze zur ‘anderen’ Welt der Tropen – die hier symbolisch von der Linie des
Äquators markiert wird – überschritten.
Der zivilisierte Mensch europäischer Provenienz verwandelt sich dergestalt
rasch in das in ihm schlummernde barbarische Raubtier zurück, so daß der
Übergang in die Tropen nicht nur eine andere Welt signalisiert, sondern auch
das Andere im Eigenen hervortreibt und in seiner unverkennbaren Grausamkeit sichtbar werden läßt. Der Durst nach Blut verbindet sich mit dem Durst
nach Gold, das ja – und diese Vorstellung erhielt sich bis weit ins 19. Jahrhundert aufrecht – als ein Erzeugnis der Sonne angesehen wurde, von dem
große Mengen im Reich der Tropen, im Bereich der Zenitstände der Sonne,
gespeichert und vorhanden sein mußten.
So sind dem mathematisch berechenbaren Gitternetz der Einteilung und
Aufteilung der Erde von Beginn an kulturelle Ingredienzien und Stimulantien
eingeschrieben. Es ist nicht nur von Europa aus berechnet, es ist auch kulturell
vom Abendland aus aufgeladen. Diese kulturellen Kodierungen bilden die
Koordinaten einer Geschichte, deren Geschichten in keine Längen- und Breitengrade aufzulösen sind und die uns die Literaturen der Welt auf so verdichtete Weise im Dreieck zwischen Finden, Erfinden und Erleben entwerfen und
zugänglich machen.
Wenn Literatur von allem Anfang an ein Schreiben nach dem Paradies ist,75
dann überrascht es nicht, daß selbst an diesem Ort einer brutalen und blutrünstigen Metamorphose des ‘Zivilisierten’ zum ‘Wilden’76 die alte Paradiesvorstellung, die in der christlichen Bilderwelt ebenfalls in diese äquinoktialen
Zonen projiziert wurde, allgegenwärtig bleibt. Folglich setzt Denis Diderot den
Ausdrucksformen von Mord und Massaker ganz bewußt im unmittelbar nachfolgenden Abschnitt das Bild eines friedvollen Zusammenlebens aller Menschen entgegen, das er in Bilder einer gewaltlosen geschlechtlichen Vereinigung von Männern und Frauen kleidet:
Wäre es nicht menschlicher, nützlicher & weniger kostspielig gewesen, in jede einzelne
dieser weit entfernten Regionen Hunderte von jungen Männern, Hunderte von jungen
75 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2012.
76 Vgl. hierzu Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“.
83
Frauen zu bringen? Die Männer hätten die Frauen, die Frauen die Männer aus der Gegend
geheiratet. Die Blutsverwandtschaft, welche das rascheste & stärkste Band bildet, hätte
bald schon aus den Fremden & den Ortsansässigen eine einzige & selbe Familie geformt.
In dieser intimen Verbindung hätte der wilde Bewohner nicht lange gebraucht, um zu verstehen, daß die Künste & Kenntnisse, die man ihm brachte, sich höchst günstig auf die
Verbesserung seines eigenen Schicksals auswirken.77
Dem Bild von blutigen, von Europäern an der indigenen Bevölkerung verübten Massakern wird das Bild eines harmonischen Zusammenlebens entgegengestellt, das der ‘Wildheit’ der Tropenbewohner wie der ‘Wildheit’ der
übers Meer gekommenen Europäer den (utopischen) Entwurf einer Vereinigung aller Menschen zu einer einzigen glücklichen Familie entgegenhält.
An die Stelle einer kriegerischen Eroberungspolitik wird hier eine friedvollere
und zugleich (zumindest erhofftermaßen) effizientere Biopolitik gesetzt, die
freilich nicht weniger von Europa aus konzipiert und kontrolliert wird. Es ist
das Bildnis einer erträumten Konvivenz, die nach dem Paradies verzweifelt –
und am vermuteten Ort des Irdischen Paradieses: in den amerikanischen Tropen – das paradiesische Bild einer Gesellschaft als Gemeinschaft nachbaut.
Mag in dieser Vision auch das Vertrauen auf ein sich letztlich durchsetzendes (da für überlegen gehaltenes) europäisches Zivilisationsmodell, die
Erwartung einer zunehmenden Tilgung aller kulturellen wie ethnischen Differenzen und die keineswegs harmlose Projektion einer „großen Familie der
Menschheit“78 zum Ausdruck kommen, so zeigt sich hier doch, in welch starkem Maße die Welt der Tropen im abendländischen imaginaire eine GegenWelt darstellt, die zwischen den Wendekreisen die Wendungen und
Wandlungen einer Welt des Massakers und einer Welt der Liebe, eines infernalischen oder paradiesischen Zustands in Szene setzt. Irdische Hölle oder Irdisches Paradies: All diese kulturell tradierten Bilder sind gleichermaßen
Ausdrucksformen menschlicher Konvivenz in Tropen, die sich ebenso zwischen den Wendekreisen wie zwischen rhetorischen Wendungen bewegen.
Gleichviel, ob es sich um Grenzverschiebungs-Tropen, um Sprung-Tropen
oder um kombinierte Tropen handelt: Die europäischen Diskurse der Tropen
entfalten von Beginn an eine Fülle an Tropen, deren Bewegungsmuster die
Wendekreise – wenn auch auf immer wieder andere Weise – zutiefst mit der
Alten Welt Europas verknüpfen, ja fest verzurren. Bereits dieser Befund aber
legt eine für jegliche Beschäftigung mit der Zone zwischen den Wendekreisen
epistemologisch relevante Schlußfolgerung nahe: Die Tropen lassen sich als
Area adäquat nur aus einer transarealen Perspektive untersuchen und begreifen. Sie bilden einen Querungs- und Bewegungsraum im globalen Maßstab, in
dem die Tropen trist oder tröstlich, trefflich oder tödlich sein mögen: stets bil77 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes, Bd. 5, S. 2 f.
78 Vgl. hierzu den 1977 in die Sammlung der Mythologies aufgenommenen Text von Roland
Barthes: La grande famille des hommes. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. I: 1942–1965.
Edition établie et présentée par Eric Marty. Paris: Editions du Seuil 1993, S. 669–671.
84
den sie die TransArea par excellence, in der sich die unterschiedlichsten Bewegungsfiguren überschneiden.
Fülle und Falle: Himmel und Hölle
Zu Beginn seiner im Jahre 1524 verfaßten und seinem Landsmann Francesco
Maria Sforza, dem Herzog von Mailand, gewidmeten Siebten Dekade zog der
bereits eingangs erwähnte italienische Chronist Pietro Martire d’Anghiera eine
kurze historische Bilanz der zurückliegenden Jahrzehnte europäischer und insbesondere iberischer Expansion.79 Vor allem betonte er dabei die außergewöhnliche Fruchtbarkeit und den Reichtum der dem Ozean entstiegenen
Weltgegenden; denn Jahr für Jahr entdecke man „Novas quippe novis terras et
novas nationes et ingentes opes quoto anno patefacit“80:
Nach der kurzen Rückschau über das Vergangene wollen wir uns jetzt dem zuwenden, was
der zukunftsreiche Ozean Neues geboren hat. Denn dieses Meer ist fruchtbarer als die
weiße Sau, die 30 Ferkel in einem Wurf geboren haben soll, und schenkt uns mehr als der
freigiebigste Fürst. In jedem Jahr offenbart der Ozean uns nämlich neue Länder, unbekannte Völker und gewaltige Reichtümer. Über Española, die Vormacht jenes weiten
Raumes, wo der Staatsrat tagt, der den übrigen Ländern dort die Grenze gibt, über Jamaika
und Kuba, das den neuen Namen Fernandina trägt, und über die übrigen wahrhaft elysäischen Inseln, die sich vom Wendekreis des Krebses bis zum Äquator hinziehen, habe ich
schon genug berichtet. Dort kennt kein Eingeborener im Ablauf des Jahres einen Unterschied der Länge von Tag und Nacht, dort gibt es keinen drückenden Sommer und keinen
harten Winter, dort blühen die Bäume das ganze Jahr über und sind gleichzeitig mit Blüten
und Früchten beladen; ständig erntet man Gemüse, Kürbisse, Melonen, Gurken und andere
Gartengewächse; dort pflanzt sich das von Europa eingeführte Vieh – einheimische
Haustiere gab es auf den Inseln nicht – in größerer Anzahl fort und entwickelt sich zu höherem Wuchs als in seinem Ursprungsland.81
Was hier der erste Geschichtsschreiber der Neuen Welt in gedrängter Form
zusammenfaßt, ist die europäische Vision eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf dem Schoße des Meeres aus der Perspektive des Abendlands im
Westen immer neue Inseln und Festländer mit ihren fremdartigen Bewohnern
zu entsteigen und zuzuwachsen schienen. Die neue Welt der Tropen erschien
wie das Reich der Fülle, ganz so, wie später in den Umrissen des südlichen
Teiles Amerikas die Form eines seine Reichtümer ausschüttenden Füllhornes
‘erkannt’ werden sollte. Noch Stefan Zweig vermerkte zutreffend, daß „Mercator, der König der Kartographen“, als erster im Jahre 1538 den Namen Ame79 De Orbe Novo Petri Martyris Anglerii e regio rerum Indicarum senatu Decades Octo
quas scripsit ab anno 1493 ad 1526, praemissis quaecomque ex ipsius de re eadem
epistolis excerpere licuit. Editio, paucorum quidem exemplarum, innumeris expurgata
mendis cura et studio D. Joachim Torres Asensio. 2 Bde. Madrid: Typis viduae et filiae
Gómez Fuentenebro 1892.
80 Ebda., Bd. 2, S. 274 f.
81 Peter Martyr von Anghiera: Acht Dekaden über die Neue Welt. Übersetzt, eingeführt und
mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer. 2 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1973, hier Bd. 2, S. 172.
85
rica auf die gesamte ‘Neue Welt’ und nicht nur auf deren Südteil bezog.82 Er
habe damit erstmals „den ganzen Kontinent als eine Einheit“ begriffen, wobei
er in seiner Weltkarte „den Namen Amerika über beide Teile, A M E über den
Norden und R I C A über den Süden“, geschrieben habe.83 Dieser Anordnung
läßt sich sehr leicht der Schluß entnehmen, daß Reichtum und Fülle schon sehr
früh – und noch für lange Zeit – dem Süden des Doppelkontinents zugeordnet
wurden. Es waren die Reichtümer des Südens, der Tropen, welche die Globalisierer der ersten Phase beschleunigter Globalisierung lockten.
Das neue Zeitgefühl, der Stolz auf die Entdeckungen und vielleicht mehr
noch der Eindruck einer ungeheuren Beschleunigung ist jeder Zeile des italienischen Chronisten anzumerken, der all seine Informationen direkt an den jeweiligen Papst nach Rom oder an andere Vertrauenspersonen in Italien zu
übermitteln pflegte. Das Füllhorn der Tropen schien unermeßlich: Ständig
rückten für die Europäer – und allen voran für die iberischen Mächte – neue
Reichtümer in greifbare Nähe. Und man griff rücksichtslos zu.
Nicht nur für Pietro Martire d’Anghiera, der als getreuer Geschichtsschreiber von Beginn an alles festhielt, was ihm seit 1493, also seit der Rückkehr des
Cristóbal Colón von seiner ersten Fahrt, am spanischen Hof oder im Consejo
de Indias, der obersten Behörde des Indienrates, in den Bankfilialen seiner Zeit
oder in persönlichen Gesprächen zu Ohren kam, standen die neu ‘entdeckten’
Länder der Tropen im Zeichen einer unermeßlichen Fruchtbarkeit und eines
wunderbaren Reichtums,84 der nie mehr zu versiegen schien. All dies blieb im
kollektiven Langzeitgedächtnis Europas haften: Bis ins 19. Jahrhundert
glaubte man, nicht nur Gold, sondern auch Diamanten und andere Edelsteine
nur in tropisch heißen Ländern in großen Mengen finden zu können, so daß
man sich in Europa verwundert die Augen rieb, als 1829 auf Grund einer wissenschaftlich fundierten ‘Vorhersage’ Alexander von Humboldts Diamanten
im Ural gefunden wurden.85 Und noch im 20. Jahrhundert gab es selbst unter
den Agrarwissenschaftlern und Geographen viele, die von der unerschöpflichen Fruchtbarkeit tropischer Landwirtschaft und tropischer Böden unbeirrbar
überzeugt waren.86 Diese Tropen der Tropen verbreiteten sich von Europa aus
weltweit mit Langzeitwirkung: Das Füllhorn und die Fülle der Tropenwelt
sind noch in unseren Tagen nicht aus den Diskursen über die Tropen wegzudenken.
82
83
84
85
Stefan Zweig: Amerigo, S. 423.
Ebda.
Vgl. hierzu Stephen Greenblatt: Marvellous Possessions: the wonder of the New World.
Vgl. zum Kontext dieser Funde Ottmar Ette: Amerika in Asien. Alexander von Humboldts
„Asie centrale“ und die russisch-sibirische Forschungsreise im transarealen Kontext. In:
HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien
(Potsdam/Berlin) VIII, 14 (2007) <http://www.hin-online.de>.
86 Vgl. die noch in neuester Zeit notwendige Gegenthese von der raschen Erschöpfung tropischer Böden in Wolfgang Weischet: Die ökologische Benachteiligung der Tropen. Stuttgart: Teubner 1977.
86
Nicht erst bei der Nachricht von Magellans beziehungsweise Elcanos Umsegelung der Welt, sondern schon zu Beginn dessen, was wir heute als die
erste Phase beschleunigter Globalisierung begreifen, wurde Martire
d’Anghiera klar, daß die Kunde von der Existenz zuvor im Abendland unbekannter Völker zwischen den Wendekreisen den Horizont des nicht nur geographischen Wissens der Antike – und dies nahezu zwei Jahrhunderte vor der
Querelle des Anciens et des Modernes – ein für allemal gesprengt hatte. Die
Weltkarten der unterschiedlichsten europäischen Kartographen entwarfen ein
Bild, das mit dem Weltbild der Antike längst nicht mehr in Einklang zu bringen war. Man hatte die Antike auf diesem Gebiet eindeutig und endgültig
hinter sich gelassen. Und doch bot zugleich das ptolemäische Gitternetz die
Sicherheit, die Parameter des Neuen in die Raster des Alten eintragen und damit Kontinuität für das eigene Denken und Handeln gewinnen und behaupten
zu können.
Vergleicht man die Karte eines Juan de la Cosa, eines Waldseemüller, eines
Mercator oder eines Ortelius mit jener um 1474 angefertigten und das Gitternetz des Ptolemäus nach Westen verlängernden Karte des Toscanelli,87 die
Christoph Columbus als wichtiger, ja entscheidender Anhaltspunkt für sein eigenes Unternehmen diente, so wird deutlich, mit welch ungeheurer „velociferischer“ Geschwindigkeit sich binnen weniger Jahrzehnte gerade das Bild von
der Welt zwischen den Wendekreisen verändert hatte. Auch wenn dies – wie
wir bereits sahen – keineswegs bedeutete, daß die zentralen Vorstellungen und
Bilderwelten der europäischen Antike aufgegeben worden wären: Die hier
skizzierten raschen Veränderungen, die immer neue Kombinatoriken des Vorgefundenen, des Erfundenen und des Erlebten entwarfen, blieben in vielfacher
Hinsicht nicht ohne Folgen für die Tropen selbst.
Zwar tauchte die Vorstellung von der Unbewohnbarkeit der heißen Erdregionen noch eine Zeit lang immer wieder im europäischen Diskurs auf, aber
sie wich im neuen kartographischen Bild der Erde rasch den erwähnten neuen
Tropen der Tropen. Ihnen gesellten sich seit Christoph Columbus’ Bordbuch
(1492/3) Bilder des Irdischen Paradieses und seit Thomas Morus’ Utopia
(1516) Projektionen anderer Ordnungen gesellschaftlichen Lebens bei: Entwürfe menschlicher Konvivenz, die sich auf unterschiedliche Weise auf die
Bedingungen des Schreibens nach dem Paradies und auf die Formen und
Normen eines Zusammenlebens im weltweiten Maßstab einstellten.
Längst wirkten die Tropen auf die Außertropen zurück – und zwar zunächst
in dem durchaus bemerkenswerten Sinne, daß der antike locus amoenus bereits durch die literarischen Entwürfe des Cristóbal Colón gleichsam tropikalisiert wurde. Am 24. Oktober 1492 vor der Küste Cubas angelangt, die er – wie
bereits erwähnt – für die von Marco Polo geschilderte Insel Cipango – „von
der man wunderbare Dinge erzählt; und auf den Sphären, die ich sah, und auf
87 Vgl. deren Rekonstruktion in Miguel Rojas Mix: América imaginaria, S. 31.
87
den Gemälden von Weltkarten ist es in diesem Gebiet sie“88 – und später für
einen eigenen Kontinent hielt, entwarf der Genuese bereits am 28. Oktober (in
der Transkription des Las Casas) die wunderbare Welt seiner Tropen als einen
nach Westen projizierten Lustort:
Es sagt der Admiral, daß er niemals etwas so Schönes sah, voller Bäume, die den Fluß
säumen, schön und grün und verschieden von den unsrigen, ein jeder Baum mit seinen
Blüten und seiner jeweiligen Frucht, immer auf seine eigene Art. Viele große und kleine
Vögel, die auf höchst süße Weise sangen; und es gab eine große Menge an Palmen, die von
anderer Art sind als die in Guinea oder die unsrigen [...].89
Abendländische Kontinuität und tropische Differenz halten sich in dieser Passage die Waage. Aufschlußreich an dieser ersten europäischen Beschreibung
eines locus amoenus in den amerikanischen Tropen ist neben der Tatsache,
daß er auch im weiteren Verlauf alle Ingredienzien der antiken Vorlagen zu
vereinen und immer wieder zu tropikalisieren sucht, vor allem das Phänomen,
daß die Tropenwelt der Antillen von Columbus eingebunden wird in eine doppelte Relationalität, die das beobachtete Land nicht allein mit den Regionen
des südlichen Europa, sondern auch mit dem tropischen Afrika in Beziehung
setzt. Dies ist, so scheint mir, von großer Bedeutung und hat weitreichende
Folgen.
Denn so wird von Beginn an eine externe Relationalität, welche die amerikanischen Tropen mit den gemäßigten oder subtropischen Zonen Europas vergleicht, durch eine gleichsam interne Relationalität ergänzt und mehr noch
vervollständigt, die einen transtropischen Raum schafft, der die Tropen als einen eigenständigen und transkontinentalen Bewegungs-Raum der Erdsphäre
erzeugt. Die sich auf spanischen Karten lange erhaltende Bezeichnung Indias
– gegen die sich der Begriff „Amerika“ erst sehr spät durchsetzen konnte –
verweist aus imperialer iberischer Perspektive auf die komplexe Relationalität
der unterschiedlichen Zonen zwischen den Wendekreisen. Daß die Antillen in
den Worten des Columbus gerade mit Guinea verbunden werden, weist freilich nur aus heutiger Sicht direkt voraus auf jenen Bewegungsraum, der wenige Jahre später, bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts, im sklavistischen
Zeichen des Black Atlantic zwischen Europa, Afrika und Amerika entstehen
sollte.90 Imaginieren, Denken und Handeln der Protagonisten der europäischen
Expansion siedeln sich von Beginn an nicht in einer bipolaren, sondern in einer unterschiedliche Areas miteinbeziehenden und miteinander verbindenden
Relationalität an.
88 Cristóbal Colón: Diario de a bordo. Edición de Luis Arranz. Madrid: Historia 16 1985,
S. 106: „de que se cuentan cosas maravillosas; y en las esferas que yo vi y en las pinturas
de mapamundos es ella en esta comarca“.
89 Ebda., S. 108.
90 Vgl. Paul Gilroy: The Black Atlantic; sowie den ebenfalls bereits angeführten
Ausstellungskatalog Der Black Atlantic.
88
Es bedurfte nicht der Sklaverei und der Verschleppung ganzer afrikanischer
Ethnien nach den Antillen, von wo aus die Sklaven aus Afrika weiterverkauft
wurden, um die anderen, dunkel eingefärbten Tropen der Tropen zu entwickeln. Bei Pietro Martire d’Anghiera, der wie viele seiner Nachfolger niemals die Neue Welt betrat, läßt sich präzise beobachten, wie das Bild der Tropen schon früh auch negative, ja bedrohliche Züge aufzuweisen begann. Verantwortlich für die zahlreichen Tropenkrankheiten, unter denen die Europäer
litten, seien gewiß die zum Teil so ungewohnten Lebensbedingungen und Lebensmittel; ausschlaggebend aber sei vor allem das Klima, was sich auf Grund
ihrer Lage auf der Erdkugel bei den verschiedenen von Columbus aufgefundenen Inseln mit aller Deutlichkeit zeige:
Denn Hispaniola und Jamaica befinden sich viele Grade jenseits des Wendekreises des
Krebses nach der Äquinoktiallinie hin, und Cuba selbst gerade auf der Linie des erwähnten
Wendekreises, den fast alle Philosophen auf Grund der Sonnenglut für unbewohnbar hielten; und meine Besucher sagen, daß jene, die sich erst seit kurzem dorthin begeben haben,
im allgemeinen von unterschiedlichen Krankheiten angegriffen werden.91
Doch die aller Empirie zuwiderlaufende These von der Unbewohnbarkeit der
trópicos, über die Pietro Martire alle Spanier, Portugiesen und Italiener befragte, die gerade aus jenen Weltgegenden nach Spanien zurückkehrten, war
nur das Eine. Die Fülle der Tropen selbst, dies zeigt sich in seinen Formulierungen unverkennbar, konnte unversehens zur Falle werden. Denn noch etwas
anderes befalle all jene, die um des Reichtums willen nach den Tropen strebten, zum Teil von jenen Hoffnungen und Reflexen angelockt, welche die Bilder des Irdischen Paradieses, des Schlaraffenlandes oder der Quelle der Ewigen Jugend nach Westen projizierten. Vor allem belegte die Erzählung vom
sagenumwobenen El Dorado, vom vergoldeten König und der Stadt Manoa,
auf deren Suche sich unermüdlich die Spanier machten, welche Falle die erträumte Fülle an Gold darstellen konnte. An Fällen, die das charakteristische
Umkippen der Fülle in die Falle zu belegen vermögen, mangelte es wahrlich
nicht – weder bei Peter Martyr von Anghiera noch in anderen Chroniken und
Berichten.
Die Welt der Tropen erschien nicht nur als das Land der Spezereien, sondern als eine Welt des Goldes, in dessen Besitz man sich möglichst rasch zu
bringen suchte:
Die Unseren, die zu solch fremden und fernen Welten über einen Ozean gebracht werden,
der den drehenden Lauf der Sterne nachzuahmen scheint, lassen sich weit entfernt von allen
Autoritäten von der blinden Gier nach Gold mitreißen, und all jene, die von hier aus zahmer
als Lämmer aufbrechen, verwandeln sich, sind sie erst einmal dorthin gelangt, in wilde
Wölfe, die alle königlichen Gebote vergessen.92
91 Pedro Mártir de Anglería: Décadas del Nuevo Mundo, Bd. 2, S. 633.
92 Ebda., Bd. 2, S. 607.
89
Diese Passage zeigt, daß die Rede von der Verwandlung der Europäer in wilde
Tiere keine Erfindung einer kolonialismuskritischen europäischen Aufklärung
ist, sondern eine Vorstellungswelt beinhaltet, welche die von der iberischen
Halbinsel ausgehende erste Phase beschleunigter Globalisierung von Beginn
an begleitet. Spätestens seit Bartolomé de las Casas und seiner Brevísima relación de la destrucción de las Indias93, seinem so erfolgreichen „Kurzgefaßten
Bericht von der Zerstörung der Überseegebiete“, konnte man auch von Europa
aus den ganzen Umfang jener Zerstörungen und barbarischen Massaker abschätzen, den die Bewohner der Alten in der Neuen Welt anrichteten.
Die Tropen trieben nicht nur das Andere im Eigenen hervor, sondern führten darüber hinaus dazu, daß sich die in Verbindung mit den Vorstellungen
vom Irdischen Paradies nach Westen und in die Tropen projizierten Heilserwartungen des Las Casas bald schon in Unheilserfahrungen verwandelten, die
nur schwerlich noch in eine historia providencial, in eine Heilsgeschichte, einzufügen waren. Zu Opfern dieser Unheilserfahrung wurden nicht zuletzt viele
Europäer selbst: Himmel und Hölle lagen nahe beieinander.
Der Fehler im System der europäischen Expansion war unübersehbar geworden:94 Denn das Wissen, das die Europäer aufhäuften, bezog sich im
wesentlichen auf die Möglichkeiten der Anhäufung wunderbarer Reichtümer,
nicht aber auf die Chancen eines friedvollen Zusammenlebens, wie es sich ein
Las Casas, ein Montaigne oder ein Diderot aus immer wieder anderem Blickwinkel erhofft hatten. Nicht um Konvivenz ging es, sondern um Konkupiszenz.
Vergessen wir an dieser Stelle nicht, daß sich am Ende der ersten Phase beschleunigter Globalisierung die Tropen längst in einen planetarisch durchgängig verbundenen Bewegungs-Raum gerundet hatten. Serge Gruzinski rief in
seiner Studie über die Globalisierung im 16. Jahrhundert95 zurecht die Tatsache in Erinnerung, daß Spanien mit der Eroberung der Philippinen die Schaffung eines wahrhaft weltumspannenden Reiches abgeschlossen hatte, dessen
einzelne Teile nicht nur prioritär an Spanien zurückgebunden waren, sondern
sich auch im Rahmen der von der Kolonialmacht gegebenen und überwachten
Möglichkeiten intern vernetzten.
Folglich wuchs insbesondere Neu-Spanien noch im 16. Jahrhundert in eine
geostrategisch wie ökonomisch bedeutsame Rolle, insofern von der Hauptstadt
des Vizekönigreiches aus über die Häfen Veracruz und Acapulco die transatlantischen mit den transpazifischen Verbindungswegen verknüpft werden
konnten. Schon 1566 wurde im Rahmen der Expedition von Miguel de Le93 Bartolomé de Las Casas: Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias. Edición de
André Saint-Lu. Madrid: Ediciones Cátedra 21984.
94 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Naufragio con supervivientes. Acerca del fracaso en/de la
globalización y de la globalización del fracaso. In: Yvette Sánchez/Roland Spiller (Hg.):
Poéticas del fracaso. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2009, S. 15–46.
95 Vgl. Serge Gruzinski: Les Quatre Parties du monde. Histoire d’une mondialisation, S.
131.
90
gazpi eine Route gefunden, die von den Philippinen nach Neu-Spanien zurückführte, so daß ab diesem Zeitpunkt keine Verschiffung von Menschen oder
Waren über asiatische Häfen mehr notwendig war, sondern – wie Gruzinski
formulierte – Asien in Amerika ankam.96 Seit der Gründung der künftigen philippinischen Hauptstadt Manila im Jahre 1571 und der Einrichtung eines regelmäßigen Schiffsverkehrs zwischen Acapulco und den Philippinen im Jahre
1573 – eine Route, die über 250 Jahre Bestand hatte – wurde es möglich, von
Neuspanien aus (und damit gleichsam dem von Juan de la Cosa erträumten
‘Durchgang’ folgend) mit China und mit Japan, dem Cipango Marco Polos, in
Verbindung und kontinuierlichen Austausch zu treten.
Damit waren weniger als ein halbes Jahrhundert nach der ersten Weltumsegelung Magellans beziehungsweise Elcanos im Auftrag Spaniens die nautischen und infrastrukturellen Grundlagen für eine den gesamten Erdball umspannende Wirtschaft mit ihren ebenso von festen wie von schwimmenden
Bastionen zu schützenden Transportrouten gelegt. Und zugleich war die karibische Inselwelt damit zu einem überaus wichtigen Teil eines Systems von
Häfen und Handelsplätzen, von Werften und Waffenschmieden, von Forts und
Finanztransfers geworden, in dessen weiterer Entwicklung der karibische
Raum einschließlich eines Teiles seiner Festlandsäume zu einem Raum verdichtetster Globalisierung avancierte. Eine erste im eigentlichen Sinne weltumspannende Ökonomie war entstanden.
Doch kehren wir noch einmal zurück zu den wundersamen Metamorphosen
der Tropen. Sie belegen, wie früh die Tropen im europäischen Bildarchiv zu
einer Kippfigur wurden: Der Fülle des Reichtums und der Fruchtbarkeit entspricht dabei die Fülle an Krankheiten und Gefahren, welche die Körper wie
die Seelen derer befallen, die sich nach den Tropen begeben. Noch in Alexander von Humboldts literarisch so gelungener Darstellung der Einfahrt in den
Hafen von Havanna lauert den europäischen Reisenden just in der Fülle der
Eindrücke die Falle des eigenen Verderbens auf:
In einer Mischung aus so süßen Eindrücken vergißt der Europäer die Gefahr, die ihn im
Schoße der bevölkerungsreichen Städte der Antillen bedroht; er versucht, die verschiedenen Elemente einer weiten Landschaft zu erfassen, Befestigungen zu betrachten [...], diese
Palmen, die sich bis zu einer ungeheuren Höhe erheben, und die von einem Wald an Masten und den Segeln der Schiffe halb verborgene Stadt.97
Der Europäer sieht sich – wie in einem Schlaraffenland exotischer Eindrücke –
an allem satt und vergißt die ihm auflauernde Gefahr. Unversehens kann – wie
im von Hayden White analysierten Diskurs der „Wildheit“ – die Fülle zur
Falle werden und zuschnappen: Die Tropen sind „Traum“ und „Abgrund“,
96 Ebda.
97 Vgl. Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales
du Nouveau Continent... Nachdruck des 1814–1825 in Paris erschienenen vollständigen
Originals, besorgt, eingeleitet und um ein Register vermehrt von Hanno Beck. Bd. III.
Stuttgart: Brockhaus 1970, S. 348.
91
Himmel und Hölle, Paradies und Inferno zugleich. Im zirkumplanetarischen
Bewegungs-Raum zwischen den Wendekreisen laufen die Kräfte zusammen,
die die Welt bewegen.
Fülle und Falle afrikanischer ZwischenWelten
Innerhalb des europäischen Raumes liefen diese Kräfte, die die Welt bewegen,
über lange Zeit in Italien zusammen. In seinem Examen critique, seiner Kritischen Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt, spürte Alexander von Humboldt diesen Kräftefeldern nach und verortete hier, im Umkreis der Toscanelli, Alberti und Brunelleschi, die grundlegenden geistigen Antriebskräfte für das gewagte Unternehmen des Columbus alias Colombo, den Osten auf dem Westweg über den
Atlantik zu erreichen. Es seien die Handelsverbindungen im Verbund mit den
geistigen Bewegungen gewesen, die alle Bemühungen immer wieder vehement vorangetrieben hätten:
Italien war damals der Mittelpunkt der großen Handelsverbindungen, welche die Pisaner,
die Venezianer und die Genuesen mit dem südlichen Asien* auf dem Weg über Alexandria, das Rote Meer und Bassora mit dem Kaspischen Meer und Sogdiana über Asow (Tana)
unterhielten. Toscanelli beschäftigte sich nicht bloß mit der Verbesserung der Sonnen- und
Mondtafeln durch Beobachtungen mit dem Gnomon und Astrolabium [...]; er richtete auch
sein Augenmerk auf den Vergleich der alten Geographie mit den Ergebnissen der neueren
Entdeckungen und auf den praktischen Nutzen, der dem Handel von Europa aus dieser
Gattung von Untersuchungen durch Eröffnung einer unmittelbaren Verbindung mit dem
Lande der Spezereien auf dem Seeweg gegen Westen entstehen konnte. Wir finden den
Beweis für diese Ideenverkettung, diese intellektuelle Bewegung, von der zweiten Hälfte
des fünfzehnten Jahrhunderts an in den Briefen des Toscanelli und bei allen ausgezeichneten Schriftstellern seines Zeitalters.98
In einer Fußnote zu dem hier mit einem Asterisk gekennzeichneten Begriff
„Asien“ fügte Alexander von Humboldt, dessen großes Werk über die erste
Phase beschleunigter Globalisierung auch heute noch viele Schätze und detailreiche Einsichten enthält, allerdings das Zitat von einem „Schriftsteller des
sechzehnten Jahrhunderts“99 hinzu, demzufolge die mit Indien im Krieg
liegenden tartarischen Völker das Haupthindernis für einen kontinuierlichen
Handel Italiens mit Indien über das Innere Asiens seien.100 Der Verfasser habe
des weiteren ausgeführt, daß mittlerweile aber „das arme Italien die Beute der
Deutschen, Franzosen und Spanier geworden“ sei.101 In der Tat: Mit der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung ging zeitgleich eine innereuropäische
Machtverlagerung vonstatten, deren Konsequenzen weitreichend waren und
ihren symbolischen Ausdruck im berüchtigten Sacco di Roma von 1527 fanden.
98
99
100
101
92
Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung, Bd. 1, S. 79 f.
Ebda., S. 79.
Ebda.
Ebda.
Humboldt zitierte hier nach der berühmten, im Jahre 1550 erstmals veröffentlichten Kollektion der Navigationi et Viaggi des Giovanni Battista Ramusio, wo zusammen mit den Navigazioni des „gentiluomo veneziano“ Alvise da
Cadamosto, mit dem Bericht der Weltumsegelung des Vasco da Gama sowie
mit weiteren europäischen reiseliterarischen Texten über die Neue Welt erstmals auch ein Werk eines arabischen Autors über Afrika erschien, auf das
sogleich zurückzukommen sein wird.102 Ramusios Sammlung, die nicht allein
bei den Zeitgenossen, sondern auch bei der Nachwelt noch über mehrere Jahrhunderte eine kaum zu unterschätzende Bedeutung besaß,103 trennte gerade
nicht – wie dies später als ‘natürlich’ erschien – die Reisen in die Neue Welt
von anderen Reisen nach Asien oder Afrika ab, sondern ließ ein geradezu
transtropisches Panorama entstehen, das den Ausdehnungen der Weltkarte eines Juan de la Cosa wie dem Weltbewußtsein eines Pietro Martire d’Anghiera
wesentlich getreuer entsprach. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren in
dieser aussagekräftigen Sammlung des Venezianers die Tropen als planetarischer Bewegungs-Raum der europäischen Ausdehnung eindrucksvoll kenntlich gemacht.
Wenn sich Humboldt aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts in der angeführten Passage folglich implizit auch auf jene Descrittione dell’Africa bezog,
die ein gewisser Giovan Leone l’Africano ursprünglich in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts zu Papier gebracht hatte, so wird bei einem Blick auf
die heute so berühmte Historia de las Indias des Bartolomé de las Casas – dem
wir als Zeitgenossen des Columbus bekanntlich die einzig erhaltene Abschrift
von dessen Bordtagebuch verdanken – deutlich, daß auch die iberischen Zeitzeugen den Expansionsprozeß Europas in der ersten Phase beschleunigter
Globalisierung als einen einheitlichen und gleichsam weltumspannenden Vorstoß an die Grenzen der Europa bekannten Welt verstanden. Daß viele der
christlichen Europäer wie der Dominikaner Las Casas dies als einen heilsgeschichtlichen, von der Vorsehung nach göttlichem Plan gesteuerten Vorgang
begriffen, kann dabei nicht überraschen.
Auch Las Casas dachte im weltweiten Maßstab. Denn der durch seine vehemente Kritik am rücksichtslos plündernden, zerstörenden und massakrierenden Vorgehen der Spanier in Amerika bekannt gewordene Dominikaner behandelte in seiner Geschichte der Eroberung der Neuen Welt ganz selbstverständlich auch die Versuche der Spanier und früher noch der Portugiesen, sich
des Nordens Afrikas zu bemächtigen und den Schwung der eigenen Recon102 Vgl. die zugängliche dritte Auflage der Druckfassung von La Descrittione dell’Africa.
In: Giovanni Battista Ramusio (Hg.): Navigationi et Viaggi. Terza edizione, primo
volume. Venezia: Giunti 1563, S. 11–95v.
103 Zur beeindruckenden Wirkungsgeschichte der zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen
Ramusios unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des erwähnten
arabischen Reisenden vgl. Dietrich Rauchenberger: Johannes Leo der Afrikaner. Seine
Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext. Wiesbaden:
Harrassowitz 1999, S. 1 sowie insbes. S. 152 ff.
93
quista nunmehr für die Eroberung der afrikanischen „Gegenküste“ zu nutzen.
Las Casas folgt den portugiesischen Geschichtsschreibern seiner Zeit sehr eng,
wenn er von den gezielten Erkundigungen der Portugiesen (und insbesondere
von Heinrich dem Seefahrer) spricht, die nach der Einnahme von Ceuta,
gleichsam der afrikanischen Säule des Herkules, an jeglicher Art von Informationen über die ihnen so unbekannte Welt Afrikas höchst interessiert gewesen seien:
Der Infant begann, eine Neigung zu Nachforschungen und Befragungen von Mauren zu
entwickeln, mit denen er zu tun hatte, bezüglich der inneren Geheimnisse des Landes innerhalb von Afrika, und über die Menschen und Sitten derer, die dort wohnhaft wären, und
man gab ihm Bericht von der neuen Kunde, die sie von diesen hätten, derzufolge sich dieses Land sehr ausbreite, sich sehr weit erstreckend über die andere Seite des Königreiches
von Fez hinaus, jenseits dessen die Wüsten von Afrika begännen, wo die Alárabes lebten;
an die Alárabes schlössen sich die Völker derer an, die sich Acenegues nannten, und diese
grenzten an die Schwarzen von Jolof, wo die Region von Guinea beginnt, welche die Mauren Guinauha nennen, von denen es die Portugiesen übernahmen und das Land der
Schwarzen als Guinea zu bezeichnen begannen [...].104
Über all diese (wohlgemerkt: den Europäern) unbekannten Gebiete insbesondere des Inneren Afrikas aber gab die von Ramusio 1550 herausgegebene (und
bearbeitete) Beschreibung Afrikas ausführliche Kunde, ein Werk, das noch bis
zu den Zeiten von Mungo Park das eigentliche Standardwerk in Europa über
den afrikanischen Kontinent darstellen sollte. Ihr Verfasser war kein Anderer
als der wohl zwischen Dezember 1494 und August 1495, also kurz nach105 der
1492 erfolgten Eroberung der Hauptstadt des Nasridenreiches im maurischen
Granada geborene al-Hassan ben Mohammed ben Ahmed al-Wazzan alGharnati al-Fassi, der unter dem Namen Giovan Leone Affricano oder auch
Leo Africanus in die Geschichtsbücher und Enzyklopädien der Welt einging.
Sein voller arabischer Name enthält nicht nur die erkennbaren Hinweise auf
verschiedene Orte, an denen der Granadiner lebte, sondern wird auch ergänzt
durch den christlichen Taufnamen, den Papst Leo X. am 6. Januar 1520, also
am Jahrestag der Einnahme Granadas durch die Katholischen Könige, dem
späteren Verfasser der Descrittione dell’Africa verlieh. Kein Wunder also, daß
der Mann mit den vielen Namen schon früh als ein Wanderer zwischen den
104 Fray Bartolomé de Las Casas: Historia de las Indias. Edición de Agustín Millares Carlo
y estudio preliminar de Lewis Hanke. 3 Bde. México: Fondo de Cultura Económica
1986, Bd. 1, S. 119.
105 Allerdings geht al-Wazzans französischer Herausgeber und Übersetzer Alexis Epaulard
von einer Geburt möglicherweise um 1489 aus. Vgl. hierzu Dietrich Rauchenberger: Johannes Leo der Afrikaner, S. 11 und 35; sowie Najib Redouane: Histoire et fiction dans
„Léon l’Africain“ d’Amin Maalouf. In: Présence francophone (Sherbrooke, Québec) 53
(1999), S. 78.
94
Welten oder als Nomade zwischen den Kulturen bezeichnet wurde106 und zu
den faszinierendsten Gestalten des frühen 16. Jahrhunderts zählt. Zu Recht
nahm Ramusio das ihm wohl in Venedig zugänglich gewordene Manuskript
des nach dem Namen des kunstsinnigen Medici-Papstes getauften arabischen
Reisenden in seine Sammlung auf.
Al-Hassan al-Wazzans Beschreibung der Stadt Kairo, die er aus längeren
Aufenthalten kannte, ist gleichzeitig auf einen zumindest doppelten, okzidentalen und orientalen, Leserkreis zugeschnitten, beginnt – wie häufig bei diesem
Autor – mit Ausführungen zur sprachlichen Herkunft des Namens und schildert die Pracht ihrer Anlage wie die Fülle der in ihren Mauern versammelten
Waren und Luxusgüter mit beredten Worten:
Von Kairo, das gerüchteweise überall für eine der größten und bewundernswürdigsten
Städte in der Welt bezeichnet wird, will ich Gestalt und Einrichtung nacheinander beschreiben und die Unwahrheiten, die man darüber hier und da erzählt, übergehen. [...] Ich
behaupte, daß Kairo, der mit Mauern umgebene Teil nämlich, ungefähr 8000 Feuerstellen
enthält. In diesem wohnen die Personen der höheren Stände, und hier werden die von allen
Seiten herbeigebrachten Kostbarkeiten verkauft. [...] Die Stadt ist mit Handwerkern und
Kaufleuten aller Art reichlich versehen. Das gilt besonders von der ganzen Straße, die vom
Siegestor zum Tor Zuwaila führt, wo sich die meisten und vornehmsten aufhalten. In derselben Straße sind einige Kollegien, die wegen ihrer Größe und Schönheit, wegen der Bauart und Verzierungen bewundernswert sind, desgleichen sehr viele und große Moscheen.
[...] Hernach folgen die Tuchgewölbe, deren jedes unzählige Läden enthält. Im ersten verkauft man ausländische Tuche von ausnehmender Güte, z.B. Baalbekische, das sind
Baumwollstoffe von unglaublicher Feinheit, auch andere, die man nach Mossul benennt (=
Musselin). Sie sind bewundernswert fein und fest; daraus lassen alle vornehmen Herren
und angesehenen Personen ihre Hemden und die Turbantücher machen. Weiterhin stehen
die Gewölbe, wo die besten italienischen Stoffe zu kaufen sind, z.B. Atlas, Damast, Samt,
Taft, Brokat. Ferner gibt es die Gewölbe mit Wolltuch, das aus Europa, zum Beispiel aus
Venedig, Florenz, Flandern und allen anderen Ländern, kommt.
Nahe bei dieser Hauptstraße ist ein Gewölbe, wo die persischen Kaufleute logieren. Es
sieht aus wie der Palast eines großen Herrn, ist sehr hoch und fest und hat acht Stockwerke;
unten sind Zimmer, wo die Kaufleute Besuch empfangen und die Waren en gros vertauschen. Nur die allerreichsten Kaufleute handeln hier, und ihre Waren sind Spezereien, Juwelen, indische Stoffe, z.B. Flor und dergleichen. Auf der anderen Seite der Straße ist der
Platz für jene, die mit Parfümerien handeln, z.B. Zibet, Moschus, Ambra und Benzoe. [...].
Die Goldschmiede sind Juden und verkaufen viele Kostbarkeiten.107
Johannes Leo Africanus alias al-Hassan al-Wazzan hat mit eigenen Augen den
Reichtum Kairos gesehen, aber auch den Untergang der Stadt am Nil bei der
Eroberung durch die türkischen Truppen von Sultan Selim selbst miterlebt. In
seinem Bericht, in seiner Erinnerung ersteht die ganze (hier nur ausschnitthaft
106 Auf eine lange Tradition zurückgehend findet sich diese Formulierung neuerdings schon
im Titel von Natalie Zemon Davis: Trickster Travels. A Sixteenth-Century Muslim
Between Worlds. New York: Hill and Wang 2006.
107 Johannes Leo Africanus: Beschreibung Afrikas. Beschreibung von Karl SchubarthEngelschall. Leipzig: VEB F.A. Brockhaus Verlag 1984, S. 218–221.
95
wiederzugebende) Fülle einer Welt transkontinentalen Handels wieder auf, deren zum Teil Jahrtausende alte Handelswege sich in Knotenpunkten wie Kairo,
Fez oder Konstantinopel kreuzten. Mit großer Systematik und einer beeindruckenden Fülle an Details entwirft der Granadiner Schriftsteller das Weltbewußtsein einer Alten Welt zu einem Zeitpunkt, als die neuen Seewege und
Seemächte im Westen längst neue Spielregeln und neue Machtpole zu schaffen im Begriff standen. Die Welt, die Giovan Leone beschreibt, ist nicht nur
wegen der immer erdrückender werdenden türkischen Vormachtstellung im
östlichen Mittelmeer eine Welt, die es in dieser Form schon bald nicht mehr
geben sollte.
Mit diesem kenntnisreichen Gemälde von Kairo wird anhand der Waren
und ihrer Herkunftsorte im Überschneidungsbereich von Orient und Okzident,
von Afrika, Asien und Europa ein Raum beschworen, in dem die verschiedenen Völker und Kulturen friedlich nebeneinander und miteinander – also
multi- und interkulturell – zu verkehren scheinen. Innerhalb dieser reiseliterarisch entworfenen altweltlichen Diegese wird eine Welt evoziert, von deren
Gewalt der mit seiner Familie aus Granada Vertriebene freilich sehr wohl
wußte, die er aber nicht nur im transmediterranen Bereich des Spannungsfeldes zwischen Orient und Okzident, sondern auch in jenen weit entfernten Gebieten im Inneren Afrikas mehrfach durchquert hatte. Er kannte jenen Binnenraum des afrikanischen Kontinents, von dem Portugiesen und Spanier wie
auch das gesamte christliche Europa nur schemenhafte Vorstellungen besaßen,
wie kaum ein anderer arabischer Reisender. Sieht man von all jenen Seefahrern, Mönchen, Beamten, Bischöfen, Soldaten und Kaufleuten einmal ab, die
während dieses Zeitraums in die Neue Welt gelangten, dürften nur wenige
Reisende des frühen 16. Jahrhunderts den Erfahrungs- und Kenntnisstand des
so weltläufigen Johannes Leo Africanus erreicht haben. Was aber wissen wir
über diesen Mann und die Genese seiner Schriften?
Die Forschungen über Giovan Leone L’Africano wurden lange Zeit von
französischen Wissenschaftlern und Autoren beherrscht, und dies nicht nur,
weil bereits 1553, also nur drei Jahre nach dem Erstdruck der Beschreibung
Afrikas durch Ramusio, eine erste französische Übersetzung vorlag.108 Studien
wie die im Kontext der französischen Kolonialpolitik entstandene Doktorarbeit
von Louis Massignon109 oder die editorischen Arbeiten und Übersetzungen
von Alexis Epaulard110 hatten zu einem verbesserten Kenntnisstand rund um
die von zahlreichen Legenden umrankte Gestalt des granadinischen Reisenden
beigetragen. Eine Neuauflage der von Epaulard besorgten Übersetzung der
108 Vgl. hierzu Dietrich Rauchenberger: Johannes Leo der Afrikaner, S. 153.
109 Vgl. Louis Massignon: Le Maroc dans les premières années du XVIe siècle. Tableau
géographique d’après Léon l’Africain. Alger: Typographie Adolphe Jourdan 1906.
110 Vgl. Jean-Léon l’Africain: Description de l’Afrique. Traduit de l’Italien par Alexis Epaulard et annoté par Alexis Epaulard, Théodore Monod, Henri Lhote et Raymond Mauny.
Paris: Librairie d’Amérique et d’Orient 1956.
96
Description de l’Afrique des Gelehrten erschien im Jahre 1980, fast zeitgleich
übrigens mit einer im selben Jahr vorgelegten Übersetzung ins Arabische.111
Geht man der Geschichte der Ausgaben der Descrittione dell’Africa nach,
so darf man nach dem aktuellen Forschungsstand davon überzeugt sein, daß
der von Giovanni Battista Ramusio bekannt gemachte Text von al-Wazzan auf
Italienisch zwischen 1524 und 1526 verfaßt und abgeschlossen wurde. Nicht
allein der Veröffentlichungskontext in Ramusios angesehener Sammlung der
fünfziger Jahre, sondern auch der Entstehungskontext der Beschreibung Afrikas ein Vierteljahrhundert zuvor legt aus der im vorliegenden Band gewählten
transarealen Perspektive den unmittelbaren Zusammenhang der Reisen wie der
Schriften des Johannes Leo Africanus mit der ersten Phase beschleunigter
Globalisierung nahe. Mehr noch: Auch sein Bericht ist ein Bestandteil dieser
Welle abendländischer Expansion, von deren Macht und Ausbreitung er direkt
oder indirekt Zeugnis ablegt.
Seit dem Jahre 1986, dem Erscheinen des überaus gelungenen und erfolgreichen Romanerstlings Léon l’Africain des im Libanon geborenen Schriftstellers Amin Maalouf,112 läßt sich eine weitaus umfänglichere und tiefergehende Auseinandersetzung mit dem maurischen Andalusier feststellen. Als die
wohl besten Beispiele erwähnt seien hier die 1991 erschienene Arbeit der Marokkanerin Oumelbanine Zhiri,113 die die jahrhundertelange Wirkung der gedruckten Schriften al-Wazzans auf das europäische Afrikabild untersuchte, das
kulturtheoretisch interessante, aber durch manche handwerkliche Fehler beeinträchtigte 2006 erschienene Buch der in Princeton arbeitenden Forscherin
Natalie Zemon Davis114 sowie vor allem die 1999 vorgelegte umfangreiche
biographische und editorische Untersuchung des Berufsoffiziers und Diplomaten Dietrich Rauchenberger115.
Gerade die Forschungen Rauchenbergers haben uns eine sehr viel präzisere
Kenntnis der Reisen al-Hassan al-Wazzans ins Innere Afrikas vermittelt. Dabei
wird nicht nur anschaulich in einer imaginären Karte vor Augen geführt, wie
sich Johannes Leo Africanus den afrikanischen Kontinent und dessen Umrisse
zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Beschreibung vorstellte;116 in einer
itinerarischen Übersichtskarte wurden auch die bislang bekannten oder direkt
erschließbaren Verläufe der weiten Reisen im Sahararaum zusammengestellt,
111 Vgl. Dietrich Rauchenberger: Johannes Leo der Afrikaner, S. 155.
112 Vgl. hierzu das dritte Kapitel ‘Positionen’ in Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List,
Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab.
113 Oumelbanine Zhiri: L’Afrique au miroir de l’Europe: Fortunes de Jean Léon l’Africain
à la Renaissance. Genève: Librairie Droz 1991; vgl. auch dies.: Les sillages de Jean
Léon l’Africain: XVIe au XXe siècle. Casablanca: Wallada 1995.
114 Vgl. Natalie Zemon Davis: Trickster Travels. A Sixteenth-Century Muslim Between
Worlds.
115 Vgl. Dietrich Rauchenberger: Johannes Leo der Afrikaner. Seine Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext.
116 Ebda., S. 195.
97
so daß erkennbar wird, welch ungeheure Fläche des Kontinents sich der
vielsprachige Schriftsteller zu Fuß wie auf dem Rücken von Kamelen erschloß.
Die erste seiner ausgedehnteren Reisen führte al-Hassan in den Jahren 1507
und 1508 allerdings nach Konstantinopel, nach Mesopotamien, Armenien,
Persien und in die Tartarei.117 Seine zweite Reise unternahm er dann gemeinsam mit seinem Onkel um 1510 quer durch die Sahara nach Timbuktu, wohin
sein Verwandter vom marokkanischen Sultan in diplomatischer Mission gesandt worden war. Die dritte Reise, wahrscheinlich zwischen 1512 und 1514,
brachte ihn zunächst gleichfalls transsaharisch nach Timbuktu, verlief dann
aber durch die Haussa-Staaten und das Tschadsee-Gebiet weiter in Richtung
Osten bis nach Ägypten. Die vierte und letzte seiner großen Reisen führte alHassan al-Wazzan schließlich im Alter von höchstens fünfundzwanzig Jahren
abermals in den Norden Afrikas und jenes Gebiet, das wir heute aus eurozentrischer Sicht gerne als den Nahen Osten bezeichnen.
Von Ägypten aus schloß der gläubige Muslim eine Pilgerfahrt nach Mekka
an und begab sich danach wieder auf die Heimreise. Doch sollte er Fez nicht
mehr erreichen. Vermutlich während eines Abstechers auf die Mittelmeerinsel
Djerba wurde er von christlichen Korsaren unter der Führung von Pedro de
Bobadilla gefangen und im Jahre 1518 als Sklave nach Italien verschleppt.
Dort wurde er Papst Leo X., der für seine die Künste fördernde und verschwenderische Hofhaltung bekannt ist, zum – für die Zeit keineswegs unüblichen – lebendigen Geschenk gemacht. Dies war der Einschnitt, der den Granadiner zum Afrikaner machte.
Es war derselbe Leo X., der als Freund und Förderer der Wissenschaften
und der Künste auftrat und als der große Renaissance-Papst gegen Martin Luther den Kirchenbann verhängte sowie den bekannten Ketzerprozeß anstrengte. Dem Muslim al-Hassan al-Wazzan aber begegnete dieser MediciPapst sehr offen: Er erkannte in ihm einen in weltlichen wie in religiösen Dingen gebildeten jungen Gelehrten, dem er alle Möglichkeiten der Weiterbildung
in seinem noblen Gefängnis, der Engelsburg, gerne einräumte, um sich wenn
möglich seines Wissens zu versichern und ihn zum Christenmenschen zu konvertieren. Die Interessenlagen waren klar. Aus vielen diplomatischen und anderen Zeugnissen wissen wir, daß die ‘Bekehrung’ al-Hassan al-Wazzans, des
Anhängers des Propheten Mohammed, und dessen Taufe am Heiligen Stuhl zu
Giovan Leone ein in vielen Teilen der Christenheit diskutiertes internationales
Ereignis war, das ganz im Zeichen des spannungsgeladenen Kräftemessens
zwischen Orient und Okzident stand.
In dieser Spielart des Ost-West-Konflikts war durchaus ein nachhaltiges
Interesse am (Wissen des) Anderen vorhanden. So rückte der junge Mann aus
Granada, der sich nun wieder auf der nördlichen Seite des Mittelmeeres wiederfand, sehr rasch in eine Vermittler- und Übersetzerposition zwischen der
abendländischen und der morgenländischen Welt ein. Johannes Leo Africanus,
117 Karl Schubarth-Engelschall: Leo Africanus und seine „Beschreibung Afrikas“. In:
Johannes Leo Africanus: Beschreibung Afrikas, S. 7–18.
98
der unter dem persönlichen Schutz ‘seines’ Papstes stand, verfaßte unter anderem im Jahre 1524 als Mitarbeiter ein arabisch-hebräisch-lateinisch-spanisches
Wörterverzeichnis sowie im Anschluß seine in italienischer Sprache abgefaßte
Beschreibung Afrikas, die ihm als Gewährsmann eines Wissens über den so
nahen und doch so unbekannten Kontinent den Beinamen „Africanus“ eintrug.
Er schrieb und diktierte seine Descrizione dell’Affrica e delle cose notabili che
quivi sono aus guten Gründen nicht in seiner Muttersprache, sondern in jenem
Idiom, in dem man ihn in Rom von Beginn an unterrichtet hatte: Der
transkulturellen Dimension seines Lebensweges schließt sich die translinguale
Abfassung seines Hauptwerks auf geradezu natürliche Weise an. Und dieses
Hauptwerk ist auch noch für ein heutiges Lesepublikum lebendig.
Als in Granada geborener Muslim war al-Hassan al-Wazzan zweifellos in
unterschiedlich engem Kontakt mit dem Arabischen und seinen Varianten, mit
dem Berberischen, dem Spanischen und den verschiedensten Mischformen
zwischen all diesen Sprachen aufgewachsen. Auf seinen ausgedehnten Reisen
hatte er eine Vielzahl afrikanischer Sprachen kennengelernt, bevor er in der
Engelsburg im päpstlichen Rom im Lateinischen und Italienischen unterrichtet
wurde und in diesen ‘abendländischen’ Sprachen Bücher und Schriften zu lesen begann. Als polyglotter Gelehrter und Leser war er daher höchst sensibilisiert für alle Formen inter- und translingualer Sprachphänomene, ebenso für
asymmetrische Sprachkontakte wie für unterschiedlichste Übersetzungsproblematiken. Ihm scheint rasch klar geworden zu sein, daß eben hierin seine
Chance lag.
Ständige Sprachreflexionen durchziehen folglich sein gesamtes Schaffen.
So geht es in seiner Descrizione nicht nur um die geographischen und topographischen Grenzen Afrikas, um dessen Klima und Boden, Vegetation und
Anbauprodukte, um die großen Ströme, die für den Kontinent charakteristischen Tiere, um die verschiedenartigen Völker und deren Handelsgüter, sondern auch um differenzierende kulturelle Merkmale, die vor allem in sprachlicher Hinsicht notiert und untersucht werden. So werde in „allen afrikanischen
Landschaften, die sich vom Mittelmeer bis zum Atlas-Gebirge erstrecken, [...]
ein verdorbenes Arabisch gesprochen“, wobei nur „im Reich Marokko sowie
in Numidien [...] das Berberische weiter verbreitet“ sei.118 „Die arabischen Geschichtsschreiber“, so Giovan Leone weiter, behaupteten „nachdrücklich, daß
die Afrikaner keine andere Schrift gehabt haben als die mit lateinischen Buchstaben“; sie hätten zwar andere Sprachen gesprochen, hätten sich aber „lateinischer Buchstaben bedient, wie es die Deutschen in Europa tun“.119 Und durchaus quellenkritisch merkt er an, daß ausnahmslos alle „Geschichtsbücher über
die Afrikaner, die die Araber besitzen“, Übersetzungen aus dem Lateinischen
seien, „alte Werke, geschrieben in den Zeiten der Arianer, einige noch früher“.120
118 Johannes Leo Africanus: Beschreibung Afrikas, S. 72.
119 Ebda.
120 Ebda.
99
Wenn auch das Afrika, das Johannes Leo Africanus seinem zeitgenössischen Lesepublikum präsentiert, im Zeichen einer Fülle steht, welche Landschaften und Flüsse, Flora und Fauna, aber auch Völkerschaften, Kulturen und
Sprachen umfaßt, so fehlt allerdings auch hier das Element der Falle nicht,
sind doch auch im Norden des Kontinents längst die Symptome der Syphilis
aufgetaucht, die in diesen Landstrichen zuvor unbekannt gewesen sei.
Mit der Erörterung dieser Leit-Epidemie der ersten Phase beschleunigter
Globalisierung, die wie auch in anderen europäischen Quellen stets „den Anderen“ zugeschrieben wird, treten wir aus einer transarealen Sichtweise, wie
wir sie durchaus in Ramusios Sammlung in nuce finden können, ein in die
zeitgenössische Diskussion jener sich weltweit verbreitenden Seuche, die außerhalb von Frankreich als morbo gallico, als französische Krankheit, bezeichnet wurde, auch wenn die Portugiesen sie gerne die kastilische, die
Schotten wiederum eher die norwegische Krankheit nannten. Giovan Leone
L’Africano schloß sich seinerseits eher den in der arabischen Welt kursierenden Gerüchten an:
Die Französische Krankheit ist in der Berberei sehr verbreitet. Nur wenige Einwohner entgehen ihr. Sie verursacht Beulen und Geschwüre. Auf dem Lande und im Atlas-Gebirge
leidet fast niemand daran. Auch bei den Arabern, in Numidien, in Libya und im Land der
Schwarzen kennt man das Übel nicht. Ja, man bringt die Erkrankten sogar nach Numidien
und Nigritien, weil sie durch die dortige Luft gesund werden. Ich selbst habe einige hundert
Personen gesehen, die durch die bloße Luftveränderung, ohne ein anderes Mittel, geheilt
worden waren. Die Seuche war ursprünglich in Afrika selbst dem Namen nach unbekannt.
Sie wurde von den Juden eingeschleppt, die durch König Ferdinand aus Spanien vertrieben
worden waren. Viele von ihnen waren krank, und die wollüstigen Mauren steckten sich bei
den Jüdinnen an, die nach Afrika gekommen waren, so daß bald keine Familie in der Berberei von dem Übel verschont blieb. Anfangs wurden die von der Französischen Krankheit
Befallenen als leprakrank angesehen, von ihrem Heim vertrieben und gezwungen, mit den
Aussätzigen zu leben. Aber als die Zahl der Erkrankten täglich stieg und eine große Menge
von Menschen befallen war, begannen die Kranken wieder ihr normales Leben zu führen,
und die Vertriebenen kehrten wieder nach Hause zurück.
Man hält es für zweifelsfrei, daß die Seuche aus Spanien kam, und nennt sie daher die Spanische Krankheit. In Tunis, wo sie einige Zeit sehr gewütet hat, in Ägypten und Syrien
heißt sie, wie in Italien, die Französische Krankheit.121
Ebenso in den Formen der Berichterstattung wie in den sich aus der Verbreitung der Seuche ableitenden (und zumeist transitorischen) Normen des Zusammenlebens läßt sich vieles mit den Formen und Normen in Verbindung
bringen, mit denen auch in der zweiten, dritten und vierten Phase beschleunigter Globalisierung auf Epidemien und Pandemien als grundlegenden Globalisierungssymptomen und -ängsten reagiert wurde. Insofern liefert uns die
Beschreibung Afrikas nicht nur einen spannenden zeitgenössischen Einblick in
Problematiken einer Globalisierung, die in der ‘Alten Welt’ – denken wir nur
an die rasch einsetzenden Biopolitiken der Verschiffung schwarzer Sklavinnen
121 Ebda., S. 75.
100
und Sklaven in die ‘Neue Welt’ – gewiß nicht vor dem afrikanischen Kontinent haltmachten. Zugleich zeigt uns dieses Mitte der zwanziger Jahre des
16. Jahrhunderts entstandene Werk mit literarischen Mitteln auf, wie sich in
den unterschiedlichsten Bereichen im Zeichen der ersten Phase beschleunigter
Globalisierung Lebensformen und Lebensnormen zu verändern begannen.
Während am einen Ende der Welt die vorrückenden Türken bald alle terrestrischen Handelsverbindungen zwischen Asien und Europa zu kontrollieren
vermochten, errichteten am anderen Ende der Welt die iberischen Mächte ihre
Herrschaft auch und gerade über die Länder der Spezereien. Binnen weniger
Jahrzehnte war die Welt eine andere geworden.
Al-Hassan al-Wassan ist, daran kann kein Zweifel bestehen, eine außerordentliche Schriftstellerpersönlichkeit. Man sollte daraus jedoch nicht den
irreführenden Schluß ziehen, daß sein Leben selbst wie auch sein Lebenswissen völlig aus den Rahmenbedingungen seiner Zeit herausfallen würden. Denn
in seiner Zeit der Kriege und Vertreibungen, der Pogrome und Migrationen,
der Sklavenjagden und Fluchtwellen, der Hungersnöte und Zwangsaushebungen sind derartige Lebenswege nicht wirklich singulär. Würden uns aus
heutiger Perspektive die Wege Abertausender einfacher Matrosen oder Söldner, Galeerensklaven oder Kaufleute, Marketenderinnen, Dirnen oder Nonnen
nicht weniger ‘abenteuerlich’ erscheinen?
Weit über seine Zeit, die erste Phase beschleunigter Globalisierung, hinaus
fasziniert an seiner Gestalt jedoch die Tatsache, daß er in seiner translingualen
Tätigkeit als Schriftsteller zwischen Europa, Afrika und Asien eine Form des
ZwischenWeltenSchreibens zu entfalten verstand, die wir aus dem Blickwinkel der aktuellen vierten Phase beschleunigter Globalisierung dank der Rekonstruktion der spezifischen historischen Kontexte wohl präziser und sensibler zu erfassen verstehen als zu anderen, weniger ‘bewegten’ und weniger
velociferischen Zeiten. Aus der Not, die Kontinente und die Sprachen, die
Kulturen und die Religionen wechseln zu müssen, um überleben zu können,
hat al-Hassan al-Wazzan alias Johannes Leo Africanus die transkulturelle Tugend entwickelt, zwischen dem Süden und dem Norden, zwischen dem Osten
und dem Westen eine unterschiedliche Kulturen und Ausdrucksformen querende Übersetzungsarbeit zu entwickeln, welche ihn zu einer der schillerndsten
und zukunftsträchtigsten Figuren der ersten Phase beschleunigter Globalisierung macht. Denn seine Descrizione dell’Affrica ist weit mehr als eine bloße
Beschreibung Afrikas: Sie modelliert mit den Mitteln der Literatur aus einer
transarealen Perspektive avant la lettre die Komplexität der alten im Lichte
einer heraufziehenden neuen Welt.
101
Abb. 6: „Geistige Urheber“ (autores intelectuales) der Unabhängigkeitsrevolution Neuspaniens. Auszüge von Juan O’Gormans Retablo de la Independencia (1960-1961).
Globalisierung II.
Im Disput um die Welt:
Diskurse der Tropen und Tropen der Diskurse
weltweiter Expansion
Welten diesseits und jenseits der Wendekreise
Im Verlauf der ersten Phase beschleunigter Globalisierung war binnen weniger
Jahrzehnte eine neue Welt zwischen den Wendekreisen entstanden. Innerhalb
weniger Jahre hatten die frühneuzeitlichen Tropen die gewiß in vielen Mythen
fortwirkenden antiken Vorstellungen tropischer anoekumene überwuchert. Die
‘neuen’ Tropen der Frühen Neuzeit sind Bewegungsfiguren, die – aufs Engste
mit der kartographischen Erfassung des Erdballs verbunden – klimatologische
wie geologische, ökonomische wie landwirtschaftliche, epidemologische wie
epistemologische, soziologische wie mythologische, philosophische wie literarische Aspekte auf dynamische Weise miteinander verschränken. Die Irreversibilität dieses sich zu diesem Zeitpunkt ungeheuer beschleunigenden Prozesses steht uns heute ebenso klar vor Augen wie den Zeitgenossen der Doppelcharakter von Fülle und Falle.
Mit vielen Aspekten dieser in der frühen Neuzeit entstandenen Sichtweise
der Tropen beschäftigte sich Antoine-Joseph Pernety in seinem 1769 in französischer Sprache zu Berlin erschienenen Journal historique, in welchem der
auf der Titelseite stolz als „Membre de l’Académie Royale des Sciences &
Belles-Lettres de Prusse“ und als „Bibliothécaire de Sa Majesté le Roy de
Prusse“ Bezeichnete von seiner Reise als Schiffskaplan unter der Leitung von
Louis-Antoine de Bougainville zu den tropischen Küsten des heutigen Brasilien, zu den Malwinen-Inseln und an die Südspitze des amerikanischen Kontinents berichtet.1 In seinem Journal schildert Pernety auf fast zwanzig Seiten
die am 10. November 1763 erfolgte Querung des Äquators und jene Szenerie,
die sich so oder in vergleichbarer Form auf allen französischen wie europäischen Schiffen vollzog, welche die Äquatoriallinie, den Zentralbereich des
Tropengürtels, passierten. In diesen ausführlichen Passagen des Journal historique überschneiden sich die Diskurse der Tropen mit den Tropen der Dis-
1 Vgl. Antoine-Joseph Pernety: Journal historique d’un Voyage aux Iles Malouïnes en 1763
& 1764, pour les reconnoître, & y former un établissement; et de deux Voyages au Détroit
de Magellan, avec une Relation sur les Patagons. 2 Bde. Berlin: Etienne de Bourdeaux
1769.
105
kurse an einem reiseliterarischen Ort, der in der europäischen Reiseliteratur
symbolisch den Eintritt in eine ‘Neue Welt’ zu markieren pflegt.
Pernetys ausführliche Darstellung der Äquatortaufe, des „Baptême de la
ligne“2, das noch in der glühenden Mittagshitze an Deck des französischen
Schiffes mit der Aufstellung eines Beckens mit Meerwasser, eines Throns für
den „Herrn Präsidenten des Äquators“ sowie weiterer Sitzgelegenheiten für
den „Kanzler“ sowie den „Vikar“ nebst einer Versammlung der gesamten
Mannschaft und aller Passagiere begann,3 hebt detailreich den zeremoniellen
und rituellen Charakter dieser Taufszenerie hervor. Die karnevalesken Züge
der Zeremonie sind unübersehbar, betritt doch zunächst – selbstverständlich
mit dem Einverständnis Kapitän Bougainvilles – ein von sechs Schiffsjungen
sekundierter und in einen Schafspelz gehüllter und bemalter Matrose die
Bühne, dessen Verkleidung und Verwandlung präzise beschrieben werden,4
bevor der ebenfalls in Schafsfelle gekleidete bon-homme de la Ligne höchstselbst, umgeben von seinem herausgeputzten Hofstaat, das Kommando an
Bord übernimmt. Die Querung der Äquatoriallinie stellt die Hierarchien auf
den Kopf, sie produziert oder inszeniert einen monde à l’envers, der das karnevaleske Element mit der Vorstellung der Antipoden – einer Welt, deren Bewohner gleichsam auf dem Kopf stehen und in der die Bäume nach unten
wachsen – zu verbinden sucht und zu verbinden scheint.
Ohne an dieser Stelle die recht hintergründig gestaltete Szenerie in all ihren
Details wiedergeben zu können, sei doch hervorgehoben, daß die Inszenierung
einer Gegen-Ordnung, die für einen Tag zwischen den Wendekreisen symbolisch in Kraft tritt, jene Wendungen und Wandlungen vorführt, welche die
Tropen als gegenüber Europa andere Welt im Zeichen der Äquatoriallinie repräsentieren. Inwieweit diese andere Ordnung aus einer ihrerseits nicht unterlaufenen patriarchalischen Perspektive auf das ‘andere’ Geschlecht projiziert
wird, mag das folgende Zitat der fruchtbaren ‘Versprechen’ des Kapitäns belegen:
Als nun die Dinge soweit arrangiert waren, sagte der Vikar zu Herrn von Bougainville:
„Um in die adelige & mächtige Gesellschaft des Herrn Präsidenten des Äquators aufgenommen zu werden, sind zuvor einige Verpflichtungen einzugehen, die auf sich zu nehmen
Sie versprechen müssen. Diese Verpflichtungen zielen allein auf Vernünftiges ab. Sehr
wohl, antwortete Herr von Bougainville. Versprechen Sie also, sagte der Vikar, ein guter
Bürger zu sein, & daß Sie zu diesem Zwecke für die Bevölkerung arbeiten & folglich die
Mädchen nicht ruhen lassen, sobald sich dafür eine günstige Gelegenheit bietet? Ä Ich verspreche es.“5
Die Serie von Versprechen, die mit einem Schwur und einer ritualisierten
Taufszene abgeschlossen wird, in der aus christlicher Sicht stets die Symbolik
2
3
4
5
Ebda., Bd. 1, S. 95.
Ebda., S. 96.
Ebda., S. 98 f.
Ebda., S. 107 f.
106
des Beginns eines anderen Lebens gegenwärtig ist, eröffnet eine Abfolge weiterer Lustbarkeiten, bei denen auch zwei paradiesische Demoiselles Acadiennes6 sowie allerlei neckische Spiele nicht fehlen dürfen, die sich in der
Folge auf Bougainvilles Fregatte unter dem Kommando des bon-homme de la
Ligne abspielen. Es sind Szenerien, wie sie sich so oder in vergleichbarer
Form noch heute auf europäischen Schiffen – auch auf jenen britischen
Kriegsschiffen, die 1982 in den absurden Krieg um die Malwinen- oder Falkland-Inseln zogen – abzuspielen pflegen.
Zwischen den Kapverden und der brasilianischen Küste querte die Fregatte
auf ihrem Weg zu den auf Französisch nach St. Malo benannten Malouines
daher nicht nur die Äquatoriallinie, sondern trat mit ihrer Besatzung und ihren
Passagieren symbolisch in eine andere Welt, in ein neues Leben ein. Entscheidend ist freilich in dem hier zu erörternden Zusammenhang nicht, daß sich die
Formen der Taufe von Nation zu Nation, aber auch von Schiff zu Schiff unterscheiden; ausschlaggebend ist vielmehr die Tatsache, daß dieses Baptême stets
an Bord durchgeführt wird und ein verbrieftes Recht der Mannschaften darstellt.7 Bei diesem Beginn einer Vita Nova ist die Taufe nicht vorrangig an die
Querung der Äquatoriallinie, sondern an den Eintritt in die Zone der Wendekreise gebunden, wie Pernety in seinem Reisebericht abschließend erläutert:
Wenn das Schiff auf seinem Weg nicht die Äquatoriallinie, sondern nur den Wendekreis
(Tropique) passiert, dann haben jene Mannschaften, die sie bereits überquert haben und
nicht ihr Recht auf Tributzahlungen verlieren wollen, ein Mittel gefunden, um den Wendekreis als den ältesten Sohn des guten Mannes vom Äquator sowie als den mutmaßlichen
Erben entsprechender Rechte zu bezeichnen. Sie führen mithin bei der Querung des Wendekreises dieselbe Farce wie bei den anderen unter dem Äquator auf.8
Daß diese Szenerie in der Folge freilich ebenso auf andere ‘Grenzlinien’ übertragen wurde und – wie etwa die rituelle ‘Polartaufe’ an Bord des deutschen
Forschungsschiffes „Polarstern“ noch heute zeigen kann – auch in unseren
Tagen an Bord vieler Forschungsschiffe gefeiert wird, vermindert keineswegs
die anhand dieser rites de passage erkennbar werdende symbolische Bedeutung der Bewegungsfigur der Tropen. Dies verdeutlicht vielmehr nur, daß die
Tropiques auch weiterhin als ein Bewegungsraum konfiguriert sind, der entweder durch Tropismen (tropismes), durch kleine, fast unmerkliche Bewegungen der Grenzverschiebung, oder durch wirkliche Sprünge gebildet werden
kann. Zumindest aus europäischer Perspektive sind die Tropen ohne die Tropen der Verwandlung, der Metamorphose, des Eintritts in die Gesetze einer
anderen Welt – gleichviel, ob diese im Zeichen der Metonymie oder der Metapher, der Synekdoche oder der Ironie stehen –, nicht wirklich vorstellbar.
Wie sehr sich ebenso in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung, die historischen Kontexte gewandelt
6 Ebda., S. 109.
7 Ebda., S. 111.
8 Ebda., S. 112.
107
haben mögen und an die Stelle der iberischen Mächte längst Frankreich und
England als globalisierende Führungsnationen getreten sind: Jene Tropen, die aus
europäischer Sicht die Tropen bestimmen, finden sich – wie etwa das Beispiel
Raynals und Diderots zeigt – meist unverändert in den Schriften selbst der europäischen philosophes wieder.9 Vergeblich wehrten sich amerikanische Aufklärer
wie Francisco Javier Clavijero10 mit guten Gründen dagegen, in der Nachfolge
Buffons von der europäischen Wissenschaft zum inferioren Anderen Europas
abgestempelt zu werden. Nicht zuletzt in der seit ihrer Erstausgabe von 1770 berühmt gewordenen und bereits erwähnten Enzyklopädie der kolonialen Expansion Europas, Guillaume-Thomas Raynals Histoire des deux Indes, erscheinen
Fülle und Fruchtbarkeit der Tropen ebenso wie ihre Bedrohlichkeit und fundamentale Inferiorität.
Gerade die These von der grundlegenden Schwäche und Unterlegenheit der
Neuen Welt hat in der europäischen Aufklärungsliteratur Bilder erzeugt und im
kollektiven Gedächtnis Europas verankert, die bereits wenige Jahre zuvor, in den
1768 und 1769 in Berlin erschienenen Recherches philosophiques sur les Américains11 des Cornelius de Pauw, im Zeichen der Degenerationsthese eine geradezu
apokalyptische Dimension angenommen hatten. Denn im Brennspiegel der
äußerst erfolgreichen Bände des 1739 in Amsterdam geborenen Philosophen
breiten sich von den Tropen aus Krankheiten wie die Syphilis über den gesamten
Erdball aus. Cornelius de Pauw erkannte früh, von welch großer Bedeutung gerade das Erleben von Epidemien für ein Weltbewußtsein war, das er mit seiner in
der Tat höchst einflußreichen Schrift inmitten der Epochenerfahrung der zweiten
Phase beschleunigter Globalisierung verändern wollte.
Es handelte sich dabei nicht um ‘irgendeine’ Stimme des 18. Jahrhunderts.
Denn de Pauw darf als einer der unter den Zeitgenossen weltweit berühmtesten
Repräsentanten der europäischen Aufklärung gelten. Doch die Vielzahl an global
geführten Auseinandersetzungen und Polemiken, die Cornelius de Pauw insbesondere mit seinen Recherches philosophiques, seinen Philosophischen Untersuchungen über die Amerikaner, auslöste, scheinen längst vergessen, auch wenn
man seinen Namen bisweilen noch in flüchtigen Fußnoten oder beiläufigen
Nebensätzen findet. Ein Blick auf die internationale Forschungslandschaft zeigt,
daß es kaum neuere Publikationen zu den Arbeiten des 1799 in Xanten verstorbenen Philosophen geschweige denn ausgedehntere Monographien gibt, die sein
gesamtes Œuvre untersuchen würden. Es ist ruhig, ja verdächtig ruhig geworden
um den Mann, der einst die Gemüter erhitzte und einen der zweifellos entscheidenden Dispute des Jahrhunderts der Aufklärung auslöste.
9 Vgl. hierzu auch Ottmar Ette: Réflexions européennes sur deux phases de mondialisation
accélérée chez Cornelius de Pauw, Georg Forster, Guillaume-Thomas Raynal et
Alexandre de Humboldt. In: Gilles Bancarel (Hg.): Raynal et ses réseaux, S. 183–225.
10 Vgl. das zunächst im italienischen Exil in italienischer Sprache erschienene Werk von
Francisco Javier Clavijero: Storia Antica del Messico. 4 Bde. Cesena: Gregorio Biasani
1780.
11 Vgl. Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains.
108
Mochte Antoine-Joseph Pernety in seiner Rede vom 7. September 1769 vor
jener Berliner Académie des Sciences & Belles-Lettres, deren Mitglied er war,
auch eine dezidierte Gegenposition gegen Cornelius de Pauw entwickeln, so
zeigte sich doch, daß in dieser „Berliner Debatte“ über die Neue Welt,12 die
weltweit rezipiert wurde, die Position de Pauws und damit eine Position obsiegte, in der die Tropen der Neuen Welt, die auch geologisch jünger als die
Alte und folglich viel später erst aus den Wassern emporgestiegen sei, als Ort
einer prinzipiellen, von Anfang an gegebenen Inferiorität schlechthin stigmatisiert wurden. Gerade im zweiten Band seiner Recherches philosophiques verstieg sich de Pauw im Kontext der „Berliner Debatte“ zu Äußerungen, in denen die Europäer als Krönung des Menschengeschlechts erschienen und
zugleich die Tropen und deren Bewohner völlig inferiorisiert, ja letztere aus
dem Menschengeschlecht weitgehend ausgeschlossen wurden. So heißt es
1769 bei de Pauw von der Spezies Mensch im allgemeinen:
Das wahre Land, in dem diese Spezies stets reüssierte & prosperierte, ist die gemäßigte
Zone im Norden unserer Hemisphäre: Dies ist der Sitz ihrer Macht, ihrer Größe & ihres
Ruhmes. Rückt man noch weiter nach Norden vor, so werden ihre Sinne starrer &
stumpfer: Je mehr ihre Fibern & ihre Nerven aufgrund der Wirkung der sie zusammenziehenden Kälte an Robustheit & Kraft gewinnen, desto mehr verlieren ihre Organe an Feinheit; die Flamme des Genies scheint in Körpern zu verlöschen, die zu robust sind und wo
alle Lebensgeister (esprits vitaux) damit beschäftigt sind, alle Triebfedern der Struktur &
der tierischen Ökonomie zu bewegen. [...] Unter dem Äquator bräunt sich ihr Teint ein,
wird schwärzer; die Züge einer entstellten Physiognomie stoßen ob ihrer Roheit ab: Das
Feuer des Klimas kürzt das Ende ihrer Tage ab, und indem der Schwung ihrer Leidenschaften zunimmt, verkleinert es die Sphäre ihrer Seele: sie hört auf, sich selbst regieren zu
können, und findet aus ihrer Kindheit nicht heraus. Mit einem Wort, sie wird zu einem Neger, & dieser Neger wird zum Sklaven der Sklaven.
Nimmt man folglich die Bewohner Europas aus, nimmt man vier bis fünf Völker Asiens
sowie einige kleine Kantone Afrikas aus, so setzt sich der weit überwiegende Teil des
Menschengeschlechts nur aus Individuen zusammen, die weniger Menschen als wilden
Tieren ähneln: Gleichwohl nehmen sie sieben- bis achtfach mehr Raum auf unserem Globus ein als alle zivilisierten Nationen (nations policées) zusammen, & sie verlassen ihren
Herkunftsort so gut wie niemals. Hätte man nicht Afrikaner gegen ihren Willen nach Amerika transportiert, so wären sie selbst niemals dorthin gegangen: Die Hottentotten reisen
ebenso wenig wie die Orang-Utans [...].13
Man könnte die gesamte Passage in der Tat mit einem Wort zusammenfassen:
Tropikalisierung meint hier unübersehbar Inferiorisierung. Diese Buffons
Histoire naturelle zuspitzenden und damit wissenschaftlich legitimierten
Äußerungen des holländischen philosophe, der zweimal für einige Monate am
preußischen Hof in Berlin und Potsdam weilte, entwerfen einen Gegensatz
zwischen den gemäßigten Zonen insbesondere Europas einerseits und den
Tropen Afrikas, Asiens und Amerikas andererseits, den als ein Zeugnis des
12 Vgl. zur Berliner Debatte Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung.
Das Mobile des Wissens, S. 45–50 u. 54–68.
13 Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains, Bd. II, S. 68 f.
109
Eurozentrismus zu bezeichnen wohl eher ein Euphemismus wäre. Cornelius de
Pauw brachte seine in europäischen Gebildetenkreisen keineswegs minoritären
Ansichten gnadenlos auf den Punkt und heizte damit eine Debatte an, die in
den Zirkeln der längst transkontinentalen République des Lettres rasch von
Berlin auf Europa und von der Alten in die Neue Welt übersprang.
Zugleich aber wird in diesem Werk, das im übrigen auch die zerstörerische
Kraft europäischer Wissenschaft insbesondere in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung anprangerte, deutlich, daß die klimatologische Argumentation eine Welt zwischen den Wendekreisen abwertet, die im Gegensatz
zu Europa transareal strukturiert ist. De Pauw tat dies zu einem Zeitpunkt, als
die ökonomische Ausplünderung der Tropen insbesondere von England und
Frankreich aus auf einen neuen Höhepunkt geführt und ebenso transkontinental wie transareal, unterschiedlichste Kulturräume der Tropen miteinander verknüpfend, organisiert wurde. Längst bildeten die Tropen eine intern vernetzte,
aber kolonialistisch von außen kontrollierte transareale Struktur, die von Europa aus als komplementärer Ergänzungsraum funktionalisiert und so globalisiert wurde, daß eine rohstofforientierte wie eine biopolitische, auf Sklaverei
oder (nachfolgend) auf Coolies beruhende Ausplünderung14 transareal profitorientiert vonstatten gehen konnte. Die Verwandlung der Tropen in planetarisch ausgeweitete dependente Gebiete, die freilich noch immer an den Tropen
der Verwandlung partizipierten, wurde in der zweiten Phase beschleunigter
Globalisierung noch in verstärktem Maße fortgeführt und vervollkommnet.
In der ersten Phase, so de Pauws Analyse der iberischen Expansion an der
Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, war Europa über die außereuropäische
Welt hergefallen und folglich fortan nicht mehr ohne diese zu denken. Dies ist
der Ausgangspunkt, von dem aus der holländische Abbé seine Leserinnen und
Leser in seine Neue Welt führt. Denn die Folgen der zwar höchst erfolgreichen, aber blutrünstigen Conquista waren in den Augen de Pauws für alle Zeit
irreversibel. Daher führt für ihn kein Weg zurück in eine Zeit, die vor der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, vor der brutalen Machtentfaltung jener Banden von Banditen und Mördern läge, die nach seiner Auffassung von
Cortés oder Pizarro befehligt wurden.15 Der Diskurs der leyenda negra, der
„schwarzen Legende“, der insbesondere in den Führungsmächten der zweiten
Phase beschleunigter Globalisierung, in Frankreich und England, gegen die
Vormächte der ersten Phase, Spanien und Portugal, gerichtet und vorgetragen
wurde, ist in den Schriften des in Amsterdam Geborenen unüberhörbar. Europa ist eben nicht gleich Europa.
Cornelius de Pauw kannte die Welt, über die er schrieb, nicht aus eigenem
Erleben, aus eigener Erfahrung. Seine Recherches philosophiques sur les Américains bilden ein Werk aus Worten, das sich auf keinen empirisch untersuchten
14 Vgl. hierzu Marina Carter/Khal Torabully: Coolitude. An Anthology of the Indian Labour
Diaspora.
15 Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains, Bd. 1, S. 58 sowie S.
75.
110
naturhistorischen oder anthropologischen Gegenstand, sondern ausschließlich auf
andere Werke und Worte, auf andere Texte und Vertexter bezieht. So steht es ein
für eine (Vorform der) Textwissenschaft im schwachen Sinne. Die Methode des
Cornelius de Pauw, so ließe sich sagen, war rein textbasiert und verstand sich
selbst als textkritisch: Sie war in eben diesem Sinne philologisch.
In den Bewegungen zwischen den Texten entstand nicht nur eine gewisse
Autonomie der von ihm durchquerten Textuniversen, sondern vielleicht mehr
noch eine textuell erzeugte Autonomie und Eigen-Logik eines philosophe, der
von einer erhöhten philosophischen Beobachterposition aus seine Urteile fällte
und im Namen einer universalen Vernunft zu sprechen vorgab. Dies machte
zweifellos die Faszination und auch die damit verbundene Wirkmächtigkeit
seines Schaffens aus.
Vor allem richtete sich die textkritische Arbeit de Pauws explizit gegen all
jene „blinden Anhänger des Wunderbaren“16, die in Europa gänzlich falsche
Vorstellungen von Amerika in Umlauf gesetzt hätten. Dagegen setzte er sein
eigenes textfundiertes Verständnis der amerikanischen Geschichte, das – wie er
in seinem einflußreichen Artikel für den Supplement-Band der Encyclopédie
festhielt – auf einem kritischen (wenn auch nur im Kritiker selbst verankerten)
Umgang mit den historischen Quellentexten und damit auf einer spezifischen
Qualität der eigenen Lektüre beruhte:
Will man eine Vorstellung von jenem Zustand erhalten, in dem sich die Neue Welt im Augenblick ihrer Entdeckung befand, so muß man die Beziehungen studieren & ohne Unterlaß
dabei eine sinnvolle & strenge Kritik obwalten lassen, um alle Irrtümer & Wunder zu
entfernen, von denen sie nur so strotzen: Die Kompilatoren, denen jedweder Geist fehlt,
versammeln alles, was sie in den Berichten der Reisenden finden können, & bilden daraus
abgeschmackte Romane, die sich in unseren Tagen nur allzu sehr vervielfacht haben; denn es
ist leichter, ohne nachzudenken zu schreiben, als zu schreiben und dabei nachzudenken.17
Erst die kritische Lektüre des zuvor Geschriebenen ermöglicht ein Schreiben,
das diese Lektüre reflektiert: Lesen und Schreiben sind die grundlegenden
Handlungen, die im Mittelpunkt des de Pauwschen Textuniversums stehen. Die
Normen für die Beurteilung dessen, was in dieser Welt der Texte als
glaubwürdig gilt oder als lügenhaft ausgeschlossen werden muß, können allein
von einem aufgeklärten Europa, ja von Preußen aus definiert werden. Die
Amerikaner sind Objekte, nicht aber Subjekte eines nicht auf Reziprozität, auf
wechselseitigem Austausch beruhenden Diskurses, der ihnen mit philologischer, aber niemals viel-logischer Macht buchstäblich das Wort abschneidet.
De Pauws Bild des Indianers – und schon der Singular spricht für sich – zeigt
diese Macht des Wortes:
16 Ebda., Bd. 1, S. 326.
17 Cornelius de Pauw: Amérique. In: Supplément à L’Encyclopédie ou Dictionnaires
raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Par une Société de Gens de Lettres. Mis en
ordre et publié par M***. Tome premier. Amsterdam: Chez M.M. Rey, libraire 1776, S.
353.
111
Er ist im eigentlichen Sinne weder tugendhaft noch bösartig: Welchen Beweggrund hätte er
auch hierfür? Die Schüchternheit seiner Seele, die Schwäche seines Geistes, die Notwendigkeit, sich sein Überleben inmitten des Mangels zu sichern, die Übermacht seines Aberglaubens & die Einflüsse des Klimas führen ihn in die Irre; doch er nimmt dies nicht wahr.
Sein Glück besteht darin, nicht zu denken, in einer vollkommenen Tatenlosigkeit zu
verbleiben, viel zu schlafen, sich um nichts zu kümmern, sobald sein Hunger gestillt ist, & nur
nach den Mitteln zu sinnen, sich Nahrung zu besorgen, wenn der Appetit ihn umtreibt. Er
würde keine Hütten bauen, wenn ihn die Kälte & die Unbarmherzigkeit der Luft nicht dazu
zwängen: Er käme aus seiner Hütte nicht mehr heraus, würde ihn nicht die Not daraus
verjagen: Seine Vernunft altert nicht: Bis zu seinem Tode bleibt er ein Kind, blickt nicht
voraus, vervollkommnet nichts & läßt die Natur alles unter seinen Augen, unter seinen Händen
degenerieren, ohne sie je zu beflügeln & ohne sie aus ihrer Schläfrigkeit herauszuziehen.
Grundlegend faul von Natur aus, ist er aus Schwäche rachsüchtig & grausam in seiner Rache,
denn selbst ist er gefühllos: Da er nichts als sein Leben zu verlieren hat, sieht er in allen seinen
Feinden seine Mörder.18
Der Reduktion der unterschiedlichsten amerikanischen Kulturen auf das statische
Bild ‘des’ Indianers entspricht die Reduzierung dieses Menschen auf eine quasi
tierische Existenz, die von keinerlei Entwicklung, keinerlei Dynamik und
keinerlei Perfektibilität gekennzeichnet ist. Es geht um Subsistenz, es geht um’s
nackte Überleben. Kultur wird in Natur umkodiert und damit jenes Verfahren
einer gezielten Konfusion angewandt, das laut Claude Lévi-Strauss die Ursünde
jeglichen Rassismus charakterisiert, bestehe doch „der Sündenfall der
Anthropologie“ in der „Verwechslung zwischen dem rein biologischen Begriff
der Rasse (wenn man einmal voraussetzt, daß dieser Begriff selbst auf einem so
eingeschränkten Gebiet eine Objektivität besitzt, die ihm von der modernen
Genetik bestritten wird) und den soziologischen und psychologischen Hervorbringungen der menschlichen Kulturen“.19
In diesem Sinne aber scheint ‘der’ Indianer – und mit der indigenen Bevölkerung letztlich auch die gesamte Population Amerikas – in einer unüberwindlichen
Unmündigkeit gefangen: Er wird de facto aus der Geschichte der Menschheit
ausgeschlossen, zu der er nichts beizutragen hat, da sich sein Leben in einer nie
enden wollenden Kindheit verliert. Die Inklusion ‘des’ Indianers in eine
Menschheitsgeschichte im Sinne der Buffonschen Naturgeschichte erfolgte gerade kraft seiner Exklusion aus der Geschichte als Fortschrittsgeschichte. War
damit die Bevölkerung eines ganzen Kontinents aus dieser Geschichte, aus dieser
Geschichtskonzeption ein für allemal ausgebürgert und ausgeschlossen?
Auf den ersten Blick könnte es den Anschein haben. Doch es gab gegen solch
universalistisch sich gebärdende Legitimation von kolonialer Abhängigkeit bald
Gegenstimmen, ja umfassende Gegenbewegungen, die ihre politisch und militärisch, aber auch philosophisch und anthropologisch kohärentesten und effizientesten Ausdrucksformen auf dem amerikanischen Kontinent selbst fanden.
18 Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains, Bd. 1, S. 123.
19 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Race et histoire. Suivi de L’œuvre de Claude Lévi-Strauss par
Jean Pouillon. Paris: Denoël 1984, S. 10.
112
Die Kunst der Unabhängigkeit
Bevor die neu ernannten Vizekönige Neuspaniens in ihre Hauptstadt einzogen
und von ihrem Virreinato im Namen der spanischen Krone Besitz ergriffen,
wurden sie zum Castillo de Chapultepec geführt, von wo aus sie einen herrlichen Blick über die zu ihren Füßen, inmitten der Seenlandschaft des Hochtales
liegende Stadt mit den berühmten Vulkanen im Hintergrund genießen konnten. Es ist jener Blick, der in den zentralperspektivisch angelegten Stadtansichten der neuspanischen Kapitale so meisterhaft dargestellt wurde, etwa im
sogenannten Biombo de la Conquista20 – dem ästhetischen Höhepunkt jener
transareal angelegten Namban-Kunst, die künstlerische Traditionen Asiens,
Amerikas und Europas miteinander vereinigte (Abb. 5) – oder in den Paravents von Diego Correa, die sich zum Teil bis heute in Chapultepec befinden.
Abb. 5a: Blick auf Mexiko Stadt. Vorderseite des Biombo de la Conquista y de la muy noble y
leal Ciudad de México (ca. 1690).
Abb. 5b: Geschichte der Eroberung Tenochtitlans. Rückseite des Biombo de la Conquista y de
la muy noble y leal Ciudad de México (ca. 1690).
An eben diesem Ort, im heutigen Museo Nacional de Historia von Chapultepec, findet sich aber auch ein gewaltiges Wandgemälde, das der mexika20 Vgl. hierzu ausführlich Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, S. 9–18.
113
nische Künstler und Architekt Juan O’Gorman, der Bruder des bereits erwähnten Edmundo O’Gorman, auf die 1960 erfolgte Einladung des damaligen
Museumsdirektors Antonio Arriaga Ochoa hin ausgeführt hat: der berühmte
Retablo de la Independencia21 (Abb. 6). In diesem gewaltigen Werk, das ursprünglich von dem allerdings bereits 1957 verstorbenen Diego Rivera ausgeführt werden sollte,22 entfaltet Juan O’Gorman eine von links nach rechts chronologisch fortschreitende Geschichte der mexikanischen Unabhängigkeit, die
in vier Stationen zwischen 1795 und 1815 aufgeteilt ist und eine besondere
Signifikanz den Vordenkern der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung zuerkennt.
Die Gruppe derer, die man als die „geistigen Urheber“ (autores intelectuales) der Unabhängigkeitsrevolution Neuspaniens bezeichnen könnte, siedelt
sich unmittelbar rechts oberhalb der Figur eines gekreuzigten Indianers an und
ist sofort durch die dunkle, gleichzeitig akademische und klerikale Kleidung
gekennzeichnet. Dieser Gruppe der dunkel Gewandeten gehören – diesmal
von rechts nach links gelesen – Fray Servando Teresa de Mier, José Joaquín
Fernández de Lizardi (mit seinem Roman El Periquillo Sarniento), José Juan
Eguiara (der eine Liste der Namen dieser Intellektuellen avant la lettre in
Händen hält), José Mariano Michelena, Juan Ignacio Castorena, José Antonio
Alzate, Francisco Javier Alegre, Benito Díaz de Gamarra, Francisco Javier
Clavijero (mit seiner ob ihrer Liebe zum mexikanischen Vaterland besonders
hervorgehobenen Historia antigua de México), Fausto de Elhuyar, Andrés del
Río und der mit den beiden zuletzt Genannten eine langjährige Freundschaft
pflegende Alexander von Humboldt. Er steht unmittelbar hinter dem bereits
erwähnten Indianer am Kreuz und neben einem Globus, ohne seinen Ensayo
político sobre el Reino de la Nueva España, seinen Politischen Versuch über
das Königreich Neuspanien, aus der Hand zu legen. Eine illustre Gruppe, fürwahr, wobei der Globus in einem über den preußischen Wissenschaftler und
Schriftsteller hinausweisenden Sinne nicht nur emblematisch für die Weltkenntnis dieser Intellektuellen avant la lettre steht, sondern auch für deren
weltenschaffende Kraft, sind sie es doch, die der neuen Welt ein neues, unabhängiges Antlitz zu geben versuchten.
Die verbindende Stellung, die diesen Denkern, Wissenschaftlern und
Schriftstellern zwischen den geknechteten, gefolterten und verzweifelten Indianern und den aufbegehrenden, entschlossen ihre Waffen tragenden Akteuren der Unabhängigkeitsrevolution zukommt, unterstreicht die direkte Verbindung, die Juan O’Gorman in seiner Vision der Independencia zwischen menschenverachtender Unterdrückung und antikolonialistischer, die Menschenwürde verteidigender Unabhängigkeitsbewegung sah und herstellte. Die
21 Für die Mithilfe bei der Erkundung dieses wichtigen mexikanischen Mural danke ich Sergio Ugalde und Rosa María Sauter de Maihold.
22 Vgl. hierzu María Eugenia de Lara (Hg.): Tesoros del Museo Nacional de Historia en el
Castillo de Chapultepec. México: Instituto Nacional de Antropología e Historia 1994, S.
93.
114
vielköpfige Gruppe bildet durch ihre einheitliche Kleidung eine geschlossene,
ja verschworene Gemeinschaft, die es in dieser Form aus historischer Perspektive zweifellos zu keinem Zeitpunkt gab.
Man könnte Juan O’Gormans Wandgemälde der Unabhängigkeit, das in
etwa zum gleichen Zeitpunkt entstand wie Die Erfindung Amerikas, der Band
seines Bruders Edmundo O’Gorman, als die künstlerische ‘Erfindung Mexicos’ bezeichnen, die auf der Grundlage ihres Reichtums an historischen Bezügen und Verweisen das Vorgefundene mit dem Erfundenen so kombiniert,
daß es ganz in der Traditionslinie der mexikanischen Muralisten zu einem
intensiven Erleben mexikanischer Geschichte durch ein nicht notwendigerweise vorgebildetes Publikum kommen kann. Dem entspricht im übrigen die
von Juan O’Gorman selbst stolz kolportierte Anekdote, daß der französische
Schriftsteller und zeitweilige Kultusminister André Malraux beim Anblick jener Figuren, die der mexikanische Maler gerade an die Wand aufzutragen begonnen hatte, wegen des angeblich so völlig aus der Mode gekommenen Realismus den Saal in Chapultepec fluchtartig verlassen habe, während wenig
später ein mexikanisches Pärchen „von bescheidener Herkunft“ (de clase humilde) über lange Zeit aufmerksam mit der Dechiffrierung dieser „Lektion in
vaterländischer Geschichte“ beschäftigt gewesen sei.23 Die von vielen
mexikanischen Muralisten geteilte und mitgeteilte Botschaft, mit ihren Werken eine „Biblia pauporum“, eine „Bibel der Armen“ schaffen zu wollen, ist
gewiß nicht schwer zu entziffern. Eine derartige Kunst der Unabhängigkeit
bedarf aber auch einer Unabhängigkeit der Kunst, die sich – gewiß in einem
stets relativen Maße – gerade auch in der Differenz gegenüber europäischen
Formen und mehr noch Normen äußert.
Ich möchte den Retablo de la Independencia zum Anlaß nehmen, dieser
Verzahnung von Kunst und Malerei, Wissenschaft und Religion, Philosophie
und Literatur anhand ausgewählter Beispiele nachzugehen, um dadurch die
Komplexität dieser Bild-Text-Beziehungen gerade auch vor dem Hintergrund
einer Erfindung Mexicos im weltweiten Maßstab vorzuführen. Dabei soll die
Fruchtbarkeit, aber auch die Widersprüchlichkeit der jeweiligen Konzeptionen einiger der hier genannten Autoren aufgezeigt werden, um auf diese
Weise die sich daraus ergebenden sozialen, kulturellen und philosophischen
Problematiken buchstäblich vor Augen treten zu lassen, Problemstellungen,
die sich gerade auch mit Blick auf das Zusammenleben, auf die Konvivenz
unterschiedlicher Kulturen und Ethnien, Gemeinschaften und Klassen, Philosophien und Ideologien in Neuspanien beziehen lassen. Daß die sich hieraus
ergebenden Spannungen und Konflikte weder zur Zeit von Juan O’Gormans
Erfindung mexikanischer Unabhängigkeit noch in unserer Gegenwart als gelöst betrachtet werden können, versteht sich – aller Euphorie im Zeichen der
aktuellen Zweihundertjahrfeiern der mexikanischen Unabhängigkeit zum
Trotz – von selbst.
23 Zitiert nach Ida Rodríguez Prampolini: Juan O’Gorman, arquitecto y pintor. México:
Universidad Nacional Autónoma de México 1982, S. 57.
115
Einer jener Autoren, die zwar auf dem Retablo de la Independencia von
Juan O’Gorman nicht als ‘geistige Urheber’ der Unabhängigkeit Mexicos erscheinen, dessen Schriften und Veröffentlichungen aber durchaus zu jener
Bewegung wesentlich beigetragen haben, welche zur politischen Unabhängigkeit des ehemaligen Neuspanien führten, ist die Zentralfigur jener ersten Kolonialenzyklopädie,24 die sich unter dem Titel Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des européens dans les deux Indes ein
weltweites Publikum eroberte. Dort heißt es im letzten Abschnitt des sechsten
Buches, mit dem geographisch korrekt die Beschäftigung mit Nordamerika
abgeschlossen wird, um sich im weiteren Verlauf des Werkes dann dem Süden
des Kontinents zuzuwenden:
Nach allem Anschein wird der Hof von Madrid niemals die Anzahl der Truppen vermindern, die er in Neuspanien unterhält: Aber der Teil des öffentlichen Einkommens, das die
Befestigungen verschlangen, sollte bald schon seine Schätze vermehren, falls man diesen
Teil nicht für die Schaffung neuer Einrichtungen in der Kolonie selbst verwenden sollte.
Schon jetzt werden am Alvarado-Fluß, wo es die verschiedensten Bauhölzer gibt, große
Baustellen angelegt. Diese Neuigkeit stellt eine glückliche Vorhersage dar. Denn weitere
werden wohl zweifellos folgen. Nach drei Jahrhunderten der Unterdrückung und Lethargie
wird Mexico vielleicht die hohen Erwartungen einlösen, zu denen die Natur dieses Land
schon seit so langer Zeit berechtigt.25
Diese markante Passage, in der sich die Erzählerfigur, die so gerne und leicht
mit dem Abbé Raynal verwechselt wird, einer „süßen Hoffnung“26 überläßt,
verdient unsere Aufmerksamkeit nicht nur aufgrund ihres Übergangscharakters, sondern vor allem, weil hier ein eigener territorialer Raum konstruiert wird, für den die Bezeichnung le Mexique an die Stelle des
kolonialspanischen Nouvelle-Espagne tritt. Mit dieser Verschiebung wird
zugleich einem Geschichtsraum von drei Jahrhunderten, der die Kolonialzeit
als Zeit des Stillstands, der Untätigkeit und der Unterdrückung charakterisiert,
der Bewegungs-Raum einer zukünftigen eigenen Entwicklung entgegengestellt, innerhalb dessen - ob in kolonialer Abhängigkeit oder politischer Eigenständigkeit bleibt hier noch offen - unter dem Impuls einer sich entwickelnden
Industrie die naturräumliche Ausstattung und Infrastruktur endlich genutzt und
zum Wohle des künftigen Mexico in Wert gesetzt werden könne. Auch für
Mexico scheint die Geschichte wieder in Gang kommen zu können: Allen In-
24 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink/Manfred Tietz (Hg.): Lectures de Raynal; sowie unter
dem Einfluß neuerer Globalisierungstheorien Gilles Bancarel: „L’Histoire des deux Indes“
ou la découverte de la mondialisation (unveröff. Typoskript 2010). Zu einer ersten
Annäherung an die im folgenden skizzierte Problematik vgl. Ottmar Ette: „Tres fines de
siglo“ (Teil I). Kulturelle Räume Hispanoamerikas zwischen Homogenität und
Heterogenität. In: Iberoromania (Tübingen) 49 (1999), S. 97–122.
25 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes, Bd. III, S. 344.
26 Ebda.
116
dizien zufolge tut sich eine neue Zukunft für dieses noch immer vom spanischen Kolonialismus und seinen Truppen beherrschte Land Nordamerikas auf.
Repräsentiert der Begriff „Neuspanien“ paradoxerweise das zu überwindende
Alte, so steht mit „Mexico“ ein alter Begriff für die zukünftige Entwicklung ein,
der auf die vor der spanischen Eroberung liegende präcortesianische Zeit zurückverweist und damit einen Geschichtsraum entstehen läßt, in welchem Conquista
und Colonia im Grunde als Unterbrechung, ja als Fremdkörper innerhalb eines
eigenen historischen Seins stehen, das sich aus präkolumbischer Zeit herzuleiten
vermag.27 Die Zielrichtung ist klar umrissen: Eine Abkoppelung von den Beharrungskräften der Unfähigkeit Spaniens, des „Feindes des Menschengeschlechts“ im Sinne der Encyclopédie méthodique28, um im Verbund mit anderen interessierten Partnern eine neue Seite im Buch der Geschichte dieser
Weltregion aufzuschlagen. Denn Mexico nimmt nicht allein eine zentrale geostrategische Position innerhalb des amerikanischen Kontinents ein, sondern besitzt auch in ost-westlicher Richtung Potentiale, die es in einen global player zwischen Europa und Asien verwandeln könnten. Standen hierfür nicht schon zu
kolonialspanischen Zeiten die transarchipelischen Verbindungen zwischen der
Karibik und den Philippinen über die Häfen von Veracruz und Acapulco ein?
Ist in der wenige Jahrzehnte später losbrechenden Unabhängigkeitsrevolution
der bewußte wie unbewußte Rückgriff auf die Zeit vor der Eroberung in der politischen Symbolik überall mit Händen zu greifen, ja gelingt es den politischen
Führern beziehungsweise den kreolischen Eliten, die indianischen Mythen neu
für ihre eigenen Interessen dienstbar zu machen und – etwa bei Fray Servando
Teresa de Mier – eine wahre aztekisierende Mode29 auszulösen, mit welcher die
Kolonialzeit sichtbar zum Verschwinden gebracht und die neue Nationalität im
alten „Imperio Mexicano“ verankert werden sollte, so ist in Raynals erstmals
1770 erschienener Histoire des deux Indes eine derartige Zeitstruktur inhaltlich
nicht präsent. Denn sie orientiert sich an Paradigmen ausschließlich europäischer
Provenienz, um die außereuropäische Welt diskursiv gleichsam in ihr eigenes
Gitternetz zwingen und damit scheinbar präzise verorten zu können. Die hier
aufscheinende Unabhängigkeit ist bestenfalls eine Unabhängigkeit innerhalb klar
gesetzter europäischer Normen.
27 In einer Vielzahl von Schriften – nicht zuletzt im Anfangskapitel von Sor Juana Inés de la
Cruz o las trampas de la fe mit seiner Interpretation des Vizekönigreiches – hat Octavio
Paz eine derartige, in seinen Augen bis heute anhaltende Geschichtsvision diagnostiziert
und harte Kritik an ihr geübt.
28 Charakteristisch und besonders anschaulich für diese Spanien gegenüber feindliche
Grundströmung innerhalb der französischen Aufklärung ist – gewiß neben vielen anderen
Zeugnissen – der Artikel ‘Espagne’ von Nicolas Masson de Morvilliers in der
Encyclopédie méthodique. Géographie, Bd. I. Paris/Liège: Panckoucke/Plomteux 1783, S.
554–568.
29 Vgl. hierzu Edmundo O’Gorman: Prólogo. In: Fray Servando Teresa de Mier: Ideario
político. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978, S. xxv f. Nicht zu Unrecht ist dort auch in
politischer Hinsicht die Rede von einem damals angestrebten „imperio azteca liberal y
parlamentario“ (S. xxvi).
117
Hatte am Ende des siebten Kapitels im sechsten Buch im Übergang zur Beschäftigung mit Geschichte und Gegenwart Neuspaniens die für die Geschichtsschreibung der Geschichte beider Indien zentrale narrative Instanz die
barbarischen Grausamkeiten der spanischen Eroberer im karibischen Raum
mit scharfen Worten gegeißelt und heiße Tränen vergossen über die längst
verschwundene indigene Bevölkerung,30 so wurde wenige Seiten danach
durch diese Erzählinstanz selbst die Vergangenheit der indianischen Völker
und ihre differenzierten kulturellen Formen mit einem Federstrich getilgt und
ausgelöscht. Denn mit der Geste des aufgeklärten Philosophen und des erfahrenen Geschichtsschreibers, der es gewohnt ist, seine Quellen nicht für bare
Münze zu nehmen, sondern einer tiefgründigen, im Grunde philologisch ausgerichteten Kritik zu unterziehen, werden alle Berichte der Spanier über jene
für die europäischen Leser wundersame Welt, die sie eroberten und zugleich
zerstörten, ins Reich der Phantasie und einer absichtsvollen Übertreibung verwiesen. Was bleibt dann noch übrig von der zivilisatorischen Leistung der indigenen Bevölkerung des Kontinents, von der Baukunst, dem Staatswesen,
den Handelsverflechtungen, den kulturellen Errungenschaften der indianischen
Hochkulturen?
Die Antwort auf diese Frage ist denkbar simpel und mechanisch, gegründet
auf das Selbstbewußtsein jener universalistischen Kategorien, die in Europa,
insbesondere in Frankreich, entwickelt wurden und sich der Welt bemächtigen:
Ohne die Wissenschaft der Mechanik & die Erfindung ihrer Maschinen gibt es keinerlei
große Baudenkmäler. Ohne Viertelkreise & ohne Teleskope gibt es keine wunderbaren
Fortschritte in der Astronomie, keinerlei Präzision bei den Beobachtungen. Ohne Eisen gibt
es keine Hämmer, keine Zangen, keine Ambosse, keine Schmieden, keine Sägen, keine
Äxte, keine Beile, keinerlei Werke aus Metall, die es sich anzuschauen lohnte, keinerlei
Mauerwerk, keinerlei Zimmerwerk, keinerlei Tischlerarbeit, keinerlei Architektur, keinerlei
Gravur, keinerlei Skulptur. [...]
Entkleiden wir Mexico von allem, was fabulierfreudige Berichte ihm andichteten, & wir
werden herausfinden, daß dieses Land, das den wilden Gegenden überlegen war, welche
die Spanier bis zu diesem Zeitpunkt in der Neuen Welt durchlaufen hatten, nichts war im
Vergleich mit den zivilisierten Völkern des alten Kontinents.31
30 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes, Bd. III, S. 223: „Ihre Rasse ist nicht mehr.
Ich muß hier für einen Moment innehalten. Meine Augen füllen sich mit Tränen, & ich
sehe nicht mehr, was ich schreibe.“ Zur epistemologischen Bedeutung der Augen, die
auch in dieser Passage nicht der Aufnahme fremder Informationen (von außen nach innen)
dienen, sondern den Informationsfluß umkehren und (von innen nach außen) dem Leser
Hinweise über die so geschaffene explizite Autorfigur geben, vgl. Ottmar Ette: Diderot et
Raynal: l’œil, l’oreille et le lieu de l’écriture dans l’„Histoire des deux Indes“. In: HansJürgen Lüsebrink/Anthony Strugnell (Hg.): L’„Histoire des deux Indes“: réécriture et
polygraphie. Oxford: Voltaire Foundation 1996, S. 385–407.
31 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes, Bd. III, S. 248 f.
118
Diese Passage aus der Feder keines Geringeren als Denis Diderots32 zeigt mit
aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie eine (hier materialistisch fundierte)
eurozentrische Sichtweise nicht nur die eigene Kultur beziehungsweise Kulturgeschichte und insbesondere deren Techniken zum Maß aller Dinge macht,
sondern mehr noch die ‘andere Kultur’ als solche negiert und nur durch den
Mangel, durch das Fehlen bestimmter für essentiell gehaltener Elemente negativ charakterisiert. Es handelt sich um ein wirkliches Lehrbeispiel eines europäischen Aufklärungsdiskurses, dessen machtvolle Logik, die letztlich auf
Syllogismen aufruht, bis heute nicht versiegt ist und immer wieder neu jenen
hermeneutischen Zirkel produziert, der nur zu finden vermag, was längst erfunden wurde, und der nur zu erleben wünscht, was längst zuvor gelebt worden ist. Gerade der europäische Diskurs über die Tropen läßt nur Tropen, ja
läßt nur Rede- und Gedankenfiguren zu, die den Diskurs über die Tropen sicherstellen. Tropik gerät hier zur Topik einer Mystik, die sich als Logik ausgibt und doch nur stolze Gestik ist.
Mag sein, daß es solche Positionen waren, wie sie sich des öfteren nicht nur
im obigen Zitat in der Histoire des deux Indes finden, welche O’Gorman bewogen haben, den kämpferischen Abbé Raynal nicht in sein Monumentalgemälde zur Unabhängigkeit Mexicos mitaufzunehmen. Denn jene Autoren der
novohispanischen Aufklärung, die sich in seinem Retablo de la Independencia
als eine geschlossene, homogene Gruppe abzeichnen, liefen in der Tat Sturm
gegen derartige Ausführungen, welche unbesehen die verschiedenen indigenen
Kulturen zur menschheitsgeschichtlichen Irrelevanz verurteilten und damit
hinter ihrem Gitternetz gleichsam ein zweites Mal zum Verschwinden brachten. Ungeachtet ihrer stets wirkungsvollen, bisweilen auch revolutionären
Rhetorik gelangte die Geschichte beider Indien aufgrund ihrer Stellung innerhalb des Disputs um die Neue Welt nicht ins Pantheon der sich vom kolonialen Joch befreienden Staaten Amerikas – und auch nicht auf die Bildfläche des
künstlerisch-didaktischen Entwurfes von O’Gorman.
Anderen aber gelang dieser Sprung. Geradezu paradigmatisch für die sich
gegen eine derartige europäische Philosophie stemmende amerikanische beziehungsweise protomexikanische Gegenposition scheint mir das gesamte Schaffen von Francisco Javier Clavijero zu sein, dessen drei erste Bände der Historia antigua de México im Jahre 1780 in Italien, im Zufluchtsland des jesuitischen Geistlichen, in italienischer Übersetzung erstmals erschienen. In der
seiner Geschichte vorangestellten „Noticia de los escritores de la historia antigua de México“ listete der belesene Jesuit, der 1731 in Neuspanien geboren
wurde, das Land aber bei der Ausweisung seines Ordens aus den spanischen
Kolonien 1767 verlassen und wie viele seiner Ordensbrüder seine Tage in Italien beenden mußte, nicht etwa – wie dies ein europäischer Leser hätte erwarten können – die in Europa bekannten Autoritäten auf. Er erweiterte hierbei
vielmehr nicht nur die Basis schriftlicher Quellen, indem er eine große Zahl
32 Vgl. hierzu die grundlegende Arbeit von Michèle Duchet: Diderot et l’Histoire des deux
Indes. L’Ecriture Fragmentaire. Paris: Nizet 1978, S. 73.
119
bislang weitgehend unbekannter, in Mexico verfaßter Texte einbezog, sondern
auch den Begriff von Schrift und Schriftlichkeit selbst. Die neuspanische Aufklärung versuchte recht erfolgreich, die Gegenwart durch die Veränderung der
Geschichte zu transformieren, um damit eine zukunftsgerichtete eigenständige
Politik auf den Weg bringen zu können.
So warf Clavijero etwa William Robertsons einflußreicher Geschichte33
nicht nur vor, eine Vielzahl in alphabetischer Schrift vorliegender Texte übergangen und aus Unkenntnis ihre Existenz geleugnet zu haben. Er unterstrich
vielmehr mit Nachdruck, daß es nicht angehen könne, die indianischen Bilderhandschriften als unverständlich oder „von unklarer Bedeutung“ abzuqualifizieren, gelte dies doch nur „für Robertson und all jene, welche die Schriftzeichen und Figuren der Mexikaner nicht verstehen und die Methode ignorieren,
mit deren Hilfe sie die Dinge repräsentierten, so wie unsere Schriften für all
jene, die nicht lesen können, von unklarer Bedeutung sind“34.
Diese grundlegende Veränderung der für all jene zwingend zu konsultierenden Bibliothek, die adäquat und kompetent über Amerika und die amerikanischen Kulturen schreiben wollten, kann in ihrer nicht allein epistemologischen Bedeutung kaum überschätzt werden. Der Angriff auf eine sich universalistisch gebende europäische Epistemologie beruhte zwar selbst auf dem
transarealen Transfer aufklärerischer Konzepte aus der Alten in die Neue Welt,
radikalisierte diesen Transfer aber im Sinne einer Transformation, welche die
Gültigkeit einer einzigen Logik, eines einzig und allein normgebenden Koordinatensystems auf grundlegende Weise in Frage stellte. Es wäre unfair, wollte
man die außereuropäische Aufklärung auf einen bloßen ‘Ideen-Transfer’ aus
Europa reduzieren: Im Zeichen der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung hatte das weltweite Zirkulationssystem von Wissen längst damit begonnen, die Asymmetrie seiner Beziehungen35 kritisch und selbstkritisch zu überdenken.
Denn wir sehen uns hier einer entschlossenen Neubewertung und zugleich
Aufwertung indigener Aufschreibesysteme36 gegenüber: den Prinzipien der
Aufklärung treu und zugleich konsequent gegen die eurozentrischen wie alphabetzentrierten Deutungsmuster europäischer Aufklärer argumentierend.
Der belesene Jesuit Clavijero stellt in der obigen Passage explizit die Kulturtechnik der ihm bekannten Bilderhandschriften aztekischer, tlaxcaltekischer
oder anderer Herkunft neben die Kulturtechnik der Alphabetschrift, derer sich
33 Vgl. William Robertson: The History of America. 2 Bde. London: W. Strahan 1777.
34 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México. Prólogo de Mariano Cuevas.
Edición del original escrito en castellano por el autor. México: Editorial Porrúa 71982, S.
xxxiv.
35 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der
Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Birgit Scharlau (Hg.): Lateinamerika denken.
Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter
Narr Verlag 1994, S. 297–326.
36 Vgl. zur auch politischen Virulenz dieses Begriffs Friedrich A. Kittler:
Aufschreibesysteme 1800–1900. München: Fink 1985.
120
im übrigen auch indianische Autoren ganz selbstverständlich bedient hätten.
So erweitert der neuspanische Geschichtsschreiber auf signifikante Weise die
Quellenbasis, indem er die nicht weniger eindeutige Lesbarkeit derartiger
pinturas oder Bilderhandschriften unterstreicht und sie dem Bereich der
Schrift (und damit der zu konsultierenden Schriften) zurechnet. Was überhaupt
lesbar ist und was nicht, was als unlesbar oder unleserlich exkludiert werden
darf und was nicht, kann fortan aus Clavijeros Sicht nicht mehr von Europa
aus wie bei einem Nullmeridian festgelegt werden, an dem es weltweit alles
auszurichten gilt. Damit sind fundamentale Fragen einer Epistemologie des
Wissens (und des Wißbaren) berührt.
Der in dieser „Noticia“ der Storia aufgespannte explizite literarische Raum,
der durch die ausdrückliche Erwähnung von und die Bezugnahme auf literarische beziehungsweise naturhistorische Schriften und Dokumente gebildet
wird, ist unverkennbar als Gegenraum zu jenem der europäischen philosophes
konstruiert – auch wenn es der gebildete und an den Konventionen seiner Zeit
orientierte Jesuit schon mit Rücksicht auf seine Autorität bei einem traditionell
an Europa orientierten Lesepublikum nicht unterlassen konnte, seine Leserschaft darauf aufmerksam zu machen, daß er ungeachtet der großen Kosten,
die die Literaturbeschaffung von Europa aus verursacht habe, über einen langen Zeitraum hinweg alles gelesen habe, was zum Thema jemals veröffentlicht
worden sei. Die europäische Aufklärung – daran kann kein Zweifel bestehen –
ist und bleibt ein wichtiger Bezugspunkt für Clavijero. Doch verknüpft der Jesuit diesen Bezug transareal mit anderen Wissens-Inseln, die sich offenkundig
nicht im Horizont der europäischen Gelehrtenwelt befinden.
Francisco Javier Clavijero unterstreicht dabei durchaus – ganz wie Raynal
und in Befolgung der diskursiven Normen seiner Zeit – seine stets quellenkritische, philologische Haltung. Diese bezog sich aber auf die Wissens-Inseln
nicht allein europäischer Bibliotheken:
Mit großer Sorgfalt habe ich alles, was bis heute zu dieser Materie veröffentlicht wurde,
gelesen und untersucht; ich habe mir die Berichte der Autoren vorgenommen und ihre Autorität auf den Waagen der Kritik gewogen; ich habe unzählige historische Malereien (pinturas) der Mexikaner studiert; dabei habe ich mich auf ihre Manuskripte gestützt, habe zuvor alles, was in Mexico war, gelesen und viele Männer der Praxis in jenen Ländern konsultiert.37
Es handelt sich hier zweifellos um einen Rechtfertigungsdiskurs, der unüberhörbar aber auch vom Stolz des amerikanischen Kreolen auf das von ihm erarbeitete und die europäischen Denker überbietende Wissen geprägt ist. Auch
wenn wir uns hier der in epistemologischer Hinsicht wichtigen Tatsache nicht
ausführlicher zuwenden können, daß sich der neuspanische Philosoph in der
Folge ebenso auf die Befragung von Schrifttexten und Informanten wie auch
auf sein 36 Jahre lang währendes Leben in verschiedenen Landesteilen (provincias) Mexicos beruft, so bleibt doch erneut festzuhalten, daß der von ihm
37 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. xxii.
121
ausgespannte literarische Raum archipelartig strukturiert, zugleich wesentlich
breiter angelegt sowie stärker polylogisch und polyperspektivisch zusammengesetzt ist als der Bezugshorizont zeitgenössischer europäischer Denker der
Aufklärung. Der Raum des Eigenen ist für den amerikanischen Autor ein gegenüber dem der europäischen Autoren anderer; vor allem aber ist er mehr,
umfaßt er als bewußt transareal konzipierter Bewegungs-Raum doch auch das
Europäisch-Okzidentale, das Clavijero als Jesuit ebenso im Bereich der Religion nicht weniger selbstverständlich vertrat. Francisco Javier Clavijeros Konstruktion einer eigenen Geschichte, einer eigenen Antike Neuspaniens beging
nicht den grundlegenden Irrtum, das Amerikanische scharf vom Europäischen
abzutrennen: Er setzte vielmehr unterschiedliche Denktraditionen und Geschichten miteinander in eine viel-logische Relation.
Vor der Ausweisung der Jesuiten verfügte Clavijero über das Privileg, die
besten Bibliotheken des Landes wie auch gelehrte Vertreter der Universität
von Mexico konsultieren zu können; ihnen eignete er folglich seine Geschichte
des alten Mexico, seine Storia Antica del Messico38 auch zu.39 Buffon, Robertson, de Pauw, Raynal, Montesquieu und Rousseau waren selbstverständliche,
aber keineswegs ausschließliche Dialogpartner seines Schreibens. Ihre unumgehbaren, aber nicht unumstrittenen Schriften werden nicht nur mit Vertretern
der spanischen und neuspanischen Aufklärung, sondern auch mit indigenen
Quellentexten und eigenen Erfahrungen wie Erlebnissen vor Ort konfrontiert,
relationiert und relativiert. Aus der Distanz des Exils, die Clavijero zu erwähnen nie vergißt, konnten diese außereuropäischen Bezugstexte freilich oftmals
nicht erneut überprüft werden. Doch konnten sie gleichwohl in die Konstituierung eines eigenen kulturellen Raumes ebenso in Hinblick auf das Objekt wie
auf das Subjekt (und die Subjekte) dieser Geschichtsschreibung Amerikas einbezogen werden.
So entstand ein kultureller und literarischer Bewegungs-Raum, der nicht
nur die Alphabetschrift, sondern auch die Bildtexte der Bilderhandschriften
berücksichtigte und in kultureller Hinsicht weitaus komplexer aufgebaut war
als die ausschließlich durch Lektüre erzeugten spekulativen Entwürfe europäischer philosophes, deren politisch-appellative Funktion in den spanischen
Kolonien zwar breiten Widerhall fand, deren monokulturell-eurozentrische
Konzeption aber bei den kreolischen Eliten nachhaltigen Widerstand hervorrief. Dieser letztlich kreolischen Sichtweise und Position blieb Juan
O’Gormans Retablo de la Independencia – dies gilt es kritisch anzumerken –
noch immer verpflichtet.
38 Francisco Javier Clavijero: Storia Antica del Messico, 4 Bde.
39 Vgl. hierzu auch Irina Buche: Mexikos Dialektik der Aufklärung in den Diskursen von
Fray Francisco Javier Clavijero und Fray Servando Teresa de Mier y Guerra. In: Axel
Schönberger/Klaus Zimmermann (Hg.): De Orbis Hispani linguis et litteris historia moribus. Festschrift für Dietrich Briesemeister zum 60. Geburtstag. Bd. 2. Frankfurt am Main:
Domus Editoria Europaea 1997, S. 1300.
122
Ein kulturphilosophischer Entwurf, der die Kreolen bestenfalls als Marginalie innerhalb eines evolutiven Prozesses der histoire universelle verstand,
deren Impulse von Europa ausgingen, konnte den Ansprüchen und Bedürfnissen dieser Kreolen nach einer Legitimierung jener Protagonistenrolle, die zu
spielen sie sich in eben jenen Jahrzehnten des letzten Jahrhundertdrittels anschickten, selbstverständlich nicht gerecht werden. Ihre Differenz, die von den
französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich negativ
konnotiert und als Degenerierung gedeutet worden war, sollte nicht etwa verschwinden, sondern ins Positive gewendet werden. Der Disput um die Neue
Welt war letztlich vor allem der Disput um eine neue Welt-Ordnung.
Zur Legitimation einer neuen Ordnung der Welt aber eignete sich die eigene, die nicht mehr neuspanische, sondern alt-mexikanische Antike vorzüglich. Die Effizienz von diskursiven Setzungen und Besetzungen, die ihre Gültigkeit aus einem ‘eigenen’ Altertum ableiteten, war in und von Europa oft genug vorgeführt worden. Die sich aus dieser Tatsache ableitende Indienstnahme
und Funktionalisierung des Indigenen durch den kreolischen Gelehrten dürfen
wir bei aller Bewunderung für die umfangreichen, ja epochemachenden Studien und Überlegungen Clavijeros nicht vergessen, handelte es sich doch um
eine „polemische Geschichte, um eine Antwort auf den Blick der Europäer“40.
Die Konstruktion eines grundsätzlich anderen (da transkulturell und transareal ausgerichteten) Raumes wird von Beginn der Historia antigua de México
an sehr bewußt nicht nur in den Paratexten, sondern auch im Hauptteil dieser
„Geschichte des alten (oder vielleicht besser noch des antiken) Mexico“ betrieben. Sehen wir von weiteren paratextuellen Elementen wie Illustrationen
und der Beigabe einer Karte einmal ab, die dem Leser das „Anáhuac oder Mexikanische Reich mit den Königreichen von Acolhuacán und von Michuacán
etc.“ präsentierte, dann schlägt sich dies bereits im ersten Satz des ersten Kapitels der Storia Antica del Messico nieder:
Der Name von Anáhuac, der seiner Etymologie zufolge ursprünglich nur dem Tal von Mexico gegeben wurde, da sich seine hauptsächlichen Ansiedlungen an den Ufern zweier
Seen befinden, weitete sich später fast auf den gesamten Raum jenes Landes aus, das heute
unter dem Namen Neuspanien bekannt ist.41
Hier spannt Clavijero zunächst jenen geographischen Raum auf, in dem er die
historischen und kulturellen Ereignisse und Phänomene situieren wird, mit denen er sich in seiner Geschichte des alten Mexico auseinandersetzt. Es ist der
Raum einer longue durée, innerhalb dessen die indigene Geschichte von entscheidender Bedeutung ist, zugleich aber auch ein versteckt protonationaler
Raum, in dem die Vergangenheit zur Projektionsfläche des Künftigen werden
kann. Clavijero buchstabiert mit seinem Leser die verschiedenen Benennungen
40 Salvador Gallardo Cabrera: La disputa por la diferencia: acerca de Clavijero, Buffon y la
historia natural. In: Cuadernos Americanos (México) XI, 61 (enero–febrero 1997), S. 153.
41 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. 1.
123
dieses espacio de tierra durch, um unter der kolonialspanischen Bezeichnung
„Nueva España“ gleichsam archäologisch die historischen Tiefenschichten
freizulegen, die nicht allein eine andere Vergangenheit, sondern auch eine andere Zukunft erschließen sollen.
So entsteht ein Raum, der einerseits – wie es die Verschiedenartigkeit seiner Benennungen schon andeutet – heterogen ist, der sich aber andererseits als
historisch-politische Einheit transtemporal erhalten zu haben scheint. Innerhalb dieser quer zur kulturellen Heterogenität verlaufenden politischen Kontinuität wiederum zeigt sich ein expansiver Prozeß, der von den Ufern zweier
Seen, vom Hochtal von Mexico ausgeht und von diesem Zentrum aus eine
machtpolitische Einheit schafft. Kern oder Keimzelle dieses von unzähligen
Migrationen durchzogenen Bewegungsraumes ist Anáhuac, ist TenochtitlánMéxico, jene Stadt also, die ihren imperialen Gestus nie verlor: quer zu den
Zeiten, quer zu den Kulturen.
Der Akzent dieses ersten Satzes, dieses incipit, liegt mithin nicht von ungefähr weniger auf der Heterogenität als auf einer Kontinuität, die in grundlegender Weise auf eine Differenz gründet, in der das Eigene ohne das Andere
nicht zu denken ist, weil sich eine klare Scheidung zwischen beiden weder
etablieren noch durchhalten läßt. Die Bezeichnung Neuspanien legt sich nur
über die zuvor bereits gegebene Einheit, die das Ergebnis eines historischen
Prozesses der Expansion einer bestimmten indigenen Gemeinschaft ist. Damit
wird eben jene Bruchlinie unterlaufen, die die bisherige europäische Geschichtsschreibung mit der Conquista ansetzte und die alles zuvor Dagewesene aus dem Bereich der Zivilisation, ja aus dem Bereich der Geschichte zu
verbannen pflegte. Hier zeigt sich, wie der transatlantische Transfer aufklärerischen Denkens in die Transformation nur scheinbar übernommener Traditionen umschlägt. Der geschichtliche Ausgangspunkt des Raumes von Anáhuac
wird um Jahrhunderte zurückverlegt in die präcortesianische Zeit, die zum
Orientierungspunkt für eine aktuelle Geschichte wird, die nun zunehmend als
transitorisch und ephemer erfahren (und gelebt) werden kann. Ohne die indigene Geschichte ist die neue Gemeinschaft und Gesellschaft der Gegenwart
wie der Zukunft nicht zu denken.
Die Bezeichnung „Neuspanien“ erscheint dem Jesuiten folglich als Usurpation, ist dem bereits bestehenden Raum nur übergestülpt, um ihn in eine direkte Abhängigkeit von Spanien und dessen Herrschaftslogik zu bringen. Das
Ergebnis dieser folgenschweren Umgewichtung ist nicht Heterogenität, sondern kulturelle Differenz und eine damit verbundene Legitimation geistiger
und letztlich auch politischer Selbständigkeit, die als machtvolle Unabhängigkeitsrevolution in der Tat nur wenige Jahrzehnte später definitiv die letztgenannte Bezeichnung („hoy es conocida con el nombre de Nueva España“) abstoßen und verdrängen wird. So hat Francisco Javier Clavijero für sein Buch
auch nicht diese kolonialspanische, sondern die autochthone Bezeichnung
124
„México“ beziehungsweise „Messico“ gewählt.42 Es ist die Geburt eines Landes aus dem Geiste einer nun anders verstandenen und ins Eigene verwandelten Geschichte.
Damit ist die weitgehende Aussparung, ja radikale Exklusion der amerikanischen Kulturen, wie wir sie bei Raynal, aber auch vielen anderen europäischen Autoren des 18. Jahrhunderts wie etwa in besonders starkem Maße bei
Cornelius de Pauw konstatieren können, zugunsten einer Konzeption überwunden, die das spezifisch Amerikanische zum Element der Gründung und
Begründung eines ‘Eigenen’ werden läßt. Analog läßt sich dies auch auf den
literarischen Raum übertragen, der nicht so sehr als Raum des Heterogenen als
vielmehr transarealer Differenz in Szene gesetzt wird. Es eröffnet sich hier
kein Weg ‘zurück’ zu einer eigenen Antike, wohl aber der Horizont einer
künftigen Konvivenz von Menschen, die sich auf Traditionsstränge aus unterschiedlichen kulturellen Areas beziehen können. Es ist Clavijero nicht um Exklusion, wohl aber um ein möglichst hohes Maß an inkludierenden Mechanismen zu tun, eine Auffassung, die wichtig werden sollte für den sich bald
schon anschließenden Nationbildungsprozeß der ehemaligen spanischen Kolonie.
Dies sichert auch auf dieser Ebene eine Einheit, die zusammen mit der Differenz überhaupt erst die Grundlage für einen eigenen (protonationalen) Identitätsentwurf schafft. Das unbestrittene Zentrum dieses Raumes aber ist das
Valle de México, das häufig wie etwa im zweiten Kapitel des ersten Buches
herausgestellt wird: „Der beste Teil dieses Landes sowohl hinsichtlich seiner
vorteilhaften Lage als auch bezüglich seiner Ansiedlungen war das Tal von
Mexico selbst, das allenthalben wegen seiner grünen und schönen Berge bekannt ist.“43
Diese privilegierte Ausrichtung am Hochtal von Anáhuac hat von Beginn
an kulturelle wie politische Implikationen, werden doch schon auf den ersten
beiden Seiten andere indianische Völker als „barbarisch“ abqualifiziert.44 Dies
mag die Richtigkeit der Bemerkung Salvador Gallardos belegen, der darauf
aufmerksam machte, daß sich nicht nur die europäischen, sondern alle an der
42 Häufig findet sich in seiner Historia nach der Einführung einer indigenen Bezeichnung
der Hinweis auf den spanischen Ortsnamen, der zumeist mit der Formel „que los
españoles dicen...“ eingeleitet wird.
43 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. 2.
44 So ist etwa von den „chichimekischen Barbaren“ (ebda., S. 2) oder von einem vom
Hochtal entfernten Gebiet die Rede, das „von Barbaren besetzt war, die weder eine feste
Wohnstätte besaßen noch Herrscher anerkannten“ (S. 1). Damit wird auf der Ebene der
amerikanischen Völker eine kulturelle Hierarchie eingeführt, deren Unterscheidung
zwischen ‘zivilisierten’ und ‘barbarischen’ Stämmen an Kriterien ausgerichtet bleibt, die –
wie etwa Seßhaftigkeit, feste politische Struktur, Schriftlichkeit oder
Geschichtsschreibung – von den europäischen Autoren des 18. Jahrhunderts zwar nicht
erfunden, wohl aber mit dem Neologismus civilisation fest verbunden wurden.
125
Disputa del Nuovo Mondo45 um die Deutung der Neuen Welt beteiligten Autoren auf dieselbe Vernunft beriefen, und daß auch ein Clavijero noch weit entfernt von der Einsicht gewesen sei, daß dieser abendländischen Vernunft in der
Tat totalitäre Züge zukommen.46 Kritisiert Clavijero auch bitter die Haltung
der Europäer, alle amerikanischen Völker über denselben Leisten zu schlagen,47 so nutzt er die dadurch ermöglichte Differenzierung doch nur wieder,
um innerhalb der amerikanischen Völker Hierarchien (etwa zwischen cultos
und bárbaros) zu errichten. Es ist nicht leicht, dem von Europa über die ganze
Welt ausgeworfenen Gitternetz zu entrinnen, ist diese Kultur doch längst zu
einer Art zweiter Natur geworden.
Nicht zufällig also unterliegt der neuspanische Kleriker immer wieder der
Versuchung, eine von ihm konstatierte Heterogenität im Kontrast zu den Spaniern zumindest tendenziell in Homogenität umzudeuten. Charakteristisch
hierfür ist der Beginn des 17. Kapitels seiner Naturgeschichte des Landes
Anáhuac, die das erste Buch seiner Historia bildet:
Die Nationen, die diese Landstriche vor den Spaniern einnahmen, waren zwar in ihrer
Sprache und zum Teil in ihren Sitten sehr voneinander verschieden, doch besaßen sie nahezu ein und denselben Charakter. Die physische und moralische Konstitution der Mexikaner, ihr Genie wie ihre Neigungen, waren bei den Acolhuas, den Tlaxkalteken, den Tepanecas und den anderen Nationen dieselben, abgesehen von jener Differenz, die eine verschiedenartige Bildung schafft.48
Damit erscheint zugleich die Perfektibilität, die – kaum überraschend bei einem Jesuiten – Formbarkeit des menschlichen Geistes durch Bildung und Erziehung, am Horizont eines evolutionistischen Denkens, das Heterogenität
nicht als Chance, sondern als Gefahr für die Einheit begreift und bekämpft. In
der polemischen Auseinandersetzung mit Raynal, Robertson und vor allem de
Pauw – wobei letzterer als bevorzugte (da am leichtesten zu treffende) Zielscheibe die schärfste Kritik auf sich zog –, ohne deren Kontext die Historia
antigua de México nicht adäquat verstanden werden kann, dient der Rückgriff
des kreolischen Jesuiten auf die ‘eigene’, die amerikanische Antike gerade
nicht der Ausgestaltung einer Mannigfaltigkeit von Kulturen amerikanischer
und europäischer Provenienz. Francisco Javier Clavijeros letztlich erfolgreich
und überzeugend geführter Kampf gegen die Ausgrenzung, Verdrängung und
Leugnung der amerikanischen Hochkulturen durch Raynal – die er polemisch
als „die Freimütigkeit eines Philosophen des 18. Jahrhunderts“49 brandmarkt –
45 Vgl. hierzu das Standardwerk von Antonello Gerbi: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia
di una Polemica: 1750–1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Milano/Napoli:
Riccardo Ricciardi Editore 1983.
46 Salvador Gallardo Cabrera: La disputa por la diferencia, S. 155.
47 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. 50: „los críticos de Europa,
acostumbrados a medir por un rasero a todas las naciones americanas“.
48 Ebda., S. 44 f.
49 Ebda., S. xxxiii.
126
verfolgt vielmehr das Ziel, eine kulturelle Differenz und politische Legitimität
der Bewohner Neuspaniens und insbesondere der Kreolen zu begründen.
Dies beinhaltete nicht die kulturelle und politische Einbeziehung der präsenten (und nicht historischen) indigenen Völker, sondern machte eine Differenzposition gegenüber Europa auf, deren Ratio sich Clavijero als Bewohner
der ciudad letrada50 gleichwohl verpflichtet wußte. So wurde jenseits aller Polemik ein Europäern und Kreolen gemeinsamer diskursiver (und kultureller)
Raum nicht verlassen: Das Wiederauftauchen der indigenen Kulturen verhinderte nicht, daß unter dem neuen Mexico noch immer das alte Neuspanien –
und mit ihm die iberische, von einem Zentrum her konzipierte archipelische
Koloniallogik – dominant zum Vorschein kamen. Doch Clavijeros Geschichte
des alten Mexico veränderte nicht nur die geschichtliche und kulturelle Tiefenschärfe novohispanischer Selbstvergewisserung, sondern führte im Dialog mit
unterschiedlichen amerikanischen Kulturen Grundmuster eines Denkens ein,
das transarealen Zuschnitts war und die zuvor dominante Position europäischen Schrifttums vehement hinterfragte und transformierte. Seine Kunst der
Geschichtsschreibung einer transtemporalen Vergangenheit war letztlich eine
Kunst der Unabhängigkeit zugunsten einer bereits sich abzeichnenden, mit aller Macht heraufziehenden Zukunft.
Vom Auftauchen einer künftigen Geschichte
Auch die Schriften von Fray Servando Teresa de Mier y Guerra, sicherlich einer der schillderndsten Figuren der Aufklärung weltweit, siedeln sich innerhalb
des kolonialspanisch ererbten, aber zunehmend in Frage gestellten Raumes an,
und auch sie sind – jenseits ihrer autobiographischen Dimension, ihrer romanhaft-pikaresken Grundstruktur und der permanenten Selbstinszenierung ihres
Protagonisten – Zeugnisse jener transatlantischen Amerika-Debatte, die gegen
Ende des Jahrhunderts im Vorfeld der Unabhängigkeitsrevolution erheblich an
Schärfe gewann. Der Dominikaner Teresa de Mier schrieb – ebenso engagiert
in der Disputa del Nuovo Mondo wie der Jesuit Clavijero – nicht nur immer
wieder an gegen „alle Absurditäten und Ungereimtheiten von Paw [sic!] und
seinen Gefolgsleuten Raynal, Robertson und Laharpe, als wären sie nicht längst
von Valverde, Carli, Clavijero, Molina, Iturri, Madisson etc. zerlegt worden“51.
Auch er hatte in seiner berühmten und für ihn so folgenreichen Predigt vom
12. Dezember 1794 in der Kathedrale der vizeköniglichen Hauptstadt den Geschichtsraum seiner Heimat, die er mit Vorliebe „México“ oder „Anáhuac“
nannte, in Rückgriff auf vorhandene und verbreitete Traditionen grundlegend
transtemporal erweitert. Er tat dies allerdings nicht auf der Ebene der weltlichen
Geschichte von Conquista und Colonia, sondern auf jener der christlichen
50 Vgl. hierzu die längst kanonische Studie von Angel Rama: La ciudad letrada. Hanover:
Ediciones del Norte 1984.
51 Fray Servando Teresa de Mier: Memorias. Bd. II. Edición y prólogo de Antonio Castro
Leal. México: Editorial Porrúa 1946, S. 187.
127
Heilsgeschichte, die im offiziellen Diskurs der Kolonialmacht die erstere begründete und legitimierte. Doch ‘seine’ eigene Heilsgeschichte war eine andere.
Denn durch die von ihm vorgetragene Rückverlegung der christlichen Missionierung Mexicos in die präcortesianische Zeit der Apostelgeschichte entzog
er der spanischen Eroberung jedwede heilsgeschichtliche Fundierung, eine
Tatsache, die – erst einmal von der Kanzel verkündigt – den offiziellen Diskurs subvertierte und – wesentlich begünstigt durch die scharfen Reaktionen
des hohen Klerus – einen handfesten Skandal auslösen mußte. Teresa de Mier
bezahlte diesen Skandal mit Verbannung, Gefängnis und jahrzehntelanger
Verfolgung, ohne freilich jemals von seiner bewußt in politischer Frontstellung zur spanischen Kolonialmacht eingenommenen Position abzuweichen.
Sein Schreiben zielte auf ein Ausbrechen aus den bisherigen Asymmetrien und
Hierarchien der Macht, so wie er sich in seinem Leben auf immer wieder
glückende Ausbruchsversuche aus amerikanischen wie spanischen Gefängnissen konzentrieren mußte: Man darf ihn auf beiden Gebieten durchaus als einen
Ausbruchskünstler bezeichnen, der sich des Beschleunigungscharakters der
Globalisierung seiner Zeit vollauf bewußt war.
Servando Teresa de Mier wie Francisco Javier Clavijero betonten – wenn
auch aus unterschiedlicher Perspektive – die zweifellos identitätsstiftende Bedeutung der von der Bevölkerung Neuspaniens so sehr verehrten Jungfrau von
Guadalupe für eine zunächst nur symbolische Konstituierung eines unabhängigen beziehungsweise nationalen Raumes für das künftige Mexico. Für beide
stand dabei die politische, aber auch die geistige Befreiung vom spanischen
Kolonialjoch im Vordergrund. Die ungeheure ideologische, ja propagandistische
Bedeutung derartiger Rückgriffe auf Mythen und Legenden konnte zwanzig
Jahre nach Teresa de Miers Predigt von keinem Geringeren als dem Libertador
Simón Bolívar in seiner berühmten Carta de Jamaica recht nüchtern in ihrer
Zweckmäßigkeit eingeschätzt werden:
Glücklicherweise haben sich die Führer der Unabhängigkeit Mexicos des Fanatismus mit
größter Treffsicherheit bedient, indem sie die berühmte Jungfrau von Guadalupe zur Königin
der Patrioten proklamierten, in allen verzwickten Fällen anriefen und auf ihren Fahnen führten.
Darüber hinaus hat der politische Enthusiasmus zu einer Vermischung mit der Religion
beigetragen, was zu einer gewaltigen Inbrunst zugunsten der heiligen Sache der Freiheit
geführt hat. Die Anbetung dieses Bildnisses ist in Mexico größer als selbst die größte
Erregung, die noch der geschickteste Prophet einflößen könnte.52
Jenseits der von den Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegung selbst sehr
klar gesehenen Wirksamkeit der symbolischen Aneignung neuer kultureller und
geschichtlicher Bewegungsräume, wie sie beispielsweise die politischen
Schriften von Teresa de Mier vorführen, stellt sich die Frage, wie und in welcher
Weise die in einer anders (da gegen den offiziellen kolonialspanischen Diskurs)
52 Simón Bolívar: Carta de Jamaica. The Jamaica Letter. Lettre à un Habitant de la Jamaïque. Caracas: Ediciones del Ministerio de Educación 1965, S. 41.
128
konstruierten Vergangenheit verankerten Räume neue, originelle Entwürfe und
Projekte für die Gegenwart und Zukunft bereitzustellen vermochten.
Dabei war der belesene Dominikaner als Abgeordneter der Ersten wie der
Zweiten Verfassunggebenden Versammlung (Congreso Constituyente Mexicano), der er 1822 und 1823 als Vertreter von Nuevo León angehörte, nicht
mehr der Anhänger einer Monarchie nach britischem und nicht mehr der Vertreter eines föderativen Systems nach US-amerikanischem Vorbild. Er versuchte vielmehr – wenn auch letztlich vergeblich –, als Politiker die spezifische postkoloniale Situation seines nunmehr unabhängigen Landes so zu erfassen, daß die Gefahren neuer Abhängigkeiten von modernisierten kolonialen
Mächten möglichst gering blieben. Denn Teresa de Mier hatte schnell begriffen, daß die politische Unabhängigkeit von Spanien unter den Bedingungen
einer sich weiter beschleunigenden Globalisierung noch längst nicht mit Unabhängigkeit überhaupt gleichzusetzen war. Mexico war geostrategisch zu
wichtig, als daß nicht auch andere globale Mächte versucht hätten, massiven
Einfluß auf die postkoloniale Entwicklung des Landes zu nehmen.
Fray Servando Teresa de Miers politische Weitsicht war in vielerlei Hinsicht nicht nur bemerkenswert, sondern außergewöhnlich. Dabei trat bei ihm
allerdings angesichts der unmittelbaren (post-)kolonialen Problematik in charakteristischer Weise der kulturelle Raum in seiner Vielpoligkeit deutlich hinter den politischen zurück. Teresa de Mier mußte sich in seinen Schriften zunehmend mit jenen Fragen beschäftigen, die die politische Agenda des ersten
Drittels des 19. Jahrhunderts deutlich beherrschten: Wie könnte eine politische
Neugliederung der spanischen Kolonien in Amerika, ja der amerikanischen
Hemisphäre überhaupt aussehen? Wie sollte die staatliche Struktur beschaffen
sein, die in Neuspanien an die Stelle des alten Systems treten mußte? Und wie
sollte eine künftige Welt zumindest aus amerikanischer Sicht geformt werden?
Hinsichtlich der ersten Frage erweiterte Fray Servando Teresa de Mier immer wieder erkennbar seinen zunächst auf die neuspanische Situation beschränkten Horizont. Denn nur durch die kontinentale Ausweitung war ein Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung möglich geworden; und nur eine alle spanischen Besitzungen in Amerika umfassende Lösung konnte, so schien es ihm
wie vielen Zeitgenossen, eine auf Dauer tragfähige Lösung bilden.
In diesem Zusammenhang läßt sich bei ihm eine deutliche begriffliche
Ausweitung von Nueva España (Neuspanien) hin zu „Unserem Amerika“, zu
nuestra América53, beobachten. So heißt es lange vor dem Sieg der
Unabhängigkeitsrevolution in seiner im britischen Exil verfaßten und stark
von dieser Situation geprägten Geschichte der Revolution von Neuspanien,
ehemals Anáhuac, oder wahrhaftiger Ursprung und Grund ihrer Entstehung,
mit dem Bericht ihrer Fortschritte bis ins gegenwärtige Jahr 1813:
53 Zur Vorgeschichte des Begriffs in Neuspanien vgl. Sara Almarza: La frase „Nuestra
América“: historia y significado. In: Caravelle (Toulouse) 43 (1984), S. 5–22.
129
Viel wird über die Organisation der Regierung gesprochen, die es in unserem Amerika anzuwenden gilt, falls es zu seiner absoluten Unabhängigkeit kommen sollte. Eine allgemeine
föderative Regierung erscheint als unmöglich und wäre am Ende schwach und elend.
Kleinstrepubliken wären die Beute von Europa oder der stärksten in unmittelbarer Umgebung, und schlußendlich würden wir in wechselseitigen Kriegen enden. Die geographische
Situation Amerikas zeigt die Notwendigkeit dreier Regierungen an, die jeweils sehr respektabel wären. Die eine über all das, was bislang Vizekönigreich von Santa Fe war, wobei man Venezuela hinzufügen müßte. Die zweite über Buenos Aires, Chile und Peru. Und
die dritte vom Isthmus von Panamá bis nach Kalifornien: alle drei miteinander durch engste
Bande miteinander verbündet.54
Die grundsätzliche Neugliederung der ehemals spanischen Welt Amerikas soll
nicht nur die geographische Gliederung, sondern auch die Gefährdung durch
äußere Mächte berücksichtigen, zu denen der mexikanische Dominikaner in
dieser prospektiven hemisphärischen Konstruktion55 bereits auch die Vereinigten Staaten zählt, den immer rascher erstarkenden unmittelbaren Nachbarn im
Norden. Ziel ist die Schaffung einer Hemisphäre, die sich nicht in zahllose
Kriege verstrickt – wie sie tatsächlich das hispanoamerikanische
19. Jahrhundert durchziehen sollten –, sondern die von einem Höchstmaß an
politischer Eigenständigkeit sowie einem hohen Wissen um Konvivenz geprägt sein muß. Für dieses künftige nuestra América galt es die Grundlagen zu
schaffen: Die Independencia, die politische Unabhängigkeit allein, genügte
nicht.
Einem Auseinanderfallen der ehemals spanischen Kolonien mußte angesichts neuer globaler Machtstrukturen folglich vorgebeugt werden. Wenn
schon eine Untergliederung in verschiedene politische Teilgebiete der ehemaligen Kolonien notwendig war, so durfte dies keinesfalls die innere Verklammerung und Einheit dieses gigantischen Gebildes gefährden, das von Kalifornien im Norden bis nach Feuerland im Süden reichte. Wie aber konnte der Zusammenhalt dieses Amerika, „unseres“ Amerika, bewahrt bleiben?
Eine auf Einheit abzielende Strategie findet sich in den politischen Schriften und Aktivitäten des streitbaren Dominikaners trotz aller Veränderungen in
anderen Fragen mit großer Kontinuität und Insistenz. Daher überrascht es
nicht, daß er auch mit Blick auf das künftige Mexico, dessen Struktur es erst
noch zu schaffen galt, ähnlich klare Forderungen erhob. In seinem Brief an die
Stadtversammlung von Monterrey vom 20. August 1823, also nach den Erfahrungen der Auseinandersetzungen in der Verfassunggebenden Versammlung,
hieß es fast schon beschwörend:
Vereinigen wir uns, vereinigen wir uns, und lassen wir lächerliche Souveränitäten beiseite,
denn wenn wir uns nicht mit der Regierung vereinigen und ihr Stärke geben, dann wird un54 Hier zitiert nach Fray Servando Teresa de Mier: Ideario político, S. xlvii. Es handelt sich
um die Historia de la revolución de Nueva España, antiguamente Anáhuac, o verdadero
origen y causa de ella, con la relación de sus progresos hasta el presente año de 1813.
55 Vgl. hierzu Peter Birle/Marianne Braig u.a. (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der
Amerikas.
130
sere ganze Unabhängigkeit wie eine Theaterdekoration verschwinden, und wir werden unter dem spanischen Joch leiden, das hochmütiger sein wird denn je, insofern ja die unstillbare Rache der Spanier über uns hereinbrechen wird.56
Noch immer ist in diesem Bild eines künftigen Mexico die alte spanische Bedrohung präsent. Unverkennbar tritt in diesen Aussagen des neuspanischen
Kreolen die Frage der indianischen Vergangenheit und ihrer Konsequenzen für
die Gründung eines fundamental anderen kulturellen und politischen Raumes
zurück hinter tagespolitische Dringlichkeiten, die den Fortbestand der Unabhängigkeit bedrohten. Die indigene Vergangenheit verschwindet zwar nicht als
Differenzmerkmal eines Kreolen, der sich selbst nicht nur vom spanischen
Adel, sondern auch von Cuauhtémoc und den Aztekenherrschern abzuleiten
suchte,57 doch bleibt sie eben dies: Vergangenheit und aztekisierendes Beiwerk ohne jene Dimension der futuridad, die Lezama Lima durchaus mit guten Gründen im Denken Teresa de Miers erkennen wollte.58
Alles, was die angestrebte Schaffung eines einheitlichen, homogenen Staates gefährden oder verzögern konnte, wurde aus Fray Servandos Projektion,
aus seinem Projekt eines künftigen nationalen und unabhängigen Raumes,
verdrängt. Trotz der Offenheit geschichtlicher Sinnhorizonte, die sich aus der
Epochenerfahrung geglückter Revolutionen speist, erweisen sich die kulturellen Konzepte Teresa de Miers als relativ geschlossene Konstrukte, innerhalb
derer dem Indigenen eine letztlich untergeordnete Rolle zugewiesen wird.
Denn im Vordergrund seiner Bemühungen und Ängste stehen kontinentale
wie weltpolitische Fragen.
Eine durchaus andere, noch stärker am Lebens- und Überlebenswissen der
Literatur ausgerichtete Perspektivik auf die Formen und Normen des Zusammenlebens innerhalb eines protonationalen Raumes Mexicos eröffnete der
neuspanische Schriftsteller José Joaquín Fernández de Lizardi. Mit seinem im
Jahre 1816 in zensierter und daher noch unvollständiger Form erstmals veröffentlichtem Roman El Periquillo Sarniento legte er einen Erzähltext vor, der
bekanntlich Anspruch darauf erheben darf, der erste in Hispanoamerika von
einem Hispanoamerikaner verfaßte Roman zu sein. Eine literarische Unabhängigkeitserklärung also?
Unabhängig davon, daß dieser Gründungstext des hispanoamerikanischen
Romans in Hispanoamerika aufgrund der Gleichzeitigkeit seiner Entstehung
und der mexikanischen Nationbildung immer wieder als „der Roman der mexikanischen Unabhängigkeit“59 bezeichnet worden ist, sollten wir unser
56 Fray Servando Teresa de Mier: Ideario político, S. xlviii. Es handelt sich um seine Carta
al Ayuntamiento de Monterrey.
57 Vgl. Edmundo O’Gorman: Prólogo, S. x und xxiv.
58 Vgl. José Lezama Lima: El romanticismo y el hecho americano. In: ders.: La expresión
americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 92.
59 So etwa Noël Salomon: La crítica del sistema colonial de la Nueva España en „El
Periquillo Sarniento“. In: Cuadernos Americanos (México) XXI, 138 (1965), S. 179. Vgl.
auch Luis Iñigo Madrigal: José Joaquín Fernández de Lizardi. In: ders. (Hg.): Historia de
131
Augenmerk vor allem darauf richten, daß es sich bei diesem in der Tradition
des spanischen Schelmenromans stehenden Erzähltext um eine innerhalb
neuer kultureller, sozialer und politischer Kontexte resemantisierte literarische
Gattungsform spanischer Provenienz handelt. Ihr Transfer nach Amerika eröffnete nicht nur in bezug auf Neuspanien dem Genre der novela picaresca
neue Wirkkraft und neue Funktionen, sondern brachte zugleich auch auf sehr
verschiedenen Ebenen einen schöpferischen Transformationsprozeß europäischer Schreibnormen und Schreibformen ästhetisch in Gang – ein Transformationsprozeß, der ein neues Licht auf eine literarische Globalisierungsgeschichte wirft, die in Europa so lange Zeit unbemerkt blieb. Fernández de Lizardis Text ist paradigmatisch, experimentiert er doch auf transarealer Ebene
mit jenem gattungsspezifisch gespeicherten ZusammenLebensWissen, wie es
die Literaturen der Welt in ihren Transfers wie in ihren Transformationen bereithalten.
Als nicht nur dialogischer, sondern polylogischer Erzähltext ergänzt El Periquillo Sarniento Clavijeros Historia antigua de México wie Teresa de Miers
autobiographische und historiographische Schriften, indem er im Übergang
von Neuspanien zu Mexico zum narrativen Erprobungsraum der Möglichkeiten und Grenzen friedvollen Zusammenlebens in Differenz avancierte. Denn
wie ließ sich in einem politisch, gesellschaftlich, ökonomisch, ethnisch und
nicht zuletzt kulturell völlig zersplitterten Territorium friedlich zusammenleben, innerhalb dessen die Hauptstadt als ciudad letrada kolonialspanischer
Prägung eine zugleich herausgehobene und isolierte Insel-Lage einnahm?
Zweifellos wäre es aufschlußreich, die Proliferation paratextueller Elemente (wie verschiedene Vorworte, Widmungen, Leserhinweise, Titelgebungen, eingeschobene Texte und vieles mehr) mit der paratextuellen Komplexität
in Clavijeros Historia antigua de México in Verbindung zu bringen. Ist diese
Ausgestaltung in El Periquillo Sarniento auch wesentlich kunstvoller, so läßt
sich doch in beiden Texten der bisweilen obsessiv wiederkehrende Versuch
beobachten, sich innerhalb bestimmter Diskurstraditionen Europas zu situieren
und sich – diese zutiefst transformierend – zugleich in den amerikanisch-europäischen Dialog einzuschalten. Nicht umsonst hat Juan O’Gorman alle drei
Autoren in sein Retablo der Unabhängigkeit aufgenommen, bilden sie doch
aus unterschiedlichen Blickrichtungen die ganze Komplexität jenes Vorganges
ab, der ebenso die Umgestaltung der kulturellen Vergangenheit wie der politischen Gegenwart, ebenso die Findung wie die Erfindung eines literarisch neu
zu durchlebenden Nationbildungsprozesses betraf.
Transfer und Transformation gehen auch hier Hand in Hand. Und doch
verliefen die Rezeptionsgeschichten höchst unterschiedlich. Wurde Clavijero
dank der Veröffentlichung seines Buches in Italien und einer sich anschließenden Übersetzung ins Englische in der Alten Welt zumindest wahrgenommen,
la literatura hispanoamericana. Bd. 2: Del neoclasicismo al modernismo. Madrid:
Cátedra 1987, S. 143, wo von der „primera novela propiamente hispanoamericana“ die
Rede ist.
132
so blieb der Aufklärer und Moralist Fernández de Lizardi, der seine Texte unter großen Schwierigkeiten in Neuspanien publizierte und dies auch in seinen
Vorworten umsichtig, ironisch und bisweilen auch selbstironisch thematisierte,
in Europa im Grunde bis heute weitestgehend unbekannt. Denn die Asymmetrien der literarischen und kulturellen Beziehungen blieben auch im Verlauf
der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung im transatlantischen Bereich
doch weitgehend bestehen, auch wenn sie – und auch der große Roman des
neuspanisch-mexikanischen Schriftstellers Fernández de Lizardi ist hierfür ein
beredtes Beispiel – zunehmend kritisch und teilweise erfrischend offensiv
thematisiert zu werden begannen.
Lesen und Gelesenwerden sind Grundpfeiler von Lizardis Verständnis jeglicher zukunftsträchtiger Gemeinschaft – ebenso im protonationalen wie im
weltliterarischen Zusammenhang und Maßstab. Bereits im Paratext seines sicherlich berühmtesten Romans El Periquillo Sarniento wird aus der kolonialen
Situation heraus die Schaffung eines nationalliterarischen Raumes propagiert,
was zusätzlich zur sehr bewußt angestrebten Erziehung eines eigenen Lesepublikums innerhalb einer im Übergang zur postkolonialen Situation befindlichen Gesellschaft auch die Entfaltung aller Instrumente und Bestandteile eines
national am Zentrum Mexico-Stadt orientierten Literaturbetriebs erforderlich
macht. Nicht umsonst konnte der überaus klug im entstehenden literarischen
Feld Neuspaniens manövrierende José Joaquín Fernández de Lizardi zum ersten Berufsschriftsteller der hispanoamerikanischen Literaturen werden – auch
wenn er in der Alten Welt ein Lesepublikum zwar durchaus erfinden, aber
noch nicht materiell finden und sich zugänglich machen konnte.
Überlebensnotwendig aber erschien es aus Sicht des in gewisser Weise
historisch zwischen Neuspanien und Mexico schreibenden Schriftstellers, ein
größeres Publikum im protonationalen Maßstab außerhalb der traditionellen
Beamten- und Gelehrtenstadt, der ciudad letrada, zu erfinden und zu finden.60
Denn nur so könne es den „amerikanischen Talenten“ gelingen, innerhalb des
„literarischen Theaters“61 nicht nur das eigene Überleben, sondern auch die
Wirkung der eigenen Schriften sicherzustellen. Seine klugen Strategien als
Publizist wie seine Geschicklichkeit in der Grundlegung eines noch nicht
wirklich funktionstüchtigen literarischen Feldes verhalfen dem neuspanischen
Autor dazu, die vorhandenen Chancen zu nutzen und tatsächlich (wenn auch
stets prekär) als Berufsschriftsteller von seiner Feder leben zu können.62 Was
60 Vgl. im Sinne von Angel Rama: La ciudad letrada. Die Vielfalt im Roman verwendeter
Sprachen läßt jenseits eines traditionellen Publikums bereits die Umrisse einer Nation erkennen. Das noch zu schaffende ist im Gegensatz zum traditionellen Publikum von einer
grundsätzlichen Heterogenität charakterisiert, was im Text selbst thematisiert wird; vgl.
José Joaquín Fernández de Lizardi: El Periquillo Sarniento. Prólogo de Jefferson Rea
Spell. México: Editorial Porrúa 111970, beispielsweise S. 3 f. und 187.
61 José Joaquín Fernández de Lizardi: El Periquillo Sarniento, S. 2.
62 Vgl. hierzu auch Jean Franco: La heterogeneidad peligrosa: Escritura y control social en
vísperas de la independencia mexicana. In: Hispamérica (Gaithersburg) XII, 34–35
(1983), S. 12 ff.
133
aber war vom zwar weltweit asymmetrisch vernetzten, aber doch nur schwach
in Neuspanien institutionalisierten Archipel der Literatur her auszurichten?
El Periquillo Sarniento – und hierin liegt die aus heutiger Sicht wohl entscheidende Bedeutung des Romans – bot gerade mit Blick auf die insulare Situation Mexicos und auf die Chancen und Risiken, ein Zusammenleben zwischen den so unterschiedlichen Inseln gesellschaftlich zu organisieren, eine
ganze Reihe innovativer Anstöße. Und dies bereits auf der durch Transfer und
Transformation geprägten literarischen Ausdrucksebene. Die architextuelle
Erweiterung des Genres des spanischen Schelmenromans durch hagiographische Darstellungsformen, romandiegetisch verankerte Gedichte, welche die
Bewußtseinsprozesse des Protagonisten gleichsam hermeneutisch punktieren,
aber auch durch die Utopie – die hier wohl zum ersten Mal als literarisches
Genre Eingang in die hispanoamerikanische Literatur findet – sowie durch
nicht-fiktionale und nicht-narrative Schreibformen (wie Essay oder Traktat)
erzeugen eine komplexe Textstruktur, die durch Friktionalität, mithin ein Pendeln zwischen Fiktion und Diktion, grundlegend gekennzeichnet wird. Der
spanische Schelmenroman wird zum neuspanischen Labor einer Literatur, die
sich im Zeichen der Globalisierung ihrer Zeit neu erfinden muß.
Die zutiefst friktionale und damit hochdynamische Textur des Periquillo
Sarniento läßt sich, so scheint mir, mit den Spezifika eines Schreibens in Verbindung bringen, das sich explizit in Amerika ansiedelt und von hier aus versucht, einen eigenen kulturellen und literarischen Bewegungsraum – so bedroht dieser auch immer sein mochte – in der Hoffnung auf ein künftiges Gemeinwesen zu entwerfen. Die Literatur des José Joaquín Fernández de Lizardi
erkundete diesen Bewegungsraum mit einem besonderen Gespür für die so
unterschiedlichen Lebensformen und Lebensnormen, welche die verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen im protonationalen Mexico auszeichneten. Die
Leserinnen und Leser dieses Romans schauen gleichsam live einer Gesellschaft bei den Schwierigkeiten ihrer Nationbildung zu.
Und das Genre des Schelmenromans, der novela picaresca, leistete bei der
Verlebendigung dieses komplexen gesellschaftlichen wie gemeinschaftlichen
Prozesses hervorragende Dienste. Denn die gattungskonform vom Pícaro in
ihrer Gesamtheit durchlaufene kolonialspanisch-feudale Gesellschaft des Vizekönigreichs Neuspanien erscheint im Roman nicht nur in ihrer hierarchischen Schichtung, sondern auch in ihrer ethnischen wie biopolitischen Komplexität und Widersprüchlichkeit. Periquillo hat es mit Indianern und Mestizen, mit Kreolen und mit Schwarzen, mit aus dem Mutterland stammenden
gachupines oder Einwanderern nicht-hispanischer Provenienz wie Franzosen,
Angelsachsen oder auch Chinesen zu tun, die in dieser zweiten Phase beschleunigter Globalisierung stärker denn je zuvor in einen wechselseitigen
Kontakt gebracht werden. In Neuspanien kreuzen sich nicht nur nordsüdlich,
sondern auch westöstlich verlaufende Routen, die über die Häfen von Veracruz und Acapulco die Karibik und Europa, die Philippinen und Asien mit
dem Hochtal von Anáhuac verbinden.
134
Die von Fernández de Lizardi gezeichnete neuspanische Gesellschaft ist
zugleich extrem diversifiziert und abgeschlossen, migratorisch und statisch:
Dynamische Elemente gehen in ihr fast ausschließlich von Angehörigen nichtspanischer handeltreibender Gruppen aus, die oft weltweit vernetzt sind. Die
Frage nach dem Zusammenleben im (proto-)nationalen Raum Mexicos, aber
auch die Frage nach einer Konvivenz im weltweiten Maßstab begleitet den Leser dieses Romans auf Schritt und Tritt. Im geographischen Zentrum dieses
Raumes und aller Bewegungen des Protagonisten jedoch steht von Beginn des
Romans an „México“, wobei hierunter nicht ein künftiger nationalstaatlicher
Raum, sondern die Hauptstadt des Vizekönigreichs (und Heimatstadt Periquillos) verstanden wird: „Ich kam in Mexico auf die Welt, der Hauptstadt von
Nordamerika (América Septentrional), in Neuspanien. Keine Lobpreisungen
aus meinem Mund wären ausreichend, um sie meinem lieben Vaterlande darzubringen; aber da dem so ist, wären sie zugleich auch verdächtig.“63
Dieses Mexico freilich ist noch immer, so scheint es auf den ersten Blick,
die vizekönigliche urbs nova, wie sie sich bereits auf den Stadtansichten der
Biombos, der Paravents des ausgehenden 17. Jahrhunderts, als Insel aus der sie
umgebenden Landschaft heraushob. Fernández de Lizardis El Periquillo Sarniento füllt jedoch die menschenleeren Stadtansichten der vizeköniglichen
Hauptstadt dank seiner erzähltechnischen Mittel mit einem überbordenden Leben und auch einem Lebenswissen, das uns die Formen wie die Normen des
Zusammenlebens in der damaligen Übergangszeit zwischen spanischer Kolonie und nationaler Unabhängigkeit lebendig vor Augen führt. Die Formen gewaltfreier, kultureller oder sprachlicher Konvivenz müssen sich innerhalb eines so modellierten literarischen Erprobungsraumes geradezu notwendig als
prekär erweisen: Nur die Bewegungen des Pícaro verbinden die einzelnen Inseln innerhalb der Stadt wie innerhalb eines protonationalen Territoriums miteinander. Mexico muß sich erst finden, muß sich erst erfinden: Gelebt aber
wird es, dies zeigt der Roman, schon höchst intensiv – mit all seinen Widersprüchen.
Denn sowohl innerhalb der „Hauptstadt Nordamerikas“ selbst als auch zwischen dieser einerseits und den Provinzen andererseits stehen sich von unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Gruppen bewohnte Räume
unverbunden und fast feindselig gegenüber. Wie sollte hieraus die nicht nur
imaginierte, sondern auch gelebte Gemeinschaft einer Nation entstehen? Der
Roman zeigt es experimentell. Gewiß: Es gibt keinen kontinuierlichen Bewegungsraum: Alles ist in Inseln mit ihrer jeweiligen Eigenlogik zersplittert. Sie
werden allein durch die Wege und Reisen des Pícaro miteinander in Beziehung gesetzt und gleichsam zu einem paradoxen Archipel ohne Meer verbunden. Wie also wäre hieraus ein Staat zu machen?
Die literarische Gattungsvorgabe des pikaresken Protagonisten wird klug
dazu genutzt, die im kolonialen System miteinander kaum kommunizierenden
63 José Joaquín Fernández de Lizardi: El Periquillo Sarniento, S. 12.
135
Bestandteile eines künftigen Nationalstaats in ihrem Isoliertsein zu durchlaufen, anschaulich zu machen und aufeinander zu beziehen. Die weiten Landgebiete des Vizekönigreichs erscheinen zwar als autonome Regionen, sind aber
im Gegensatz zum urbanen Raum der Hauptstadt keine Träger von Kultur(en)
und damit im eigentlichen Sinne kulturelle Räume. Die von der Stadt Mexico
abgekoppelten isolierten Landstriche erheben im Gegensatz zu Sarmientos
späterem Modell einer Auseinandersetzung zwischen „Zivilisation“ und „Barbarei“ jedoch keine Herrschaftsansprüche gegenüber den urbanen Kulturräumen, sondern sind von diesen in El Periquillo Sarniento gänzlich abgetrennt. Diese kolonial geschaffenen und ererbten Strukturen werden auch
innerhalb eines unabhängigen Staates sicherlich fortbestehen – daran läßt der
Roman von 1816 keinerlei Zweifel.
Auch ein kulturelles Gegenmodell zur kolonialspanischen Urbanität bilden
die rural strukturierten Räume mit ihren Bewohnern, Lebensformen und alltagskulturellen Praktiken nicht. Für den Hauptstädter Periquillo Sarniento bilden sie wenig mehr als binnenkoloniale Ergänzungsräume, die vorrangig der
Nutzung (und Ausplünderung) durch Kolonialstadt und Metropole dienen. Die
Reisen des Pícaro kommen Bewegungen durch Räume gleich, die es bestenfalls in jeglicher, vor allem aber auch in kultureller Hinsicht an die Hauptstadt
anzubinden und im abendländisch-aufklärerischen Sinne zu modernisieren gilt.
Wo „Barbarei“ ist, muß „Zivilisation“ werden – aber welche?
Die Umrisse eines künftigen zentralisierten Nationalstaates werden sichtbar, in dem die semantische Ausweitung des Namens der Hauptstadt für die
Homogenisierungstendenz einer sich ankündigenden politischen Modernisierung und sozioökonomischen Modernisierungswelle steht. Die indigene Bevölkerung, dies legt der literarische Erprobungsraum gesellschaftlicher Konvivenz schonungslos offen, wirkt darin wie ein Fremdkörper. Was tun?
So wird mit den Mitteln einer Literatur, die das Vorgefundene und das Erfundene in einem spezifischen Erleben, dem des Pícaro, wie im Nacherleben
des Lesers fundiert, vor allem sichtbar gemacht, was das Leben und Zusammenleben auch in einem künftig unabhängig gewordenen Mexico notwendig
behindern mußte. Im Transfer der für die spanische Literatur vielleicht charakteristischsten Gattung zeichnen sich die Grenzen des politischen Entwurfs
der Independencia Neuspaniens ab und machen deutlich, wie umfangreich die
noch bevorstehenden Transformationen sein mußten, um das koloniale Neuspanien in einen modernen, weltoffenen und (vielleicht schon im Sinne der
benachbarten USA) demokratischen Staat zu verwandeln. Die politischen
Entwürfe hierfür lagen auf dem Tisch.
Dabei ist es auch in bezug auf die anderen, bereits behandelten Texte des
ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts aufschlußreich, El Periquillo Sarniento auf zumindest fünf zum damaligen Zeitpunkt voneinander zu
unterscheidende Pole eines inter- und transkulturellen Beziehungsgeflechts zu
beziehen, das sich als ein Ergebnis der jeweils durchlaufenen Phasen beschleunigter Globalisierung lesen läßt. Unter diesem Aspekt, der die Trans136
arealität der in Entstehung begriffenen mexikanischen Gesellschaft differenziert, schreibt sich der Roman unverkennbar ein in einen ersten Pol der vorbildgebenden iberischen Kultur im Kontext ihrer abendländischen Traditionsstränge. Die verschiedenen indianischen Kulturen, aber auch die Kulturen der
schwarzen Bevölkerung in den tropischen Tieflandsregionen des Vizekönigreichs, finden zwar (etwa auch in Fußnoten) immer wieder Erwähnung, erscheinen aber nicht als kulturtragende Systeme geschweige denn als kulturelle
Gegenentwürfe oder Alternativen. Ausdrucksformen kultureller Mestizisierung wie Hybridisierung werden in die Romandiegese genauso aufgenommen
wie die Volkskultur iberischer Herkunft; doch werden sie wie im kolonialspanischen System marginalisiert. Die potentiellen Inselwelten kultureller Vielfalt
bleiben oft in sich abgeschlossene Insel-Welten, die jeglicher Annäherung
oder gar Verbindung Widerstand entgegensetzen. Daß der Raum der Utopie
hierbei nicht länger in die Inselwelt der Karibik, sondern nach Westen in jene
Asiens projiziert wird, erscheint in diesem Zusammenhang als höchst bemerkenswert. Hier macht sich die während der Kolonialzeit über ein Vierteljahrtausend nahezu unverändert fortbestehende Schiffsverbindung mit den Philippinen fraglos bemerkbar.
Somit entsteht im Roman ein kulturelles Beziehungsgeflecht, das verglichen mit den beiden zuvor behandelten neuspanischen Autoren komplexer und
– allen Bewegungen des Pícaro zum Trotz – zugleich zentrierter ist. Der literarische Text Fernández de Lizardis präpariert die disperse Strukturierung beziehungslos nebeneinander existierender Räume schonungslos heraus und verhilft
dem Beziehungslosen, Unverbundenen zu schärferem Profil. Die Darstellung
gesellschaftlicher Totalität schlägt um in die Repräsentation eines nationalen
Raumes, in dem kulturelle Vielfalt marginalisiert bleibt und isoliert in
Bruchstücken nebeneinander steht. Es fällt schwer, in diesen voneinander getrennten und isolierten Insel-Welten jene Vorformen künftiger Inselwelten zu
erblicken, die sich als ein dynamisches Geflecht kultureller Relationalitäten
transarchipelisch entwickeln könnten. Die koloniale Last Neuspaniens wiegt
schwer und bedarf viel politischer List, um in die Lust eines künftigen Mexico
überführt werden zu können.
Der literarische Raum von Fernández de Lizardis Roman ist – wie dies bereits die Gattungsbeziehungen nahelegen – von expliziten intertextuellen Relationen zu spanischen Vorbildern (des Siglo de Oro und insbesondere zur Filiation, die vom Lazarillo de Tormes zum Guzmán de Alfarache und darüber
hinaus ins Jahrhundert der Aufklärung führt) geprägt.64 Auf einer eher implizi64 Vgl. u.a. John Skirius: Fernández de Lizardi y Cervantes. In: Nueva Revista de Filología
Hispánica (México) XXXI, 2 (1982), S. 257–272; Sonia Marta Mora Escalante: Le
picaresque dans la construction du roman hispano-américain. In: Etudes littéraires
(Québec) XXVI, 3 (1993–94), S. 81–95; oder Luis F. González Cruz: El Quijote y
Fernández de Lizardi: revisión de una influencia. In: Manuel Criado de Val (Hg.):
Cervantes: su obra y su mundo. Actas del I Congreso Internacional sobre Cervantes.
Madrid: EDI 1981, S. 927–932.
137
ten Ebene aber läßt sich eine Vielzahl von Bezügen zur französischen Literatur
herausarbeiten,65 wodurch sich in diesem Text von 1816 jener geokulturelle
Dominantenwechsel andeutet, der innerhalb der transarealen Literaturbeziehungen die Verschiebung des intellektuellen und kulturellen Meridians von
Madrid nach Paris bereits anzeigt.
Er ist schon für die neuspanische Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung beobachtbar, kommt aber vor allem im Roman der hispanoamerikanischen Romantik mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck: An die Stelle der
spanischen Dominanz tritt dann die Vorherrschaft einer „Bibliothek“, die vornehmlich von den Werken französischer und englischer Autoren gebildet wird.
Die vielen Bibliotheken, die mit ihren zahlreichen intertextuellen Verweisen in
den Schriften Clavijeros auftauchen, gehen kaum in die hispanoamerikanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts ein, des Jahrhunderts der Independencia. Denn über weite Strecken des ersten Jahrhunderts politischer Unabhängigkeit in Lateinamerika herrscht – auch wenn sich ein geokultureller Dominantenwechsel von Spanien zu Frankreich vollzogen hat – wieder eine einzige
Bibliothek vor: jene Europas. Im Auftauchen des Künftigen lebt das Vergangene in veränderter und verändernder Form fort.
Der Fall der Tropen und die Fülle transarealer Bewegung
Man könnte Alexander von Humboldts amerikanisches Werk, das zum größten Teil in französischer Sprache erschien und zirkulierte, durchaus dem beschriebenen geokulturellen Dominantenwechsel zuordnen, welcher den Prozeß
der von ihm sorgsam beobachteten Unabhängigkeitsrevolution in den spanischen Kolonien begleitete. Denn der preußische Gelehrte ist ein homme de
lettres français, ein französischer Schriftsteller, dessen gigantisches AmerikaWerk zum größten Teil in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts entstand. Insofern lassen sich aus einem derartigen Blickwinkel (sowie angesichts der Tatsache, daß das sich herausbildende Mexico zu jenen neuen Staaten der hispanoamerikanischen Welt zählt, die wohl am tiefgreifendsten von Alexander von
Humboldts neuem Diskurs über die Neue Welt geprägt wurden) gute Gründe
dafür finden, den Autor der Ansichten der Natur und der Tableaux de la nature
– wie in O’Gormans Retablo – dem Pantheon jener großen Autoren zuzurechnen, welche die Independencia wesentlich vorbereitet haben. Ob als Alexandre
oder als Alejandro de Humboldt: Die Kosmopolitik der Humboldtschen Wissenschaft war von größter Bedeutung für die sich herausbildenden neuen Eliten des unabhängig gewordenen Mexico. Der Retablo de la Independencia hält
diese so spezifisch transareale Autorschaft und Wirkungsgeschichte fest.
65 Vgl. u.a. Christoph Strosetzki: Fénelon et Fernández de Lizardi: De l’absolutisme au
libéralisme. In: Œuvres et Critiques (Tübingen) XIV, 2 (1989), S. 117–130; oder Dieter
Janik: „El Periquillo Sarniento“ de J.J. Fernández de Lizardi: una normativa vacilante
(sociedad – naturaleza y religión – razón). In: Ibero-Amerikanisches Archiv (Berlin) XIII,
1 (1987), S. 49–60. Die literarischen Beziehungen dieses Romans zu Raynal wären eine
eigene Untersuchung wert.
138
Denn in der Tat ließe sich Humboldts Essai politique sur le royaume de la
Nouvelle-Espagne66, sein Versuch über das Vizekönigreich Neuspanien, als
die eigentliche Geburtsurkunde jenes Staates verstehen, der an die Stelle Neuspaniens trat und sich zugleich aus jener langen Tradition heraus verstand, die
das Hochtal von Anáhuac als den welthistorischen Kreuzungspunkt der großen
in nordsüdlicher wie ostwestlicher Richtung verlaufenden Handels- und
Machtwege begriff. Es ist, als überkreuzten sich im X von Mexico all diese
Wege, die Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts so sorgfältig untersuchte.
Man sollte an dieser Stelle zweifellos besser der Versuchung widerstehen,
in Alexander von Humboldts Denken und Schreiben jenen Prozeß kulminieren
zu lassen, der hier mit der Weltkarte des Juan de la Cosa begann – jener großartigen Karte, die Humboldt im übrigen gemeinsam mit seinem Freund, dem
Baron von Walckenaer, in des Letztgenannten Privatbibliothek mehr als drei
Jahrhunderte nach der Entstehung dieses Schmuckstücks frühneuzeitlicher
Kartographie wieder auffand und erstmals analysierte. Sicherlich kam innerhalb des weltumspannenden Verständnisses, das der Verfasser des Kosmos
etwa anhand seines Begriffs des Weltbewußtseins entfaltete,67 der Frage nach
den anhaltenden Folgen und Konsequenzen des Humboldt faszinierenden Prozesses einer beschleunigten Globalisierung, deren Theorie er wohl als erster
entwarf, eine entscheidende Rolle zu. Läßt sich das Humboldtsche Schaffen
nicht als eine einzige, sich über viele Jahrzehnte erstreckende Antwort auf die
Herausforderungen der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung verstehen?
Diese Herausforderungen beinhalteten für den Weltreisenden nicht allein
die Gewinne, sondern auch die Kosten dieser ungeheuren Veränderungen.
Nicht umsonst hielt er noch im zweiten, fast ein halbes Jahrhundert nach seiner
Reise durch die Amerikas erschienenen Band seiner wissenschaftlichen
Summa fest: „Die Fortschritte des kosmischen Wissens wurden durch alle
Gewaltthätigkeiten und Gräuel erkauft, welche die sogenannten civilisirenden
Eroberer über den Erdball verbreiten.“68 Alexander von Humboldt war weit
davon entfernt, ähnlich wie Cornelius de Pauw, der Abbé Raynal, Denis Diderot oder andere europäische philosophes einer amerikanischen Barbarei die europäische Zivilisation gegenüberzustellen. Als aufmerksamer Leser Clavijeros
wußte er von jenen anderen Bibliotheken, die er in seinen Vues des Cordillères
66 Alexandre de Humboldt: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Avec un
Atlas physique et géographique, fondé sur des observations astronomiques, des mesures
trigonométiruqes et des nivellemens barométriques. 2 Bde. Paris: Chez F. Schoell 1808–
1811.
67 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete
Projekt einer anderen Moderne.
68 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bde.
Stuttgart/Tübingen: Cotta 1845–1862, hier Bd. II, S. 337. Leichter zugänglich ist die mit
einer Seitenkonkordanz versehene Ausgabe von Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Ediert und mit einem Nachwort versehen von
Ottmar Ette und Oliver Lubrich. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2004.
139
et Monumens des Peuples Indigènes de l’Amérique kenntnisreich vor Augen
führte. Und es gelang ihm, diese anderen Bibliotheken in sein Denken, in sein
Schreiben zu integrieren.
Mag sein, daß Juan O’Gorman vor dem Hintergrund der Einsichten eines
langen, sich über mehr als sieben Jahrzehnte erstreckenden Lebenswerks überraschenderweise nicht den jungen, auf seiner amerikanischen Reise befindlichen, sondern den schon gereiften Humboldt in seinem großen Wandgemälde
der Unabhängigkeit im Castillo de Chapultepec portraitierte. Doch nicht umsonst plazierte der mexikanische Maler den ‘Ausländer’ und dezidierten Sklavereigegner, der seinen politischen Versuch über Neuspanien gut sichtbar dem
Betrachter präsentiert, in unmittelbarer Nähe zu den geschundenen und versklavten, ja gekreuzigten Indianern. Denn schon in seinem Essai politique sur
le royaume de la Nouvelle-Espagne hatte Alexander von Humboldt jene Sätze
niedergeschrieben, die nur wenig von ihrer Aktualität verloren haben, die noch
immer – aller Jubelfeiern zum Bicentenario zum Trotz – ihrer Erfüllung harren
und damit einer künftigen Geschichte aufgegeben sind:
Mexico ist das Land der Ungleichheit. Nirgendwo sonst besteht wohl eine erschreckendere
Ungleichheit hinsichtlich der Verteilung der Vermögen, der Zivilisation, der Bebauung des
Bodens sowie der Bevölkerung. [...] Betrachtet man die mexikanischen Indianer in ihrer
Masse, so bieten sie ein Gemälde großen Elends. Auf die am wenigsten fruchtbaren Landesteile zurückgedrängt, von Charakter und mehr noch infolge ihrer politischen Situation
indolent, leben die ursprünglichen Einwohner nur von einem Tag auf den anderen.69
Dieses aufrüttelnde „Gemälde großen Elends“ tritt immer wieder innerhalb jenes gewaltigen Panoramas hervor, das Alexander von Humboldt in seiner
dreißigbändigen Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents von
den amerikanischen Tropen entwarf – auch wenn sich bereits in seinen ersten
Briefen aus Amerika seine Fähigkeit zeigt, große und farbenprächtige Naturszenerien der Tropenwelt zu inszenieren. Doch die Tropenwelt ist für den
Preußen stets auch eine Welt der Extreme – einschließlich der extremen Gegensätze.
Schon in einem ersten, auf „Cumaná in Südamerika, d. 16. Jul. 1799“70 datierten Brief schilderte Alexander von Humboldt seinem Bruder Wilhelm geradezu euphorisch seine ersten Eindrücke von dieser Welt der Tropen:
Welche Bäume! Kokospalmen, 50 bis 60 Fuß hoch! Poinciana pulcherrima, mit Fuß hohem
Strauße der prachtvollsten hochrothen Blüthen; Pisange, und eine Schaar von Bäumen mit
ungeheuren Blättern und handgroßen wohlriechenden Blüthen, von denen wir nichts kennen. Denke nur, daß das Land so unbekannt ist, daß ein neues Genus welches Mutis (s. Cavanilles iconus, tom. 4) erst vor 2 Jahren publizirte, ein 60 Fuß hoher weitschattiger Baum
ist. Wir waren so glücklich, diese prachtvolle Pflanze (sie hatte zolllange Staubfäden) ges69 Alexander von Humboldt: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Bd. 1.
Paris: Schoell 1811, Buch II, S. 428.
70 Alexander von Humboldt: An Wilhelm von Humboldt. In: ders.: Briefe aus Amerika
1799–1804. Herausgegeben von Ulrike Moheit. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 41.
140
tern schon zu finden. Wie groß also die Zahl kleinerer Pflanzen, die der Beobachtung noch
entzogen sind? Und welche Farben der Vögel, der Fische, selbst der Krebse (himmelblau
und gelb)! Wie die Narren laufen wir bis itzt umher; in den ersten drei Tagen können wir
nichts bestimmen, da man immer einen Gegenstand wegwirft, um einen andern zu ergreifen. Bonpland versichert, daß er von Sinnen kommen werde, wenn die Wunder nicht bald
aufhören. Aber schöner noch als diese Wunder im Einzelnen, ist der Eindruck, den das
Ganze dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden Pflanzennatur macht. Ich fühle es, daß ich hier sehr glücklich sein werde und daß diese Eindrücke mich auch künftig noch oft erheitern werden.71
Dieser Brief aus den Tropen wirkt wie ein Brief aus dem Paradies: Die Semantik des Glücks, die das gesamte Schreiben durchzieht, macht deutlich, in
welcher Weise die amerikanischen Tropen für Alexander von Humboldt sehr
rasch Eden und Eldorado zugleich geworden sind. Es ist die Fülle der Natur,
die den Wissenschaftler berauscht, was sich im närrischen, ziellosen, da ständig neue Ziele findenden Umherlaufen des deutsch-französischen Forscherteams geradezu choreographisch in diskontinuierlichen Bewegungsfiguren
ausdrückt. Geht man auf die etymologisch gespeicherten Grundbedeutungen
von gr. trópos als ‘Wendung’ und ‘Richtungsänderung’ noch einmal zurück,72
dann wäre die hier skizzierte Choreographie mit ihrer ständigen Bewegung als
eine zutiefst tropische zu bezeichnen.
Die Welt zwischen den Wendekreisen hält, so deutet es der Brief an, für
Alexander von Humboldt ein persönliches wie ein wissenschaftliches Glücksversprechen bereit, insoweit sich hier für ihn ein neues Leben, eine Vita Nova
in einer Neuen Welt abzeichnet, die in ihrer Fülle dem Forscher niemals zur
Falle werden sollte. So konnte er später in einem Brief vom 21. Februar 1801
aus Havanna an seinen Freund, den Botaniker Karl Ludwig Willdenow, vermelden:
Meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat trotz des ewigen Wechsels von Nässe, Hitze und
Gebirgskälte [...] sichtbar zugenommen, seitdem ich Spanien verließ. Die Tropenwelt ist
mein Element, und ich bin nie so ununterbrochen gesund gewesen als in den letzten 2
Jahren.73
Auch in Humboldts wissenschaftlichem Werk stehen immer wieder die Tropen im Mittelpunkt, die ihm selbst nicht zum Reich der Schwäche, sondern der
Kraft wurden. Dabei greift der Gelehrte und Schriftsteller zwar wie in der oben
angeführten Passage seines Briefes an den Bruder auf die uns bereits bekannten paradieshaften Tropen der Tropen zurück, bringt jenseits der Fülle der tropischen Pflanzenwelt aber auch eine andere Dimension, ja einen von ihm stark
akzentuierten Mangel zum Vorschein. So heißt es in seinen 1807 in französischer und in deutscher Sprache erschienenen einflußreichen Ideen zu einer
Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer:
71 Ebda., S. 42.
72 Vgl. hierzu auch Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur, S. 48.
73 Alexander von Humboldt: Briefe aus Amerika, S. 126.
141
Die Physionomie der Vegetation hat unter dem Äquator im Ganzen mehr Größe, Majestät
und Mannichfaltigkeit, als in der gemäßigten Zone. Der Wachsglanz der Blätter ist dort
schöner, das Gewebe des Parenchyma lockerer, zarter und saftvoller. Kolossalische Bäume
prangen dort ewig mit größeren vielfarbigeren, duftenderen Blumen, als bey uns niedrige,
krautartige Stauden. Alte durch Licht verkohlte Stämme sind mit dem frischen Laube der
Paullinien, mit Pthos und mit Orchideen gekränzt, deren Blüthe oft die Gestalt und das Gefieder der Colibri nachahmt, welchen sie den Honig darbietet.
Dagegen entbehren die Tropen fast ganz das zarte Grün der weiten Grasfluren und Wiesen.
Ihre Bewohner kennen nicht das wohlthätige Gefühl des im Frühlinge wieder erwachenden,
sich schnell entwickelnden Pflanzenlebens. Die sorgsame Natur hat jedem Erdstriche eigene Vorzüge verliehen.74
Es ist aufschlußreich, daß Humboldt in dieser wie ebenso in anderen Passagen
nicht nur die Majestät und Mannigfaltigkeit der Tropennatur unterstreicht, was
sich zweifellos auch gegen die Anhänger der Buffonschen These von der
Schwäche der neuweltlichen Tier- und Pflanzenwelt richtet, sondern zugleich
das der Tropenwelt Fehlende betont. Er erblickt es im Mangel eines jahreszeitlichen Rhythmus zyklischen Wandels. Wenngleich er Maler wie Rugendas
oder Bellermann eindringlich dazu anhielt, sich bei ihren Reisen auf die Tropenwelt zu beschränken und ihre Landschaftsmalerei ganz auf deren Physiognomie zu richten; und wenngleich sein eigenes Schaffen auch fasziniert von
jenem „Naturgemälde der Tropenländer“ war, wie es sich im Schnitt durch
Südamerika auf der Höhe des Chimborazo darstellt und dank der Höhe der
Kordilleren die unterschiedlichsten Klima- und Vegetationszonen auf engstem
Raume verdichtet; so war er doch zugleich davon überzeugt, daß man an keinem Punkt der Erde über die Gesamtheit des Reichtums der Natur verfügen
könne.
Ist die Erfassung einer Totalität von einem einzigen Punkt der Erdoberfläche aus aber unmöglich, dann ist – so dürfen wir Humboldt gewiß deuten –
Bewegung Pflicht. Da der Schriftsteller und Forscher im übrigen auch der
Überzeugung war, daß die Welt nicht von einer einzigen Sprache aus zu begreifen sein könne, konnte die Konsequenz analog hierzu nur die Bewegung
zwischen den Sprachen sein – jener Rückgriff auf unterschiedlichste Sprachen,
den wir nicht erst in seinem Kosmos, sondern schon in seinen frühen Werken
finden. Vielsprachigkeit wird den vielen Perspektiven, den vielen Logiken der
Welt noch am besten gerecht.
So ließe sich sagen, daß die Tropen bei Humboldt zwar sehr wohl für die
Fülle des Pflanzenlebens und anderer Lebensformen einstehen, durch das
Fehlen bestimmter wichtiger Elemente wie etwa jahreszeitlicher Temperaturund Klimaschwankungen zugleich aber darauf verweisen, daß es eine wirkliche Fülle nur durch die Hervorhebung einer weltweiten Relationalität geben
kann. Folglich entwirft Humboldt in seinen Schriften eine doppelte transareale
Relationalität, die einerseits intern die Tropenwelt unterschiedlicher Konti74 Alexander von Humboldt: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen. Herausgegeben von
Mauritz Dittrich. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig 1960, S. 48 f.
142
nente miteinander verbindet, andererseits aber extern die Tropen insbesondere
mit den gemäßigten Zonen in Verbindung setzt, um dadurch erst globale Zusammenhänge – einschließlich der Wanderungsbewegungen der Pflanzenformen, für die sich die mobile Wissenschaft Humboldts in besonderem Maße
interessierte – skizzieren und verstehen zu können. Humboldts Denken und
Schreiben in verschiedenen Sprachen sucht dieser Herausforderung Rechnung
zu tragen.
So steht alles in der Humboldtschen Wissenschaft in weltweiter Wechselwirkung. Und zugleich werden in seinen Schriften die Konturen einer Geschichte lesbar, die jenseits eines statischen Verständnisses des Territorialen
Spielräume und Erkenntnisgewinne einer transarealen, verschiedenartigste
Areas aller Kontinente querenden Bewegungsgeschichte aufzeigt. Alexander
von Humboldts Denken zieht die Konsequenzen aus der ersten wie der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung: Es ist ein Weltbewußtsein, das sich
der Notwendigkeit eines polyperspektivischen Verstehens vollauf bewußt ist.
Insofern ist den Tropen (und deren Untersuchung) bei Alexander von
Humboldt immer eine doppelte, intern wie extern relationierende Bewegung
eingeschrieben, so daß die Welt zwischen den Wendekreisen für den Autor der
Ansichten der Natur stets den planetarischen Bewegungsraum par excellence
ausmacht. Nirgendwo sonst ist ihm das Planetarische wie das Globale so sinnlich erfahrbar wie in den Tropen.
Humboldts neuer Diskurs über die Neue Welt ist eine Antwort auf die
zweite Phase beschleunigter Globalisierung und auf jenen jahrhundertelangen
Disput über die Neue Welt,75 der in der „Berliner Debatte“ just in Humboldts
Geburtsjahr 1769 einen gewissen polemischen Höhepunkt erreicht hatte. Die
Humboldtsche Tropenerfahrung mag an ihrem Anfang euphorisch, ja geradezu
rauschhaft gewesen sein. Und in der Tat nimmt die Tropenwelt innerhalb der
Humboldtschen Wissenschaft gewiß einen zentralen Platz ein; doch wird sie in
ihrer Fülle aber nicht zur Falle, weil sie stets das Fehlende durch ihre weltweite Vielverbundenheit einblendet.
Die im Brief an Wilhelm von Humboldt entworfene Szenerie führt die Euphorie und den Entdeckergestus der Forschersubjekte eindrucksvoll vor Augen: Für Alexander von Humboldt war die wissenschaftliche ‘Entdeckung’ der
Neuen Welt nicht nur möglich, sondern sie stand im eigentlichen Sinne erst an
ihrem Anfang. Doch wußte er zugleich wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen, wie teuer alle ‘Entdeckungen’ und alle ‘Fortschritte’ erkauft worden
waren, wie sein Verweis auf all jene Gewalttätigkeiten zeigt, „welche die sogenannten civilisirenden Eroberer über den Erdball verbreiten.“76 Die Fülle
transarealer Bewegungen sollte in seinen Schriften nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr die Tropen in erster Linie für ihre ursprünglichen Bewohner in
den Fesseln kolonialer Ungleichheit zur Falle geworden waren.
75 Vgl. Antonello Gerbi: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia di una Polemica: 1750–1900.
76 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. II,
S. 337.
143
Die Tropen, dies wußte Humboldt, waren ohne die Barbarei und Zerstörungskraft der europäischen Zivilisation nicht mehr zu denken. Das, was wir
heute als Globalisierung bezeichnen, erschien ihm als irreversibler, aber doch
verbesserungswürdiger und optimierbarer Prozeß. Auch in dieser transarealen
Hinsicht und Einsicht war die Welt zwischen den Wendekreisen für Alexander
von Humboldt ein paradigmatischer Raum, der sich weniger durch seine Territorialität als durch die Fülle der ihn querenden Bewegungen ebenso des
Menschen wie der Natur immer neu konstituiert. Mithin war die Tropenwelt
nicht nur Humboldts Element, sondern auch sein eigentliches wissenschaftliches Paradigma.
Die Tropen als Falle, die Tropen als Paradigma
Bereits Guillaume-Thomas Raynal hatte im Zeichen der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung die weltumspannende Relationalität eines von Europa aus gesteuerten transarealen Bewegungsraumes der Tropen herausgearbeitet. Sein zweifellos schlagendstes Beispiel war dabei der Sklavenhandel,
der – wie er aufgrund seiner Vertrautheit mit derlei Geschäften sehr präzise
ausführte – die Karibik und damit die Amerikas nicht nur mit Afrika und Europa, sondern auch mit Asien verband. So heißt es in seiner weltweit gelesenen
und einflußreichen Histoire des deux Indes überaus kenntnis- und detailreich:
Daher wäre der Handel mit schwarzen Sklaven schon zusammengebrochen, wenn die Einwohner der Küsten nicht ihren Luxusbedarf an die Völker im Landesinneren weitergegeben
hätten, von denen sie heute den größten Teil jener Sklaven erhalten, welche sie uns liefern.
Auf diese Weise hat der Handel der Europäer die kommerzialisierbaren Reichtümer dieser
Nation schon nahezu erschöpft.
Diese Erschöpfung hat den Preis der Sklaven im Verlauf der zurückliegenden zwanzig
Jahre fast vervierfacht; & zwar auf die folgende Weise. Man bezahlt sie zum größten Teil
mit Handelswaren aus Ostindien (Indes Orientales), die ihren Wert in Europa verdoppelt
haben. In Afrika wiederum muß man das Doppelte für diese Waren ausgeben. Daher sind
die Kolonien in Amerika, wo zuletzt der Handel mit den Schwarzen abgeschlossen wird,
dazu gezwungen, diese verschiedenen Erhöhungen hinzunehmen, & folglich müssen sie
viermal mehr als früher bezahlen.
Gleichwohl erhält der weit entfernte Eigentümer, der seinen Sklaven verkauft, weniger Waren als derjenige, der vor fünfzig Jahren seinen Sklaven in der Nähe der Küste verkaufte.
Der Profit der Zwischenhändler; die Reisekosten, die Rechte, die es bisweilen in Höhe von
drei Prozent den Herrschern zu bezahlen gilt, bei denen man durchkommt, absorbieren die
Differenz zwischen der Summe, welche der erste Eigentümer erhält, und jener, die der
europäische Händler einstreicht.77
Auch wenn Raynal in der ständigen Verteuerung der Sklaven, die aus immer
entfernteren Gebieten Afrikas herbeigeschafft werden müssen, die – wie wir
heute wissen – illusorische Möglichkeit erkennen wollte, daß der Sklavenhandel sich damit aus wirtschaftlichen Gründen selbst abschaffen könnte, so wird
77 Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens et du
commerce des européens dans les deux Indes, elftes Buch, S. 67.
144
doch deutlich, daß der Abbé aus dem französischen Rouergat ein Verständnis
des Sklavenhandels entwickelte, das weit über den Raum des Black Atlantic78
hinausreichte. Denn Raynal gelang es hier auf überaus realitätsnahe Weise, die
von Europa aus gelenkte Verschleppung von Millionen schwarzer Sklaven
von Afrika nach den Indes Occidentales (also Amerika) aufs Engste mit den
Indes Orientales (also Asien) und der Verteuerung asiatischer Luxusgüter zu
verzahnen, um die sich daraus ergebenden transtropischen Handelsbeziehungen in ihren Verflechtungen und Abhängigkeiten von einer der brutalsten
Formen des Menschenhandels und der Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen zu beleuchten.
Die zweite Phase beschleunigter Globalisierung hatte den Einbau der Karibik in ein komplexes Netz weltweiter Handelswege noch wesentlich intensiviert und dynamisiert. Auch der Sklavenhandel hatte während dieses Zeitraums längst die Dimensionen des ‘klassischen’ Dreieckhandels zwischen Europa, Afrika und Amerika gesprengt. Dem Titel seiner großangelegten Kolonialenzyklopädie gemäß, gelang es Raynal, den Sklavenhandel, die traite des
noirs, als ein im wahrsten Sinne globales, weltumspannendes Wirtschaftsphänomen und damit als weltwirtschaftlichen Faktor ersten Ranges erkennbar zu
machen. Wer die Geschichte Europas verstehen wollte, mußte im Sinne dieses
unermüdlichen französischen Aufklärungsphilosophen die Geschichte beider
Indien und ihrer transarealen Austauschbeziehungen kennen und in ihren globalen Auswirkungen verstanden haben. Die Tropen beider Indien bieten hierfür das eigentliche Verstehensmodell.
Doch auch die europäische Erzählliteratur bemächtigte sich zunehmend
dieses Paradigmas. Die erste und die zweite Phase beschleunigter Globalisierung bilden den historischen und soziopolitischen wie den kulturellen und
anthropologischen Hintergrund für eine der berühmtesten Novellen Heinrich
von Kleists, Die Verlobung in St. Domingo, die erstmals in der Berliner Zeitschrift Der Freimüthige als Fortsetzungsgeschichte in den Ausgaben zwischen
dem 25. März und dem 5. April des Jahres 1811 noch unter dem Titel „Die
Verlobung“ erschien. Warum aber hatte sich Kleist einer Geschichte angenommen, die – für ihn ungewöhnlich – zeitlich so nah und räumlich so ferne
lag?
Ohne an dieser Stelle das komplexe Spiel mit dem definitiven Titelzusatz
„in St. Domingo“ völlig ausleuchten zu können, sei doch betont, daß die Insel,
die von Christoph Columbus im Spätjahr 1492 in einem europäischen Akt der
Koppelung von Namensgebung und Besitzergreifung auf den Namen „Española“ getauft wurde und unter der Bezeichnung „Hispaniola“79 in die Nomenklaturen geographischer Lehrwerke und Atlanten einging, im 18. Jahrhundert
eine zwischen Spanien und Frankreich, den beiden Führungsmächten der ers78 Vgl. hierzu Paul Gilroy: The Black Atlantic; sowie Der Black Atlantic.
79 Zur Geschichte der Entdeckung und Kolonisierung der Insel Hispaniola vgl. Walther L.
Bernecker: Kleine Geschichte Haitis. Unter Mitarbeit von Sören Brinkmann und Patrick
Ernst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 11–22.
145
ten beziehungsweise der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung, aufgeteilte „Doppelinsel“ darstellt, deren französischer Teil unter dem Namen SaintDomingue zur fraglos profitabelsten Kolonie der Welt aufstieg. Kleists Titel
Die Verlobung in St. Domingo nimmt die sprachliche, politische und kulturelle
Zweiteilung Hispaniolas raffiniert auf und setzt mit dieser Doppelung ein semantisches Oszillieren in Gang, das zuallererst auf ein Drittes, Abwesendes
aufmerksam macht: auf den auf indigene Wurzeln zurückgehenden präkolumbischen Namen Haiti, der mit dem Ausbruch der Haitianischen Revolution und
der erkämpften Unabhängigkeit im Jahre 1804 wieder auf der politischen
Landkarte erschienen war. Damit griffen die von Frankreich in die Karibik deportierten Sklaven auf jenen Namen zurück, den die von den Spaniern ausgelöschte indigene Bevölkerung ihrer Insel einst gegeben hatte. Wie immer also
hat es Kleists Titelgebung in sich: Sie bildet eine mise en abyme des gesamten
Erzähltextes.80
Der im Grunde dreisprachige, das Deutsche mit dem Spanischen und Französischen kombinierende Titel blendet nicht allein die erste und die zweite
Phase beschleunigter Globalisierung ein, sondern macht auf die privilegierte
Position der Karibik im allgemeinen und Saint-Domingues im besonderen als
globalem Verdichtungsraum aufmerksam. Haiti war für Kleist, aber auch für
viele seiner Zeitgenossen, zum Paradigma insofern geworden, als sich hier, in
der ersten erfolgreich zu einer Staatsgründung führenden Sklavenrevolution
der Weltgeschichte, auf fundamentale Weise die Fragen nach den Möglichkeiten wie den Risiken des Zusammenlebens in diesem geostrategisch so zentralen Teil der amerikanischen Hemisphäre stellten. Die nicht bloß unterschwellige Präsenz Haitis als Herausforderung ist auch für den deutschsprachigen Raum längst evident.81
Auf diese paradigmatische Dimension macht bereits die enge Verzahnung
von Titel(fraktal) und incipit des Kleistschen Erzähltextes aufmerksam, wie sie
sich in den nicht anders als spektakulär zu nennenden Auftaktsätzen äußert:
Zu Port au Prince, auf dem französischen Antheil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange
dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Hrn.
Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, Namens Congo Hoango. Dieser
von der Goldküste von Afrika herstammende Mensch, der in seiner Jugend von treuer und
rechtschaffener Gemüthsart schien, war von seinem Herrn, weil er ihm einst auf einer
Überfahrt nach Cuba das Leben gerettet hatte, mit unendlichen Wohlthaten überhäuft worden. Nicht nur, daß Hr. Guillaume ihm auf der Stelle seine Freiheit schenkte, und ihm, bei
seiner Rückkehr nach St. Domingo, Haus und Hof anwies; er machte ihn sogar, einige
Jahre darauf, gegen die Gewohnheit des Landes, zum Aufseher seiner beträchtlichen Besitzung, und legte ihm, weil er nicht wieder heirathen wollte, an Weibes Statt eine alte Mulattin, Namens Babekan, aus seiner Pflanzung bei, mit welcher er durch seine erste verstorbene Frau weitläufig verwandt war. Ja, als der Neger sein sechzigstes Jahr erreicht hatte,
80 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Kleist – Karibik – Konvivenz. „Die Verlobung in St. Domingo“
als Erprobungsraum künftigen Zusammenlebens (im Druck).
81 Vgl. in jüngster Zeit hierzu Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Berlin: Suhrkamp 2011.
146
setzte er ihn mit einem ansehnlichen Gehalt in den Ruhestand und krönte seine Wohlthaten
noch damit, daß er ihm in seinem Vermächtniß sogar ein Legat auswarf; und doch konnten
alle diese Beweise von Dankbarkeit Hrn. Villeneuve vor der Wuth dieses grimmigen Menschen nicht schützen.82
Die Erzählerstimme, die wir nicht – wie immer wieder zu beobachten – mit
dem realen textexternen Autor verwechseln dürfen, nimmt in diesem incipit
eine unübersehbar parteiische, aber eben darin auch wohlkalkulierte Position
insofern ein, als Aufstand und Revolution gegen das auf Sklaverei basierende
Plantagensystem als ein Zeit- und Konflikt-Raum in Szene gesetzt werden, in
dem schlicht „die Schwarzen die Weißen“ ermordet hätten.83 Diese als solche
deutlich markierte anfängliche Schwarzweiß-Aufnahme präsentiert damit die
komplexe historische Situation als die eines Rassenkrieges, in welchem die
Weißen zu Opfern der Schwarzen geworden wären. Kleist wußte es besser,
und die von ihm inszenierten Perspektivierungen ergeben in der Tat auch ein
wesentlich komplexeres, widersprüchlicheres Bild. Die Verlobung in St. Domingo entwirft einen literarischen Experimentierraum für Formen und Normen
des Zusammenlebens, wobei die Tropen in diesem transarchipelischen Text im
Sinne des vorliegenden Kapitels weniger für die Fülle als für die Falle einstehen.
Kein Zweifel: Der historische Hintergrund mit den immer wieder eingeblendeten Ereignissen aus der Endphase der Haitianischen Revolution läßt sich
als größter anzunehmender Unfall des Zusammenlebens bezeichnen, wobei
ganz selbstverständlich davon auszugehen ist, daß der zuvor herrschende Zustand der Konvivenz auf einer extremen kolonialen Ausbeutung und brutalen
Unterdrückung beruhte, wie sie die europäischen Herrschaftssysteme seit Beginn der ersten Globalisierungsphase in Übersee errichteten. Das revolutionäre
Frankreich reagierte auf die nicht weniger revolutionären Entwicklungen in
seiner Kolonie – und Kleists Erzähler vergißt nicht, wiederholt darauf hinzuweisen – mit ständig neuen Kurswechseln und Dekreten. Doch als der an die
Macht gekommene Napoléon versuchte, unter dem Einsatz brutalster Gewalt
mit seiner am 1. Februar 1802 unter der Führung von General Leclerc gelandeten Armee die reiche Zuckerkolonie für Frankreich zurückzugewinnen und
die Sklaverei wiedereinzuführen, setzten sich die schwarzen Revolutionäre
gegen die weißen Eindringlinge, die auch vor Massakern nicht zurückschreckten, vehement zur Wehr. Die „Negersklaven von Haiti“ hatten, wie
82 Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo. Herausgegeben von Roland Reuß in
Zusammenarbeit mit Peter Staengle. In: ders.: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe.
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/4. Basel/Frankfurt am Main:
Stroemfeld/Roter Stern 1988, S. 7 f.
83 Zur Frage nach dem Rassismus Kleists vgl. Gudrun Loster-Schneider: Toni, Babekan und
Homi Bhabha? Zu Problemen kultureller und ästhetischer Hybridisierung in Heinrich von
Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“. In: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa
der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein Verlag
2006, S. 231; dort finden sich auch zahlreiche weiterführende bibliographische Angaben.
147
man mit Hans Christoph Buch formulieren könnte, „Robespierre beim Wort“
genommen84 und sich ihre eigene Unabhängigkeit im Zeichen erhoffter Liberté, Egalité und Fraternité erkämpft. Ganz selbstverständlich war Heinrich
von Kleist wie viele seiner Zeitgenossen mit den dramatischen, die damalige
Welt in Atem haltenden Ereignissen auf der Insel Hispaniola sehr gut vertraut.
Auch wenn die Haitianische Revolution über lange Zeit hinweg, bis in unsere Gegenwart, kaum einmal Eingang fand in die Entfaltung westlicher Revolutionstheorien,85 so wurden die oft als „Empörung“ abqualifizierten Ereignisse auf Hispaniola doch rasch zu einem Paradigma86 und zum Ausnahmefall
einer Katastrophe, die nicht nur im karibischen Raum, sondern auch in den
kolonialen Mutterländern Europas bei den Weißen Furcht und Schrecken auslöste. Die „Geburt Haitis“87 war ein überaus vielschichtiger, zugleich aber notwendig gewaltsamer Prozeß, der in Europa, aber auch in den Nachbarkolonien
der Karibik in blutroten Farben dargestellt wurde, mußten die weißen Herrschaftseliten doch befürchten, ähnlich wie in Saint-Domingue von einer zahlenmäßig überlegenen Bevölkerung schwarzer Sklaven hinweggefegt und
bestenfalls ins Exil getrieben zu werden.
Es erscheint vor diesem Hintergrund als folgerichtig, wenn Kleists Erzähler
eine derartige Sichtweise als verbreitete Meinung gleichsam voraussetzt, um
daraus ein Schreckensbild eines urplötzlich implodierenden, zusammenbrechenden Zusammenlebens zu zeichnen. Die Verlobung in St. Domingo erzählt
aus großer zeitlicher Nähe vom Kollaps der Konvivenz im kolonialen Kontext,
einer Konvivenz, die – wie bereits betont – auf den Regeln eines gnadenlos
funktionierenden Kastenwesens beruhte. Leben, Erleben und erhofftes Überleben einer kleinen Gruppe Weißer, die sich nach Port-au-Prince durchzuschlagen versucht, stehen dabei im Vordergrund der literarischen Handlungsstränge.
Vergessen wir an dieser Stelle nicht, wie sehr sich Heinrich von Kleist in
einem Brief an Rühle von Lilienstern im Dezember 1805 darüber empört
hatte, wie „aus dem ganzen cultivierten Theil von Europa ein einziges großes
84 Hans Christoph Buch: Die Scheidung von San Domingo. Wie die Negersklaven von Haiti
Robespierre beim Wort nahmen. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1976.
85 Vgl. hierzu Gesine Müller: Die koloniale Karibik zwischen Bipolarität und
Multirelationalität, S. 128 f.
86 Vgl. u.a. Thomas Bremer: Haiti como paradigma. La emancipación de los esclavos en el
Caribe y la literatura europea. In: J.M. López de Abiada/J. Peñate Rivero (Hg.):
Perspectivas de comprensión y explicación de la narrativa latinoamericana. Grandes Seminarios de Travers. Bellinzona: Ed. Casagrande 1982, S. 43–66. Auf die
außerordentliche Präsenz der Ereignisse auf Saint-Domingue sowie der Unabhängigkeit
Haitis gerade auch im deutschsprachigen Raum etwa rund um die Zeitschrift Minerva
machte ausführlich aufmerksam Susan Buck-Morss: Hegel and Haiti.
87 Walther L. Bernecker: Kleine Geschichte Haitis, S. 37.
148
System von Reichen“88 in Entstehung begriffen sei, welches sich unter der
Führung Napoleons – der sich im Dezember 1804 selbst die Kaiserkrone aufgesetzt hatte – in völliger Abhängigkeit befinde. Und nicht umsonst endete
dieser Brief mit der Hoffnung auf einen Tyrannenmord in Formulierungen, die
der Rede von der Tyrannei des Sklavenhandels in Die Verlobung in St. Domingo sehr nahe kommen: „Warum sich nur nicht Einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt.“89 So werden etwa in der
Rede von der Tyrannei in und unter der Stimme des Erzählers in Die Verlobung in St. Domingo schon auf den ersten Seiten andere Stimmen hörbar, die
nicht nur von dem Mord der Schwarzen an den Weißen, sondern auch von der
Tyrannei eines global agierenden und auf Sklaverei basierenden Wirtschaftssystems der Zuckerrohrplantagen berichten.
Wie sehr die Ereignisse in der französischen Kolonie Saint-Domingue nicht
allein die Angstvorstellungen weißer Pflanzer und Kolonisten, sondern auch
die Analysen von Historikern und Philosophen beschäftigten, mögen jene geostrategischen Überlegungen andeuten, die Alexander von Humboldt mit einem
gewissen zeitlichen Abstand in seinem 1826 erschienenen Politischen Versuch
über die Insel Cuba anstellte, der im Kontext seiner Reise in die ÄquinoktialGegenden des Neuen Kontinents entstanden war:
Wenn die Rechtsprechung der Antillen und der Zustand der Bevölkerung der Farbigen
nicht bald hilfreiche Veränderungen erfahren, wenn man weiterhin diskutiert, ohne zu handeln, dann wird das politische Übergewicht in die Hände derer fallen, die im Besitz der Arbeitskraft sind, des Willens, sich zu befreien, und des Mutes, lange Entbehrungen auszuhalten. Diese blutige Katastrophe wird sich als eine notwendige Folge der Umstände ereignen, und ohne daß sich die freien Schwarzen aus Haiti auch nur im geringsten einmischen
würden, ohne daß sie also das System der Isolierung aufgäben, das sie bislang befolgt haben. Wer würde es wagen, den Einfluß vorauszusagen, den eine zwischen Kolumbien,
Nordamerika und Guatemala gelegene Afrikanische Konföderation der freien Staaten der
Antillen auf die Politik der Neuen Welt ausüben würde?90
Indem er die Möglichkeit der Entstehung einer „Afrikanischen Konföderation“
im Zentrum der amerikanischen Hemisphäre ins Spiel brachte, skizzierte Alexander von Humboldt die radikale Offenheit einer Geschichte, die in ihrem
Verlauf keinerlei vorgegebenem Muster mehr folgen würde. Denn längst hatten die ehemaligen Sklaven Haitis bewiesen, daß sie eine politische agency
größten Ausmaßes entfalten konnten, eine Fähigkeit, die Humboldt – anders
als sein Zeitgenosse Hegel – fortan mit ins Kalkül zog. Die Historia hatte im
Zeichen des Erlebens der Französischen Revolution aufgehört, im „Horizont
88 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben von IlseMarie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanus und Hinrich C. Seeba. Frankfurt am
Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987 ff, Bd. IV, S. 352.
89 Ebda.
90 Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du
Nouveau Continent..., Bd. III, S. 389.
149
neuzeitlich bewegter Geschichte“ noch als Magistra Vitae zu dienen:91 Die
Objekte europäischer Kolonialpolitik hatten angefangen, zu Subjekten ihrer
eigenen Geschichte zu werden.
Selbst also für den Fall, daß sich Saint-Domingue – entgegen der von den
Kolonialherren und Zuckerrohrpflanzern überall in der Karibik geäußerten Befürchtungen – als letztlich nur kleine politische Macht nicht in die Angelegenheiten der europäischen Kolonialmächte92 oder der USA einmischen würde,
war nun die Frage auf radikale Weise gestellt, wie ein künftiges Zusammenleben ebenso im nationalen und regionalen wie im hemisphärischen und transarealen Maßstab zu gestalten und zu organisieren sein würde. Innerhalb dieses
transarealen diskursiven Feldes situiert sich auch die hier untersuchte Novelle
Heinrich von Kleists.
Wie meisterhaft es Kleist verstand, makrohistorische Entwicklungen in
mikrohistorische und vor allem mikronarrative Bewegungen zu übersetzen,
zeigt Die Verlobung in St. Domingo auf beispielhafte Weise. Die archipelische
Vielverbundenheit der kolonialen Karibik erscheint bereits auf der Ebene des
Personals der Kleistschen Erzählung in aller Deutlichkeit: So ist die Mulattin
Babekan von einem Weißen in Santiago de Cuba gezeugt;93 ihre Tochter Toni
erblickt in Europa das Licht der Welt; Congo Hoango wurde aus Afrika deportiert; Villeneuve kommt aus Frankreich; Gustav oder Strömli stammen aus
der Schweiz – und die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Diese Vielverbundenheit jedoch wird in der Haitianischen Revolution mit nicht nur wirtschaftlich weitreichenden Folgen unterbrochen: Die transarchipelische Inselwelt
wird tendenziell zu einer in sich abgeschlossenen Insel-Welt, eine Umbruchsituation, die in der Novelle in all ihrer Dramatik entfaltet wird. Der Kleistsche
Erzähler führt uns sein „St. Domingo“ als einen sich verschließenden, buchstäblich isolierten, auf keinerlei Inklusionsmöglichkeiten mehr zählenden
Mikrokosmos vor.
Alle Fäden der Geschichte kreuzen und verknoten sich von Beginn an in
der fraktalen Struktur des Hauses, das einsam und abgeschlossen an einer
wichtigen Durchgangsstraße liegt. Dieses Haus also, das bis vor kurzem noch
dem Sklavenhalter Guillaume von Villeneuve gehört hatte, erscheint zunächst
als Falle, hatten Congo Hoango und Babekan doch schon zuvor erfolgreich
versucht, auf Hilfe angewiesene Weiße – nicht nur Franzosen, sondern auch
Portugiesen oder Holländer – mit tatkräftiger Unterstützung der schönen Toni
ins Haus zu locken, „die, wegen ihrer ins gelbliche gehenden Gesichtsfarbe, zu
dieser gräßlichen List besonders brauchbar war“94.
91 Vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae, S. 38–66.
92 Aus einer eingestandenermaßen sehr spezifischen Perspektivik wird Kleists Erzählung
analysiert in Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870. Durham/London: Duke University Press 1997, S. 155.
93 Vgl. Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo, S. 20.
94 Ebda., S. 10.
150
Die Frage, mit der sich der junge, in französischen Diensten stehende
Schweizer Offizier Gustav an „ihre junge liebliche Gestalt“95 wendet, wird er
bis zu ihrem wie zu seinem eigenen Tode nicht beantworten können: „Wer bist
Du?“96 So gelingt es der schönen Toni, den Weißen „mit sich fortzureißen“97
und mit sich an der Hand ins Innere des Hauses hineinzuziehen. Die Falle, in
die sich die beiden jungen, sich erotisch unwiderstehlich anziehenden Menschen begeben haben, schnappt zu. Die unerhörte Begebenheit der Novelle
nimmt ihren Lauf.
Wiederholt wird in Kleists Text die teils von Plantagen genutzte, teils unbebaute wilde Landschaft einer Insel, eines Eilandes heraufbeschworen, wobei
die Inselhaftigkeit hier als Isolation erscheint, als ein Gefängnis, aus dem man
nur durch Flucht sich vor dem Tode retten kann. Innerhalb dieser in sich abgeschlossenen Insel-Welt bildet das Haus, aus dem sich Gustav für sich und die
Seinen Rettung erhofft, eine Insel der Zuflucht inmitten eines den Weißen
feindlich gesonnenen Landes, wobei dieses Haus von Beginn an aus vektorieller Sicht vieldimensional erscheint. Es bildet den Knotenpunkt einer von
revolutionären Bewegungen erschütterten Insel, ist selbst ein Zeugnis jenes
Umsturzes der Verhältnisse, welcher in der Ermordung des Sklavenhalters und
seiner Familie gipfelte, liegt zugleich aber an der großen Landstraße, die allein
noch den Zugang zur allerletzten Zufluchtsinsel der Weißen ermöglicht: der
vom Rest der französischen Truppen gesicherten Hafenstadt Port-au-Prince.
Der Raum des Hauses ist folglich nicht statisch, sondern ein hochgradig vektorisierter Bewegungsraum, in dessen Inselhaftigkeit sich transareal alle historischen, politischen und zwischenmenschlichen Bewegungen überkreuzen. Er
bildet eine TransitArea, in deren Verdichtungsraum das literarische Experiment mit dem einzelne Kulturen, Nationen und Sprachen überschreitenden
Transarealen durchgeführt wird.
Konvivenz und Katastrophe
Überraschend schnell wird dieses Haus auch zum Vektorenfeld der Liebe, die
sich in Augenblicken höchster Bedrohung zwischen Gustav und Toni anbahnt.
Liebe ist das literarische Labor einer intimen Konvivenz, die unter die Haut,
unter die Oberfläche geht. Kleist wußte: Die Todesgefahr erotisiert das Leben.
Mit der „lieblichen jungen Mestize, die mir das Haus aufmachte“98, öffnet sich
für Gustav von Beginn an ein Begehren, das schon nach wenigen Stunden im
Haus in erfüllte Lust umschlägt. Schlang Gustav früh schon bei dem von Toni
zubereiteten Gastmahl seinen „Arm sanft um ihren Leib“, wobei „er sie lebhaft
an seine Brust drückte“,99 so wird sie ihrerseits dieses Begehren schnell – in
Gustavs späterer Rückschau verdächtig schnell – erwidern. Und doch hatte sie
95
96
97
98
99
Ebda., S. 19.
Ebda., S. 15.
Ebda.
Ebda., S. 20.
Ebda., S. 26.
151
ihn eben noch als Lockvogel, gleichsam als femme fatale der Tropen, ins
dunkle Verderben des Hausinneren ziehen wollen.
Zwischen die Nacht der Begegnung und die Nacht der Liebe eingeschoben
aber ist die der schönen Toni von Gustav erzählte Geschichte von jenem
„Mädchen“ vom „Stamm der Negern“, das zum Zeitpunkt des Aufstands „an
dem gelben Fieber“ erkrankt war, welches „zur Verdoppelung des Elends in
der Stadt ausgebrochen war“.100 Die Geschichte dieser schwarzen Sklavin bildet aus narratologischer Sicht ihrerseits eine Verdoppelungsstruktur, insofern
im Bezug zum narrativen Hauptstrang bereits die Farbe gelb eine direkte Verbindung zwischen dieser von ihrem ehemaligen Herrn mißhandelten Sklavin
und der schönen Toni mit ihrer ins Gelbliche spielenden Hautfarbe herstellt.
Nicht umsonst steht das Gelbe (jaune) in der französischen Karibik für das
Mulattische ein, eine rassistische Farbenlehre, wie sie sich etwa bei MédéricLouis-Elie Moreau de Saint-Méry findet,101 dessen Werk von 1802 über SaintDomingue zu den wichtigsten Intertexten Heinrich von Kleists gezählt werden
darf.102 Auch die (gelb affizierte) schwarze Sklavin wird zur tropischen femme
fatale: Aus Rache lockt die Sklavin ihren früheren Herrn ins Haus, gibt sich
scheinbar seinen Liebkosungen hin, schleudert ihm dann aber voller Wut im
Bett entgegen: „eine Pestkranke, die den Tod in der Brust trägt, hast du geküßt: geh und gieb das gelbe Fieber allen denen, die dir gleichen!“103
Die figurale104 Komposition dieser eingeschobenen Mikroerzählung als
Verdoppelungsstruktur wird nicht nur durch das Element des Hauses oder die
Farbe gelb, sondern auch durch die Brust als Ort des Todes betont – wird
Gustav später Toni doch nicht zufällig in die Brust, ins liebende Herz schießen. Darüber hinaus führt das Gelbfieber, das die Leitepidemie der zweiten
Phase beschleunigter Globalisierung ist (so wie die Krankheit Aids für die
vierte Phase paradigmatisch steht), jene Imaginationen fort, die sich an die
Leitepidemie der ersten Phase beschleunigter Globalisierung knüpften. Denn
an der Wende zum 16. Jahrhundert hatten die Europäer – wie es in vielen späteren Darstellungen heißt – als Rache für den von ihnen an der indigenen Bevölkerung verübten Genozid von Indianerinnen die Syphilis empfangen, eine
Seuche, die rasch – wie etwa Cornelius de Pauw in seinen Recherches philosophiques sur les Américains betonte – auf die Alte Welt übergriff. Der Zusammenhang zwischen den von Weißen verübten Greueltaten, der Rache der
100 Ebda., S. 31.
101 Louis Elie Moreau de Saint-Méry: Description topographique, physique, civile, politique
et historique de la partie française de l’île de Saint-Domingue. 2 Bde. Philadelphie
1797, S. 75. Mit dem Titel dieses wichtigen Werkes dürfte Kleist bei seiner Titelgebung
gespielt haben. Ich danke Gesine Müller für den Hinweis auf diese Verbindung.
102 Vgl. hierzu Gudrun Loster-Schneider: Toni, Babekan und Homi Bhabha? Zu Problemen
kultureller und ästhetischer Hybridisierung in Heinrich von Kleists „Die Verlobung in
St. Domingo“, S. 229 und 238.
103 Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo, S. 32 f.
104 Zum Begriff der figura vgl. Erich Auerbach: Figura, S. 55–93.
152
Natur und der lustvollen Vereinigung mit doppelt kolonisierten abhängigen
Frauen erweist sich im Vergleich mit dieser 1768 erstmals in Berlin veröffentlichten Schrift des Amsterdamer Philosophen als eine offenkundige Deutungstradition, für die wir im vorliegenden Band noch weitere Beispiele finden
werden:
Nach dem raschen Massaker an mehreren Millionen Wilden fühlte sich der gräßliche Sieger von einem epidemischen Übel erfaßt, das zugleich die Prinzipien des Lebens & die
Quellen der Fortpflanzung angreift und bald zur schrecklichsten Geißel der bewohnbaren
Welt wurde. Der schon unter der Bürde seiner Existenz ächzende Mensch fand, um das
Maß seines Unglücks vollzumachen, die Keime des Todes in den Armen der Lust & am
Busen der Wollust: Er glaubte sich rettungslos verloren: Er glaubte, die zürnende Natur
habe sich seinen Untergang geschworen.105
In den Armen der Lust, an den Brüsten der Wollust lauert die Gefahr tödlicher
Ansteckung: Die höchst ambivalente männliche Semantisierung des Körpers
der Frau106 besitzt eine lange koloniale Vorgeschichte,107 auf die sich auch
Heinrich von Kleist ganz offenkundig bezog. Der Körper der lustvoll gezeichneten Frau aus den Tropen steht für die Fülle, aber auch für die Falle ein, die
dem Manne mit Leidenschaftlichkeit gestellt wird. Die namenlose schwarze
Sklavin, deren Geschichte von Gustav erzählerisch eingeblendet wird, konfiguriert in dieser Verdoppelung die männlichen Ängste, die sich für den
Schweizer mit dem weiblichen Hereinlocken ins Haus und mit der als Lockvogel so effizienten Mulattin verbinden.
Nicht zufällig aber wird dies im klug aufgebauten Handlungsablauf mit der
Gefahr einer Ansteckung durch Gelbfieber gekoppelt, hatte Kleist diese um
sich greifende Krankheit der fièvre jaune doch in seinem im Januar 1811 in
den Berliner Abendblättern veröffentlichten Artikel „Kurze Geschichte des
gelben Fiebers in Europa“ mit dem Begriff einer „occidentalischen Pest“ belegt.108 Seine medizinhistorisch angelegte kurze Studie, die wenige Wochen
vor der ersten Veröffentlichung der hier untersuchten Erzählung erschien,
hatte insbesondere die großen Gelbfieber-Epidemien von 1793 und 1804 beleuchtet, die beide nicht von ungefähr in den Zeitraum der Haitianischen Revolution und damit in die Diegese von Die Verlobung in St. Domingo fallen.
105 Cornelius de Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains, Bd. I, S. a3v.
106 Vgl. hierzu Sigrid Weigel: Der Körper als Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und
Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“. In:
Kleist Jahrbuch (Stuttgart/Weimar) (1991), S. 202-217.
107 Vgl. hierzu Karl Hölz: Das Fremde, das Eigene, das Andere. Die Inszenierung
kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika. Berlin: Erich Schmidt
Verlag 1998.
108 Vgl. Heinrich von Kleist: Kurze Geschichte des gelben Fiebers in Europa. In: Berliner
Abendblätter (Berlin) 19 und 20 (23. Januar und 24. Januar 1811), S. 73–75 und 77–79,
hier S. 78. Vgl. hierzu Gudrun Loster-Schneider: Toni, Babekan und Homi Bhabha? Zu
Problemen kultureller und ästhetischer Hybridisierung in Heinrich von Kleists „Die
Verlobung in St. Domingo“, S. 239.
153
Kleists Überlegungen dokumentieren sein Bewußtsein dafür, wie sehr das
Gelbfieber zu einer Krankheit und Seuche geworden war, wobei sich der
Schriftsteller nicht nur für die Symptomatik dieser „occidentalischen Pest“,
sondern auch für deren weltweite Verbreitung interessierte. Kleists Erzählung
spielt immer wieder mit Phänomenen von globaler, transarealer Bedeutsamkeit, die für die Handlungsebene seiner Novelle direkt von Belang sind: Denn
der Ausbruch des Gelbfiebers bei den französischen Truppen unter General
Leclerc – der selbst dieser Krankheit im Verlauf des Krieges bereits am 1. November 1802 erlag – darf auf der Ebene des historischen Hintergrundes durchaus als ein wichtiges, vielleicht sogar kriegsentscheidendes Ereignis angesehen
werden.
Der sich aus der kurzen, aber intensiven Liebesnacht ergebende Bund zwischen Gustav und Toni ist – zumindest auf den ersten Blick – ein Pakt auf Augenhöhe, bei dem sich aber bald schon die Amerika, Afrika und Europa verbindende Antillanerin ihrem Partner als nicht nur ebenbürtig, sondern deutlich
überlegen erweist.109 Denn nur dank ihrer Listen eröffnet sich innerhalb der revolutionären Umbruchsituation Haitis noch einmal die Chance, der kolonialen
Last eine künftig zu genießende Lust entgegenzustellen. Hoffnung keimt auf,
als Gustav seiner treuen Braut eine Vision künftigen Zusammenlebens offeriert, die es freilich – wie so oft bei Kleist – erheblich in sich hat:
Er beschrieb ihr, welch ein kleines Eigenthum, frei und unabhängig, er an den Ufern der
Aar besitze; eine Wohnung, bequem und geräumig genug, sie und auch ihre Mutter, wenn
ihr Alter die Reise zulasse, darin aufzunehmen; Felder, Gärten, Wiesen und Weinberge;
und einen alten ehrwürdigen Vater, der sie dankbar und liebreich daselbst, weil sie seinen
Sohn gerettet, empfangen würde.110
Diese Vision läßt einen Anderort, eine idyllische Heterotopie entstehen, die
alle Züge eines Lustorts, eines locus amoenus, besitzt. Es ist die Idylle einer
von privatem Kleinbesitz und patriarchalischer Güte geregelten Welt, die sich
der Raserei und Mordlust einer aus den Fugen geratenen kolonialen Welt des
Großgrundbesitzes entgegenstellt. Schwört Gustav seiner Toni auch, er habe
nur „im Taumel wunderbar verwirrter Sinne, eine Mischung von Begierde und
Angst, die sie ihm eingeflößt“111, und nicht aus männlichem Kalkül von ihr
Besitz ergriffen, so ist sein Gegenbild einer auf Dauer gestellten ehelichen
Verbindung doch wohlkalkuliertes Zeugnis einer rational entworfenen Welt,
die ihrerseits eine kleine, in sich abgeschlossene Insel bürgerlicher Glückseligkeit darstellt, welche in schärferem Kontrast zur Situation in Saint-Domingue
kaum stehen könnte. Doch die Angst, die stets eine Angst vor etwas ist, öffnet
sich auf ein Künftiges, eröffnet die Zukunft, die ihre Chance in der gemeinsa109 Vgl. hierzu auch Ray Fleming: Race and the Difference It Makes in Kleist’s „Die Verlobung in St. Domingo“. In: The German Quarterly (Riverside, California) LXV, 3–4
(summer–fall 1992), S. 306–317.
110 Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo, S. 44.
111 Ebda.
154
men Flucht sucht: einer Flucht, die sich aus der Sucht nach Rache, Mord und
Totschlag retten will, um sich der Lust eines glücklichen Zusammenlebens
hinzugeben.
Und doch schleicht sich in diese Idylle eines schweizerischen Anderorts auf
höchst ambivalente Weise ein nicht unwesentliches Stückchen Saint-Domingue
ein. Denn wird hier die Mulattin nicht von Gustavs Vater aus Dankbarkeit dafür mit der Aufnahme in die Familie geehrt, seinem Sohn das Leben gerettet zu
haben? Wird somit nicht in einer weiteren Verdoppelungsstruktur das Zeichen
großer Dankbarkeit ganz so als patriarchalische Wohltat zelebriert, wie einst
Congo Hoango für die Errettung seines Herrn mit Freilassung, finanziellen
Mitteln, der mulattischen Lebenspartnerin Babekan und einer Inklusion in den
Kreis derer belohnt wurde, die Befehlsgewalt über Sklaven ausüben dürfen? Es
scheint daher nicht übertrieben zu behaupten, daß sich in Gustavs glückliche
Vision künftiger Konvivenz ein kolonialer Geburtsfehler eingeschlichen hat,
der die Mulattin Toni noch in der Schweiz mit jenen kolonialen Asymmetrien
konfrontiert, die sie am liebsten doch ganz und gar hinter sich gelassen hätte.
Gleichwohl ist Gustavs schweizerische Idylle das Gegenbild zu einer kolonialen Gesellschaft, deren Kollaps zuvor schon in ein gewalttätiges, nicht stillzustellendes, da sich zerstückelndes Körperbild112 übersetzt worden war: „Ist es
nicht“, so hatte Babekan gesagt, „als ob die Hände Eines Körpers, oder die
Zähne Eines Mundes gegen einander wüthen wollten, weil das Eine Glied nicht
geschaffen ist, wie das andere?“113 In der Gesellschaft der gnadenlosen europäischen Sklavenhalter wie in der Gegen-Gesellschaft einer Haitianischen Revolution, welche die Polung einer von Rassenhierarchien geprägten Gemeinschaft nur umkehrt, stehen sich in Kleists Erzählung in spiegelsymmetrischer
Ausschließlichkeit Mechanismen der Exklusion blutrünstig gegenüber, die
auch den eigenen Körper im Bild des in sich selbst zerbissenen und zerrissenen
Leibes nicht verschonen. In Haitis Revolution der Sklaven gibt es viele Sklaven
einer Revolution, die mehr als jede andere eine Folge beschleunigter Globalisierung ist.
Gegen alle Schreckensbilder setzt Gustav von der Ried – der nicht umsonst
mit Herrn von Villeneuve (aber auch mit Kleist) den Adelstitel teilt – die
schweizerische Vision einer Inklusion, die in besonderer Weise den Einschluß
der schönen Mulattin in den Kreis der trauten Familie vornimmt. Damit wird
eine die Rassenschranken transgredierende Verbindung zwischen dem weißen
Offizier und der hellhäutigen Mulattin konkret vorstellbar, so daß sich an dieser
Stelle der Erzählung, nach der sexuellen Vereinigung von Toni und Gustav, ein
alternatives Modell für ein Zusammenleben zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen abzuzeichnen beginnt.
112 Vgl. zum zerstückelten Körper bei Kleist die Überlegungen in Hans Robert Jauß: Befragung des Mythos und Behauptung der Identität in der Geschichte des „Amphitryon“. In:
ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1982, S. 534–584.
113 Heinrich von Kleist: Die Verlobung in St. Domingo, S. 19 f.
155
Gewiß ist dieses Modell in eine ferne Schweiz verlegt, in der die Felder,
Gärten, Wiesen und Weinberge eine Landschaft der Theorie entwerfen, in der
im Zeichen allgemeiner Fruchtbarkeit die Gegensätze nicht länger unvermittelt
aufeinanderprallen, sondern lieblich ausgeglichen werden. Die Konvivenz
zwischen verschiedenen Geschlechtern und Ethnien, zwischen unterschiedlichen Kulturen und Klassen wird vorstellbar, auch wenn Kleists Erzählung am
Beispiel der Haitianischen Revolution vorführt, wie weit der Weg bis zur
Verwirklichung einer derartigen Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens – und sei es noch so patriarchalisch eingefärbt – noch ist. Die Liebe bildet
hier gewiß ein stets prekäres Bewegungsmittel, kann sie doch auch bei Mißverständnissen in Haß umschlagen, der sich – wie Kleist in seiner Erzählung
eindrucksvoll vorführt – ebenso zerstörerisch wie selbstzerstörerisch auswirkt.
Und doch: Es zeichnet sich zwischen beiden Liebenden eine Verlobung ab, die
für die Zukunft nicht nur Glück, sondern gelebte Konvivenz verspricht oder
zumindest doch in den Bereich des Lebbaren, des historisch möglich Gewordenen rückt.
Dabei beeindruckt sehr, wie Heinrich von Kleist die Modernität seines
Blickes nicht nur – wie die meisten seiner deutschen Zeitgenossen – mit einem
kritischen Rückblick auf die europäische Doppelrevolution schärft und historisch auflädt. Er beschränkt sich nicht auf die Einbeziehung von Reflexen der
von Frankreich ausgehenden politischen und auf der von England ausgehenden industriellen Revolution, sondern bietet seinen Lesern eine welthistorische
Dimension, indem er die Haitianische Revolution im Kreuzungspunkt verschiedenster Diskurse zum Reflexionsort seiner verzweifelten Liebesgeschichte macht.
Kleists polylogische, vielen verschiedenen Logiken zugleich verpflichtete
erzählerische Strukturierung führt die Perspektiven vor, die im Brennspiegel
der Haitianischen Revolution gewaltsam aufeinanderprallen. Nicht nur für
Humboldt, sondern auch für Kleist wird Haiti zur Herausforderung, ja zum Paradigma, an dem sich Zukunft im globalen Kontext nicht nur abschätzen, sondern auch narrativ erproben läßt. Verlobung ist Erprobung von Konvivenz –
ein Experiment, das Gegenwart mit Zukunft aufzuladen sucht.
Heinrich von Kleists bis heute faszinierender Erzähltext Die Verlobung in
St. Domingo entfaltet ausgehend von seinem Titelfraktal ein vielstimmiges und
polyperspektivisches Lebenswissen, das uns dank einer raffinierten Erzählkunst als ein Erlebenswissen entgegentritt, welches das Überlebenswissen wie
das Zusammenlebenswissen eines Zeitraums präsentiert, der in der zweiten
Phase beschleunigter Globalisierung durch den Zusammenbruch eines überkommenen, auf Sklaverei und damit auf extremer Ungleichheit beruhenden
Zusammenlebens gekennzeichnet war. Im Kollaps einer nicht mehr tragfähigen rassistischen Konvivenz entfaltet die Erzählung die Diegese einer Neuen
Welt, in der sich neben den Zeichen der Zerstörung erste Anzeichen eines
künftigen friedvollen Zusammenlebens abzuzeichnen beginnen.
Hatte nicht Simón Bolívar, der selbst Anfang des Jahres 1816 auf seiner
156
Flucht im Freiheitskampf Zuflucht in Haiti hatte suchen müssen, von der karibischen Nachbarinsel Jamaica aus in seiner bereits erwähnten Carta de Jamaica 1815 das intermediäre ZwischenWeltenLeben für die Neue Welt als bestimmend reklamiert? So betonte der Libertador, sich an die Bewohner seines
Amerika – die eine „kleine Menschheit“ für sich darstellten – richtend, daß
„wir weder Indianer noch Europäer sind, sondern eine mittlere Spezies zwischen den rechtmäßigen Eigentümern des Landes und den spanischen Usurpatoren: daß wir folglich Amerikaner von Geburt und unsere Rechte die von Europa sind.“114 Ein ganzer Kontinent als Zwischenwelt?
Heinrich von Kleist hat in den Figuren seiner Erzählung, besonders aber in
der als Mestizin bezeichneten Mulattin Toni jenes Oszillieren zwischen verschiedenen Welten gezeichnet, das gerade für die Karibik, für jene Zone verdichtetster Globalisierung, seit dem Beginn der europäischen Kolonisierung so
charakteristisch ist. Ist Gustav nicht daran gescheitert, daß er die schöne Mulattin entweder den Schwarzen oder den Weißen, nicht aber einer unabschließbaren Bewegung im Zwischenraum zurechnen wollte? Und sind nicht die Tropen
über ihre etymologische Semantik hinaus jener planetarische Bewegungsraum,
in dem sich die unterschiedlichsten Logiken transareal so überlagern, daß sie
keinem Entweder-Oder, keiner Reduktion auf eine einzige, hegemoniale Logik
unterworfen werden können, ohne Gefahr zu laufen, völlig zerstört, völlig verwüstet zu werden?
In ungeheurer ästhetischer Verdichtung hat Heinrich von Kleist in Die Verlobung in St. Domingo das Aufeinanderprallen verschiedenartigster Logiken
und unterschiedlichster Perspektiven literarisch modelliert und aufgezeigt,
welch zerstörerische Kräfte entfesselt werden, wenn es im Zeichen europäischer Herrschaftsansprüche um die Frage nach der Macht geht. SaintDomingue mündet für Kleist nicht nur ein in die völlige Katastrophe von Konvivenz, sondern zeigt zugleich auch auf, wie zerstörerisch die Logiken radikaler
wechselseitiger Exklusion sind.
Daß die Tropen zur Spielfläche eines langanhaltenden Zerstörungsprozesses
geworden sind, der in der zweiten Beschleunigungsphase der Globalisierung
keineswegs sein Ende fand, sondern weiter intensiviert wurde, ist hinlänglich
bekannt. Warnungen vor den Folgen einer rücksichtslosen Plünderung insbesondere der Tropen im Zuge der europäischen Expansion hatte es schon früh
gegeben – auch mit Blick auf Eroberungsformen, die nicht militärischen oder
ökonomischen, sondern geistigen oder wissenschaftlichen Zuschnitts sind.
Denn bereits in seinen Philosophischen Untersuchungen über die Amerikaner
hatte Cornelius de Pauw zu Beginn des ersten, 1768 in Berlin veröffentlichten
Bandes darauf aufmerksam gemacht, daß zu den Triebkräften der zerstörerischen Auswirkungen der Expansion Europas über die Welt auch und gerade die
europäische Wissenschaft gehöre. Unmißverständlich hieß es in einer Passage,
die bis in unsere aktuelle Gegenwart nur allzu gerne überlesen wurde:
114 Simón Bolívar: Carta de Jamaica. The Jamaica Letter. Lettre à un Habitant de la Jamaïque, S. 69.
157
Wenn der Geist der Verwüstung & der Ströme von Blut unseren Eroberern stets vorausgeht, dann sollten wir nicht die Aufklärung einiger Punkte der Geographie mit der Zerstörung eines Teiles unseres Globus erkaufen, dann sollten wir nicht die Papuas massakrieren,
um dafür mit Hilfe des Réaumurschen Thermometers das Klima von Neu-Guinea in Erfahrung zu bringen.115
De Pauw rief daher zur Mäßigung auf, um „die Wut, alles zu überfallen, um
alles in Erfahrung zu bringen“116 bändigen und künftige Zerstörungen und
Verwüstungen ganzer Gebiete in den Tropen eindämmen zu können. In welch
ungeheurem Maße dieser Prozeß des – wie man mit Humboldt sagen könnte –
Barbarischen in der Zivilisation jedoch anhielt, ja sich noch verstärkte, sollte
der weitere Verlauf der Globalisierung gerade während der sich anschließenden Beschleunigungsphasen in aller Deutlichkeit zeigen.
115 Cornelius de Pauw: Rechereches philosophiques sur les Américains, Bd. I, S. a4r.
116 Ebda.
158
Abb. 7: Brennendes spanisches Kriegsschiff
vor Cavite (Philippinen)
Abb. 8: Versenktes spanisches Kriegsschiff vor Santiago de Cuba.
Globalisierung III.
Im Zeichen einer neuen Weltmacht:
Von der Fülle der Abwesenheit und der Falle der Macht
Bilder eines verdoppelten Untergangs
Die beiden Schwarzweiß-Photographien von Juli 1898 zeigen in faszinierender
Weise (auf) etwas, das auf ihnen im Grunde nicht zu sehen ist. In ihrer Art des
Zeigens und Verbergens sind sie Vexierbilder eines Geschehens, das weitestgehend unter der Meeresoberfläche verborgen bleibt, gerade dadurch aber in
seiner Unsichtbarkeit sichtbar gemacht wird. Die erste der beiden hier gewählten Photographien präsentiert uns ein brennendes, im Wasser versinkendes
Kriegsschiff vor Cavite in der Bucht von Manila,1 die zweite das Heck des im
Meer untergehenden Panzerkreuzers „Vizcaya“ vor der kubanischen Küste in
der Nähe von Santiago de Cuba2 (Abb. 7 und 8). Beide Aufnahmen dokumentieren die rauchenden oder schon verkohlten Überreste jener beiden Seeschlachten, in denen sich die überlegene Feuerkraft der hochgerüsteten USamerikanischen Kriegsflotte gegen die militärisch weit unterlegenen Seestreitkräfte Spaniens ebenso im Atlantik wie im Pazifik ohne größere Schwierigkeiten durchsetzte. Es sind Photographien von hohem symbolischem Wert, Bilder
eines verdoppelten Untergangs. Und zugleich Zeichen eines damals unaufhaltsam scheinenden Aufstiegs einer neuen Weltmacht.
Die Licht-Schrift dieser Photo-Graphien läßt keinen Zweifel: Wir haben es
mit beeindruckenden Bildern eines Untergangs in einem gleich mehrfachen
Sinne zu tun. Die auf beiden Bilddokumenten dominanten Wasserflächen bilden
jenes Meer der Geschichte, in dem beide Schlachtschiffe ein für allemal zu versinken begriffen sind. Mit einem scharfen Schnitt markiert die dunkle Silhouette
in der Bucht von Manila die Trennung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zeigt die übrig gebliebenen Aufbauten und die beiden zum Teil
schon eingefallenen Schornsteine des zerstörten spanischen Kriegsschiffes, die
gemeinsam mit den brennenden Bugteilen den Himmel mit schwarzem Rauch
erfüllen. Von welchem Opfer, von welcher Opferung kündet der gen Himmel
dunkel aufsteigende Rauch? Und: Wer wurde hier von wem wofür geopfert?
1 Diese Aufnahme findet sich in Jim Leeke: Manila and Santiago. The New Steel Navy in
the Spanish-American War. Anapolis, Maryland: Naval Institute Press 2009, S. 148–149
(Abb. 2).
2 Diese Photographie von Fernando López Ortiz entstammt 1898: Las fotografías cubanas.
Ausstellungskatalog der Sala Parpalló, Valencia, 22 de septiembre de 1998. Valencia:
Centre Cultural La Beneficència 1998, S. 159.
161
Anders die Szenerie der zweiten hier betrachteten Photographie. Hier qualmt
das hoch vor der kubanischen Küste aufgereckte Heck der „Vizcaya“ bereits
nicht mehr: Den größten Teil des Schiffes hat ohnedies das Meer schon längst
verschlungen. Das Meer aber ist zum Mare Nostrum einer anderen Macht geworden. Wie Holzspielzeuge wirken die Aufbauten beider spanischen Schiffe,
und wie Holzspielzeuge wurden sie mit Mann und Maus vom Kriegsspielzeug
der New Steel Navy der USA im Meer der Karibik, im Meer des Pazifik versenkt.
Das mit der Explosion eines anderen Schiffes, der von eigenen Kräften im
Hafen von Havanna in die Luft gejagten „Maine“, fadenscheinig begründete
Eingreifen der Vereinigten Staaten von Amerika in den bereits 1895 ausgebrochenen Kubanisch-Spanischen Unabhängigkeitskrieg markiert die wohl entscheidende Phase der US-amerikanischen Expansion in den karibischen, zentralund südamerikanischen Raum und zugleich den eigentlichen Akzelerationszeitraum im Kern der dritten Phase beschleunigter Globalisierung. Über lange Jahre
hatten sich die USA nach vergeblichen Versuchen, Spanien die reiche Zuckerinsel Cuba abzukaufen, auf diesen Augenblick vorbereitet und eine Rüstungspolitik betrieben, die sehr bewußt auf den Aufbau und Ausbau dessen abzielte, was
in der zeitgenössischen Propaganda eines Alfred Thayer Mahan als American
Sea Power bezeichnet wurde.3 Erst seit den achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts hatten die Vereinigten Staaten damit begonnen, ihre zuvor an
kontinentaler Territorialität und vorrückender frontier ausgerichtete raumgeschichtliche Politik an einer vektoriellen, unübersehbar bewegungsgeschichtlich
deutbaren Praxis auszurichten, die rasch zur unverzichtbaren Grundlage und
Voraussetzung ihres imperialen Ausgreifens werden sollte. Dieser Ausgriff erfolgte 1898 als Eingriff und als Übergriff. Der Aufstieg des Imperium Americanum zur kontinentalen Hegemonialmacht war wohlgeplant und erhielt bereits
mit dem Eingreifen auf den Philippinen seine unverkennbar transkontinentale
Komponente. Die Interessen der USA im Pazifik wurden auf diese Weise nachdrücklich bekräftigt: Die ehemalige britische Kolonie im Norden des amerikanischen Doppelkontinents stieg zur Weltmacht auf. Und dieser Aufstieg ließ von
Spaniens einst so stolzer Armada nur noch Rauchsäulen und Wracks zurück.
Die beiden Photographien dokumentieren schonungslos, wie erfolgreich die
Aufrüstungspolitik der USA war und wie wenig die Führungsmacht der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung noch auf militärischem, technologischem
oder ökonomischem Gebiet jenen Vereinigten Staaten entgegenzusetzen hatte,
die als erste außereuropäische Macht zum global player aufstiegen und den europäischen Kolonialmächten Paroli boten. Zum dritten Mal war damit die Karibik zum entscheidenden Spielfeld einer Globalisierung geworden, für deren Beschleunigung die Inselwelt im Zentrum Amerikas als der perfekte Experimentierraum diente.
3 Zur Geschichte der US-amerikanischen Expansion vgl. das Standardwerk von HansUlrich Wehler: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung
des Imperium Americanum 1865–1900. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974.
162
So zeigen die beiden Photographien symbolhaft den endgültigen Untergang
Spaniens als Welt-, See- und Kolonialmacht an. Sowohl auf den Philippinen
als auch in Cuba und Puerto Rico treten die USA, wenn auch in Form jeweils
unterschiedlicher politischer ‘Lösungen’, das koloniale Erbe der Spanier an.
Zugleich markieren die Photographien jene zutiefst philosophische Konfiguration des Schiffbruchs mit Zuschauer, der Hans Blumenberg eine so subtile
Studie widmete.4 Die Metaphorik des vom Menschen beobachteten und kommentierten Schiffbruchs läßt sich, wie Blumenberg zeigte, bis auf Lukrez zurückverfolgen, der diese „Konfiguration geprägt“ und das zweite Buch seines
Weltgedichtes mit der „Imagination“ beginnen ließ, „vom festen Ufer her die
Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten“.5
Im Mittelpunkt dieser Metaphorik stand dabei von Beginn an das „Verhältnis
des Philosophen zur Wirklichkeit“6 – und die Paradoxie, „daß der Mensch als
Festlandlebewesen dennoch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den
Imaginationen der Seefahrt sich darstellt“7. Was aber ist, wenn kein starker
Sturm die Schiffe auf Felsen treibt und kein Blitzeinschlag die Aufbauten zerstört, sondern andere, menschliche Vernichtungskräfte walten?
Eben diese Problematik stellt sich bei der Betrachtung jener Photographien,
die eindringlicher als viele andere eine grundlegende philosophische Frage an
ihre Betrachter richten: Welcher Sturm hat diese Katastrophe ausgelöst? Und
welche Kraft hat diese Schiffe – und mit ihr die Reste eines alten Imperiums –
unter Wasser gedrückt?
Ohne an dieser Stelle auf alle Facetten dessen eingehen zu wollen, was in
der spanischen Geschichtsschreibung bis heute als das Desastre von 1898 bezeichnet wird, nach dem sich eine ganze Generation herausragender spanischer
Autoren und Intellektueller, die Generación del 98, benannte,8 sei doch kurz
auf eine jener literarischen Reaktionen aufmerksam gemacht, die auf ästhetisch verdichtete Weise jene Fülle an Abwesenheiten zum Ausdruck brachten,
die auf den zeitgenössischen Photographien, die mit noch nie zuvor gekannter
Geschwindigkeit um die Welt gingen, zwar unübersehbar war, aber doch unausgesprochen blieb.
4 Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
5 Ebda., S. 31.
6 Ebda.
7 Ebda., S. 10.
8 Vgl. hierzu u.a. die bis heute lesenswerte Studie von Werner Krauss: Eine Generation der
Niederlage. In: ders.: Spanien 1900–1965. Beitrag zu einer modernen Ideologiegeschichte. München/Salzburg: Fink 1972, S. 49; Leopoldo Zea/María Teresa Miaja
(Hg.): 98: Derrota Pírrica. México: Fondo de Cultura Económica/Instituto Panamericano
de Geografía e Historia 2000; sowie zu anderen, literarischen Bildern vom Krieg Ottmar
Ette: Visiones de la guerra/guerra de las visiones. El desastre, la función de los
intelectuales y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII, 71–
72 (1998), S. 44–76.
163
Das nun im folgenden angeführte Beispiel stammt von keinem Geringeren
als dem Nicaraguaner Rubén Darío, der großen Stimme des hispanoamerikanischen Modernismo, der wie Millionen anderer Lateinamerikaner die Tausende
von Kilometern voneinander entfernten, aber fast synchronen Ereignisse von
1898 über die zeitgenössischen Medien miterlebte. Wie sehr der Untergang
der spanischen Flotte, gleichsam der Nachfahren der Karavellen des Columbus
und der Silberflotten Philipps II., sich nicht nur in Spanien, sondern auch in
Hispanoamerika geradezu traumatisierend ins kollektive Bild-Gedächtnis einbrannte, zeigt eine kurze Erzählung Daríos, die erstmals 1899 in Buenos Aires
unter dem etwas enigmatischen Titel „D.Q.“ erschien.9 Dort läßt Rubén Darío,
der stets des Ästhetizismus verdächtigte nicaraguanische Dichter, seinen Erzähler aus der Perspektive eines spanischen Soldaten die ganze Dramatik des
Untergangs der spanischen Flotte und Armee lebendig werden:
Dann folgte die gräßlichste Trostlosigkeit. Es war die Nachricht. Wir waren verloren, unrettbar verloren. Wir würden nicht einmal mehr kämpfen. Wir sollten uns wie Gefangene,
wie Besiegte ergeben. Cervera befand sich bereits in den Händen des Yankees. Seine Flotte
hatte das Meer verschluckt, von den Kanonen Nordamerikas in Stücke gerissen. Nichts
mehr blieb übrig von Spanien in der von Spanien entdeckten Welt. Wir sollten dem siegreichen Feind unsere Waffen und alles andere übergeben; und der Feind erschien in Gestalt
eines großen blonden Teufels mit kraftlosem Haar und Ziegenbart, eines Offiziers der Vereinigten Staaten, gefolgt von einer Eskorte blauäugiger Jäger. Und die gräßliche Szene begann.10
Die am 3. Juli 1898 erlittene Niederlage des in dieser Passage namentlich erwähnten spanischen Admirals Pascual Cervera y Topete stellt uns gewiß vor
die spannende Frage, ob in den Ereignissen von 1898 tatsächlich der Gründungsakt moderner Geopolitik, „the founding gesture of modern geopolitics“11, gesehen werden kann. Aus einer vektoriell ausgerichteten globalisierungsgeschichtlichen Sicht wäre in diesen Entwicklungen freilich eher der
Ausdruck einer spezifischen, nun von den USA beherrschten Phase innerhalb
eines langanhaltenden Prozesses zu erkennen, der zuvor ausschließlich von europäischen Mächten kontrolliert worden war. Daß auch in dieser neuen Phase
einmal mehr die entscheidende Rolle von Inseln und Archipelen nicht übersehen werden kann, ist höchst bemerkenswert: Nicht umsonst werden die Vereinigten Staaten von Amerika, die in der obigen Passage mit all jenen klischeehaften Zügen abgebildet werden, die das Bild der USA in Lateinamerika bis
9 Noch im selben Jahr erschien der Text ebenfalls in Buenos Aires in der Zeitschrift Fray
Mocho; vgl. hierzu die textkritischen Fußnoten der Ausgabe von Rubén Darío: D.Q. In:
ders.: Don Quijote no debe ni puede morir (Páginas cervantinas). Prólogo de Jorge
Eduardo Arellano. Anotaciones de Günther Schmigalle. Managua: Academia
Nicaragüense de la Lengua 2002, S. 21.
10 Ebda., S. 24.
11 Peter Hulme. Beyond the Straits: Postcolonial Allegories of the Globe. In: Ania
Loomba/Suvir Kaul u.a. (Hg.): Postcolonial Studies and Beyond. Durham/London: Duke
University Press 2005, S. 47.
164
heute wesentlich mitprägen, von nun an von ihren Flottenstützpunkten aus die
Hemisphäre machtpolitisch kontrollieren. Noch immer läßt sich hier die militärische Insel-Strategie der ersten Phase beschleunigter Globalisierung erkennen, wenn auch in militär- und kommunikationstechnologisch modernisierter
Form.
Der in der spanischsprachigen Welt ungezählte Male evozierte Untergang
der Kriegsflotte konfiguriert in Rubén Daríos Erzählung jenen symbolischen
Schiffbruch, in dem die Welt Don Quijotes, die Welt eines spanischen Siglo de
Oro unterging, dessen Gold im wesentlichen aus Amerika stammte. Kein
Wunder also, daß Darío ‘seinen’ Don Quijote, der sich für den Leser bald erkennbar hinter den Titelinitialen von „D.Q.“ verbarg, sich samt seiner altertümlichen Rüstung in einen tiefen Abgrund stürzen ließ.12 Die neue
hemisphärische Konstruktion der Modernisten teilte Amerika auf in zwei
ungleiche, sich asymmetrisch gegenüberstehende Blöcke. Der weitere Aufstieg der USA zur militärischen, wenn auch gewiß nicht kulturellen Hegemonialmacht wurde dabei geradezu vorausgesetzt: Zu kräftezehrend schienen all
jene Kämpfe gewesen zu sein, in die sich die hispanoamerikanischen Länder
nach ihrer politischen Unabhängigkeit über lange Jahrzehnte verstrickt hatten.
Eine gänzlich unkritische Ausrichtung am großen, starken Nachbarn im
Norden, eine – wie der große uruguayische Modernist José Enrique Rodó sie
nannte – Nordomanie (nordomanía)13 schien nach der kollektiv erlebten Erfahrung von 1898 nicht nur die politischen und ökonomischen, sondern auch
die kulturellen Grundlagen der lateinamerikanischen Länder zusätzlich zu erschüttern oder zumindest doch zu bedrohen. Diese zum damaligen Zeitpunkt
verbreitete Angst brachte Darío in seinem berühmten, den Cantos de vida y
esperanza (Gesänge von Leben und Hoffnung) zugerechneten Gedicht ‘A
Roosevelt’ zum Ausdruck, in dem er sich direkt an den Präsidenten der Vereinigten Staaten wandte, der wenige Jahre zuvor mit seinen Rough Riders am
Krieg von 1898 teilgenommen hatte:
Du bist die Vereinigten Staaten,
Du bist die künftige Invasion
des naiven Amerika, das indigenes Blut besitzt,
das noch immer Jesus Christus anbetet und noch immer auf Spanisch spricht.14
Das bange Fragezeichen war dem spanischsprachigen modernistischen
Schwan – dem Wappentier all jener Dichter und Erzähler im Umfeld von Ru12 Rubén Darío: D.Q., S. 24.
13 José Enrique Rodó: Ariel. In: ders.: Obras Completas. Editadas, con introducción,
prólogos y notas, por Emir Rodríguez Monegal. Madrid: Aguilar 21967, S. 232; vgl.
hierzu die deutschsprachige Edition von José Enrique Rodó: Ariel. Übersetzt,
herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette.
Mainz: Dieterich’sche
Verlagsbuchhandlung 1994, S. 137.
14 Rubén Darío: A Roosevelt. In: ders.: Obras Completas. Bd. V. Madrid: Afrodisio Aguado
1953, S. 878.
165
bén Darío, die sich als Modernisten begriffen – buchstäblich auf den weißen
Leib geschrieben:
Werden wir den hochmütigen Barbaren ausgeliefert sein?
Werden wir, so viele Millionen, auf Englisch sprechen?15
Daß solche Ängste nicht gänzlich unbegründet und aus der Luft gegriffen waren, zeigt die Tatsache, daß mit der Abdankung Spaniens auf den Philippinen
dort auch das Spanische aus den verschiedensten Lebensbereichen, aber nicht
zuletzt auch aus der Literatur mit erstaunlicher Geschwindigkeit schwand. In
diesem Gedicht, wie in vielen anderen Schriften der hispanoamerikanischen
Modernisten, läßt sich der Versuch beobachten, dem ‘Umkippen’ der eigenen
kulturellen Fülle in eine mit Blick auf die angelsächsische Welt beklagte Abwesenheit von Werten und Bezugspunkten angesichts der veränderten geopolitischen, ökonomischen und sozialen Kräftefelder der dritten Phase beschleunigter Globalisierung neue geokulturelle Kampfpositionen entgegenzustellen.
Denn die moderne Welt der USA erschien den meisten als Verlockung und
zugleich als Falle: als eine andere Welt, die nicht nur im Verdacht, sondern
längst schon im Begriff stand, sich der eigenen zu bemächtigen.
Der für diese Denkfigur entscheidende Intellektuelle Hispanoamerikas war
zweifellos der Kubaner José Martí, der durch seine ruhelose Tätigkeit im USamerikanischen Exil erst jenen Krieg von 1895 entfesselt hatte, in den die
USA dann so machtbewußt und erfolgreich eingreifen sollten. José Martí, soviel darf hier vorweggenommen werden, war aus heutiger Sicht zweifellos der
früheste Theoretiker der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, bildete
der größere Teil seines Schaffens doch eine ebenso entschiedene wie entschlossene Antwort auf die Herausforderungen dieser höchst turbulenten geschichtlichen Phase. Wer aber war dieser noch heute in Lateinamerika verehrte, in Europa jedoch noch immer weitgehend unbekannte Denker?
Die Fülle der Abwesenheit
Die vielleicht beste, wenn auch nicht einfachste Antwort auf diese Frage hat
uns einer der sicherlich größten Dichter des 20. Jahrhunderts gegeben. Am
Ende des dritten von insgesamt fünf Vorträgen, die er zwischen dem 16. und
dem 26. Januar 1957 im Centro de Altos Estudios im Instituto Nacional de
Cultura von Havanna hielt, versuchte José Lezama Lima, die Figur José Martís ins Licht einer Traditionslinie der Abwesenheit zu stellen:
Aber diese große romantische Tradition des 19. Jahrhunderts, die des Kerkers, der Abwesenheit, des Bildes und des Todes, erreicht es, das amerikanische Faktum zu schaffen, dessen Schicksal mehr aus möglichen Abwesenheiten als aus unmöglichen Anwesenheiten
gemacht ist. Die Tradition der möglichen Abwesenheiten ist die große amerikanische Tradition gewesen, wo sich das historische Faktum ansiedelt, das erreicht worden ist. José
Martí repräsentiert in einer großen verbalen Weihnacht die Fülle der möglichen Abwesen15 Rubén Darío: Qué signo haces, oh Cisne. In: ders.: Obras Completas, S. 890.
166
heit. In ihm kulminieren der Kerker von Fray Servando, die Frustration von Simón
Rodríguez, der Tod von Francisco Miranda, aber auch der Blitz der sieben Intuitionen der
chinesischen Kultur, die ihm durch die Metapher der Erkenntnis erlaubt, jenen Wirbel zu
berühren und zu schaffen, der ihn selbst zerstört; das Mysterium, das die Flucht der großen
Verlierer und das Oszillieren zwischen zwei großen Schicksalen nicht fixiert, welches er
dadurch löst, daß er sich mit dem Haus vereinigt, das in Brand geraten wird. Seinen Tod
müssen wir innerhalb des inkaischen Pachacán, des unsichtbaren Gottes, verorten.16
José Lezama Lima, die sicherlich beherrschende Figur der kubanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, rückte in diesen Überlegungen, die er wenige Tage
vor dem 104. Geburtstag José Martís unter dem Titel „Die Romantik und das
amerikanische Faktum“ entfaltete und als zentralen Essay in La expresión
americana (Der amerikanische Ausdruck) veröffentlichte, den Dichter der
Einfachen Verse und Gründer der Revolutionären Partei Cubas (PRC) dabei
nicht nur in eine „amerikanische“ Tradition ein. Denn in dieser Passage zeichnet sich ab, daß sich – zumindest aus der Perspektivik Lezama Limas – das
Amerikanische in José Martí nicht allein aus der hispanoamerikanischen Tradition des 19. Jahrhunderts speisen kann, sondern sich auch in grundlegender
Weise mit den amerikanischen Kulturen präkolumbischer Herkunft verknüpft
sowie in die globalen Dimensionen einer umfassenden Weltkultur projiziert.
Cuba ohne seine weltumspannenden transarealen Dimensionen begreifen zu
wollen, wäre für José Lezama Lima ein von Beginn an absurdes und zu einem
kläglichen Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wie kein anderer Dichter, wie
kein anderer Denker repräsentiert José Martí diese Dimension des Transarealen, des Transkulturellen, in seinem Schreiben, in seinem Handeln.
Jenseits der drei großen Repräsentanten des Unabhängigkeitskampfes Spanisch-Amerikas und jenseits der hier ebenfalls aufgerufenen inkaischen Traditionen schreibt der Gründer und Kopf der Zeitschrift Orígenes, José Lezama
Lima, die Gründungsfigur des hispanoamerikanischen Modernismo, José
Martí, folglich in eine im wahrsten Sinne universale Dimension ein, die etwa
mit der Einblendung der chinesischen Kultur für die entworfene „Fülle der
möglichen Abwesenheit“ einstehen kann. Was aber ist unter dieser für Lezama
Limas Schreiben so charakteristischen Formulierung zu verstehen? Und was
macht diese große amerikanische Tradition der „möglichen Abwesenheiten“,
der ausencias posibles, mit Blick auf Martí, die zweifellos beherrschende Figur der kubanischen Literatur wie der kubanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, aus?
Es ist nicht nur rezeptionsgeschichtlich höchst bedeutungsvoll, daß Lezama
Lima in der Schlußpassage seines Vortrages die Martíschen Tagebücher, die
Diarios der letzten Wochen und Tage des autor intelectual des Krieges von
1895 gegen die spanische Kolonialmacht in den Mittelpunkt seiner Argumentation und seiner ganz persönlichen Suche nach José Martí rückt. Gerade die
fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind Jahre verbissener politischer Kämpfe
um den Anspruch auf das ideologische Erbe José Martís in Cuba: Ausnahms16 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 115 f.
167
los alle politischen Parteien und Bewegungen berufen sich auf die Figur, auf
die Ikone des längst sakralisierten ‘Apostels’ der kubanischen Geschichte. Der
beeindruckende Martí-Kult kulminiert in einem gigantomanischen MartíDenkmal, das seit 1959 Fidel Castro als Dekoration für die großen Reden der
Kubanischen Revolution auf dem Platz der Revolution dient, das aber – und
der Umstand wird gerne verborgen – bereits am Ende der vorhergehenden
Diktatur Fulgencio Batistas errichtet wurde.17 Vor dem Hintergrund nicht nur
scharfer Auseinandersetzungen und erhitzter Debatten, sondern auch militärischer Repression und Guerrilla-Attacken eröffnet Lezamas Verweis auf die
Poetizität der Martíschen Tagebücher eine ganz andere Sichtweise, die Martís
Denken und Schreiben vor keinen ideologischen Karren zu spannen versucht.
Es geht ihm um die Rückgewinnung des Martíschen Denkens und Schreibens,
nicht aber um dessen Funktionalisierung für die Machtinstinkte alternder oder
künftiger Diktatoren. Lezamas Rede von der Fülle der Abwesenheit macht auf
jene Falle erzwungener Anwesenheit aufmerksam, der die Figur José Martís
seit Beginn des 20. Jahrhunderts instrumentalisierend ausgeliefert worden war.
Während sich also die Kämpfer gegen die Batista-Diktatur im Zeichen der
1953 ausgerufenen Jahrhundertfeiern der Geburt José Martís auf Martí als den
‘geistigen Urheber’ ihres revolutionären Denkens und Handelns berufen und
den großen kubanischen Intellektuellen schon bald in die Ikone einer Revolution verwandeln, die Martí in den nachfolgenden Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise für die wechselnden Zwecke und Ziele einer kubanischen Machtpolitik funktionalisiert, greift Lezama Lima auf jene Ausdrucksformen des
Martíschen Schreibens zurück, in denen sich der Wirbel, der Hurrikan bildet,
der geschaffen sei, um alles mit sich fortzureißen. Lezama verweist dabei mit
Bedacht auf die schöpferische Kraft dieses remolino, auf die entscheidende
Bedeutung der „poetischen Erkenntnis“ (conocimiento poético),18 auf die Relevanz der „Poesie als Vorspiel zu einer Belagerung der Stadt“19, dem sich der
Dichter von Enemigo rumor zweifellos aufs Engste verbunden wußte. Die
poetische Erkenntnis generiert dabei durch die Kraft und die Traditionslinien
der Literatur ein Wissen, das unvergänglich und zugleich in stetiger oszillierender Bewegung befindlich ist. Dieses Wissen der Literatur läßt sich begreifen, nicht aber auf einen Begriff bringen. Für Lezama Lima steht José Martí
noch in seinen letzten Schriften, noch in seinen Kriegstagebüchern, für diese
Erkenntnis, für dieses Erkennen ein.
So scheint am Ende des Zentralstücks von La expresión americana die
Fülle des Martíschen Schreibens und damit die Fülle des Amerikanischen just
in jenem komplex verwobenen Augenblick auf, in dem José Martí als Kämpfer gegen den spanischen Kolonialismus 1895 seine jahrzehntelange Abwesenheit von Cuba beendet und zugleich sein Ende – und das Ende seines
17 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Ottmar Ette: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter –
Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.
18 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 116.
19 Ebda.
168
Schreibens – im kubanischen Oriente findet, von einer spanischen Kugel getroffen. José Lezama Lima greift mitten in den blutigen Kämpfen zwischen
einer sich noch immer auf Martí berufenden Diktatur Fulgencio Batistas und
den sehr unterschiedlich ausgerichteten revolutionären Kräften gerade diese
sich gleichsam in der sinnlichen Erfahrung Cubas verwurzelnden letzten Seiten der Tagebücher (Diarios) heraus, um aus dieser letzten kubanischen Erfahrung Martís unmittelbar vor seinem Tod die Fülle einer furchtbaren,
zugleich aber fruchtbaren Abwesenheit zu konstruieren. Es geht um die letzten
Notizen, die der Dichter und Revolutionär Martí wenige Stunden vor seinem
Tod seinem Tagebuch anvertraute:
Die abschließenden Worte seiner beiden Tagebücher erinnern uns an die Vorkehrungen,
die dem Totenbuch zufolge mit Blick auf die unterirdischen Wohnsitze getroffen werden
müssen. Er verlangt nach Büchern, er verlangt nach Krügen mit Feigenblättern. Er bietet
Lebensmittel an „mit einem Stein in der Tränke für die Neuankömmlinge“. Das Tal scheint
seine Schluchten zu schmücken für den Neuankömmling, der anfängt, Dinge wiederzuerkennen und zu benennen, sich gemäß der orphischen Kulte im Irrealen zu orientieren an der
Schwere des Brotes, am Gleichgewicht der Milchschüssel und am Bellen des Hundes.
Seine Tagebücher sind die taktile Entdeckung des an Land Gegangenen, des Neuankömmlings, des Hindämmernden, des sich Abzeichnenden. Er steht zwei großen Momenten des
amerikanischen Ausdruckes vor. Jenem, der ein Faktum durch den Spiegel des Bildes
schafft. Und jenem, der in der mexikanischen Romanze, in der geräumigen Gitarre des
Martín Fierro, im theologischen Walfisch und im Whitman’schen Körper das Retabel erschafft für den Stern, der den Geburtsakt ankündigt.20
Hier bleibt kein Raum für kurzfristige und kurzsichtige politische Instrumentalisierungen Martís. Selten wohl ist auf so wenigen Zeilen, in einem „dichten
Gewebe von Anspielungen und Bindungen“21, eine solche Fülle unterschiedlichster kultureller Filiationen und Traditionen miteinander verknüpft worden
wie auf dieser abschließenden Seite von „El romanticismo y el hecho americano“. In den sorgsam ausgewählten Zitaten und Motiven der Tagebücher erscheinen im kubanischen Oriente nicht nur die spanische Literatur des Siglo de
Oro oder die amerikanische Populärkultur am Río de la Plata, nicht nur die
kubanische Lyrik der Romantik oder die Körperlichkeit der angloamerikanischen Dichtkunst eines Walt Whitman, sondern vor allem die Präsenz des
ägyptischen Totenbuches und der orphischen Kulte, die in ihrer Pendelbewegung, ihrer oscilación zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden vermitteln und im Tod der Lebenden das Leben der Toten – und damit
die Allgegenwart der Abwesenheit – in der Form des poetischen Wissens, der
poetischen Erkenntnis (conocimiento poético22), projizieren. José Martí wird
hier zu einer menschlichen und zugleich übermenschlichen Figur des
20 Ebda., S. 116 f.
21 Sergio Ugalde Quintana: La biblioteca en la isla: para una lectura de „La expresión
americana“ de José Lezama Lima. Tesis de doctorado defendida en El colegio de México,
México D.F. 2006, S. 249.
22 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 116.
169
transkulturell Amerikanischen stilisiert, in deren Gesten und Bewegungen sich
gleichsam transhistorisch die Wege der Kulturen der Welt kreuzen und zu etwas Neuem, Unerhörtem verbinden.
Der Wirbel dieser von José Lezama Lima in Bewegung gesetzten poetischen Erkenntnis verwandelt die Figur José Martís in ihrem Oszillieren, in ihrem orphisch-kreativen Pendeln zwischen dem Reich der Lebenden und dem
Reich der Toten, zwischen der Vorbereitung auf den Tod und der Transfiguration ins Leben in einen (sehr kubanischen) Kulminationspunkt des Amerikanischen und der expresión americana. Amerikanisch aber ist das Schaffen Martís gerade nicht durch seine Beschränkung auf das Kubanische und damit
(Proto-)Nationale der patria chica, auf das Hispanoamerikanische und damit
Supranationale der patria grande oder auf das Kontinentale und damit Hemisphärische einer topographisch-geographischen Raumkonstruktion.23 Worin
besteht aber dann jener amerikanische Ausdruck, der für diesen Essayband
Lezama Limas titelgebend geworden ist?
Das poetische Wissen, die poetische Erkenntnis im Sinne Lezamas zielt
nicht auf eine Essentialisierung des Amerikanischen, sondern auf dessen unterschiedliche Areas miteinander verbindende Relationalität und damit eine
Poetik der Bewegung: Nicht der Raum, sondern dessen Querung, nicht die
statische Präsenz, sondern die dynamische Erzeugung immer neuer möglicher
Wege zählt. Sie erst vermag es, aus den Abwesenheiten stets aufs Neue die
Fülle des Möglichen zu entbinden und zugleich der Falle einer Reduktion auf
das Anwesende zu entgehen.
Dieses Spiel von Fülle und Falle aber heißt: Die Zukunft ist nicht an eine
einzige Zugehörigkeit, an eine einzige Herkunft, an eine einzige Identitätszuweisung zurückgebunden. Sie ergibt sich, will man den kurzatmigen Zyklen
politischer Diskurse entkommen, aus den Visionen einer transarealen Vernetzung, aus der Viel-Logik von Verbindungen, die nicht von einer einzigen
Normierung gemaßregelt werden können. Die Fülle des Imaginierbaren, des
Denkbaren, des Lebbaren ist nicht auf das materiell Vorhandene einschränkbar. Dieses Wissen der Literatur ist auch ein Wissen, welches das Begreifen
eines Landes und seines Territoriums, seiner Territorien zu transformieren
vermag. Ein derartiges sich vom Transfer zur Transformation entfaltendes
Verständnis Martís und Cubas aber ist das Ziel des sicherlich größten kubanischen Dichters des 20. Jahrhunderts.
Daher stimmen die nachfolgenden Überlegungen zwar durchaus der Einschätzung zu, in Martí dürfe man „den Schlüssel Cubas, den Schlüssel von un-
23 Vgl. zu dieser Grundproblematik der hispanoamerikanischen Literatur Adalbert Dessau:
Das Internationale, das Kontinentale und das Nationale in der lateinamerikanischen
Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Lateinamerika (Rostock) (Frühjahrssemester 1978), S.
43–87; sowie Ottmar Ette: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der
Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika
denken, S. 297–326.
170
serem Amerika (nuestra América)“24 erkennen. Doch jeglichem Versuch einer
Identifikation des sich im Denken und Handeln Martís abzeichnenden Humanismus mit den Zielen des Marxismus und einer kubanischen „revolución socialista“25, die bis heute den alleinigen Anspruch auf die Figur des großen Revolutionärs erhebt, gilt es, die Texte, die Schriften des Autors von Nuestra
América entgegenzustellen. Jenseits der noch immer fortgeführten ideologischen Grabenkämpfe um das Erbe Martís wird es eine sorgfältige Analyse der
Martíschen Schreibformen wie seiner Ideen nicht zulassen, „sie für die aktuellen Umstände jenes großen bolivarianischen Vaterlandes zu vereinnahmen,
von dem auch Martí träumte“26.
Die nachfolgenden Überlegungen wissen sich vielmehr dem Ziel verpflichtet, aus transarealer Perspektive die Aktualität des Martíschen Denkens
und Schreibens jenseits aller politisch-ideologischen Aktualisierungen aus der
polysemen Praxis jenes poetischen Wissens zu entwickeln, das Martí in seinen
bis heute faszinierenden Schriften entfaltete. Es handelt sich dabei nicht um
ein abgehobenes, esoterisches Wissen: Nicht umsonst darf der große kubanische Schriftsteller als der wohl profundeste zeitgenössische Denker der dritten
Phase beschleunigter Globalisierung gelten. Diese Faszinationskraft gilt gerade auch für die spezifisch amerikanische Dimension dessen, was wir als
Martíschen Humanismus bezeichnen dürfen. Denn er zielt auf die Formen und
Normen des Zusammenlebens – ebenso im nationalen wie im kontinentalen
und globalen Maßstab.
Nicht von ungefähr erscheint Martís ganzes Schaffen, sein ganzes rastloses
Tun bei Lezama Lima als unabschließbare Bewegung, als Wirbel (remolino)
und Pendeln (oscilación). Es ist offenkundig, daß sich der Autor von La expresión americana in seinem offenen Entwurf des Amerikanischen in eine Traditionslinie einschreibt, die sich später von Alfonso Reyes zu Jorge Luis Borges
weiterverfolgen läßt,27 wesentliche Bezugspunkte aber zuvor schon im
hispanoamerikanischen Modernismo eines Rubén Darío, eines José Enrique
Rodó und selbstverständlich eines José Martí – und damit in dem für Lateinamerika so charakteristischen Zwischenbereich von Literatur und Philosophie
– aufweist. Denn die Geschichte der Philosophie ist in Lateinamerika ohne
Literatur nicht zu denken.
24 Enrique Ubieta Gómez: Prólogo. In: Pablo Guadarrama González: José Martí y el
humanismo en América Latina. Bogotá: Convenio Andrés Bello 2003, S. 12.
25 Ebda.
26 Pablo Guadarrama González: José Martí y el humanismo en América Latina, S. 9. Das
Martí gewidmete Museum im Herzen von Caracas illustriert eindrucksvoll die
Behauptung einer geraden ideologischen Linie, die von Simón Bolívar über (einen in der
Ikonographie Lenins gestalteten) José Martí zu Fidel Castro und Hugo Chávez führe. Ein
Ende der ideologischen Funktionalisierungen und Aktualisierungen Martís ist nicht
abzusehen.
27 Vgl. hierzu Sergio Ugalde Quintana: La biblioteca en la isla, S. 280 f.; sowie Amelia
Barili: Jorge Luis Borges y Alfonso Reyes: la cuestión de la identidad del escritor
latinoamericano. México: Fondo de Cultura Económica 1999, S. 144–166.
171
In seinem aus dem Jahre 1942 stammenden und bis heute vieldiskutierten
Essay „Der argentinische Schriftsteller und die Tradition“ hatte Jorge Luis
Borges auf höchst überzeugende Weise die auf den ersten Blick paradox anmutende programmatische Einsicht vorgeführt, daß sich die eigentliche Tradition des argentinischen Schriftstellers gerade nicht auf das Argentinische beschränken kann:
Welche ist die argentinische Tradition? Ich glaube, daß wir diese Frage leicht beantworten
können und daß sie uns keinerlei Problem bereitet. Ich glaube, daß unsere Tradition die gesamte abendländische Kultur ist, und ich glaube auch, daß wir ein Anrecht auf diese Tradition besitzen, das größer ist als das Anrecht von Bewohnern der einen oder der anderen
Nation im Abendland.28
Und nachdem der argentinische Schriftsteller die spezifische Kreativität jüdischer Künstler in der abendländischen Kultur und irischer Schriftsteller in der
englischen Literatur mit dem Verweis auf ihr spezifisches Gefühl des eigenen
Andersseins begründet hatte, fügte er selbstbewußt und weltbewußt hinzu:
Ich glaube, daß wir Argentinier, wir Südamerikaner im allgemeinen, uns in einer analogen
Situation befinden; wir vermögen alle europäischen Themen zu bearbeiten, und wir bearbeiten sie ohne Aberglauben und mit einer Irreverenz, die glückliche Folgen zeitigen kann
und auch schon zeitigt.29
Um Argentinier zu sein, dürfe man sich folglich gerade nicht auf das reduzieren lassen, was stereotyp und klischeehaft als argentinisch erachtet werde und
generell als „typisch argentinisch“ gelte. Und hintersinnig verwies Borges darauf, daß es auch im arabischen Buch par excellence, im Koran, selbstverständlich keine Kamele gebe: Diese Abwesenheit von Kamelen verdeutliche
mehr als alles andere, daß es sich in der Tat um ein arabisches Werk handele.
Ein arabischer Fälscher, ein Tourist oder ein Nationalist hingegen hätten zuallererst dafür gesorgt, daß es in diesem Buch von Kamelen nur so wimmele:
„Karawanen von Kamelen auf jeder Seite“30. Folglich könne man gerade dann
Argentinier sein, wenn man sich nicht – oder zumindest nicht vorrangig oder
gar ausschließlich – um das Lokalkolorit kümmere, sondern die fundamentale
Präsenz der Abwesenheiten – wie wir mit Lezama sagen könnten – in den
Mittelpunkt rücke. Hier liegt jene Fülle, die sich aus den „möglichen Abwesenheiten“, den ausencias posibles31, speist.
Eröffnet Borges 1942 aus der Perspektive des argentinischen Schriftstellers
eine Beziehung zur abendländischen Kultur, die von einem kreativen Spiel
zwischen Innerhalbbefindlichkeit und Außerhalbbefindlichkeit, von interner
und externer Relationalität geprägt und einem allein von der Innensicht ge28 Jorge Luis Borges: El escritor argentino y la tradición. In: ders.: Obras completas: 1923–
1972. Erster Band. Buenos Aires: Emecé Editores 161987, S. 272.
29 Ebda., S. 273.
30 Ebda., S. 270.
31 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 115 f.
172
schuldeten Verständnis des Okzidentalen deutlich überlegen ist, so entfaltet
Lezama Lima 1957 die Frage nach dem Amerikanischen, nach der expresión
americana so, daß sich im Schreiben des Kubaners José Martí ein kultureller
Raum abzeichnet, der gerade darum amerikanisch ist, weil er sich nicht auf das
Amerikanische in seiner nationalen, supranationalen oder kontinentalen Form
beschränkt. Er stellt vielmehr eine spezifisch transareale Beziehungsvielfalt
zu den Kulturen der Welt her: nicht in einem vergleichenden und komparatistischen, sondern in einem eindringlichen und durchdringenden Sinne.
Auch bei Lezama stellt sich dabei ein spezifisches Spiel von Innerhalb- und
Außerhalbbefindlichkeit ein, dessen Schicksal freilich mehr von möglichen
Abwesenheiten als von unmöglichen Anwesenheiten (presencias imposibles32)
geprägt sei. Inwieweit sich in dieser oszillierenden Bewegung des amerikanischen Schriftstellers zwischen Innerhalb- und Außerhalbbefindlichkeit, zwischen interner und externer Relationalität, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit die Möglichkeit eröffnet, aus der Kritik an einer europäischen und europäisch geprägten Moderne einen (neuen) Humanismus zu entfalten, dessen
Fülle durch eine spezifische Präsenz der Abwesenheit gekennzeichnet ist, soll
auf den folgenden Seiten mit Blick auf José Martís sicherlich berühmtesten
Essay Nuestra América näher beleuchtet werden.
Fülle und Falle der Globalisierung
José Martís zweifellos bis heute einflußreichster Text erschien zum ersten Mal
in La Revista Ilustrada de Nueva York am 1. Januar des Jahres 1891. Ihn bezeichnet hinsichtlich des gewählten Veröffentlichungszeitpunkts dieselbe
Geste, sich am Anfang eines neuen Zyklus zu plazieren, die ein anderer der
großen hispanoamerikanischen Modernisten seinem ebenfalls kurzen und nicht
minder einflußreichen Text mit auf den Weg gab. Denn sehr bewußt ließ der
uruguayische Essayist José Enrique Rodó ein knappes Jahrzehnt später seine
kulturphilosophische Schrift Ariel zu Beginn des Jahres 1900 und damit zum
Anfang nicht nur eines neuen Jahres, sondern eines neuen Jahrhunderts erscheinen.33
Überblickt man die intellektuelle Biographie des lateinamerikanischen
20. Jahrhunderts, so darf man Martís Nuestra América freilich in nicht geringerem Maße bescheinigen, ein neues Jahrhundert der Reflexion über die spezifische Lage Lateinamerikas im amerikanischen wie im globalen Kontext eröffnet zu haben. Martís zugleich verdichteter und dichterischer Text ist eine
hochkreative Antwort auf die Herausforderungen der dritten Phase beschleunigter Globalisierung und ihrer Konsequenzen im weltweiten Maßstab.
Dieser Essay, der im folgenden nach jener kritischen Ausgabe zitiert wird,
die 1991 – also zur Hundertjahrfeier seines Erscheinens – in Havanna veröffentlicht wurde, beginnt mit der folgenden Periode:
32 Ebda., S. 115.
33 Vgl. hierzu die deutschsprachige Ausgabe von José Enrique Rodó: Ariel.
173
Es glaubt der selbstgefällige Dörfler, daß die ganze Welt sein Dorf sei, und schon billigt er
die Weltordnung, wenn er Bürgermeister wird, seinen Rivalen demütigt, der ihm die Braut
stahl, oder wenn die Ersparnisse in seinem Sparstrumpf anwachsen; doch er weiß weder
von den Riesen, die Siebenmeilenstiefel tragen, mit denen sie ihm den Stiefel aufdrücken
können, noch vom Kampf der Kometen im Himmel, die durch die schläfrige Luft ziehen
und Welten verschlingen. Was von solchem Dörflergeist noch in Amerika geblieben ist,
muß erwachen. Dies sind nicht die Zeiten, sich mit einem Tuch auf dem Kopf hinzulegen;
es gilt vielmehr, wie die Männer von Juan de Castellanos zu handeln, deren Kopf nur auf
Waffen ruhte – auf den Waffen der Vernunft, die andere Waffen besiegen. Schützengräben
aus Ideen sind denen aus Stein überlegen.34
Das von Martí wohlüberlegt gestaltete incipit schafft von der ersten Zeile an
einen globalen, ja kosmischen Bewegungsraum, der durch den scheinbaren
Gegensatz und die Bewegungen zwischen Dorf, Welt und Weltraum dynamisch strukturiert wird. Denn längst ist auch ein Dorf, das sich so gerne in seinen je eigenen Befindlichkeiten autark glaubt, nicht mehr zu begreifen, ohne
es auf Entwicklungen weltweiten Maßstabs zu beziehen: Das Lokale, so Martí
wohlgemerkt schon 1891, muß global gedacht werden. Ein rein lokales, territorialisiertes Begreifen ist angesichts der umfassenden Beschleunigung nicht
mehr sinnvoll, nicht mehr möglich.
Denn der Glaube des in seiner ‘eigenen’ Welt eingeschlossenen Dörflers
(aldeano vanidoso), diese Welt mit el orden universal gleichsetzen und damit
verwechseln zu dürfen, erweist sich nicht nur als trügerisch, sondern als höchst
bedrohlich, ja als lebensgefährlich.35 Martís Rückgriff auf den Bildervorrat der
europäischen Märchenwelt wie auch auf Adelbert von Chamissos Peter
Schlemihls wundersame Geschichte transponiert den Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln – in einer dem dörflerischen ‘Realismus’ entgegengesetzten
Bewegung – aus einer vergangenen Welt der Fiktion in eine konkrete Gegenwart, die von Beginn an als der Zeitraum einer enormen Beschleunigung verstanden wird. Es ist diese ungeheure – und im Goetheschen Sinne velociferische36 – Akzeleration, die alles im weiteren Fortgang dieses wohlkalkulierten
Textes überschattet.
Denn die Weltgeschichte steht im Begriff, gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln die Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen und Prozesse zu vervielfachen
und alles mit sich fortzureißen. Das einer solchen Geschwindigkeit nicht angepaßte und mithin noch schlafende Amerika müsse daher aufwachen
(despertar), womit Martí ganz nebenbei einen der Kampfbegriffe der spanisch-amerikanischen Unabhängigkeitsrevolution der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts wieder aufnahm.
34 José Martí: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio
Vitier. La Habana: Centro de Estudios Martianos/Casa de las Américas 1991, S. 13.
Meine Übersetzung dieses Grundlagentextes findet sich in der vielbeachteten Anthologie
von Angel Rama (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José
Martí bis Salvador Allende. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 56–67.
35 José Marti: Nuestra América, S. 13.
36 Vgl. hierzu das Unterkapitel ‘Karte Macht Welt’ im vorliegenden Band.
174
Es ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines sorgfältigen Aufbaus, daß noch
im selben Eröffnungssatz dem Rekurs auf die Märchen und Legenden Europas
ein Verweis auf indigene Vorstellungswelten an die Seite gestellt wird, blendet
die Rede vom Kampf der Kometen am Himmel doch indianische Mythen ein,
wie sie Martí wenige Jahre zuvor, in einer Serie von Artikeln des Jahres 1884
– beispielsweise in seinem Text „El hombre antiguo de América y sus artes
primitivas“ – reflektierte.37 Auf diese Weise schuf Martí bereits im incipit seines Essays einen kulturellen (und zugleich literarischen) Raum, der ebenso die
europäisch-abendländische wie die amerikanische Welt einschließlich ihrer
präkolumbischen Kulturen umfaßt. Innerhalb dieses transspatialen und
transtemporalen Spannungsfeldes wird von Martí in einem dritten Schritt dann
das lyrische Schaffen eines Juan de Castellanos (1522–1607) situiert, dessen
Elegías de varones ilustres de Indias (1589) in Nueva Granada entstanden waren und ein Schreiben vor Augen führen, das sich in der humanistischen Tradition des spanischen Siglo de Oro weiß, zugleich aber entstehungsgeschichtlich wie thematisch in den Indias, also im außereuropäischen Raum, verortet
ist. Hieran knüpfen die ebenso umfassenden wie komplexen Ideen (und die
geistigen Schützengräben) des Kubaners José Martí an.
Mit einer beeindruckenden Dichte, die sehr wohl mit der von Lezamas La
expresión americana vergleichbar ist, läßt der 1853 in Havanna geborene modernistische Lyriker, Essayist und Revolutionär einen ungeheuer komplexen
kulturellen und literarischen Verweisungszusammenhang entstehen, der – wie
von Beginn an signalisiert wird – ebenso die abendländische wie die amerikanische Antike einblendet und für das Schreiben in Amerika einen spezifischen
transarealen Ort ausmacht, den Martís Essay selbst konstruiert, verkörpert und
performativ in Szene setzt: Nuestra América, unser Amerika.
Das Epochenbewußtsein, das Martís Text von seinem ersten Abschnitt an
zu entwerfen und zu durchdenken sucht, ist das einer sich rapide und unaufhaltsam beschleunigenden Zeit. Die Siebenmeilenstiefel aus Adelbert von
Chamissos Fiktion können sich unversehens in faktische Soldatenstiefel verwandeln, die eine neue – und für die Niedergetrampelten keineswegs gute –
Weltordnung durchzusetzen suchen. Martís hintergründiges Spiel mit dem Lexem bota (Stiefel) schlägt eine Engführung zwischen einer auf militärischer
Übermacht beruhenden Besetzung und Fremdherrschaft einerseits und einer
globalen Beschleunigung andererseits vor, die aus der gegenwärtigen Perspektive einer vierten Phase beschleunigter Globalisierung durchaus nachvollziehbar ist. Als der amerikanische Denker der Globalität schlechthin wußte
Martí, wovon er sprach.
37 „El hombre antiguo de América y sus artes primitivas“ erschien erstmals im April 1884
ebenfalls in New York, in der Zeitschrift La América. Wieder abgedruckt in José Martí:
Obras Completas. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1975, 28 Bde., hier Bd. 8, S.
332–335. Cintio Vitier hat in seiner kritischen Edition von Nuestra América (S. 27) auf
diese Beziehung aufmerksam gemacht.
175
Die Rede von den Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln deutet auf die für
Martí zeitgenössische, also die dritte Phase beschleunigter Globalisierung hin,
die sich im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts entwickelte und
insbesondere dadurch gekennzeichnet war, daß erstmals neben europäische
Staaten eine außereuropäische Macht, die Vereinigten Staaten von Amerika,
als Impulsgeber der Globalisierung trat.38 Auch wenn diese Tatsache verspätet
ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit rückte, so war sich José Martí durch
seinen langen Aufenthalt im US-amerikanischen Exil doch sehr früh, spätestens in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre, dieser veränderten welthistorischen und weltpolitischen Lage bewußt geworden. Sein Konzept von Nuestra
América trug dieser fundamentalen weltpolitischen Veränderung Rechnung.
Mit dem Jahr 1891 beginnt die letzte Phase in Martís so intensivem, sich
ständig beschleunigenden und hemmungslos verzehrenden Leben. Sie steht im
Zeichen der Vorbereitung der später nach ihm benannten Guerra de Martí, jenem Krieg von 1895, mit dem der kubanische Revolutionär die Frage der Unabhängigkeit Cubas mit seiner Analyse der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Hemisphäre zu verbinden trachtete. Der von ihm wesentlich geplante und vorangetriebene Krieg gegen Spanien suchte gleichsam dem Vordringen der USA mit der kubanischen Independencia einen Riegel vorzuschieben, schuf aber letztlich – so darf man durchaus kritisch anmerken – wider Willen für die neue Macht auf der Bühne der Globalisierung eine ausgezeichnete Gelegenheit, zu einem Zeitpunkt des militärischen Patts zwischen
kubanischen und spanischen Kräften unter einem Vorwand gezielt in die
Kämpfe einzugreifen und die technologische Überlegenheit der eigenen Seestreitkräfte gegen die hoffnungslos unterlegene spanische Flotte vor Santiago
de Cuba und vor den Philippinen auszuspielen.
So hatte der neue unter den Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln,39 vor dem
Martí in seiner Partei-Zeitung oft und eindringlich genug gewarnt hatte, 1898
den ersten transkontinentalen Medienkrieg der Geschichte entfesselt und militärisch konsequent zugeschlagen, um die Reste des einstigen spanischen Weltreiches unter seine Militärstiefel zu bekommen und der eigenen Machtsphäre
einverleiben zu können. Eine der gleich zu Beginn von Nuestra América zum
Ausdruck gebrachten Hoffnungen, noch rechtzeitig diese Expansion verhindern zu können, war damit bereits wenige Jahre später zunichte gemacht:
Die Bäume müssen in Reih’ und Glied treten, damit der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln
nicht hindurch kann! Dies ist die Stunde des Nachprüfens und des vereinten Vorgehens: In
40
dichtgedrängten Reihen müssen wir marschieren, so wie das Silber im Schoß der Anden.
38 Zum Aufstieg dieser neuen Weltmacht vgl. Hans-Ulrich Wehler: Der Aufstieg des
amerikanischen Imperialismus; sowie ders.: Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik.
Bd. I: 1750–1900. Von den englischen Küstenkolonien zur amerikanischen Weltmacht.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974.
39 José Martí: Nuestra América, S. 13.
40 Ebda., S. 14.
176
Martís Analyse erwies sich als ebenso zutreffend wie präzise; ihr aus heutiger
Sicht vorzuwerfen, sie habe den Aus- und Übergriff der USA nicht verhindern
können, wäre angesichts der ungeheuren Wucht der langfristigen militärischen
und wirtschaftlichen Strategie der Vereinigten Staaten gänzlich anachronistisch und unberechtigt. José Martí wußte spätestens seit der Interamerikanischen Konferenz von Washington, an der er aufgrund seiner zahlreichen politischen Aktivitäten im lateinamerikanischen Kontext 1889/1890 offiziell als
Delegierter teilnahm, sehr wohl, daß es mit der Einheit „unseres Amerika“
nicht zum Besten bestellt war und die USA rücksichtsloser denn je ihre hegemonialen Ziele verfolgen würden. Niemand reflektierte tiefgründiger als der
im US-amerikanischen Exil lebende kubanische Intellektuelle, der in den Vereinigten Staaten zeitweise als Konsul die Interessen Argentiniens und Paraguays sowie als Delegierter der Comisión Monetaria Internacional Americana
jene Uruguays wahrnahm, mit welcher Geschwindigkeit sich die weltpolitische Situation in jenen Jahren veränderte.
Mit ihrem Eingreifen von 1898 in den kubanisch-spanischen Krieg lösten
die USA jene europäische Macht ab, die zusammen mit Portugal so unangefochten die erste Phase beschleunigter Globalisierung beherrscht hatte. Spanien hatte im Zeitraum zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16.
Jahrhunderts nicht nur die militärischen, politischen und wirtschaftlichen, sondern auch die mentalitätsgeschichtlich relevanten Asymmetrien gewiß vorgeprägt; doch im Vergleich zu den aufstrebenden USA war das Land im ökonomischen wie im militärischen Sinne aber nur noch ein Schatten seiner selbst.
Martí war sich dieser Asymmetrien und der längst zweitrangigen Bedeutung,
welche den romanisch geprägten Ländern (nicht zuletzt nach der Niederlage
der panlatinistischen Führungsmacht Frankreich gegen die Militärmaschinerie
Preußens) im Konzert der Weltmächte zukam, längst bewußt geworden und
hatte aus diesem neuen Weltbewußtsein seine strategischen Konsequenzen gezogen.
Es überrascht daher nicht, daß der kubanische Dichter in seinem Essay
wiederholt die beiden vorgängigen Phasen beschleunigter Globalisierung in ihren direkten Auswirkungen auf die Völker Amerikas einblendete. Drei Jahrhunderte lang, so der Vordenker der kubanischen Unabhängigkeit, habe Amerika unter dem Befehl eines „despotischen und tückischen Kolonisators“ Gestanden.41 Denn hatte die zweite Phase beschleunigter Globalisierung für die
Bewohner des spanischen Amerika letztlich auch den Weg in die Unabhängigkeit geebnet, indem sie ein an der Vernunft orientiertes Denken und
Handeln dank des „importierten Buches“42 vorbereitete, so überwogen für
Martí aus gesamtamerikanischer Sicht doch die Kontinuitäten der Abhängigkeit: „Die Kolonie lebte in der Republik weiter“ – La colonia continuó viviendo en la república43.
41 José Martí: Nuestra América, S. 19.
42 Ebda., S. 16.
43 Ebda., S. 20.
177
Zwar sah Martí bereits ein anderes Amerika sich abzeichnen – „und unser
Amerika rettet sich bereits aus seinen großen Irrtümern“44 –, doch wußte er nur
zu gut, in welch starkem Maße die aus der Kolonialzeit ererbten und in der Independencia mitgeschleppten Probleme fortbestanden: Der sich weiterhin verschärfende Gegensatz zwischen Stadt und Land, die unveränderte Verachtung
gegenüber der „Rasse der Ureinwohner“ (raza aborigen)45 sowie der „exzessive Import fremder Ideen und Formeln“46 bildeten aus seiner Sicht die größten strukturellen Hindernisse für eine eigenständige Modernisierung, die ohne
Wenn und Aber den Menschen ins Zentrum allen ethisch begründeten politischen Handelns stellen sollte. Für die Länder von Nuestra América sollte sich
selbstbewußt eine eigene Moderne eröffnen, die sich auch von jener Moderne
unterscheiden sollte, die der kubanische Exilant in den USA auf den unterschiedlichsten Ebenen hautnah in all ihren Absichten und ihren Verheißungen,
aber auch in ihren Verfehlungen und Abgründen kennengelernt hatte. José
Martís Verständnis des Modernismo zielte keineswegs nur auf einen eigenen
Weg zum Idealbild der Moderne ab, sondern implizierte die Entfaltung dessen,
was wir als divergierende Moderne bezeichnen dürfen. Aus diesem Divergieren und Differieren ergaben sich für ihn sehr wohl die neuen Möglichkeiten
für ein Zusammenleben in Frieden und in Differenz.
Einfach aus Europa importierte und übernommene Ideen aber – dies hatte
Martí schon am Ende des ersten Abschnitts seines Essays betont – galt es kreativ anzupassen und zu verändern, wollte man in der dritten, nun wesentlich
von den USA mitgeprägten Phase der Globalisierung mit eigenem Recht und
mit eigenem Gewicht bestehen. Denn auch und gerade auf dem Gebiet der
Ideen und Vorstellungen war Transfer ohne Transformation nicht denkbar.
Zugleich aber bildete die Fülle zirkulierender Ideen und Modelle, die in
dieser Phase beschleunigter Globalisierung in Umlauf gesetzt wurde und die
Martí so sehr beeindruckte, auch die Falle der Globalisierung, solange dem
Transfer nicht die Transformation folgte. Ein einziges Modell, eine einzige
Logik, die von Europa oder den USA aus mit universalem Anspruch über das
Gitternetz des gesamten Planeten verbreitet würde, konnte es für den Autor
von Nuestra América nicht geben. In diese Falle durfte ‘sein’ Amerika nicht
tappen, das – die erste Person Plural von Nuestra deutet es an – ein Amerika
der Vielfalt und der Fülle sein sollte.
Seine eigene Position als Mensch, der sich für (marginalisierte) Menschen
einsetzt, war ihm dabei jenseits jeglicher Ehrsucht stets als ethische Leitlinie
gegenwärtig. So schrieb er in einem Brief aus New York am 7. Juli 1894 an
José Dolores Poyo:
Die einzige wahrhaftige Herrlichkeit des Menschen – wenn ein wenig Ruhm in der Zusammensetzung eines so weiten Werkes wie der Welt überhaupt etwas wäre – bestünde in
44 Ebda.
45 Ebda.
46 Ebda.
178
der Summe an Hilfestellungen, die er über seine eigene Person hinweg den Anderen zugute
kommen ließ. [...] Ich bin kein sitzender Mensch mehr: Ich war es noch nie: und weniger
noch, wo wir jetzt im Begriffe stehen, die Ernte für unsere Geduld und Weitsicht einzufahren: heute also weniger denn je.47
Europäische und amerikanische Antike
Im Zentrum der von José Martí angestrebten fundamentalen und langfristigen
Veränderungen stehen die Ideen, steht das Wissen in Form von Kenntnis und
Erkenntnis:
Erkennen heißt lösen. Das Land kennenzulernen und gemäß dieser Kenntnis zu regieren ist
die einzige Möglichkeit, es von Tyranneien zu befreien. Die europäische Universität muß
der amerikanischen weichen. Die Geschichte Amerikas von den Inkas bis heute muß in allen Einzelheiten vermittelt werden, auch wenn man dabei auf die Geschichte der griechischen Archonten verzichten müßte. Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzuziehen,
das nicht das unsere ist. Für uns ist es von größerer Notwendigkeit. Den Interessen der Nation verpflichtete Politiker müssen die am Ausland orientierten ersetzen. Möge man ruhig
die Welt unseren Republiken aufpfropfen – der Stamm aber muß der unserer Republiken
sein. Und möge der Besserwisser schweigen, er ist besiegt: Auf kein Vaterland kann ein
Mensch stolzer sein als auf unsere schmerzensreichen Republiken Amerikas.48
Diese Passage zeigt in ihrer durchaus widersprüchlichen Anlage vielleicht am
deutlichsten den Entwurf und die Vision, aber auch manche Grenzen und Gefahren des Martíschen Konzepts von Nuestra América auf. Denn höchst innovativ zielt hier José Martí auf eine grundlegende Veränderung des Bildungswesens in den Ländern „unseres Amerika“ ab, indem er die Zukunft dieser
Länder durch eine veränderte Sichtweise ihrer Herkunft umzugestalten versucht. In einer der für den Martíschen Stil so charakteristischen Wendungen
stellt er die präkolumbische Vergangenheit in der Formel nuestra Grecia zunächst auf dieselbe Stufe mit dem antiken Griechenland, reklamiert folglich
für die indianische ‘Antike’ ein vergleichbares Prestige, einen vergleichbaren
Status wie den der abendländischen Antike. Damit greift er ebenso selbstbewußt wie weltbewußt das Rückgrat einer Geschichtskonzeption an, die jegliche zivilisatorische Entwicklung auf die abendländische Antike, auf das östliche Mittelmeer, zurückführt.
In nuce findet sich diese Vorstellung bereits in den frühen Reaktionen auf
die Conquista weiter Teile Amerikas in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, hatte doch schon der 1539 in Cuzco geborene und 1616 im spanischen Córdoba verstorbene Garcilaso de la Vega el Inca in einer berühmten
Wendung gleich im ‘Vorwort an den Leser’ seiner Comentarios reales betont,
47 José Martí: A José Dolores Poyo. In: ders.: Obras Completas, Bd. 3, S. 226.
48 José Martí: Nuestra América, S. 17 f.
179
daß seine Geburtsstadt zu Zeiten der Incas „ein anderes Rom in jenem Reiche
(otra Roma en aquel imperio)“49 gewesen sei.
Ähnlich stellt auch bereits der Titel der 1780 im italienischen Exil und in
italienischer Übersetzung erschienenen Historia antigua de México, deren
Verfasser der 1731 im neuspanischen Veracruz geborene Francisco Javier
Clavijero war, im bereits ausführlich besprochenen „Disput um die Neue
Welt“50, der während der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung mit
größter Vehemenz geführt wurde, unübersehbar die tendenzielle Gleichrangigkeit zwischen einer europäischen und einer „mexikanischen“ und damit
amerikanischen Antike klar heraus. Die dem umfangreichen Werk vorangestellte kritische Durchsicht all jener Autoren, die seit dem 16. Jahrhundert
über die präkolumbische Vergangenheit Anáhuacs gearbeitet hatten, verdeutlicht überdies, wie sehr es Clavijero darum zu tun war, die Bedeutung der vorkolonialen Geschichte zu beleuchten und den oftmals irreführenden europäischen Ansichten jene Forschungen entgegenzustellen, die vor Ort und in
Kenntnis der indigenen Zeugnisse und Dokumente angestellt worden waren.51
José Martí konnte auf diesem Gebiet folglich auf eine lange Tradition der
Auseinandersetzung zurückgreifen, die freilich an der scharfen Asymmetrie
zwischen der ungleichen Wertschätzung altweltlicher und neuweltlicher Geschichte nur wenig verändert hatte. Wie konnte mit dieser Tradition der Inferiorisierung amerikanischer Geschichte gebrochen werden? Und wie ließ sich
damit letztlich die Konzeption einer divergierenden Moderne des nicht-angelsächsischen Amerika begründen?
In Nuestra América unternahm José Martí entschlossen den Versuch, mehr
als ein Jahrhundert nach Clavijero die Konsequenzen aus dieser lang anhaltenden Debatte um das Verhältnis von Alter und Neuer Welt zu ziehen. Er forderte nun ganz offen eine Neuorientierung des Geschichtsverständnisses wie
des Geschichtsunterrichts in Amerika am Wissen von den präkolumbischen
Kulturen – und dies bis hin zu einem Verzicht auf die Berücksichtigung aller
Aspekte jenes Griechenlands, das „nicht das unsere ist“. Die Radikalität dieser
Position ist deutlich erkennbar, gehorcht sicherlich auch den Notwendigkeiten
der unumgänglichen polemischen Zuspitzung von Argumenten innerhalb
höchst umstrittener Bildungskonzeptionen, wirft aber eine Vielzahl kulturtheoretischer und identitätspolitischer Probleme auf, die hier keineswegs verschwiegen seien.
In seinem bereits erwähnten Artikel für La América hob José Martí im
April 1884 die Tatsache hervor, welch einen ungeheuren kulturellen Verlust,
welch ein „historisches Unglück“ und welch ein „Verbrechen an der Natur“
die Conquista einst mit sich gebracht habe: „Die Eroberer raubten dem Uni49 Garcilaso de la Vega el Inca: Comentarios reales de los Incas. Ed. al cuidado de César Pacheco Vélez. Lima: Biblioteca Peruana 1985, S. 4.
50 Vgl. hierzu auch Antonello Gerbi: La disputa del nuovo mondo. Storia di una polemica:
1750–1900.
51 Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. xxv-xxxvii.
180
versum eine Seite!“52 Dabei versuchte der kubanische Denker, den indigenen
Kulturen einen Platz einzuräumen, der nicht hinter den kulturellen Entwicklungen der Alten Welt zurückstünde:
Nicht mit der Schönheit von Tetzcontzingo, Copán und Quiiguá, nicht mit dem verschwenderischen Reichtum von Uxmal und Mitla sind die ungestalten Dolmen Galliens oder die
rauhen Zeichnungen geformt, mit denen die Normannen von ihren Reisen erzählen; ebenso
wenig die vagen, unentschlossenen, schüchternen Linien, mit denen selbst die erleuchteten
Völker im Süden Italiens den Menschen der elementaren Zeitalter malten. Was ist die Intelligenz der Amerikaner anderes als ein zur Sonne hin geöffneter Kelch, als spezielle
Gunst der Natur? Manche Völker suchen, wie die Germanen; andere bauen, wie die Sachsen; andere verstehen, wie die Franzosen; wieder andere malen farbig aus, wie die Italiener;
allein dem Menschen in Amerika ist es gegeben, in solchem Maße die sichere Idee in
leichten, strahlenden und wunderbaren Schmuck zu hüllen, als wäre dies ihre natürliche
Kleidung.53
Die Einforderung der Anerkennung einer gleichrangigen, ja teilweise überlegenen Stellung für die präkolumbischen amerikanischen Völker im Vergleich
mit der Entwicklung bestimmter europäischer Stämme und ‘Nationen’ zielt
zweifellos auf die grundlegende Infragestellung eines an der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Völker Europas ausgerichteten Bewertungsschemas ab.
1884 führte der kubanische Autor in einer ganzen Serie von Artikeln eine gegenüber traditionell eurozentrischen Darstellungen dezidiert kritische Blickrichtung ein, die zugleich dokumentiert, wie sehr ihn die unterschiedlichen
amerikanischen Kulturen faszinierten.
Doch wenn Martí auch zuvor die Vielfalt der präkolumbischen Kulturen
und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – also das zeitgleiche Vorkommen höchst unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen54 betonte, so zögerte er doch nicht, eine ‘Amerikanizität’ herauszudestillieren, die er den unterschiedlichen – aber jeweils hochgradig stereotyp dargestellten – europäischen Nationen entgegenstellte. In seiner Schlußpassage, in welcher er von
den später in Nuestra América gleich zu Anfang eingeblendeten „stolzen Kometen“ (cometas orgullosos) sprach, hob Martí hervor, die indianischen Völker hätten anders als die Hebräer nicht „die Frau aus einem Knochen und den
Mann aus Schlamm geformt“ imaginiert: „Sondern beide zum selben Zeitpunkt aus dem Samen der Palme geboren!“55. Der in Cuba zur Welt gekommene Sohn eines valencianischen Vaters und einer kanarischen Mutter hatte
die strategische Relevanz einer Umdeutung, ja einer Umwertung der präkolonialen Vergangenheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt: Die andere (oder
anders konstruierte) Herkunft erlaubte eine andere (oder anders zu konzipierende) Zukunft für ‘sein’ Amerika.
52 José Martí: El hombre antiguo de América y sus artes primitivas. In: ders.: Obras
Completas, Bd. 8, S. 335.
53 Ebda., S. 334 f.
54 Ebda., S. 333.
55 Ebda., S. 335.
181
In der seinen Artikel abschließenden Wendung, in der die Schlußpassage
von Nuestra América bereits anklingt, läßt sich erneut eine gegenüber eurozentrischen Vorstellungen höchst kritische Position ausmachen, die in ihrem
scharf konturierten Antagonismus freilich die Gefahr eines kulturellen Schematismus und Essentialismus in sich birgt. Diese im übrigen oft bei Martí beobachtbare Neigung bestätigt und verfestigt sich auch knapp sieben Jahre später in Nuestra América, haben wir es doch auch in der bereits angeführten Passage mit einer Gegenüberstellung zwischen einem ‘eigenen’ und einem
‘fremden’ Griechenland zu tun, die allzu leicht den Blick dafür verstellt, daß
das kulturelle Erbe der Bewohner dieses Amerika – wie der Kreole sehr wohl
wissen mußte – an beiden Griechenlands, an beiden Antiken partizipiert.
José Martí hat gleichwohl den Finger in die Wunde postkolonialer Exklusionsmechanismen gelegt und versucht, die „Abwesenheit“ der indigenen Bevölkerung ebenso im politischen und sozialen Leben wie im Selbstbild und
Selbstverständnis der im 19. Jahrhundert unabhängig gewordenen hispanoamerikanischen Republiken zu thematisieren und zu problematisieren. Denn
anders als „das Amerika des Nordens, das seine Indianer in Blut ertränkt“,
müsse sich „unser Amerika“ gegenüber seiner indigenen Bevölkerung grundsätzlich anders verhalten: „Es muß sich mit seinen Indianern retten“56.
Damit verteidigt Martí nicht nur eine amerikanische gegenüber einer europäischen Antike, sondern grenzt sein ‘eigenes’ Amerika deutlich gegenüber
den Vereinigten Staaten ab, die an ihrer indianischen Bevölkerung ein Genozid verübt hätten. So wird ein verändertes Bild der präkolumbischen Vergangenheit im Verbund mit einer erwünschten integrativen Indianerpolitik in Gegenwart und Zukunft für Martí zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer eigenen Moderne, die sich weder am europäischen noch am US-amerikanischen
Modell zu orientieren brauche. Diese doppelte Frontstellung hat freilich Konsequenzen.
Inklusionen, Exklusionen und die beiden Amerikas
Von Beginn an läßt sich in José Martís Nuestra América eine Opposition zwischen „unserem Amerika“ und dem „Amerika des Nordens“ beobachten, eine
Gegenüberstellung, die überdies im Zeichen einer sich abzeichnenden und
schon bald bevorstehenden Auseinandersetzung steht.57 Martís Plädoyer, die
unterschiedlichsten Staaten und Völker „unseres Amerika“ müßten sich möglichst rasch zu einer kompakten Einheit verbinden „so wie all jene, die gemeinsam kämpfen werden“58, zieht die Lehren aus der Erfahrung der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung, als ein militärtechnisch überlegener
Feind bei seiner Eroberung so weiter Gebiete von der Uneinigkeit und Zer-
56 José Martí: Nuestra América, S. 15.
57 Ebda., S. 13 f.
58 Ebda., S. 13.
182
strittenheit der indianischen Völker Amerikas profitierte – ein Gedanke, der
sich wiederholt auch in Clavijeros Historia antigua de México finden läßt.59
Die aus der Binnensicht der USA wahrgenommene beschleunigte Globalisierung seiner Zeit hatte ganz offenkundig Martís Bewußtsein dafür geschärft,
daß ethnische und kulturelle Heterogenität und daraus resultierende mangelnde
Geschlossenheit einem entschlossenen Gegner Tür und Tor für eine Beherrschung der gesamten Hemisphäre öffnen würden. Dies aber galt es zu verhindern, sollte der Aufbau einer politisch unabhängigen und ethisch fundierten, an
den Bedürfnissen aller Bürger ausgerichteten menschlicheren Gesellschaft –
deren Bild in den Martíschen Schriften der achtziger und frühen neunziger
Jahre immer wieder als Leitidee erscheint – nicht schon im Keim erstickt werden. Die Herstellung einer fundamentalen Einheit und eines unerschütterlichen
Zusammenhalts in „unserem Amerika“ erschien daher als unabdingbar.
Die Reflexion darüber, daß sich die neuen Republiken Amerikas aus „so
zergliederten Faktoren“60 zusammensetzen, durchzieht folglich leitmotivartig
den gesamten Essay von 1891. Martí zufolge war es auch jenen Vorstellungen,
die von der antikolonialen Unabhängigkeitsrevolution in den USA und der
politischen Revolution in Frankreich stammten, auf Grund ihrer nicht an den
spezifischen Verhältnissen in „unserem Amerika“ ausgerichteten Methoden
nicht möglich gewesen, die auseinander strebenden Komponenten von Gesellschaften wieder zusammenzuführen, die – wie wir heute in der noch dominanten Metaphorik sagen könnten – von einer hochgradigen kulturellen
Hybridität61 geprägt blieben.
So leide Amerika – und der Begriff steht seit dem angeführten incipit häufig für das, was Martí als „unser mestizisches Amerika“ (nuestra América
mestiza)62 bezeichnete – unter der „Ermüdung bei der Anpassung zwischen
den auseinander strebenden und feindlichen Elementen, die es von einem despotischen und tückischen Kolonisator ererbte, und den importierten Ideen und
Formen“63. Wie in einem Kaleidoskop bilden sich in Martís Nuestra América
immer wieder neue Bilder des durch verschiedene Globalisierungsphasen akkumulierten Kolonial-Hybrids:
59 Vgl. Francisco Javier Clavijero: Historia antigua de México, S. 65: Das Ergebnis interner
Auseinandersetzungen und Zwistigkeiten sei stets die ruina común, der „gemeinsame
Ruin“.
60 José Martí: Nuestra América, S. 15.
61 Vgl. hierzu Néstor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de
la modernidad. México: Grijalbo/Consejo Nacional para la Cultura y las Artes 1990;
sowie Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius u.a. (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur
anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997. Zur
epistemologischen Tragweite der hier implizierten Metaphoriken vgl. neuerdings Uwe
Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2011.
62 José Martí: Nuestra América, S. 19.
63 Ebda.
183
Wir waren eine Vision: die Brust eines Athleten, die Hände eines Gecken und die Stirn eines Kindes. Wir waren eine Maske: Kniehosen aus England, Weste aus Paris, Sakko aus
Nordamerika und Stierkämpfermütze aus Spanien. Der Indio ging stumm um uns herum;
dann ging er hoch zum Berg, zur Spitze des Berges, um seine Kinder zu taufen. Der
Schwarze sang, von oben beobachtet, in der Nacht die Musik seines Herzens, allein und
unbekannt, zwischen Wellen und wilden Tieren. Der Bauer, der Schöpfer, wandte sich,
blind vor Empörung, gegen die verächtliche Stadt, gegen sein Geschöpf. Wir waren Epauletten und Togen, in Ländern, die mit Hanfschuhen an den Füßen und Stirnband im Haar
auf die Welt kamen.64
Was aber konnte einer solchen Vision entgegengesetzt werden? Gegen diese
Körper- und Kleidermetaphorik des Hybriden und Heterogenen stellte Martí
eine Metaphorik der Einschmelzung, der Fusion und des mestizaje, die an der
Schaffung einheitlicher Strukturen und Erscheinungsformen ausgerichtet war.
Dabei ist von Beginn an ein Diskurs der Ausschließung beobachtbar, der alle
betrifft, die sich innerhalb der traditionellen beziehungsweise bisherigen Eliten
diesem von Martí entworfenen Gegenbild Amerikas widersetzen könnten, ein
Ausschließungsdiskurs, der mitunter gewalttätige Bilder erzeugt: „Man muß
die Schiffe mit diesen schädlichen Insekten beladen, die noch die Knochen des
Vaterlandes anfressen, das sie doch ernährt.“65
Diesem Exklusionsdiskurs wird ein Inklusionsdiskurs gegenübergestellt,
der die vom Denken des Humanismus deutlich geprägte Notwendigkeit betont,
bisherige soziale Randgruppen wie die indigene oder die schwarze Bevölkerung, aber auch die Bauernschaft in ein grundlegend reformiertes und weder
am „europäischen Buch“ noch am „Yankee-Buch“66 orientiertes Staatswesen
zu integrieren. Ähnlich, wie José Enrique Rodó dies wenige Jahre später in
seinem Ariel tun sollte, setzt José Martí seine ganzen Hoffnungen auf die Jugend Amerikas, deren Losungswort nicht mehr imitar, sondern vielmehr crear
sei.67 Kritik sei jederzeit erlaubt, denn Kritik sei unverzichtbar: „aber mit einer
einzigen Brust und einem einzigen Geist“68.
José Martís amerikanisches Moderne-Projekt von Nuestra América versucht, in der beiderseitigen Abgrenzung gegenüber dem europäischen wie dem
US-amerikanischen Buch einen eigenen Raum zu schaffen, der historisch von
einer hochgradigen Zerrissenheit, zugleich aber von einer künftig zu schaffenden Einheit und Eigenständigkeit geprägt ist. Von diesem so definierten Raum
aus entwickelt Martí einen neuen Amerika-Diskurs, der im Schlußteil von
Nuestra América unübersehbar den Gegensatz zu den USA – „die Differenz
von Ursprüngen, Methoden und Interessen zwischen den beiden kontinentalen
Faktoren“69 – weiter akzentuiert. Eine hemisphärische Konstruktion entsteht,
64
65
66
67
68
69
Ebda., S. 21.
Ebda., S. 14.
Ebda., S. 21.
Ebda., S. 22.
Ebda.
Ebda., S. 23.
184
die Amerika freilich nicht als einen von stabilen Gegensätzen zwischen Norden und Süden geprägten Kontinent skizziert, sondern es als dynamischen
Bewegungs-Raum begreift, innerhalb dessen sich ein unmittelbar bevorstehendes, aber vielleicht noch rechtzeitig abwendbares Ausgreifen der Vereinigten Staaten nach Süden – und zuallererst in die Karibik, nach Cuba, das
man immer wieder Spanien abzukaufen versuchte – abzeichne.
Der „Tag des Besuches“ – el día de la visita70 – sei nahe, und es gelte,
möglichst rasch dem von einem militärischen, ökonomischen und politischen
Superioritätsdenken erfaßten Nachbarn im Norden ein einheitliches Bild von
nuestra América (das „einig in Seele und Absicht“71 sei) zu präsentieren und
entgegenzustellen. Martí versucht, im Verlauf seines Essays mit diskursiven
Mitteln jene „Schützengräben aus Ideen“ zu errichten, die er gleich in seinem
incipit so vehement eingefordert hatte.72
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß José Martí die weltpolitischen
Dimensionen der von ihm selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachteten Veränderungen zutreffend beurteilte und verstand, in welchem
Maße die von ihm so häufig hervorgehobene Erfahrung der Beschleunigung
enorme Verschiebungen auf dem amerikanischen Kontinent mit sich bringen
mußte. Seine hemisphärische Konstruktion Amerikas trug dieser Beschleunigung, trug diesen Veränderungen Rechnung. Bereits in einer auf den 12. November 1881 datierten und am 26. November desselben Jahres unter dem
Pseudonym „M. de Z.“ in La Opinión Nacional in Caracas veröffentlichten
Chronik betonte Martí: „In unseren Zeiten zu leben erzeugt ein Schwindelgefühl.“73 Wer heutzutage auf seinem Weg innehalte, gleichviel, ob es sich „um
ein Volk oder um einen Menschen“ handelt, werde einfach zu Boden geworfen.74 Nichts vermag sich dieser velociferischen Beschleunigung entziehen.
Martís Chroniken für verschiedene Periodika des spanischsprachigen
Amerika hielten immer wieder künstlerisch verdichtete, gleichsam atemlos
wirkende Bilder dieser rasanten Entwicklung fest, die der Kubaner mit
anfänglicher Bewunderung, bald aber schon mit zunehmender Ambivalenz
gegenüber den USA entwarf. Aus seiner privilegierten New Yorker
Perspektive gelangte er schon früh zu dem Schluß, längst sei aus der GeldAristokratie eine politische Aristokratie geworden, die über Zeitungen und
Zeitschriften gebiete, nach Belieben die Wahlen gewinne und sich
unverfroren des „heiligen Buches des Vaterlandes“ bemächtigt habe.75 Die
Worte Martís, der als Auslandskorrespondent für die einflußreichsten
Zeitungen der spanischsprachigen Welt Amerikas schrieb und nicht umsonst
70
71
72
73
74
75
Ebda., S. 24.
Ebda.
Ebda., S. 13.
José Martí: Carta de Nueva York. In: ders.: Obras Completas, Bd. 9, S. 105.
Ebda.
Ebda., S. 108.
185
1888 zum Repräsentanten des argentinischen Presseverbandes Asociación de
la Prensa in den USA und Canada ernannt wurde, hatten Gewicht.
Seit diesem Zeitpunkt finden sich in Martís Berichten aus den USA immer
wieder explizite wie implizite Hinweise auf nicht selten dramatische Beschleunigungsphänomene, die die unterschiedlichsten Bereiche der US-amerikanischen Gesellschaft, aber auch die private Lebensführung grundlegend verändert hätten. So hieß es in einer am 17. Februar 1886 in La Nación in Buenos
Aires veröffentlichten Chronik: „Hier hat man kaum Zeit, um zu leben.“76
Mehr noch als selbst in Paris seien alle und alles von einer Neurose erfaßt:
„Niemand schläft, niemand wacht auf, niemand sitzt: Alles ist Galopp, Wegrennen, Belagern, krachendes Fallen, eminentes Triumphieren“77. Martís
wohlkalkulierte Sätze selbst sind dieser atemlosen Beschleunigung ausgesetzt,
die sie sinnlich erlebbar und nacherlebbar machen.
Parallel zu den sich rasch verändernden Lebensbedingungen und den damit
verbundenen künstlerischen Ausdrucksformen wies Martí aber auch warnend
auf die in aller Öffentlichkeit diskutierten Überlegungen der politischen
‘Aristokratie’ in den USA hin, in Zentralamerika eine interozeanische Kanalverbindung zu schaffen78 und möglichst schnell eine schlagkräftige Kriegsflotte aufzubauen, um die Interessen der USA gegenüber anderen Nationen wo
nötig mit Gewalt durchsetzen zu können.79 Bereits im Gründungsjahr des Modernismo, in einer auf New York am 15. Juli 1882 datierten Chronik für La
Nación in Buenos Aires hatte Martí seine Leser darauf aufmerksam gemacht,
daß sich im US-Kongreß eine veränderte Politik abzeichne, die mit Blick auf
Südamerika, aber auch auf rivalisierende europäische Mächte auf den raschen
Aufbau und Ausbau einer technologisch überlegenen Kriegsflotte setze:
Zusätzlich führen die Republikaner ins Feld, diese Nation sei bereits in ihr Erwachsenenalter eingetreten, so wie Südamerika nun definitiv etabliert sei: Im Sinne der Notwendigkeiten eigener Expansion benötige das Land daher große Geldmittel, um binnen kurzer Zeit
ein großes Heer ausheben und eine furchterregende Armada schaffen zu können. Sie führen
ins Feld, daß es zu einem Krieg mit England, der großen Seemacht, kommen könne, weil
man die Oberhoheit über den Kanal von Panamá anstrebe oder weil man das weitere Anwachsen der englischen Macht in Amerika verhindern müsse. Und der befremdliche Fall ist
eingetreten, daß der Kongreß auf Antrag und hartnäckiges Nachhaken jenes Marineministers eine überwältigende Summe für die Aufrüstung der Armada bereitstellte, der schon zur
Zeit von Grant mit verwirrten, unnötigen oder völlig ungeklärt gebliebenen Gesten mehrere
Hundert Millionen locker machte.80
Seit diesem Zeitpunkt verfolgte der kubanische Korrespondent und Essayist
mit großer Aufmerksamkeit und wachsender Beunruhigung die weitere Aufrüstung jener Kriegsflotte, die 1898 – wie bereits gesehen – die spanische
76
77
78
79
80
José Martí: De Año Nuevo. In: ders.: Obras Completas, Bd. 10, S. 363.
Ebda.
Ebda., S. 365 f.
Ebda., S. 366.
José Martí: Carta de los Estados Unidos. In: ders.: Obras Completas, Bd. 9, S. 325 f.
186
Flotte sowohl in der Karibik vor Santiago de Cuba als auch im Pazifik vor
Manila dank der technischen Überlegenheit ihrer Panzerkreuzer mit Leichtigkeit ausschaltete und im Meer versenkte. Martí war sich sehr früh der großen
Gegensätze zwischen „den beiden kontinentalen Faktoren“81 bewußt geworden und zweifelte nicht an einer gewaltsamen Expansion der USA im kontinental-hemisphärischen wie im transkontinentalen Maßstab. Früh begriff er,
daß mit den Vereinigten Staaten von Amerika erstmals ein außereuropäischer
Faktor die Entwicklungen zunächst auf dem amerikanischen Kontinent, bald
aber auch im globalen Kontext wesentlich mitbestimmen würde. Aber: Was
tun?
Denn es fiel ihm keineswegs allein in seinen journalistischen Texten zunehmend schwerer, angesichts der nicht nur verbalen, sondern auch militärischen Aufrüstung in den Vereinigten Staaten noch jene Werte zu erkennen,
für welche die auch von ihm bewunderten Gründerväter der US-amerikanischen Demokratie einst eingetreten waren. War den Vereinigten Staaten von
Amerika noch zu trauen? Oder mußte man diesem aufstrebenden Land bald
militärische Übergriffe im Bewußtsein eigener Überlegenheit zutrauen? Und
wie könnten im Wettrennen der Mächte um globale Einflußsphären und Absatzmärkte unterschiedlichste Formen einer rücksichtslosen Expansionspolitik
von seiten der USA aus lateinamerikanischer Sicht noch verhindert werden?
Die zunehmend dringlicher in seinen Chroniken wie in seinen Briefen geäußerte Einsicht, daß die von ihm beobachtete Beschleunigung sich nicht auf
den nationalen Raum der USA beschränken, sondern rasch auch auf der weltpolitischen Ebene tiefgreifende soziale, politische und wirtschaftliche, aber
auch kulturelle und nicht zuletzt militärische Konsequenzen zeitigen würde,
blieb zunächst noch weitgehend unbeachtet. Immer notwendiger erschien
dem kubanischen Dichter und Revolutionär dabei die Klärung einer vielleicht
idealistisch wirkenden Frage: Welche Werte konnten einer derartigen Entwicklung auf dem amerikanischen Kontinent, aber auch im globalen Maßstab
entgegengesetzt werden?
Nuestra América ist im Verbund mit anderen Schriften Martís der anspruchsvolle Versuch, auf die massiven Indizien für eine neue Phase beschleunigter Globalisierung, an der die USA und damit der gesamte amerikanische Kontinent in aktiver Weise beteiligt waren, eine ebenso kompetente
wie programmatische Antwort zu geben. In seinem berühmten, unvollendet
gebliebenen Brief vom 18. Mai 1895 aus Dos Ríos schrieb José Martí einen
Tag vor seinem Tod an Manuel Mercado, er habe es – über das Ziel der
Schaffung einer kubanischen Nation hinaus – für seine Pflicht gehalten, „mit
der Unabhängigkeit Cubas rechtzeitig zu verhindern, daß sich die Vereinigten
Staaten über die Antillen ausbreiten und, um diese Kraft vermehrt, über die
Länder Amerikas herfallen. Alles, was ich bis heute tat und was ich noch tun
werde, zielt darauf ab.“82
81 José Martí: Nuestra América, S. 23.
82 José Martí: A Manuel Mercado. In: ders.: Obras Completas, Bd. 4, S. 167.
187
Von der Pluralität der Modernen und den Wegen
zu einem amerikanischen Humanismus
Keiner der anderen hispanoamerikanischen Modernisten hat mit einer vergleichbaren Weitsicht die unterschiedlichsten Phänomene weltweiter Akzeleration und die sich daraus ableitenden Konsequenzen für die politische oder
soziale wie für die kulturelle oder literarische Entwicklung erkannt wie José
Martí. Seine Reaktion auf diese Beschleunigung und ein sich veränderndes
Machtgefüge in den USA bestand nicht nur in der Beschleunigung aller Vorbereitungen, um den Krieg gegen die alte Kolonialmacht Spanien nach Cuba
tragen zu können, sondern gerade auch in seinem Versuch, die ihm in New
York zugänglichen Informationen auszuwerten, neue Kanäle für die Zirkulation des Wissens zu schaffen und vor allem einen neuartigen Amerika-Diskurs
zu entwickeln. Weder Rubén Darío noch José Enrique Rodó, aber auch kein
anderer der großen Denker der spanischsprachigen Welt wie Miguel de Unamuno, José Ortega y Gasset oder sein philippinischer Zeitgenosse José Rizal
haben die Phänomene der zeitgenössischen Globalisierung mit solcher Klarheit erkannt und analysiert wie der rastlose Poeta en Nueva York, wie der kubanische Dichter im New Yorker Exil.
Immer wieder wurde insbesondere innerhalb der inselkubanischen MartíRezeption von einem Humanismus gesprochen, der den Stempel des Pragmatischen trage, einer individuellen wie kollektiven Praxis als Reaktion auf sich
rasch verändernde Umstände. So formulierte der bereits erwähnte kubanische
Philosoph Pablo Guadarrama schon 1994:
Der Martísche Humanismus ist nicht – wie man dies bisweilen von Philosophen erwartet –
von abstrakten Formulierungen gekennzeichnet, sondern ist ein konkreter, revolutionärer,
vor allem praktischer Humanismus, weil er dazu gemacht ist, den Menschen in seinen
Verhältnissen zu transformieren und die Verhältnisse, die den Menschen bedingen, selbst
zu transformieren.83
Diese Position, in welcher mit guten Gründen der stark pragmatische – und
weniger philosophisch-systematische – Charakter des Martíschen Humanismusverständnisses betont wird, hat Guadarrama in seinem 2003 erschienenen
Band José Martí und der Humanismus in Lateinamerika noch weiter ausgeführt und zugleich politisch-ideologisch untersetzt:
Nicht simple Philantrophie oder Barmherzigkeit beleben seinen praktischen Humanismus,
sondern die feste Überzeugung, daß der Mensch aus eigenem Recht eine vollumfänglich
würdevolle Existenz braucht, so wie dies Martí bei anderen Gelegenheiten einforderte und
83 Pablo Guadarrama González: Humanismo práctico y desalienación en José Martí. In:
Ottmar Ette/Titus Heydenreich (Hg.): José Martí 1895/1995. Literatura – Política –
Filosofía – Estética. 10° coloquio interdisciplinario de la Sección Latinoamérica del
Instituto Central (06) de la Universidad de Erlangen-Nürnberg. Frankfurt am Main:
Vervuert Verlag 1994, S. 34 f.
188
sich zur Aufgabe in einer künftigen kubanischen Republik machte, ein Prinzip, das in der
Verfassung wie in der gesellschaftspolitischen Praxis im heutigen Cuba verwirklicht ist.84
Einer derart ‘dienenden’ Sichtweise eines ‘revolutionären’ Humanismus, der
gleichsam das Cuba Fidel Castros und dessen Errungenschaften vollständiger
Menschenwürde vorwegnehme, gilt es, eine wesentlich komplexere Sichtweise Martís als Denker einer Globalität kritisch gegenüberzustellen – und
zwar im Sinne Lezama Limas: fernab aller simplen ideologischen Instrumentalisierungen. Sie sollte den Martíschen Humanismus nicht als eine zum Teil
christlich inspirierte, vor allem aber mit aufklärerischem Optimismus versetzte
praktische Philosophie mißverstehen,85 sondern der Tatsache Rechnung tragen, daß sich dieser humanismo keineswegs auf eine ideologisch-politische
Dimension reduzieren läßt. Er beinhaltet vielmehr die unterschiedlichsten,
aber stets auf ein Lebenswissen und ZusammenLebensWissen bezogenen ethischen, ästhetischen und kulturtheoretischen Dimensionen, die Martís Denken
so sehr auszeichnen.
Martís detailreiche Kritik an einer sich beschleunigenden sozioökonomischen Modernisierung (Modernización) und an einem nicht mehr nur europäisch, sondern zunehmend angelsächsisch geprägten Moderne-Begriff (Modernidad) führte ihn seit Anfang der achtziger Jahre – und damit parallel zu
seiner Einsicht in jene grundlegenden Veränderungen, die wir der dritten
Phase beschleunigter Globalisierung zurechnen können – zur Entwicklung
einer literarästhetisch und kulturtheoretisch fundierten Konzeption eines
Schreibens in den Zeiten der Moderne (Modernismo). In seinem erstmals 1882
als Vorwort zu El Poema del Niágara von Juan Antonio Pérez Bonalde veröffentlichten Text läßt sich aus heutiger Sicht die zweifellos früheste Programmschrift des hispanoamerikanischen Modernismus erkennen.
Sie geht davon aus, daß eine neue Zeit, eine „Epoche glänzender Ausarbeitung und Transformation“86, angebrochen sei, in der es weder „dauerhafte
Werke“ noch „beständige Wege“87 gebe. Dabei könnte man mit guten Gründen in Martís verdichteten Wendungen – „Allein das Genuine ist fruchtbar.
Allein das Direkte ist machtvoll.“88 – bereits die Vorformulierung für jenen
verdoppelten Auftakt sehen, den José Lezama Lima ein Dreivierteljahrhundert
später La expresión americana geben sollte: „Allein das Schwierige ist stimulierend; allein der Widerstand, der uns herausfordert, ist fähig, Arkade, Antrieb
und Erhalt unserer Potenz der Erkenntnis zu sein.“89
84 Pablo Guadarrama González: José Martí y el humanismo en América latina, S. 97.
85 Ebda. Vgl. hierzu auch die Studie von Pablo Guadarrama González: Raíces humanistas y
vigencia martiana del proceso revolucionario cubano. In: Anuario del Centro de Estudios
Martianos (La Habana) XXII (1999), S. 202–215.
86 José Martí: El Poema del Niágara. In: ders.: Obras Completas, Bd. 7, S. 224.
87 Ebda., S. 225.
88 Ebda., S. 230.
89 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 9.
189
Das 1882 in Martís programmatischem Vorwort zum Ausdruck kommende
Epochengefühl einer Zeit des Übergangs und des Aufbruchs, in der die Menschen auf den verschiedensten Gebieten die zentrale Frage nach dem Geheimnis des Lebens stellen – demandando a la vida su secreto90, wie es der Schlußsatz von Martís Überlegungen formuliert –, ist weniger als ein Jahrzehnt
später, in Nuestra América, der unübersehbaren Sorge gewichen, „unser Amerika“ könne durch den bevorstehenden „Besuch“ durch das „Amerika des
Nordens“ bald schon in eine neue Unfreiheit und Abhängigkeit geraten. Martí
macht in seinem Essay vom 1. Januar 1891 auf diese Gefahr aufmerksam,
entwickelt zugleich aber einen Diskurs, der sich vehement nicht nur jeglicher
Form der Abhängigkeit und Unterdrückung, sondern auch des Rassismus entgegenstellt und „die universale Identität des Menschen“91 – und damit ein zutiefst menschliches Prinzip – als unverzichtbare Leitlinie betont.
Der kubanische Lyriker und Essayist signalisiert bewußt die Gefahr, daß
sich das längst in den USA entwickelte Überlegenheitsdenken gegen die als
„vergänglich und inferior“92 erachteten und verachteten Völker „unseres Amerika“ richten könnte, und wendet sich im Namen der Menschheit wie der
Menschlichkeit gegen jegliche Fremdbestimmung und Abhängigkeit: „Es sündigt gegen die Menschheit, wer den Gegensatz und den Haß der Rassen fördert
und predigt.“93 In logischer Konsequenz entsteht in den letzten Zeilen von
Nuestra América ein alternatives Moderne-Konzept, das nicht an der Durchsetzung eines einzigen Modernisierungsmodells, nicht an der Begrifflichkeit
eines einzigen Moderne-Konzepts ausgerichtet ist:
Denken heißt dienen. Auch dem blonden Volk des Kontinents darf man nicht aus dörflicher
Antipathie eine angeborene und unabwendbare Bösartigkeit unterstellen, bloß weil es unsere Sprache nicht spricht, das Haus anders sieht, als wir dies tun, oder uns in seinen politischen Mängeln nicht ähnelt, da diese sich von den unsrigen unterscheiden; sicherlich: Es
schätzt weder heißblütige noch dunkelhäutige Menschen, und es blickt keineswegs barmherzig von seiner noch unsicheren Position auf diejenigen herab, denen die Geschichte weniger günstig gesinnt war und die nun in heldenhaften Etappen den Weg zur Republik erklimmen. Und schließlich dürfen die bekannten Faktoren dieses Problems, das sich durch
eine sinnvolle Forschungsarbeit und eine stillschweigende, heute so dringliche Einigung
der Seele des Kontinents lösen ließe, nicht verheimlicht werden, hängt davon doch die
Schaffung eines dauerhaften Friedens ab. Denn schon ertönt einmütig die Hymne; die
jetzige Generation folgt dem Weg ihrer erhabenen Väter und trägt auf ihrem Rücken das
Amerika der Arbeiter. Auf des Kondors Rücken saß der Große Semí und warf den Samen,
vom Río Bravo bis zur Magellan-Straße, über die romantischen Nationen des Kontinents
wie auch die schmerzensreichen Inseln des Meeres – den Samen des Neuen Amerika!94
90
91
92
93
94
José Martí: El Poema del Niágara, S. 238.
José Martí: Nuestra América, S. 24.
Ebda.
Ebda.
Ebda., S. 24 f.
190
Die Schlußzeilen dieses Essays entwerfen das Bild von einem anderen, einem
neuen Amerika, dessen Entfaltung durch das Denken (pensar) für Martí ein
Dienst (servir) ebenso an Amerika als auch an der Menschheit insgesamt darstellt. In der Wiederaufnahme der dörflerischen Metaphorik (aldea) schließt
sich der gedankliche Bogen, der von den ersten zu den letzten Zeilen des
Essays reicht, um sich zugleich auf eine Vision des Neuen hin zu öffnen, die
sich der alten Vision („Wir waren eine Vision“95) entgegenstellt. Und nicht
von ungefähr beschränkt sich die geopolitische Vision des Kubaners nicht
allein auf das Kontinentale, sondern bezieht die wie in einem Rosenkranz aufgefädelten Perlen der karibischen Inseln mit ein: Martís Denken ist sowohl
kontinental als auch insular geprägt, weiß von der Eigen-Logik des Territorialen wie von der Relationalität des Archipelischen und Transarchipelischen.
Martís neue hemisphärische Konstruktion (der) Amerikas unterscheidet
deutlich zwischen zwei ethnisch, sprachlich, politisch, wirtschaftlich und vor
allem kulturell unterschiedlichen Areas, die sich freilich nicht feindlich gegenüberstehen müßten. Die transarealen, also beide Räume querenden Beziehungen werden von Martí hier in höchst auffälliger Weise weitestgehend ausgeblendet – auch wenn er als Kubaner im New Yorker Exil für Zeitungen und
Zeitschriften in New York, in Mexico (wo die zweite Veröffentlichung von
Nuestra América am 30. Januar 1891 in El Partido Liberal erfolgte) und insbesondere auch in Buenos Aires schrieb. Und doch ist die Frage nach den Formen
und Normen eines friedlichen Zusammenlebens in Differenz allgegenwärtig.
Es sind unverkennbar taktische Gründe, die Martí bewogen haben dürften,
„unser Amerika“ gleichsam als einen eigenen Kontinent (continente) zu konstruieren, der – geographisch ebenso wenig haltbar wie politisch oder kulturell
– als eine im etymologischen Sinne zusammenhängende und zusammengehörende Einheit vom Río Bravo bis zur Magellanstraße unter besonderem
Einschluß der karibischen Inselwelt in Szene gesetzt wird. Soll die „kontinentale“ Einheit der hier lebenden Völker auch eine „stille“ sein und nicht durch
supranationale Strukturen Bolívarscher Prägung erzeugt werden, so ist es doch
für Martí unumgänglich, eine Symbolfigur zu schaffen, um die im Begriff von
Nuestra América bereits anschauliche Verknüpfung von Plural und Singular,
von Vielfalt und Einheit zusammenbinden und ästhetisch repräsentieren zu
können.
So ist die den gesamten Essay abschließende Figur des Gran Semí, die Martí
über die Schriften seines venezolanischen Freundes Arístides Rojas aus zweiter
Hand aus den Werken von Alexander von Humboldt und Pater Filippo Salvatore Gilli bezog,96 ein direkter Rückgriff auf die Welt indianischer Mythen, die
– wie wir sahen – bereits im ersten Abschnitt des Essays eingeblendet worden
war. Dabei dient der auf die Tamanaken im heutigen Venezuela zurückgehende
95 Ebda., S. 21.
96 Vgl. Cintio Vitier: Una fuente venezolana de José Martí. In: ders.: Temas martianos.
Segunda serie. La Habana: Editorial Letras Cubanas/Centro de Estudios Martianos 1982,
S. 105–113.
191
Mythos von Amalivaca dazu, eine transhistorische und transkulturelle, verschiedene Epochen querende geschichtliche und kulturelle Dimension zu eröffnen, die sowohl die im Zeitraum der Romantik entstandenen unabhängigen
Nationen und die zum größten Teil in schmerzhafter kolonialer Abhängigkeit
verbliebenen Inseln der Karibik, als auch Völker mit und ohne indigenen Bevölkerungsanteil zu einer einzigen Konfiguration – wenn auch nicht Konföderation – vereinen sollte. Ein Amerika mit der Symbolsprache indigener Mythen? Nuestra América mithin im Zeichen von Nuestra Grecia?
José Martí unternimmt hier zweifellos den Versuch einer grundlegenden
Entkolonialisierung überkommener Vorstellungen und Bildwelten97. Mit dieser
von Martí – wie wir sahen – verschiedentlich vorgetragenen Kritik an einem
Fortbestehen kolonialer Denk- und Handlungsmuster verbindet sich in Nuestra
América vor dem Hintergrund wiederum beschleunigter Globalisierungsprozesse eine tiefgreifende Kritik an einer Moderne, die ausschließlich europäisch
geprägten Denkmustern, Lebensnormen und Lebensformen folgt. Dem auf militärische, wirtschaftliche und politische Expansion angelegten Moderne-Projekt der USA setzt Martí – aus der Perspektive der Länder und Kulturen „unseres Amerika“ – das Projekt einer anderen Moderne entgegen, die sich nicht des
Englischen – als Sprache der dritten (wie der vierten) Phase beschleunigter
Globalisierung – bedienen will, sondern zusätzlich zu den europäischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch beziehungsweise Französisch (die sich in
Amerika der ersten beziehungsweise zweiten Phase beschleunigter Globalisierung verdanken) auch die indianischen Sprachen miteinzubeziehen verspricht.
So heißt es bei ihm kurz und bündig: „Die Gouverneure in Indianerrepubliken
lernen Indianisch.“98
Darüber hinaus plädiert er nachdrücklich für ein auf Mehrsprachigkeit angelegtes Bildungswesen,99 hatte er doch bereits im Januar 1882 in einem Essay
über Oscar Wilde betont, daß „die Grenzen unseres Geistes wohl die Grenzen
unserer Sprachen“ sind.100 Und er fügte in diesem erstmals in El Almendares in
La Habana veröffentlichten und im Dezember 1882 in der einflußreichen argentinischen Zeitung La Nación wieder abgedruckten Beitrag hinzu:
Verschiedenartige Literaturen zu kennen ist das beste Mittel, sich von der Tyrannei einiger
dieser Literaturen zu befreien; so wie es keinen anderen Weg zur Rettung vor dem Risiko
gibt, blind einem einzigen philosophischen System zu gehorchen, als sich von allen zu
ernähren [...]101
Martí machte damit klar, daß sich die künftige hispanoamerikanische Literatur
ihrer spanischen Herkunft im Kontext ihrer abendländischen Traditionsstränge
97 Vgl. hierzu Liliana Weinberg: Literatura latinoamericana. Descolonizar la imaginación.
México, D.F.: Universidad Nacional Autónoma de México 2004, S. 67–80.
98 José Martí: Nuestra América, S. 22.
99 Vgl. José Martí: En los Estados Unidos. In: ders.: Obras Completas, Bd. 13, S. 458.
100 José Martí: Oscar Wilde. In: ders.: Obras Completas, Bd. 15, S. 361.
101 Ebda.
192
sehr wohl bewußt bleiben müsse, sich zugleich aber nicht auf diese Herkunft
beschränken dürfe, um zur Gestaltung ihrer eigenständigen Zukunft die Fülle
ihrer transatlantischen Beziehungen auch zu anderen europäischen Sprachen
zu nutzen. Weder in der Literatur noch in der Philosophie sollte diese Fülle
freilich zur Falle werden: Martí war entschlossen, die Chancen der Globalisierung seiner Zeit zu nutzen, ohne all jene Fehler erneut zu begehen, die mit der
Unabhängigkeit, unmittelbar nach der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung, einst begangen worden waren. Von einer Abschottung der ‘eigenen’
Kultur hielt er nichts, sondern setzte auf Mehrsprachigkeit und auf plurale Logiken. Sein antillanisch geprägtes relationales Verständnis der Welt kam ihm
hierbei entscheidend entgegen.
Auch wenn José Martí in Nuestra América die schwarze Bevölkerung nur
erwähnt und ihre Kulturen nicht wirklich in den in diesem Essay entworfenen
kulturellen Raum miteinbezieht, so ist sein Rückgriff auf die indigenen Kulturen, Sprachen und Mythen doch ein unverkennbares Zeichen für die in seiner
Deutung des Schreibens in der Moderne programmatische Öffnung der kulturellen Horizonte auf die bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend marginalisierten und exkludierten Bevölkerungsgruppen in den Amerikas. Konvivenz ist
ein fundamentales Ziel des Politikers und Revolutionärs, aber auch des
Schriftstellers José Martí: Sie ist eine Dimension seines Schreibens in der
Prosa wie in der Lyrik.
Dabei sind es freilich nicht allein die aktuellen indianischen Sprachen, sondern auch die längst historisch gewordenen Kulturen der präkolumbischen
Völker, die auf der Ebene seiner écriture von entscheidender Bedeutung für
unser Verständnis von Nuestra América werden. Denn seine Findung und Erfindung einer der abendländischen gleichgestellten und zugleich entgegengestellten amerikanischen Antike läßt sich begreifen als ein Bekenntnis zu einem
nicht länger eurozentrischen Verständnis einer einzigen Moderne. Die „universale Identität des Menschen“102, die Martí jeglicher Form von Rassismus
entgegenstellte, bedeutet keineswegs, daß sich sein Humanismus auf eine
abstrakt-universalistische Position zurückzöge, von der aus sich alle Differenz
auflöste. Martí fordert in Nuestra América vielmehr die spezifisch amerikanische Dimension seines Denkens der Globalität ein. Finden und Erfinden öffnen sich stets auf ein Leben und Erleben, das die Transformationen konkreter
Lebensformen und Lebensnormen als Bedingungen jedweder Konvivenz –
ebenso im protonationalen wie im hemisphärischen und globalen Maßstab –
nicht aus den Augen läßt.
Über das sich hieraus notwendig ergebende Verständnis einer Pluralität der
Modernen hinaus darf man den Rückgriff auf eine amerikanische Antike auch
begreifen als ein grundlegendes Zeichen für die Herausbildung eines (selbst)bewußt amerikanischen Humanismus. Läßt sich der europäische Humanismus – ein Konzept, das sich als Epochenbegriff im übrigen erst im 19. Jahr102 José Martí: Nuestra América, S. 24.
193
hundert durchsetzte – vielleicht am prägnantesten bestimmen als „Rückgriff
auf die Ursprünge in der Antike zum Zweck der Entwicklung der eigenen
Kultur“103, so könnte man die von José Martí in Nuestra América entfaltete
Konzeption als einen ebenso an der Menschheit wie am Ideal der Menschlichkeit ausgerichteten amerikanischen Humanismus in den Zeiten nicht der Regelästhetik, sondern der Herausbildung eigenständiger und divergierender,
sich vervielfachender Modernen begreifen.
Anders als ein José Enrique Rodó, der aus der Perspektive des Südens des
amerikanischen Doppelkontinents ein modernistisches Moderne-Projekt entwarf, in dem sehr wohl die abendländische Antike, nicht aber die indigenen
Kulturen der Vergangenheit wie der Gegenwart enthalten waren, entwarf
Martí ein zukunftsoffenes Konzept, das in der Folge von lateinamerikanischen
Autoren wie Alfonso Reyes, Jorge Luis Borges oder José Lezama Lima im
Zeichen einer weltoffenen expresión americana weiterentwickelt wurde. Es
zielt auf die Intensivierung von Inklusionsmechanismen ab, die für eine künftige Konvivenz neue Möglichkeiten enthalten und entfalten sollen.
José Martís Rückgriff auf die Ursprünge einer amerikanischen Antike zum
Zweck der Entwicklung einer eigenen Moderne ist noch immer eine Herausforderung für jegliches Verständnis von Moderne wie von Humanismus im
transarealen wie im globalen Maßstab. Vielleicht ermöglichen uns Martís
Wege zu einem amerikanischen Humanismus ganz nebenbei eine im besten
Sinne divergierende Humanismuskonzeption, die nicht allein auf die abendländische Antike zurückgreift, sondern auf viel-logischen, polyperspektivischen Strukturierungen aufbaut. Denn in den gegenwärtigen Zeiten einer erneut beschleunigten Globalisierung läßt Nuestra América die Begrenztheit,
zugleich aber auch die potentielle Offenheit erkennen, welche die philosophischen und ästhetischen, die kulturellen und literarischen Räume eines bis heute
dominanten Verständnisses von Humanismus prägen.
Wie sehr sich dieser sehr spezifische Humanismus gerade auch in jenem
Krieg ausdrücken sollte, den der Gründer des Partido Revolucionario Cubano
gegen die alte Kolonialmacht Spanien entfachte, mag ein Blick in eine der
bemerkenswertesten Kriegserklärungen zeigen, die wohl jemals verfaßt worden sind. Wenige Wochen vor seinem eigenen Tod verfaßte José Martí die von
ihm und dem militärischen Oberbefehlshaber Máximo Gómez im dominikanischen Montecristi, auf den 25. März 1895 datierte104 offizielle Kriegserklärung, die als das Manifiesto de Montecristi in die Geschichte eingehen
sollte. Dort heißt es in Wendungen, welche die Entschlossenheit zum Kampf,
aber auch die Liebe zum spanischen Volk sehr deutlich werden lassen:
103 Gertrud Lehnert: Europäische Literatur. Köln: DuMont 2006, S. 40.
104 Ich zitiere nach der eindrucksvollen Faksimile-Ausgabe von José Martí: Manifiesto de
Montecristi. El Partido Revolucionario Cubano a Cuba. La Habana: Editorial de
Ciencias Sociales 1985, S. 30.
194
Der Krieg richtet sich nicht gegen den Spanier, der in der Sicherheit seiner Kinder und in
der Ehrfurcht vor dem Vaterland, die sich beide erwerben lassen, respektiert und sogar geliebt die Freiheit genießen können wird, welche allein jene mit sich fortreißt, die sich ihr
kurzsichtig in den Weg stellen. [...] Von den spanischen Bewohnern Cubas erhofft sich die
weder schmeichelnde noch zaudernde Revolution, anders als im unehrenhaften Zorn des
ersten Krieges, eine so freundlich gesinnte Neutralität oder eine so wahrhaftige Hilfe, daß
der Krieg dadurch verkürzt, seine Katastrophen vermindert und der Friede leichter und
freundschaftlicher wird, in dem Eltern und Kinder zusammenleben werden.105
Diese nicht nur aus kriegsstrategischen Gründen beschworene Einheit der
hispanischen Familie, die Martí, der Sohn valencianisch-kanarischer Eltern, zu
Beginn eines „Krieges ohne Haß“106 gegen die spanische Kolonialmacht
proklamierte, zeigt deutlich, wie es dem Vordenker der kubanischen Unabhängigkeit selbst noch in dieser teilweise paradoxen Kriegserklärung darum zu
tun war, das künftige Zusammenleben aller in den Krieg verwickelten Gruppen in den Mittelpunkt zu rücken. Friedliche Konvivenz steht – selbst an der
Schwelle zu dem im wesentlichen von ihm vorbereiteten Krieg – für Martí an
erster Stelle: Sie erst macht eine lebenswerte Zukunft möglich.
Es ist die von José Lezama Lima so souverän herausgearbeitete viel-logische Struktur einer zweifellos archipelischen Vielverbundenheit, die Martís
Denken dafür sensibilisiert, nach neuen Formen und Normen künftiger Konvivenz Ausschau zu halten. Er mag in dem Wirbel, den er selbst geschaffen hat,
ebenso untergegangen sein wie die spanische Flotte, die vor Manila und Santiago de Cuba in Grund und Boden geschossen wurde. Sein polylogisches, von
keiner kubanischen Diktatur für sich zu vereinnahmendes Schreiben steht freilich auch weiterhin für ein Denken ein, das aus dem Erleben beschleunigter
Globalisierungsphasen jene humane Tiefe gewinnt, aus der das ‘Eigene’ nicht
simplistisch einem ‘Anderen’ konfrontativ entgegengestellt wird. José Martí
eröffnet uns daher den Einblick in eine andere Moderne, in einen anderen
Humanismus, der uns im Zeichen der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zeigt, welche anderen Zukünfte möglich gewesen wären und noch immer
im Sinne José Lezama Limas ihre „Potenz der Erkenntnis“107 für uns bereithalten.
Die transarchipelische Welt der Philippinen
Der Untergang der spanischen Flotte im Desaster von 1898 war ein doppelter
und ereignete sich fast synchron im karibischen und im philippinischen Archipel. Wenn José Martí als derjenige karibische Autor gelten muß, der die
Herausforderungen, die das 19. Jahrhundert an das heraufziehende
20. Jahrhundert im Weltmaßstab stellte, mit größter Weitsicht analysierte,
dann darf ihm mit José Rizal ein anderer Schriftsteller und Intellektueller
avant la lettre zur Seite gestellt werden, der nun aus philippinischer Perspek105 Ebda., S. 6 u. 16.
106 Ebda.: „sin odio“.
107 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 9.
195
tive als der sicherlich beste Zeuge all jener Verknüpfungen von Archipel zu
Archipel gelten darf, die in neuester Zeit eine verstärkte wissenschaftliche
Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.108 Auch in der dritten Phase
beschleunigter Globalisierung sind diese transarchipelischen Beziehungen
nicht allein im militärischen, sondern auch im gesellschaftlichen, ökonomischen und nicht zuletzt kulturellen Sinne von größter Wichtigkeit.
José Martí und José Rizal sollte es in einer erstaunlichen Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen gelingen, die einzelnen Teile des kolonialen Kaleidoskops109 aus ihren angestammten Abhängigkeiten herauszulösen – auch
wenn sie selber nicht mehr erleben sollten, wie rasch sich die Asymmetrien
des postkolonialen Dilemmas auf ihren vom spanischen Kolonialismus befreiten Archipelen auf neue Weise wieder etablierten. Der Satz José Martís,
demzufolge die Kolonien in den entstehenden Republiken fortlebten, bewahrheitete sich auch hier.
Mit dem im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgenden Zusammenbruch des kontinentalen Kolonialreichs Spaniens in Amerika wurden zwar mit
Blick auf die Beziehungen zwischen den Philippinen und Mexico viele der
über Jahrhunderte entstandenen Fäden im globalen Webmuster der iberischen
Weltmächte durchtrennt. Doch sorgte die Tatsache, daß neben den Philippinen
auch Cuba, Puerto Rico und zumindest zeitweise der östliche Teil Hispaniolas
im spanischen Kolonialreich verblieben, nicht nur – bei allen insbesondere
kulturellen Differenzen und Gegensätzen – für eine Vielzahl struktureller
Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, sondern auch für verstärkte transareale Austauschbeziehungen zwischen der philippinischen Inselwelt und der
(insbesondere spanischen) Karibik. Die jahrhundertelang eingespielten Austausch- und Bewegungsfiguren wirkten in ihrer transarchipelischen Vektorisierung fast unvermindert fort.
Als Beleg für dieses Faktum mögen Leben und Werk des am 6. Juli 1861 in
Calamba auf den Philippinen geborenen und am 30. Dezember 1896 als Vordenker der Revolution von spanischen Soldaten hingerichteten José Rizal gelten. Nicht zu Unrecht wurde er schon des öfteren – etwa von dem mexikanischen Philosophen Leopoldo Zea110 – mit dem Autor von Nuestra América in
Verbindung gebracht, dessen Reisebewegungen auf dem amerikanischen
Kontinent und insbesondere im zirkumkaribischen Raum gewiß nicht weniger
rastlos waren als die Reisen des Verfassers von Filipinas dentro de cien años.
108 Ein Beleg hierfür ist die im Januar 2007 an der Casa de Velázquez zu Madrid
veranstaltete internationale Tagung „Culturas fragmentadas, culturas unitarias: De la isla
al archipiélago en el mundo hispano (siglos XIX–XXI)“; die Akten wurden vorgelegt
von Françoise Moulin Civil/Consuelo Naranjo Orovio u.a. (Hg.): De la isla al
archipiélago en el mundo hispánico. Madrid: Consejo Superior de Investigaciones
Científicas/Université Cergy-Pontoise/Casa de Velázquez 2009.
109 Vgl. hierzu den bereits angeführten Band von Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.):
Caleidoscopios coloniales.
110 Vgl. Leopoldo Zea: Prólogo. In: José Rizal: Noli me tangere. Edición y cronología
Margara Russotto. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1976, S. ix–xxx.
196
Hatte José Martí lange Jahre seines Lebens in Verbannung und Exil verbracht,
so hielt sich José Rizal ebenfalls in Spanien, Frankreich und den USA, aber
auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Hongkong, Japan, England und Belgien auf, bevor er 1895 vergeblich beantragte, als Arzt die wegen
des von Martí ausgelösten Kriegsausbruchs nach Cuba verlegten spanischen
Truppen begleiten zu dürfen.
Hier zeichnen sich Parallelen zwischen Lebenswegen und Schreibbedingungen ab, die weder aus nur nationalliterarischer noch aus allgemein
weltliterarischer Perspektive adäquat erfaßt werden könnten. Denn Martí und
Rizal verkörpern als herausragende Repräsentanten ihrer Archipele jene
Entwicklungen, die ebenso mit dem antikolonialistischen Freiheitskampf wie
mit dem Aufstieg der USA zur am stärksten expandierenden Weltmacht in
Zusammenhang stehen. Havanna und Manila waren aus geostrategischen
Gründen nicht zufällig zugleich ins Fadenkreuz der US-amerikanischen Begehrlichkeiten gerückt. Ein transarealer, bewegungsgeschichtlicher Ansatz
vermag dies auf der literarhistorischen Ebene leicht zu verdeutlichen und auch
in seinen literarästhetischen Konsequenzen zu beleuchten.
Das sicherlich bis heute berühmteste Werk José Rizals ist sein 1887 in Berlin veröffentlichter Roman Noli me tangere, wobei die Tatsache, daß Martís
einziger Roman Amistad funesta (wenn auch postum 1911 im zehnten Band
der Werkausgabe von Quesada y Aróstegui) ebenfalls in Berlin erstmals in
Buchform erschien, zwar auf ähnlich problematische Verlagsstrukturen in den
jeweiligen Herkunftsländern aufmerksam macht, aber doch eher anekdotischer
Natur ist. In weit mehr als nur biographischer Hinsicht aber darf das Werk des
philippinischen Autors einer Literatur ohne festen Wohnsitz111 zugerechnet
werden, der man auch sicherlich die kubanische wie – in weiten Teilen – die
karibische Literatur zuordnen kann.
Noch vielsprachiger als José Martí hatte José Rizal, der auch in deutscher,
französischer, englischer und lateinischer Sprache zu lesen und sich auszudrücken wußte, neben seiner Muttersprache, dem Tagalog, in seiner Kindheit
ein höchst unvollkommenes Spanisch erlernt, was ihn dazu zwang, anders als
ein das Spanische muttersprachlich beherrschender Autor ständig vor einem
vielsprachigen Hintergrund an seinen Ausdrucksmöglichkeiten zu feilen. Eine
Vielzahl translatorischer und zugleich translingualer Phänomene zeichnet
seine unverwechselbare Schreibweise in spanischer Sprache aus – eine
Schreibweise, wie sie unter diesen ständig wieder andere Sprachen querenden
Bedingungen nur transareal im Kontext der dritten Phase beschleunigter Globalisierung entstehen konnte.
Mit gutem Grund stellte Leopoldo Zea diesen Kampf Rizals um die Sprache seiner Literatur in den geschichtlichen Kontext eines Archipels, der sich
nach der Niederlage der spanischen Flotte gegen die stählernen Kriegsschiffe
der USA vor Manila vom Spanischen, der Sprache der kolonialen Unter111 Vgl. hierzu Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz.
197
drücker, ab- und dem Englischen, der Sprache der neuen Hegemonialmacht
der dritten Phase, zuwenden sollte. Es ist, als hätte der philippinische Autor,
der sein Lebenswerk in einem genuin translingualen Kontext entfaltete, mit
dem Verlust seines Lebens auf den Philippinen zugleich seinen sprachlichen
Wohnsitz verloren: „Jetzt sind die Worte, die Schriften von Rizal, des größten
Helden der Philippinen, nicht mehr in der Reichweite seines Volkes. Denn die
Sprache, in der er sich ausdrückte, ist nicht mehr in seiner Reichweite.“112
Ist es bei einem translingualen, nicht in seiner eigentlichen Muttersprache
schreibenden Autor wie Rizal nicht ein einzigartiges Phänomen, daß seinem
individuellen Sprachwechsel hin zum Spanischen bald ein kollektiver Sprachwechsel der Philippinen weg vom Spanischen folgen sollte, der den Verfasser
von Noli me tangere dauerhaft von seinem spanischsprachigen Lesepublikum
abschnitt? Daß diese fundamentale sprachgeographische Veränderung in der
dritten Phase beschleunigter Globalisierung erfolgte, ist freilich – wie unsere
bisherigen Überlegungen zeigen – alles andere als ein Zufall.
Daß Martí 1895 und Rizal 1896 ihr Leben im Kampf gegen eine marode
spanische Kolonialherrschaft lassen mußten, soll in diesem Kontext
gegenüber der Tatsache zurücktreten, daß sich weder Martí noch Rizal trotz
ihres rast- und ruhelosen Kampfes für ihre Heimat auf eine Beschäftigung mit
‘ihrem’ karibischen beziehungsweise philippinischen Archipel beschränkten.
Der Spiel- und Bewegungsraum ihres Denkens wie ihrer Reisen war ein
unverkennbar transarealer und transarchipelischer, insofern auf ihren Wegen
wie in ihrem Denken – um mit dem excipit von Martís Nuestra América zu
sprechen – „die schmerzensreichen Inseln des Meeres“113 stets mit einer
globalen Projektion verwoben waren. Ihren Archipelen kam dabei – in ihren
politischen wie vor allem in ihren literarischen Texten – die Funktion
dynamisierender, mobiler ZwischenWelten zu: War nicht die ganze Welt für
sie zu einem hochgradig vektorisierten Archipel unterschiedlichster Inseln mit
ihren jeweiligen Eigenlogiken und Bewegungsfiguren geworden?
Keineswegs zufällig setzt das erste von dreiundsechzig Kapiteln des in der
Hauptstadt Deutschlands auf Spanisch veröffentlichten, auf den Philippinen
rasch bekannt gewordenen und alsbald von der spanischen Kolonialverwaltung nach behördlicher sowie akademischer Prüfung verbotenen Romans
unter dem lateinischen Titel Noli me tangere mit der Darstellung eines großen
Festessens ein. Denn Feste sind stets – gerade auch in einer vom
Kostumbrismus geprägten Literaturtradition114 – dank ihrer spezifischen
Raumzeitlichkeit besondere Formen der Selbstverständigung auf kollektiver,
speziell auf (proto-)nationaler Ebene. So ist das literarische Festessen auch
mit viel couleur locale gewürzt und will dem direkt angesprochenen Leser
112 Leopoldo Zea: Prólogo, S. xxix.
113 José Martí: Nuestra América, S. 25.
114 Vgl. hierzu Roberto González Echevarría: Fiesta y el origen de la nación cubana:
„Francisco“, de Anselmo Suárez y Romero. In: Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.):
Caleidoscopios coloniales, S. 67–81.
198
literarästhetisch eindrucksvoll vor Augen führen, wie derartige Formen der
Soziabilität in der „Perla del Oriente“115 abzulaufen pflegten.
In diesem zweifellos kostumbristischen Auftakt von Noli me tangere wird
von Beginn an in die nur kurz evozierte tropische Flußlandschaft und ihre erst
rudimentär entwickelte Stadtlandschaft (cityscape) sehr bewußt mit den „Akkorden des Orchesters“ und dem „bedeutungsvollen clin-clan des Tafelgeschirrs und der Gedecke“116 eine Klanglandschaft, ein soundscape integriert,
der wiederum durch eine Landschaft unterschiedlichster Düfte, einen spezifischen smellscape, ergänzt wird. Somit wird vom philippinischen Autor auf
höchst sinnliche Weise eine (literarische) Bezugslandschaft aufgebaut, die dank
ihrer fraktalen Strukturierung einen unzweifelhaft archipelischen Grundzug
aufweist. Denn die ganze Welt wird in diesen Mikrokosmos eingeblendet.
Dabei ist das Fest selbst – als eine wohlüberlegte mise en abyme gleich zu
Beginn des Textes – einer derartigen fraktalen Strukturierung verpflichtet. Die
Gastfreundschaft steht von Beginn an im Zeichen der Orchestrierung globalisierter Sinnesreize und Tischsitten, so daß die lokale Einfärbung vor dem Hintergrund einer weltweiten Zirkulation von Gütern, Gewohnheiten und Gefühlen
gleichsam translokalisiert wird: Die Philippinen werden literarisch innerhalb
weltweiter Verbindungen sinnlich nacherlebbar gemacht. Nicht umsonst stellt
sich im zweiten Kapitel die Hauptfigur des Romans, der blonde und weitgereiste Crisóstomo Ibarra, kurzerhand selbst der anwesenden Damenwelt – „einigen jungen Frauen, zwischen Filipinas und Spanierinnen“117 – wie den Militärs, Klerikern und anderen Vertretern der Kolonialgesellschaft mit folgenden
Worten vor: „Meine Damen und Herren!, sagte er, in Deutschland gibt es eine
Gewohnheit, derzufolge ein Unbekannter, der zu einer Versammlung kommt
und niemanden findet, der ihn den anderen vorstellen könnte, selbst seinen
Namen nennt und sich vorstellt“118. Gesagt, getan: Warum sollten Formen deutscher Soziabilität nicht auch im Zeichen globaler Zirkulationen auf ein spanisches und philippinisches Publikum übertragbar sein?
Wie auf der Ebene der Gastronomie oder der Umgangsformen bleibt die gelungene literarische Inszenierung von Geselligkeit auf den Philippinen keineswegs auf den Archipel oder allein auf die Beziehungen zwischen der
asiatischen Inselwelt und der iberischen Halbinsel beschränkt. Denn jenseits
der Tatsache, daß der Roman in spanischer Sprache abgefaßt ist und daß vom
ersten Kapitel an die peninsulare Variante mit einer von Philippinismen durchsetzten Sprache unterschiedlicher sozialer Kontexte kontrastiert wird – was
auch beinhaltet, daß kürzere Einschübe und Passagen in Tagalog eingefügt
werden –, greift Noli me tangere bereits im Titel mit seinem Zitat aus dem
Lukas-Evangelium auf das (in der ersten Phase globalisierte) Lateinische zurück, während dem Roman – ebenfalls im paratextuellen Bereich – als Motto
115
116
117
118
José Rizal: Noli me tangere, S. 8.
Ebda.
Ebda., S. 9.
Ebda., S. 18.
199
ein Zitat aus Friedrich Schillers Shakespeares Schatten in deutscher Sprache
vorausgeschickt wird. Daneben finden sich aber auch Einsprengsel und Hinweise auf das Französische, Englische und Italienische, was nicht nur angesichts der Vielzahl an Sprachen, die José Rizal sprach, sondern auch mit Blick
auf den in der Welt weit herumgekommenen Crisóstomo Ibarra y Magsalin
nicht verwundert, antwortet dieser doch einem spanischen Mönch, der sich
länger in Hongkong aufhielt und daher „Pidgin-English“119 spricht, er liebe die
Länder des freien Europa (Europa libre) und spreche mehrere seiner Sprachen.120 Aber taten dies, so ließe sich einwenden, auch seine Leser?
Die sehr bewußt in Szene gesetzte Vielsprachigkeit ist ohne jeden Zweifel
programmatischer Natur. Denn José Rizals Roman führt in seiner eigenen
sprachlichen Gestaltung einen weltweiten Archipel der Sprachen vor, wobei er
auch auf diesem Gebiet die unübersehbaren Zeichen einer Literatur ohne festen
Wohnsitz sehr bewußt setzt und die translinguale Dimension seines Schreibens
akzentuiert. Ist nicht die Welt zum Archipel der Sprachen und Kulturen geworden?
Ohne an dieser Stelle im Kontext der hier behandelten Fragen eine ausführlichere Analyse von Noli me tangere vorlegen zu können, sei doch zumindest betont, welch enorme Rolle von Beginn an dem Haus als fraktalem Muster, als
fractal pattern121, zukommt. Wie die ganze Persönlichkeit des Gastgebers, Don
Santiago de los Santos alias Capitán Tiago, in jenem Ölgemälde an der Wand
zum Ausdruck kommt, das einen „hübschen Mann im Frack zeigt, steif, gerade,
symmetrisch wie der mit Quasten besetzte Stock, den er zwischen seinen starren,
von Ringen bedeckten Fingern hält“122, so konzentriert auch das Haus mit seinem
Intérieur, seinen weithin berühmten Gelagen, dem ostentativen, an Luxusgütern
jedweder Provenienz orientierten Konsum seines Besitzers und den sich hier begegnenden Menschen wie in einem Brennspiegel die spannungsvolle Welt der
kolonialspanischen Philippinen – wohlgemerkt: als Teil der kolonialen Inselwelten Spaniens. Die fraktale, eine höchst heterogene Totalität in sich wie in einem
modèle réduit (im Sinne von Lévi-Strauss) vereinigende Struktur dieses Hauses
leuchtet schon in dessen erster Schilderung auf:
Das Haus, auf das wir uns beziehen, ist etwas niedrig und von nicht sehr korrekter Linienführung: Ob der Architekt, der es erbaut haben mag, nicht gut sah oder ob dies die Einwirkung der Erdbeben und Wirbelstürme war, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Eine
breite Treppe mit grüner Balustrade, stellenweise mit Teppichen ausgelegt, führt vom mit
blauen Kacheln gefliesten Innenhof oder Portal, gesäumt von Blumenarrangements in Töp-
119 Ebda., S. 22.
120 Ebda.
121 Vgl. zum fraktalen Muster des Insel-Hauses Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und
Vektoren, S. 161–167. Dort liegt der Schwerpunkt im Bereich der französisch-, englischund spanischsprachigen Literatur der Karibik im 20. Jahrhundert.
122 José Rizal: Noli me tangere, S. 9.
200
fen und Kübeln auf Sockeln aus chinesischem Steingut mit buntscheckigen Farben und
phantastischen Zeichnungen, zum zentralen Stockwerk.123
Auf diese Weise bündelt dieses Haus auf den Philippinen, das sich von seiner
überaus ärmlichen Umgebung wie eine Insel heterogenster Luxusgüter abhebt,
bereits im ersten Kapitel von Rizals Roman in einer deutlich markierten mise
en abyme jenen weltweiten kolonialen Bewegungsraum der Kulturen und Güter, der sich im Archipel und mehr noch in der weltweit vernetzten Inselwelt
der Philippinen wie in einer Landschaft der Theorie präsentiert. In der Figur des
Crisóstomo Ibarra y Magsalin, der in seinem Namen die spanische und philippinische Herkunft ins Rampenlicht rückt, wird überdies zumindest perspektivisch eine postkoloniale, mithin nach dem von der Erzählerfigur offenkundig
erhofften spanischen Kolonialregime angesiedelte Dimension erahnbar. Das
Haus der Macht steht auf keinem soliden Fundament.
Gleichviel, ob es der (koloniale) Architekt oder die Erschütterungen und
Wirbelstürme der Zeit waren, welche die Geradlinigkeit dieses Hauses aus dem
Lot brachten: Der Archipel der Philippinen steht wie der Archipel der spanischen Karibik am Ausgang des 19. Jahrhunderts vor dem Zusammenbruch einer Kolonialgesellschaft, die im Zeichen der dritten Phase beschleunigter Globalisierung von den geradlinigen und gut gebauten Panzerkreuzern der USA
nur wenige Jahre später hinweggefegt werden wird. Das kolonial zusammengestückelte Haus ist schwankend: Es ist wie das von ihm vertretene politische
System dem Untergang geweiht, auch wenn es noch ein letztes Mal seinen brüchigen Glanz schimmern läßt.
Im Scheitern der positiv gezeichneten Hauptfiguren des Romans wird auf
der individuellen wie auf der kollektiven Ebene der epochale Schiffbruch des
Desastre, der Katastrophe von 1898, erkennbar, zu dessen Zuschauer uns der
Roman von seiner ersten Zeile an macht: ein Schiffbruch mit Ansage, der nicht
nur den Untergang der letzten Reste des spanischen Kolonialreichs auf beiden
Archipelen, sondern auch des Spanischen auf den Philippinen mit sich bringen
wird. Da nutzt es nichts, wenn die spanische Kolonialmacht die Aufständischen
als filibusteros, als Freibeuter und Piraten, denunziert: Kein Espejo de Paciencia und keine Schiffahrtsmetaphorik kann das einst stolze iberische Schiff wieder flottmachen oder zumindest vor dem Untergang retten. Die Vertreter der
spanischen Macht gehen mit aller Brutalität vor; doch keine Geschichte – und
schon gar nicht diejenige José Rizals – wird sie freisprechen.
Eine neue Zeitrechnung deutet sich an, die – auch wenn sie sich noch einmal
den alten Kräften unterwerfen muß, die auch den Autor Rizal selbst ermorden
werden – bald all das historisch und dysfunktional werden läßt, was auf beiden
Archipelen noch als in sich abgeschlossene und nur auf sich bezogene InselWelt geblieben ist. Das koloniale Kaleidoskop der Karibik wie der Philippinen
hat – und daran läßt Noli me tangere keinen Zweifel – längst damit begonnen,
123 Ebda., S. 8.
201
sich in seine Einzelteile aufzulösen, auch wenn es sich noch krampfhaft an der
Oberfläche zu halten versucht.
Denn die Situation der Philippinen ist innerhalb des hier diskutierten transarchipelischen Kontexts mit jener Cubas sehr wohl vergleichbar. Kein anderer
Schriftsteller und Philosoph hat den Zusammenbruch jedweden selbstbezogenen, provinziellen Denkens angesichts einer sich beschleunigenden, alles mit
sich fortreißenden Globalisierung eindrucksvoller formuliert als José Martí in
dem bereits zitierten incipit seines sicherlich berühmtesten Essays. Die alten
Bewegungsräume des „Dörflerischen“ und der Selbstbezogenheit des Lokalen
sind fortan einer ungeheuren Beschleunigung ausgesetzt, der sich nichts und
niemand mehr zu entziehen vermag – auch wenn Martí am Ende seines Lebens noch die Hoffnung hegt, die Inselketten der Karibik einer aus dem Norden des Kontinents vorrückenden neuen Weltmacht als Bollwerk entgegenstellen zu können. Man darf in Rizal in der Tat einen philippinischen Zeitzeugen derselben Akzelerationen erkennen, die Martí von Manhattan, gleichsam
von Wall Street aus, bereits so früh erkannt hatte. Rizals Diagnose fällt bei
allen Unterschieden im wesentlichen analog zu der des kubanischen Freiheitskämpfers aus.
Doch ebensowenig wie Rizal gelang es Martí
zu verhindern, daß sich in Cuba durch die Annektion der Imperialisten von dort wie auch
der Spanier jener Weg öffnet, den es zu versperren gilt, stehen wir doch im Begriff, jenen
Weg der Annektion der Völker unseres Amerika durch den aufgewühlten und brutalen
124
Norden, der sie verachtet, zu versperren.
Und doch war beider Werk, nicht nur mit Blick auf ihre Erfolge im Kampf gegen den spanischen Kolonialismus, letztlich erfolgreich – auch wenn es ihnen
selbst unter günstigsten Bedingungen nicht gelingen konnte, ihre von alten wie
von neuen Mächten begehrten Inselwelten vor dem Eintritt in eine Phase neuer
Abhängigkeiten zu bewahren.
Im Zeichen einer auch lebensweltlich spürbaren Beschleunigung, die José
Martí wie José Rizal dank ihrer weltläufigen Perspektivik weitaus früher und
klarer als andere anderswo beobachten und begreifen konnten, wird erkennbar,
in welchem Maße sich aus Insel-Welten transareale Inselwelten bilden mußten,
wollten Kubaner und filipinos Richtung und Geschwindigkeit innerhalb dieses
transarealen und spezifisch transtropischen Bewegungs-Raumes eigenständig
mitbestimmen.
Die Beschleunigung aber kam allzu rasch, so daß beide Intellektuelle und
Schriftsteller noch der alten Kolonialmacht zum Opfer fielen, während sich in
deren Rücken längst eine neue weltpolitische Situation abzeichnete. Die literarische Inszenierung des eigenen Todes im Licht einer künftigen Freiheit ist beiden Autoren gemeinsam. So könnte auch Martís Feder entstammen, was Rizal
im letzten Kapitel seines Romans einen seiner beiden Helden sprechen ließ:
124 José Martí: Obras Completas, Bd. 4, S. 168.
202
Der Unbekannte drehte seinen Kopf nach Osten und murmelte, als betete er:
„Ich sterbe, ohne den Aufgang der Sonne über meinem Vaterland strahlen zu sehen..! Ihr
aber, die Ihr ihn sehen sollt, begrüßt ihn... Und vergeßt nicht jene, die während der Nacht
gefallen sind!“
Er hob seine Augen gen Himmel, seine Lippen erbebten, als murmelten sie ein Gebet, danach senkte er seinen Kopf und glitt langsam zu Boden...125
Auch Martí wußte – wie er in einem seiner sicherlich berühmtesten Gedichte
schrieb –, daß er zwei Vaterländer besaß, ‘Dos patrias’:
Zwei Vaterländer hab’ ich: Cuba und die Nacht.
Oder sind eins die beiden? Kaum zieht zurück
Die Sonne ihre Macht, erscheint, verhüllt, verschleiert,
Und in der Hand die Nelke, schweigend mir
Cuba, trauernder Witwe gleich.126
Doch wird die Literatur auch bei ihm stets zu jenem Ort, von dem aus das
Neue nicht nur denkbar und lesbar, sondern als ästhetisches Erlebenswissen
sinnlich erfahrbar und in Wirklichkeit transformierbar wird. Vielleicht lag
hierin – auch langfristig – die größte von beiden Autoren ausgehende ‘Gefahr’.
So wurden sie zu Opfern eines Kolonialismus, den sie in ihren Essays, Gedichten und Romanen zugleich doch letztlich überwanden. Denn sie hatten
verstanden, daß das koloniale Kaleidoskop nicht länger funktionstüchtig war
und früher oder später zerfallen und verschwinden mußte. Martís und Rizals
Texte kündeten von diesem künftigen Verschwinden und rückten so das ästhetisch Erlebbare in die Sphäre des tatsächlich Lebbaren.
So hat José Rizals und José Martís Schreiben vieles von dem ästhetisch erfahrbar und nacherlebbar gemacht, was beide Schriftsteller und Revolutionäre
an Neuem auf politischer Ebene noch nicht in Gang zu setzen vermochten. Ihr
literarisches Schaffen aber läßt eine Umwandlung von multi- in transarchipelische Strukturen erkennen, wie sie (zumindest auf den ersten Blick) erst an der
Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert – denken wir etwa an den Eloge de la
Créolité127 und vielleicht mehr noch an Entwürfe, wie sie Edouard Glissant in
seiner Poétique de la relation128 oder Amin Maalouf in seinen Origines129 vorstellten – entfaltet werden sollten. Die vektoriellen Bewegungsräume der Literaturen im Zeichen der vierten Phase beschleunigter Globalisierung reichen jedoch – dies mag unser kubanisch-philippinisches Beispiel zeigen – wesentlich
weiter in der Zeit zurück.
125 Ebda., S. 351.
126 José Martí: Poesía Completa. Edición crítica. La Habana: Editorial Letras Cubanas
1985, S. 127. Vgl. auch meine Übersetzung des Gedichts ‘Dos patrias’ in: Hartmut
Köhler (Hg.): Poesie der Welt. Lateinamerika. Berlin: Propyläen Verlag 1986, S. 51.
127 Jean Bernabé/Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant: Eloge de la Créolité. Paris: Gallimard/Presses Universitaires Créoles 1989.
128 Vgl. Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Paris: Gallimard 1990.
129 Amin Maalouf: Origines.
203
Gewiß: Die Zeit für die Verwirklichung derartiger Vorstellungen und Theoreme war zu den Lebzeiten von Martí und Rizal noch nicht gekommen. Denn
sie zerbrachen – auch weit über den spanischsprachigen Bereich hinaus – die
Logik jenes jahrhundertealten kolonialen Kaleidoskops, an dem sie selbst zuletzt zerbrechen sollten. Nicht allein für Martí, sondern auch für Rizal gilt José
Lezama Limas schönes, dynamisches Bewegungsbild130 vom selbstgeschaffenen Wirbel, der alles mit sich fortreißt – auch jene, die ihn erzeugten –, von einem ungeheuren Wirbel, in dem sich alles auflöst, um sich auf Neues hin zu
öffnen.
Insel-Welt und Inselwelten einer transarchipelischen Literatur
Aufbau und Ausbau transarchipelischer Denk- und Bewegungsfiguren sind
gewiß nicht das alleinige Privileg der vierten Phase beschleunigter Globalisierung. Zugleich gilt es für den Bereich der Literatur zu bedenken, daß das
19. Jahrhundert nicht allein in den ehemals Spanien zugehörigen kolonialen
Kontinentalräumen, die durch den komplexen Prozeß der Independencia die
politische Unabhängigkeit erlangten, sondern auch in der karibischen Inselwelt
(die stets auch eine Insel-Welt darstellte, innnerhalb derer jede einzelne Insel
ihre eigene Logik und Prozessualität entwickelte), zumindest auf den großen
Antilleninseln die entscheidende Sattelzeit für die Herausbildung nationalliterarischer Strukturen bildete. Cuba und Haiti darf innerhalb dieses langanhaltenden und widersprüchlichen Prozesses – unbeschadet der Tatsache, daß die
eine Insel ihre politische Unabhängigkeit dank ihrer Revolution bereits 1804
erreichte, während die andere Insel erst ein Jahrhundert später, im Jahre 1902,
formell unabhängig wurde – fraglos eine Vorreiterrolle zugewiesen werden.
Dies zeigt sich gerade auf dem Feld der Literatur, wo etwa in Haiti die Entstehung dessen, was von Zeitgenossen als littérature jaune bezeichnet wurde,
neuartige literarische Transferprozesse entstehen ließ.131
Denn der Prozeß der Herausbildung einer nationalen Literatur und Kultur
wird dabei zutiefst von einer transarealen Logik mitgeprägt, innerhalb derer
dem Phänomen des Exils eine außerordentlich wichtige und in vielen Fällen
beschleunigende Rolle zukam.132 Dabei ist es im Falle Cubas faszinierend zu
sehen, wie die sicherlich herausragenden Vertreter dieser sich früh als Nationalliteratur konstituierenden Schreib- und Publikationspraktiken sich stets zumeist aufgrund politischer Verfolgungen zwischen mindestens zwei verschiedenen Räumen bewegten: der Dichter José María Heredia zwischen Cuba und
Mexico, die Dichterin Gertrudis Gómez de Avellaneda zwischen Cuba und
130 Vgl. José Lezama Lima: La expresión americana, S. 116.
131 Vgl. hierzu Gesine Müller: Die koloniale Karibik zwischen Bipolarität und
Multirelationalität, S. 221–226.
132 Vgl. insbesondere zum haitianischen Raum am Übergang zum 19. Jahrhundert sowie zur
postkolonialen Dimension des Exils Chris Bongie: Friends and Enemies. The Scribal
Politics of Post/Colonial Literature; sowie ders.: Islands and Exiles. The Creole
Identities of Post/Colonial Literature. Stanford: Stanford University Press 1998.
204
Spanien, der Romancier Cirilo Villaverde zwischen Cuba und den USA und
José Martí zwischen Cuba und Spanien, Mexico, Guatemala, Venezuela und
schließlich den USA.
Deshalb ließe sich mit guten Gründen sagen, daß sich die kubanische Literatur – und sie nimmt hier viele Entwicklungen vorweg, die sich innerhalb eines zum Teil sehr differenten politischen und ökonomischen Kontexts in der
weiteren postkolonialen Geschichte der Karibik manifestieren sollten – als
eine Literatur ohne festen Wohnsitz konstituiert und gerade hierin einen
grundlegenden und prägenden Zug entfaltet, der sie bis heute als (im übrigen
höchst produktive) Nationalliteratur auszeichnet.133 Denn auch für die weitere
Entwicklung der kubanischen Literatur im 20. wie im beginnenden 21. Jahrhundert gilt, daß es absurd wäre, sie allein auf die Territorialität der Insel Cuba
zu reduzieren, wurde doch seit Beginn des 19. Jahrhunderts unter verschiedenartigsten politischen Konstellationen ein wesentlicher, ja maßgeblicher Teil
der kubanischen Literatur fernab der Insel geschrieben und veröffentlicht. Die
kubanische Literatur läßt sich aus einer europäisch geprägten nationalliterarischen Praxis der Territorialisierung nicht adäquat erfassen: Will man die sie
konstituierenden Transferprozesse verstehen, so muß sie als transareales Phänomen bewegungsgeschichtlich beobachtet und begriffen werden.
Wenn die kubanische Literatur aber ihre Zukunftsfähigkeit bis heute gerade
daraus entfaltete, daß sie sich als Nationalliteratur vor allem jenseits des Nationalstaats und vielleicht mehr noch des nationalen Territoriums entwickelte,
weist sie als Literatur ohne festen Wohnsitz auf die Risiken, vor allem aber
auch – mit Blick auf ihre so erfolgreiche Geschichte – auf die Chancen einer
derartigen transarealen Literaturentwicklung und Literarhistorie. Denn daß
diese spezifische Konfiguration über lange Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu
einem Erfolgsmodell geworden ist, das der kubanischen Literatur einen großen
und wichtigen Platz innerhalb der Literaturen der Welt einbrachte, dürfte sich
selbst aus ‘konservativster’ nationalphilologischer Sicht wohl kaum bestreiten
lassen.
Auch wenn die schwedische Autorin Fredrika Bremer bei ihrer Reise nach
Cuba die Entwicklungen der kubanischen Literatur wohl in keiner Weise
überblickte, sondern weitestgehend übersah und sich in ihren ästhetisch gelungenen Reiseeindrücken auf die karibischen Landschaften, die kubanische
Pflanzenwelt und die immer wieder aufscheinende Bewunderung für die herkulischen Körper der schwarzen Sklaven konzentrierte, so wurde doch auch in
ihren Briefen aus Cuba die zutiefst archipelische und transarchipelische
Struktur der karibischen Inselwelt deutlich. Es war sicherlich kein kubanisches
Buch, das die schwedische Autorin in ihren Händen hielt, als sie am 28. Januar
1851 – auf den Tag genau zwei Jahre vor der Geburt José Martís in Havanna –
von New Orleans aus auf einem Schiff, das von vielen Reisenden benutzt
wurde, um möglichst rasch die Gebiete der Goldfunde in Kalifornien zu errei133 Vgl. hierzu auch ausführlich Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne
festen Wohnsitz, S. 157–180.
205
chen, die Überfahrt nach Cuba antrat, jener „Perle der Karibik“, die gleichsam
das karibische Gegenstück zur „Perla del Oriente“ darstellt. Von der Existenz
einer kubanischen Literatur scheint die europäische Autorin wohl kaum etwas
gewußt zu haben. Und doch hat sie es auch in Unkenntnis der Gedichte José
María Heredias oder der Autoren rund um Domingo del Monte meisterhaft
verstanden, die Faszination der Übergänge zwischen kontinentalen und insularen, zwischen territorial klar abgrenzbaren und amphibischen Geographien zu
entwerfen, wie sie die Karibik als Landschaft – und selbstverständlich auch als
Landschaft der Theorie – in starkem Maße prägen. In besonderem Maße faszinieren hierbei die Zwischenformen zwischen dem Kontinentalen und dem Insularen:
Wir legten ab, und mit einem Buch in der Hand setzte ich mich, um das Ufer vom Sonnendeck des Achterschiffs aus zu betrachten, und es war wundervoll für mich. Denn so konnte
ich alleine bleiben, wobei mir das Schauspiel der Ufer wie eine magische Vision der Länder des Südens erschien. Wir fuhren jenen Arm des Mississippi hinunter, der in die Bucht
von Atchafalaya mündet, und von dort aus weiter zum Golf von Mexico. Eine Plantage
nach der anderen erschien an den Ufern mit ihren weißen, von Orangenhainen, Zedernwäldchen, blühendem Oleander, Aloe und Zwergpalmen gesäumten Häusern. Stück für
Stück präsentierten sie sich in immer größerer Entfernung voneinander. Die Ufer wurden
immer niedriger, bis sie sich in schlammiges Land mit Gräsern und Schilf verwandelten,
nun ohne Bäume, Büsche und Häuser. Sie ragten kaum noch über die Wasseroberfläche
hervor: Etwas später versanken sie in ihr, wobei sie die einförmige und eigenartige Figur
dessen annahmen, was man aufgrund der Ähnlichkeit mit der Form des griechischen Buchstabens als das „Delta des Mississippi“ bezeichnet. Einige Gräser wiegten sich noch über
dem Wasser, das von Wellen und Wind bewegt wurde. Schließlich verschwanden auch sie.
Allein die Wellen beherrschten nun alles. Und jetzt lag das Land hinter mir, der immense
Kontinent von Nordamerika, und vor mir der große Golf von Mexico mit seiner unermeßlichen Tiefe, das Meer des Südens mit all seinen Inseln.134
Es wäre sicherlich spannend zu untersuchen, ab welchem Zeitpunkt die von
weither kommenden Reisenden Cuba vorrangig mit einem kubanischen oder
die Karibik insgesamt mit einem karibischen Buch in der Hand erreichten.
Hier dürfte das 19. Jahrhundert nicht mehr als eine erste Sattelzeit und der Ort
einer Vorgeschichte sein. Das literarästhetisch sehr überzeugende travelling
von Fredrika Bremers Reisebericht, der uns die graduellen Übergänge zwischen Land und Meer aus einer Perspektivik der Bewegung schildert, soll uns
aber einmal mehr auf jene Vielverbundenheit, jene komplexe Relationalität
aufmerksam machen, die stets die Inselwelten im ständigen Schwinden, Verschwinden und Wiederauftauchen von Land charakterisiert. Neben Alexander
von Humboldt und Fredrika Bremer ließen sich derartige Beschreibungen mit
Gertrudis Gómez de Avellaneda, Eugenio María de Hostos oder Lafcadio
Hearn leicht häufen, wobei auf die Reisen des letztgenannten Autors in diesem
dritten Hauptteil des vorliegenden Bandes sogleich zurückzukommen sein
134 Fredrika Bremer: Cartas desde Cuba. Edición Redys Puebla Borrero. Traducción
Matilde Goulard de Westberg. La Habana: Fundación Fernando Ortiz 2002, S. 17 f.
206
wird. Den Literaturen ohne festen Wohnsitz gelingt es im Verlauf eines langen
19. Jahrhunderts, neue, vektoriell geprägte Literaturbeziehungen und Darstellungsformen so zu entfalten, daß sie sich auf andere, neuartige Denkmöglichkeiten der amphibischen karibischen Inselwelten öffnen.
Die Literaturen der seit der Wende zum 16. Jahrhundert hochgradig globalisierten Karibik haben sich nicht nur im Verlauf des 19. und vor allem des 20.
Jahrhunderts zu einem der verdichtetsten Literaturräume der Welt entwickelt;
sie haben zugleich auch die außerordentliche Kreativität und Produktivität von
Literaturen ohne festen Wohnsitz unter Beweis gestellt. Denn sie sperren sich
gegen jeglichen Versuch einer simplen Territorialisierung, gegen jede
reduktionistische Zuordnung zu einem bestimmten Territorium, ohne doch
zugleich darauf zu verzichten, gerade im Bewegungsraum der Karibik einer
(proto-)nationalen Literatur zuzugehören. Nationalliteraturen werden so zum
Gegenstand transarealer Studien, die sich weder auf die Statik nationalphilologischer Analysen noch auf die Vergleichsrhetorik komparatistischer Untersuchungen beschränken lassen, sondern auf einer Poetik (und Legetik) der
Bewegung gründen.
Die Transferprozesse, die den karibischen Raum seit seiner erzwungenen
Integration in welthistorische und weltumspannende Entwicklungen, wie sie
bereits die Karte Juan de la Cosas aus dem Jahre 1500 dokumentiert, zutiefst
geprägt haben, stellen uns gewiß vor die Herausforderung, weltliterarische
Entwicklungen künftig auch und gerade vor dem Hintergrund derartiger archipelischer und transarchipelischer Prozesse auf neue Weise zu begreifen: eingebunden in viellogische, relationale Austauschbeziehungen jenseits nationalliterarischer Konzepte traditioneller europäischer Provenienz. Bestünde die logische Konsequenz nicht darin, aus dieser Erkenntnis Rückschlüsse für ein
neues Verständnis der europäischen Literatur(en) zu ziehen?135
Die herausragende Bedeutung gerade des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts für die Zirkulationen und Zirkulationsformen des Wissens im transatlantischen wie im transpazifischen Raum steht außer Frage, haben doch im Bereich der gesamten amerikanischen Hemisphäre und in ganz spezifischem
Maße in der Karibik die Migrationen aus verschiedensten Teilen Europas und
die Deportationen aus unterschiedlichsten Teilen Afrikas, aber auch die Einwanderungen etwa aus China, aus Indien und aus der arabischen Welt hochkomplexe transareale Kulturbeziehungen entstehen lassen, die nicht von ungefähr gerade im karibischen Raum noch in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts Theorien der Transkulturalität entstehen ließen. Doch bereits
in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung gehen von diesem Raum –
wie wir sahen – Impulse aus, die von grundlegender Wichtigkeit für ein NeuDenken der politischen wie der sozialen, der kulturellen wie der biopolitischen
Beziehungen in einem weltweiten Maßstab sind. Die Karibik als Erprobungsraum einer Gesellschaft globalen Zuschnitts – diese Vorstellung zeichnet sich
135 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für
Europa, S. 257–296.
207
auch bereits bei manchem Reisenden ab, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Raum im Schnittpunkt des amerikanischen Doppelkontinents
durchquerte.
Der am 27. Juli 1850 auf der griechischen Insel Lefkas (Santa Maura) geborene Patricio Lafcadio Tessima Carlos Hearn, der am 26. September 1904
unter seinem später angenommenen japanischen Namen Koizumi Yakumo in
Tokio verstarb, darf in diesem Zusammenhang sicherlich als einer der interessantesten und schillerndsten Autoren gelten. Denn dieser Schriftsteller griechisch-irischer Abstammung, der wie kein anderer zu Beginn des
20. Jahrhunderts das Bild prägte, das man sich im Abendland von dem fernen
Archipel Japan machte, verkörpert nicht nur mit seiner Biographie, die ihn
vom griechischen Archipel über Irland und England, Cincinnati, New York
und New Orleans in die Karibik und schließlich nach Nippon führte, ein transarchipelisches Denken im globalen Maßstab. Vielmehr darf man eine große
Zahl seiner Schriften als Ausdrucksformen jenes Traditionsstranges bezeichnen, der in der frühneuzeitlichen Gattung des Isolario, des Inselbuches, und in
den Text- und Kartenwelten Benedetto Bordones seinen Ausgang nahm, in der
dritten Phase beschleunigter Globalisierung unter den neuen verkehrstechnischen Möglichkeiten moderner Dampfschifffahrt aber zu neuen und überraschenden ästhetischen Formgebungen fand.
In seinem in Buchform erstmals 1889 veröffentlichten Erzähltext Chita: A
Memory of Last Island wird die archipelische und transarchipelische Dimension seines Schreibens von Beginn an sehr deutlich, wird dort doch im incipit
eine Reisebewegung entfaltet, die in ihrem travelling in sehr starkem Maße an
die oben angeführte Passage von Fredrika Bremer erinnert – eine Darstellung
freilich, die dem Schriftsteller, Journalisten und Übersetzer kaum bekannt gewesen sein dürfte. Die Übereinstimmungen, aber auch die Differenzen zwischen beiden Passagen, die im doppelten Sinne Übergänge, passages, in Szene
setzen, sind aufschlußreich:
Wenn Sie von New Orleans aus nach Süden zu den Inseln reisen (Travelling south), dann
passieren Sie auf verschiedenen gewundenen Wasserwegen ein seltsames Land auf dem
Weg zu einem seltsamen Meer. Sie können, wenn Sie es wünschen, per Logger zum Golf
reisen; doch die Reise kann sehr viel schneller und angenehmer auf einem dieser leichten,
engen Dampfschiffe vonstatten gehen, die speziell für das Reisen durch die Bayous gebaut
wurden [...]. Keuchend, schreiend, kratzend seinen Rumpf über die Sandbarren ziehend,
kämpft das kleine Dampfschiff den ganzen Tag über darum, das große Funkeln des blauen
offenen Wassers unterhalb der Marschen zu erreichen; und das Schiff mag mit etwas Glück
gegen Sonnenuntergang in den Golf einlaufen. Im Interesse der Passagiere wird die Reise
nur bei Tag unternommen [...]. Die Schatten werden länger; und zuletzt schrumpfen die
Wälder hinter Ihnen zu dünnen bläulichen Linien; Ä Land wie Wasser nehmen eine leuchtendere Farbe an; Ä Bayous öffnen sich auf breite Passagen; Ä Seen verbinden sich mit den
Meeresbuchten; Ä und dazu die Ausbrüche des Ozean-Windes über Ihnen, Ä scharf, kühl
und voller Licht. Zum ersten Mal beginnt der Dampfer in der Dünung zu schwingen, Ä im
Rhythmus des großen lebendigen Pulses der Tiden. Und wenn Sie an Deck um sich blicken, ohne daß Wälle aus Wäldern ihren Blick brächen, dann wird es Ihnen so vorkommen,
208
als ob das niedere Land einst vom Meer auseinander gerissen und in phantastischen Fetzen
über den Golf verstreut worden wäre.
Bisweilen sehen Sie über der Brache eines vom Wind geschüttelten Röhrdickichts eine
Oase hervortreten, Ä ein schwer bedrängter Höhenzug oder eine Anhöhe mit dem gerundeten Blattwerk immergrüner Eichen: Ä eine chénière. Und aus der glänzenden Flut entstehen einander artverwandte grüne Kuppen, Ä hübsche Inselchen, ein jedes mit seiner
Strandumgürtung aus blendendem Sand und Muscheln, gelb-weiß, Ä und alles strahlend
voll halb-tropischen Blattwerks, mit Myrthen und Zwergpalmen, Orangen und Magnolien.
Unter ihren smaragdfarbenen Schatten dämmern sonderbare kleine Dörfer von Zwergpalmenhütten, wo eine dunkelhäutige Bevölkerung von Orientalen lebt, Ä Malayen-Fischer,
welche das Kreolen-Spanisch der Philippinen ebenso sprechen wie ihr eigenes Tagal, und
die in Louisiana die katholische Tradition beider Indien fortsetzen.136
Der labyrinthische Weg von New Orleans auf verschlungenen Kanälen, Nebenarmen und Bayous des Mississippi hinaus in den Golf quert unterschiedliche
Landschaftstypen des Deltas, in denen die aquatischen Übergänge zwischen
dem amerikanischen Kontinent und der karibischen Inselwelt in einem
verwirrenden Zusammenspiel der Elemente aus der Bewegung des Schiffes
vorgeführt werden. Es handelt sich um offene, hochgradig mobile, unverkennbar rhizomatische Strukturierungen, in denen alles mit allem verbunden ist, ohne
doch je miteinander zu verschmelzen. Es sind lyrisch verdichtete Sätze, in deren
Geflecht sich die Leser ähnlich verlieren könnten wie die Reisenden, welche die
Welt zwischen Kontinent und Inseln, zwischen Süßwasser und Salzwasser,
zwischen Land und Meer nicht ausreichend kennen, um sich darin sicher und
zielbewußt bewegen zu können. Nirgendwo findet sich ein fester Grund, überall
sind Übergänge, niemals läßt sich in der Landschaft des Mississippi-Deltas eine
klare Linie ausmachen, die das Stabile vom Mobilen trennt: Alles ist –
einschließlich der immanenten Poetik des Schreibenden – in Bewegung.
Das in diesen Wendungen und Windungen bereits anklingende Motiv des
Verschlungenseins von Land, Wasser und Himmel, das im weiteren Fortgang
des Erzähltextes in ein Verschlungenwerden des Landes durch Himmel und
Wasser in einem gewaltigen Tropensturm gipfeln wird, gibt schon den Blick frei
auf die offene See der Karibik, deren Schwingungen sich im Lebensrhythmus
von Ebbe und Flut unwiderstehlich auf das Schiff übertragen. Und wenn in der
Folge vom tragischen Untergang der vorgelagerten Inselwelt rund um die Ile
Dernière (engl. Last Island) mit (fast) allen ihren Bewohnern und Besuchern
berichtet wird, so zeigt der Text doch zuvor schon auf der sprachlichen Ebene
an, wie in einer transarchipelischen, Asien mit Amerika, die Philippinen mit der
Karibik verbindenden Bewegung in der transkulturellen Welt Louisianas nicht
allein das Englische und das Französische, sondern auch das Spanische, die
Kreolsprachen der Karibik und der Philippinen wie auch das Tagalog der vom
letztgenannten Archipel stammenden Bevölkerung sich im Text wechselseitig
so miteinander zu verflechten beginnen, wie sich im Delta Wasser und Land
aufs Engste miteinander verbinden.
136 Lafcadio Hearn: Chita: A Memory of Last Island. In: ders.: American Writings, S. 77 f.
209
Im Delta der riesigen Flußlandschaft des Mississippi treffen die natürlichen
Elemente, die Kulturen, die Sprachen und die Lebensformen unterschiedlichster Areas aufeinander; sie leben in diesem Mikrokosmos ständigen Werdens und Vergehens, Verschlungenseins und Verschlungenwerdens in niemals
endender Spannung zusammen. Und sehr zum Ärger seiner aktuellen US-amerikanischen Editoren,137 die den Autor dafür rügen zu können glaubten, eine
nicht geringe Zahl an fremdsprachigen Zitaten unübersetzt gelassen zu haben,
ließ Lafcadio Hearn seine Leserinnen und Leser an der Vielsprachigkeit dieser
ebenso transkulturellen wie transarchipelischen Welt hautnah teilhaben.
Hearns Prosa ist in ihren „phantastischen Fetzen“ die Landschaft, die sie (be)schreibt, und deren Theorie zugleich.
Die aquatische, von Ebbe und Flut wie starken Meeresströmungen, aber
auch von den Winden und Stürmen geprägte Welt zwischen Kontinent und Inselwelt, zwischen Kontinentalität und Insularität hat Lafcadio Hearn in ihren
ständig verschwimmenden Grenzen immer wieder meisterhaft vor Augen geführt. Dabei verweisen die Inseln bei ihm stets auf andere Inseln, tauchen hinter, neben oder unter einem bestimmten Eiland immer wieder andere Eilande
auf, die sich zu Archipelen gruppieren, um sogleich wieder andere, neue Geflechte zu bilden, in deren Verästelungen im eigenen Archipel ein anderer erscheint und wieder verschwindet. Anglophone Südstaatler und Frankokreolen,
aber auch Malayen, Mexikaner und Filipinos erscheinen in einer zirkumkaribischen Welt, die sich gewiß nicht mit Hilfe einer einzigen Sprache – auch nicht
mit der Sprache der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, dem Englischen allein – darstellen läßt. Die Worte in Lafcadio Hearns Text verweisen
auf Orte, die ihrerseits stets auf wieder andere Orte und Worte verweisen. Es
ist, als würden Ebbe und Flut ständig neue Menschen, ständig neue Sprachen
und Kulturen durch diesen Raum bewegen und pumpen. Es ist der Rhythmus
eines Lebens, das als Leben nur im pulsierenden Rhythmus vorgefunden, erfunden und erlebt werden kann. Im Schreiben Lafcadio Hearns, das wie kaum
ein anderes zur lauten Lektüre drängt, wird eine transarchipelische Welt voller
Leben, voller Bewegung sinnlich allgegenwärtig.
In seinem auf zwei sehr unterschiedliche Reisen in die Karibik zurückgehenden und erstmals 1890 veröffentlichten Reisebericht Two Years in the
French West Indies hat Lafcadio Hearn diese höchst dynamische, mobile Form
des Schreibens aus der Bewegung und in der Bewegung zur Perfektion gebracht. Bei dieser archipelartig aus kürzeren und längeren narrativen Texten
bestehenden Sammlung handelt es sich um einen Reisebericht sui generis, der
uns von den Erfahrungen und mehr noch den Erlebnissen des Ich-Erzählers in
jenem französischen „Westindien“ berichtet, in dem sich die karibischen und
amerikanischen mit den afrikanischen, europäischen und asiatischen Kulturen,
Sprachen und Lebensformen auf intime Weise verknüpfen.
137 Vgl. die ‘Note on the Texts’ in Lafcadio Hearns American Writings, S. 827–831.
210
Dabei gelingt es Hearn, seine komplex verschachtelte und nicht nur polyseme, sondern mehr noch polylogische Schreibweise immer wieder fensterartig auf transarchipelische Dimensionen hin zu öffnen und die von ihm besuchten Inseln der Karibik in ihrer weltweiten Relationalität erstrahlen zu lassen. Vielleicht noch radikaler als in Chita: A Memory of Last Island bezieht
der Text seine literarische Einheit gerade aus seiner mobilen Vielgestaltigkeit,
schließen einzelne Erzähltexte unter ihren jeweiligen Titeln doch ihrerseits
wieder eingebettete Erzählungen, Mythen oder Legenden mit ein, so daß sich
die Erzählprozesse in Two Years in the French West Indies auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenartigen Textsorten bewegen.
Dabei unternimmt Lafcadio Hearn in diesem polyperspektivischen Reisebericht des öfteren erfolgreich den Versuch, die geographischen und geologischen mit kulturellen Aspekten auf eine Weise zu verbinden, die uns verstehen
läßt, daß wir auf unserem Weg durch die Karibik zugleich auf unterschiedlichen Routen durch eine zutiefst transarchipelische Welt unterwegs sind. So
heißt es etwa ausgehend von einer Beschreibung und Darstellung der Montagne Pelée, des Vulkanriesen auf der kleinen französischen Insel Martinique:
Aber ihr Zentrum ist nicht eine enorme pyramidale Masse wie die von „La Montagne“: Es
wird lediglich von einer Gruppe von fünf bemerkenswerten Porphyrkegeln gebildet, Ä den
Pitons von Carbet; Ä während die Pelée, alles beherrschend und den gesamten Norden ausfüllend, einen Anblick bietet und eine Fläche einnimmt, die kaum weniger beeindruckend
sind als beim Ätna.
Bisweilen habe ich mich beim Blick auf La Pelée gefragt, ob die Unternehmung des großen
japanischen Malers, der die Hundert Ansichten des Fujiyama schuf, nicht von einem kreolischen Künstler nachgeahmt werden könnte, der ähnlich stolz auf die Berge seines Geburtslandes wäre und keine Angst vor der Hitze der Ebenen oder den Schlangen der Berghänge hätte. Hundert Ansichten der Pelée könnten sicherlich angefertigt werden: Denn die
enorme Masse ist für die Bewohner des nördlichen Teiles der Insel allgegenwärtig und
kann selbst von den Höhen der südlichsten Mornes aus gesehen werden. Sie ist von nahezu
jedem Teil von St. Pierre aus sichtbar, Ä das sich in eine Falte seiner felsigen Abhänge eingenistet hat. Sie überblickt alle Ketten der Insel und übertrifft die mächtigen Pitons von
Carbet um tausend Fuß [...].138
In einer für Lafcadio Hearns Schreiben typischen Bewegung fokussiert die Erzählerfigur zunächst ihren Gegenstand, die Montagne Pelée, um deren Zentrum sogleich wieder zu relativieren und zu relationieren, in diesem Falle also
mit einem anderen Vulkan auf einer europäischen Insel, mit dem Ätna auf Sizilien, in Beziehung zu setzen. Die sich daran anschließende Bewegung öffnet
diese transatlantische und zugleich transarchipelische Relation aber sogleich
mit Blick auf die japanische Inselwelt, wo die perfekte Figur des Fujiyama
freilich nicht unter geographischen oder geologischen, sondern unter künstlerischen Aspekten in den Text eingeführt wird. Der Verweis auf den hier namentlich nicht genannten großen japanischen Maler Katsushika Hokusai
(1760–1849) und dessen berühmte Farbholzschnitt-Serie der Darstellungen
138 Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies, S. 387.
211
des Fujiyama ermöglicht es Hearn, einen möglichen kreolischen Maler ins
Spiel zu bringen, der ähnlich wie der japanische Künstler ein polyperspektivisches Werk schaffen könnte, das aus den Bewegungen rund um die zerfurchte
und von Abertausenden von Schlangen ‘verseuchte’ Vulkanregion der Montagne Pelée hervorgehen müßte. Eine Region wohlgemerkt, die Lafcadio
Hearn selbst unzählige Male ausgehend von der ihn so faszinierenden Stadt St.
Pierre, die später erst einem Ausbruch dieses gefährlichen Vulkans zum Opfer
fiel, durchwandert hat und die er ausgezeichnet kannte.
Der intermediale Verweis von Hearns Schrift auf Hokusais Kunst schließt
auf transmedialer Ebene eine immanente Poetik des eigenen Schreibens mit
ein. Denn das von ihm geforderte polyperspektivische, der Serie des großen
japanischen Künstlers nachempfundene Werk hat – wie es der Text auch in
dieser Passage vorführt – Lafcadio Hearn fraglos selbst geschaffen. Diese
implizite immanente Poetik, die hier ausgehend von den transarchipelischen
Beziehungen der Montagne Pelée zu Ätna und Fujiyama entfaltet wird, bezieht
sich auf die literarischen Skizzen des Schriftstellers griechisch-irischer Herkunft selbst: Er selbst ist es, der im Grunde längst zu jenem namenlosen kreolischen Maler geworden ist, der uns immer wieder neue Ansichten vor Augen
führt und aus dieser Polyperspektivität eine Polyrelationalität hervorzaubert,
welche eine auf den ersten Blick bisweilen verwirrende, in labyrinthischen
Sätzen sich entfaltende Bilderfolge entstehen läßt. Es ist eine Bilderfolge von
faszinierender Transarealität.
Denn aus dem Griechen, Iren, Briten und US-Amerikaner wird ein Antillaner und Japaner, dessen viele Namen jenen Ort des namenlosen kreolischen
Malers auszufüllen vermögen, weil in jenem scheinbar ‘leer’ bleibenden Ort
des Namens viele Namen, viele Orte transarchipelisch eingetragen werden
können, ja eingetragen werden müssen. Auch eine sogleich noch anzuführende
Passage wird belegen: Es ist, als ob in diesem großen Vulkan der Insel Martinique die Vulkane dieser Welt, ja die unterschiedlichsten Regionen dieser
Erde zusammenliefen, ohne hier doch ihr „Zentrum“, ihren Mittelpunkt zu
finden. Denn ein solches Zentrum, einen derartigen Mittelpunkt der Erde kann
es für den Schriftsteller Lafcadio Hearn nicht geben.
Patricio Lafcadio Tessima Carlos Hearn hat sich in seinem Reisebericht
Two Years in the French West Indies – ein Titel, der mit der Anwendung des
englischsprachigen Begriffs der „West Indies“ auf den französischsprachigen
Bereich der Antillen bereits eine weltumspannende Dimension der Tropen einführt – dem Gegenstand und Zielgebiet seiner Reise im Grunde wie ein Maler
angenähert: ausgehend von einer ungeheuer kunstreichen, da stets unabschließbar bleibenden Ausmalung der Farbenpracht der verschieden schattierten Farbgebungen des Meeres und jener Sonnenuntergänge, die er in hoher
Zahl in seinen Text an den unterschiedlichsten Stellen immer wieder lustvoll
einmontierte. Überhaupt sind es die Farben, die den Bereich der tropischen
Inselwelt ausmachen und abgrenzen. Wie wichtig für Hearns Schreiben die
beständige Visualisierung aller Dinge war, mag übrigens auch die Tatsache
212
unterstreichen, daß er eigens für seinen Aufenthalt auf Martinique eine kostspielige Photoausrüstung erstand, um seinen literarischen Reisebericht mit eigenen photographischen Szenerien und Entwürfen zu punktieren.139 Der LichtSchrift der Photo-Graphie entspricht folglich ein literarischer Stil, der den
Akzent auf die Spezifik des Lichts in der tropischen Inselwelt der Antillen
setzt.
Wie Chita: A Memory of Last Island beginnt auch Two Years in the French
West Indies mit den Impressionen einer Schiffsreise an Bord jenes „langen,
schmalen, grazilen Dampfschiffs aus Stahl“140, mit dessen gleichsam
photographischem Bild an Pier 49 im Hafen von New York der literarische
Reisebericht einsetzt. Auch hier ließe sich wie schon in Chita eine geradezu
erotische Beziehung der Erzählerfigur zu den stets weiblich semantisierten
Formen des eleganten Dampfers herstellen. Bereits bei der Abfahrt in New
York herrscht eine große Hitze,141 so daß es nicht die Temperaturen sind, welche die Inselwelt der Antillen vom Rest des Kontinents unterscheiden und abgrenzen. Seit dem Ich ein „netter alter französischer Gentleman aus Guadeloupe“142 gleich zu Beginn mit ebenso großer Verwunderung wie Vehemenz
erklärte, das Wasser, das man wenige Tagereisen von New York entfernt
durchfahre, sei nicht wirklich blau, sondern bestenfalls als grünlich zu bezeichnen, konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit des Reisenden auf
die Farbenwelt von Wasser und Himmel. Das Changieren des unendlichen
Farbenspiels des Wassers in das Spektrum eines tiefen, leuchtenden Blau wird
zum eigentlichen Erkennungszeichen der Tatsache, daß man sich einige Tage
später endlich der tropischen Inselwelt angenähert hat. Die Welt der Karibik
ist für den Erzähler eine Welt intensiver, ‘wirklicher’ Farben.
Den entscheidenden Umschlag bringt in Formulierungen, die an die alttestamentarische Genesis erinnern, der vierte Tag, an dem sich an Bord bereits
„die westindische Trägheit“ (the West Indian languor)143 bemerkbar macht
und selbst der freundliche alte Mann aus Guadeloupe einräumt, daß das hier
vom Dampfer durchpflügte Wasser „beinahe schon die Farbe des tropischen
Wassers“144 besitze: „Der sich wiegende Kreis des glitzernden Meeres scheint
seine Juwelfarbe bis in den Zenith aufleuchten zu lassen.“145 Alle Kräfte der
Natur scheinen sich sinnlich neu zu kombinieren und alles mit neuem Leben,
mit einem „Welt-Leben“ zu füllen:
Diese ganze sinnliche Vermischung von Wärme und Kraft in Wind und Wasser ruft mehr
und mehr die Vorstellung vom Spiritualismus der Elemente wach, – einen Sinn von Welt139 Zur Geschichte dieser teuren Photoausrüstung vgl. die ‘Note on the Texts’. In: American
Writings, S. 828.
140 Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies, S. 159.
141 Ebda.
142 Ebda., S. 161.
143 Ebda., S. 163.
144 Ebda.
145 Ebda.
213
Leben (world-life). In all diesem sanften, schläfrigen Wiegen, diesen Liebkosungen des
Windes und dem Schluchzen des Wassers scheint die Natur eine leidenschaftliche Stimmung zu gestehen. Die Passagiere sprechen von freudvollen, verführerischen Dingen, –
tropischen Früchten, tropischen Getränken, tropischen Gebirgslüften, tropischen Frauen...
Es ist eine Zeit für Träume – für diese Tagträume, die so sanft wie der Nebel kommen, mit
der geisterhaften Verwirklichung der Hoffnungen, des Begehrens und der Ambitionen...
Die Männer auf dem Weg zu den Minen von Guyana träumen von Gold. [...]
Der Sonnenuntergang kommt mit einem großen, brennenden, gelben Aufglimmen, das
über verblasste Grüntöne schwindet, um sich schließlich in einem violetten Licht zu verlieren; – es gibt kein Zwielicht. Die Tage sind bereits kürzer geworden... Wenn wir uns schlafen legen, kommt durch die offenen Luken ein großes Wispern – das Wispern der Meere:
Klänge wie von artikulierter Sprache unter dem Atmen, – wie von Frauen, die Geheimnisse
erzählen...146
Alles ist mit Leben erfüllt, wird sinnlich aufgeladen und synästhetisch verdichtet. Schon vor der Ankunft auf der ersten Insel der Antillen wird auf diese
Weise eine erwartungsvolle Atmosphäre geschaffen, die mit allen, zum Teil
auch herbeizitierten klischeehaften Elementen tropischen Lebens ausgestattet
wird. Die Tropen erscheinen als eine andere Welt.
Dabei wird die Sichtweise eines nicht den Tropen entstammenden weißen
Mannes von Beginn an eingenommen und markiert, eine Tatsache, die den Erzähler im weiteren Fortgang selbstverständlich nicht daran hindert, uns über
lange Seiten hinweg detailreiche und eindringliche Alltagsbilder vom Leben
der Wäscherinnen (blanchisseuses) oder der Trägerinnen schwerer Lasten
(porteuses) aus Martinique zu liefern. Lebens-Bilder alltagskultureller Praktiken entstehen, wie wir sie in anderen Texten jenes Zeitraums in dieser Intensität wohl kaum noch einmal finden dürften.
Es sind gerade die Frauen, die uns ihr Lebenswissen und gleichsam ihre
Geheimnisse mitteilen: Wir erfahren, wie lange sie arbeiten, wann sie essen,
wie sie sich ihre Mahlzeiten zubereiten, aber auch, was für ein Leben sie sich
erträumen – bis hin zu jener Gestalt einer jungen Frau, die auf der Rückreise
an Bord kommt, um in New York als Hausangestellte zu arbeiten. Die porteuses erzählen uns, welche Lasten sie schon als junge Trägerinnen zu bewältigen
gelernt haben, auf welchen Wegen sie die unterschiedlichen Teile der Insel
miteinander verbinden, aber auch, welche Lieder sie singen, welchen Gefahren
sie ausgesetzt sind, welchen Hoffnungen sie sich hingeben und welchen
Träumen sie nachhängen. So entstehen Lebens-Bilder von höchster Eindringlichkeit.
Der Übergang in die Tropen wird aus der Bewegung des Schiffes heraus als
Passage in eine andere Farben- und Klangwelt, in eine andere materielle
Sinnlichkeit wie in eine andere (und spirituelle) Traumlandschaft in den Klängen und Farben der Sprache ästhetisch und aisthetisch erfahrbar gemacht. Der
Klang dieser sehr spezifischen Schreibweise, die häufig von Sätzen im français créole Martiniques durchbrochen ist, bedient sich des gesamten Registers
146 Ebda., S. 163 f.
214
der Klangfiguren, die in verschiedenen Sprachen eingeblendet werden. Die
Lebens-Bilder der mulattischen Wäscherinnen, die in St. Pierre ihre Wäsche
ausbreiten, oder der Familien von Coolies, die ihre aus (Ost-)Indien mitgebrachten Normen und Formen des Zusammenlebens erläutern, prägen sich
dank ihrer Lebendigkeit bei der Lektüre unmittelbar ein. Wir erfahren manches über die gesellschaftliche Realität der Inseln, vor allem aber über die gelebte Gemeinschaft von Eilanden, die ihre je eigenen Formen von Kleidung
und Kochkunst, von Konvivenz und Konfliktivität entwickelt haben.
Doch halten wir mit Blick auf die Vektorizität und die Bewegungsbahnen
von Two Years in the French West Indies fest: Lafcadio Hearns literarisch sehr
präzise ausgestalteter Eintritt (des Erzählers) in die Inselwelt der Karibik prägt
den gesamten weiteren Verlauf der Reise wie des Reiseberichts. Wie Perlen
von unterschiedlicher Farbe, Form und Gewicht fädeln sich die Inseln über
dem Winde und die Inseln unter dem Winde auf einen nur vordergründig
schlichten Erzählfaden, den das Ich mit immer neuen Perspektiven auf Inseln
und Insellandschaften, auf Häfen und Menschen, Gesellschaften und Gemeinschaften entrollt. Jede Insel besitzt dabei ihre Eigen-Logik, berichtet uns von
ihrer jeweils spezifischen Lebens-Geschichte, wird uns als Insel-Welt, aber
auch in ihrer archipelischen wie transarchipelischen Vielverbundenheit vor
Augen geführt.
Diese sehr verschiedenartige Welt der Inseln verändert sich erst wieder, als
das Dampfschiff zwar nicht die Tropen, wohl aber die Inseln wieder verläßt
und die Küste des südamerikanischen Kontinents ansteuert. Die Differenz zwischen Insularität und Kontinentalität wird dabei sehr deutlich signalisiert, denn
ein grundlegender Wechsel ist eingetreten:
... Es ist der Morgen des dritten Tages, seit wir Barbados verließen, und zum ersten Mal seit
unserem Eintritt in tropische Gewässer scheinen alle Dinge verändert. Die Atmosphäre ist
schwül, seltsame Nebel ziehen auf; und das Licht einer orangefarbenen Sonne, vom Dunst
unendlich vergrößert, beleuchtet ein grünlich-gelbes Meer, – übelriechend und opak, als
stagnierte alles.... Ich erinnere mich genau an einen derartigen Sonnenaufgang über der
Golfküste von Louisiana.147
Hier wird bewußt eine subtile, aber unübersehbare farbliche Rahmung jener
Welt der Inseln vorgenommen, die ebenso gegenüber dem Subkontinent im
Süden wie dem Subkontinent im Norden der Hemisphäre abgesetzt wird. Die
sich dazwischen erstreckende Welt der Inseln wird dabei zunächst als eine Inselwelt von Eilanden ‘aufgefädelt’, die jeweils untereinander, aber auch mit
anderen Inseln weltweit in den verschiedensten Bereichen über eine interne
wie eine externe Relationalität wie in einem großen, netzartigen Gewebe verbunden sind. Dieser archipelischen und transarchipelischen Sichtweise einer
Inselwelt wird aber dann in einem zweiten, noch ausführlicheren Teil in der
Folge eine Insel-Welt gegenübergestellt, insoweit sich der Reisende nun in einem längeren Aufenthalt auf eine der zuvor von ihm nur kurz besuchten Inseln
147 Ebda., S. 215.
215
konzentriert: die bereits erwähnte Insel Martinique, deren Vulkan wir schon
inmitten seines weltweiten transarchiplelischen Beziehungsgeflechts gesehen
hatten.
Diese literarische Zweiteilung darf nicht nur mit der schlicht biographischen Zweiteilung der beiden unterschiedlichen Reisen von Lafcadio Hearn in
den Bereich der Karibik in Verbindung gebracht werden: Sie besitzt vielmehr
einen ästhetischen, aber nicht zuletzt auch einen epistemologischen Charakter
und führt uns anhand eines konkreten Bewegungsmodells vor, wie wir die
Antillen im globalen Maßstab begreifen können. Reiseliteratur führt uns stets
in den mobilen mappings einer Welt in Bewegung Verstehensmodelle aus der
Bewegung vor:148 Denkmodelle, die wir beim Lesen in ihrer Komplexität
Stück für Stück, Zeile für Zeile nachvollziehen können. Die Insel-Welt von
Martinique bietet uns folglich eine bestimmte Insel als eine Welt für sich, als
eine Welt mit ihrer eigenen Logik an, verliert aber keineswegs aus den Augen,
daß diese Eigen-Logik einer Insel-Welt als hochverdichtete semantische Kippfigur stets auch eine Inselwelt im transarchipelischen Sinne ist.
Es zählt sicherlich zu den größten Verdiensten der verschlungenen, bisweilen labyrinthischen Schreibweise von Lafcadio Hearn, diese in der Tat
hochkomplexe verdoppelte Bewegungsstruktur in ihrer ganzen Vektorizität, in
all ihren Bahnungen und Bewegungen, ästhetisch überzeugend dargestellt zu
haben. Das kleine Eiland Martinique erscheint als eine in sich abgeschlossene,
zugleich aber in weltweite Relationen eingebundene Insel-Welt und Inselwelt,
die gleichsam als eine Welt für sich eine ganze Welt in sich birgt.
In einer Passage, die bisweilen einen Bezug zu den längst klassisch gewordenen französischen Texten des Père Labat wie des Père Dutertre, aber auch
zu der Abhandlung der Martinique gewidmeten Etudes historiques des – wie
Hearn ihn nennt – kreolischen Autors Dr. E. Rufz149 herstellt, wird die Bergund Vulkanwelt der französischen Antilleninsel erneut zum Ausgangspunkt
einer die Tropen weltweit umspannenden Sichtweise. Dies wird bei der Bergbesteigung, gleichsam in der Aufwärtsbewegung einer seit Petrarca150 mit der
Verstehens- und Erkenntnisbewegung verbundenen Gewinnung an Transparenz,151 deutlich skizziert:
Mit der Verminderung der Wärme, die von der Anstrengung des Aufstiegs herrührt, fangen
Sie an zu bemerken, wie kühl man sich hier fühlt; – Sie könnten geradezu an der bezeugten
geographischen Breite zweifeln. Direkt östlich liegt Senegambia: Wir sind sehr wohl südlich von Timbuktu und der Sahara, – auf einer Linie mit Südindien. Der Ozean hat die
Winde abgekühlt; auf dieser Höhe wirkt der Luftmangel nördlich; aber unten in den Tälern
148 Vgl. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 21–84.
149 Vgl. hierzu Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies, S. 420.
150 Vgl. hierzu die klassische Studie von Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des
Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 141–163.
151 Vgl. hierzu Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle.
Suivi de Sept Essais sur Rousseau. Paris: Gallimard 1971.
216
ist die Vegetation afrikanisch. Die für Lebensmittel geeignetsten Anbauprodukte, die besten Futterpflanzen, die Gartenblumen stammen aus Guinea; – die grazilen Dattelpalmen
kommen aus der Region des Atlas: Diese Tamarinden, deren dicke Schirme jegliches andere Pflanzenleben darunter ersticken, sind aus dem Senegal. Allein der Berührung durch
die Luft, den dunstigen Farben bei großer Entfernung, den Schatten der Hügel eignet etwas,
das nicht auf Afrika verweist: diese sonderbare Faszination, welche der Insel ihren poetischen kreolischen Namen verschaffte, – le Pays des Revenants.152
Ohne an dieser Stelle auf die das Gesamtwerk Lafcadio Hearns durchziehende
Isotopie der Geister, Gespenster und Rückkehrer (Revenants) eingehen zu
können, auf die wir in einem der vorgängigen Zitate bereits mit dem Adjektiv
ghostly153 gestoßen waren, ist die Rückkehr des Ich zu einem längeren Aufenthalt auf die Insel Martinique doch deutlich dadurch motiviert, daß sich von
hier aus nicht allein eine Insel als eine gesamte, in sich abgeschlossene und
zugleich vollständige Welt öffnet, sondern daß diese so eigene Welt zugleich
wie in einem lebendigen Netzwerk die unterschiedlichsten Elemente eines
weltweiten Beziehungsgeflechts in sich zu bündeln vermag. Martinique ist ein
Mikrokosmos, eine InselInsel154, die die Welt auf ihre eigene Weise enthält
und gerade dadurch so eigen ist – eine transareal verdichtete Welt, auf der
Ebene der Natur wie auf jener des Anbaus, der Kultur.
Die französische Antilleninsel steht am Kreuzungspunkt und im Beziehungsgeflecht zwischen Westindien und Ostindien, zwischen den Indias occidentales und den Indias orientales, wie dies die Benennungen in der ersten
Phase beschleunigter Globalisierung auszudrücken pflegten. Die Insel um die
Montagne Pelée ist eine globale Insel: Sie steht in den 1890 in Buchform vorgelegten Two Years in the French West Indies – und hier spielt der reiseliterarische Text begrifflich schon im Titel die lange und komplexe Globalisierungsgeschichte aus – für die drei Phasen beschleunigter Globalisierung ein.
Kein Zufall also, daß der Reisende von New York, dem Zentrum der ersten
außereuropäischen Globalisierungsmacht ausgehend seine Reise in die Karibik
auf einem Dampfschiff aus Stahl, auf einem „long, narrow, graceful steel
steamer“155 unternimmt. Man könnte in diesem eleganten Dampfschiff einen
gewiß nicht gänzlich unbeteiligten Boten jener New Steel Navy erblicken, welche die USA noch im selben Jahrzehnt zur unbestrittenen Führungsmacht auf
dem Kontinent kanonieren und die spanische Flotte vor Manila und Santiago
de Cuba im Meer versenken sollte.
Das bis heute im Besitz Frankreichs, der Führungsmacht der zweiten Globalisierungsphase befindliche Martinique ist als Antilleninsel Teil jener Zone
verdichtetster Globalisierung, die von der ersten Phase dieses Prozesses an die
Menschen, Kulturen und Sprachen der europäischen ‘Entdecker’, Eroberer
und Kolonisatoren, der unterschiedlichen Kulturen zugehörigen indigenen Be152
153
154
155
Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies, S. 419.
Vgl. ebda., S. 164.
Vgl. hierzu Ottmar Ette: Insulare ZwischenWelten der Literatur, S. 13–56.
Lafcadio Hearn: Two Years in the French West Indies, S. 159.
217
völkerung sowie der hierher deportierten schwarzen Sklaven aus verschiedenen Teilen West- und Zentralafrikas, später aber auch der Kontraktarbeiter aus
unterschiedlichen Regionen Asiens beziehungsweise der Coolies aus Indien
aufeinander treffen und mehr noch aufeinander prallen ließ. In dem von Lafcadio Hearn entworfenen literarischen Landschaftsbild von Martinique fügen
sich die so unterschiedlichen Elemente verschiedener Erdteile zu etwas Anderem, zu etwas Neuem, zu einem nicht mit Europa oder Afrika oder Asien zu
verwechselnden Ganzen zusammen.
So wird Martinique zur transarealen und transkulturellen Welt einer einzigen kleinen Insel, in der sich die entferntesten Kontinente und Archipele anderer Längen- und Breitengrade zu einer transarchipelischen Inselwelt verdichten
und vektoriell neu konfigurieren. Lafcadio Hearns literarischer Reisebericht
liefert uns für diese historischen, kulturellen und biopolitischen Vorgänge aus
der Wechselbeziehung des Vorgefundenen, des Erfundenen und des Erlebten
wie Gelebten das faszinierende Bewegungs- und Denkmodell. In seiner Modell-Insel der French West Indies wird die dritte Phase beschleunigter Globalisierung auch viele Jahre später noch lebendig.
218
Abb. 9: Ai Weiwei: Coca-Cola Urne (2006).
Abb. 10: Ai Weiwei: Coca Cola Vase (1997)
Globalisierung IV.
Im Netz transarchipelischer Beziehungen:
Von der Fülle des Polyperspektivischen und der Falle einsprachiger Globalisierung
Vom Aufschreiben des Globalen
Im Verlauf einer in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnenen und
bis in die Gegenwart fortgesetzten Serie von Plastiken hat der 1957 als Sohn
eines während der Kulturrevolution verfolgten Dichters in Beijing geborene
chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei neolithische Gefäße, Vasen aus der
Han- oder der Tang-Dynastie sowie verschiedenste Urnen mit dem in jeweils
unterschiedlichen Farben gehaltenen Schriftzug der Marke „Coca-Cola“
versehen (Abb. 9 und 10). Diese sich über die Kernzeit der vierten Phase beschleunigter Globalisierung erstreckende Abfolge von Kunstwerken stellt
ebenso durch den plakativ wirkenden Rückgriff auf das global icon1 des USamerikanischen Getränkekonzerns wie durch ihre seriell wirkende Verfertigung
zweifellos eine künstlerische Antwort auf Problematiken dar, wie sie im
Zeichen der beschleunigten Globalisierung und des weltweiten Massenkonsums unserer Tage mehr denn je an der Wende zum 21. Jahrhundert virulent
geworden sind. Denn wie anders ließe sich die Tatsache verstehen, daß sich der
Schriftzug „Coca-Cola“ allem aufprägt, dessen er sich zu bemächtigen vermag?
Man darf gewiß der Einschätzung Lydia Hausteins zustimmen, die auch mit
einem kurzen Seitenblick auf Ai Weiwei davon spricht, daß der „in China
schon fast surreale Kampf der Kunst gegen die Stereotypisierung der Welt“
sich auch in vielen „Sub- und Jugendkulturen Asiens“ verstärkt finden lasse.2
Wenn der Schriftzug von Coca-Cola mit seinem hohen Wiedererkennungswert
längst in einem globalen Maßstab für eine Kultur und einen Lebensstil einstehen, der je nach Blickwinkel „dem Westen“ im allgemeinen oder „den USA“
im besonderen zugeschrieben werden, so gilt es freilich an dieser Stelle nicht zu
vergessen, daß das von John Stith Pemberton in den 1880er Jahren erfundene
Getränk, dessen Rechte 1888 von dem Apothekengroßhändler Asa Griggs
Candler aufgekauft wurden, auf die dritte Phase beschleunigter Globalisierung
zurückverweist, in deren Verlauf mit den USA erstmals – wie wir sahen – ein
1 Vgl. zur Geschichte von Coca-Cola u.a. Andrea Exler: Coca-Cola. Vom selbstgebrauten
Aufputschmittel zur amerikanischen Ikone. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006.
2 Lydia Haustein: Global Icons. Globale Inszenierung und kulturelle Identität. Göttingen:
Wallstein Verlag 2008, S. 218.
221
außereuropäischer global player die Weltbühne betrat. Nur eine dem Zufall geschuldete Koinzidenz mit dem hier vorgestellten Verständnis von Globalisierung als langanhaltendem, aber in unterschiedliche Beschleunigungsphasen zu
unterteilenden Prozeß?
Sicherlich nicht. Der Aufstieg von Coca-Cola begleitet und symbolisiert zugleich den militärischen wie den ökonomischen Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika: 1892 wurde The Coca-Cola Company gegründet, 1893 die
Marke geschützt, in der Folge mit der Belieferung der gesamten USA begonnen und ab 1896 die ‘Eroberung’ ausländischer Märkte in Angriff genommen.
Coca-Cola ist eben weit mehr als ein Getränk oder ein Lebensgefühl. Daß der
Siegeszug der US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftsmacht und jener der
Company im Grunde parallel verliefen, mag zu jener Gleichsetzung der Marke
des Softdrinkherstellers mit dem vehementen, im Kriegsjahr 1898 kristallisierenden Expansionsprozeß entscheidend beigetragen haben, die zu der bis heute
in den Globalisierungsdebatten immer wieder zuverlässig auftauchenden Rede
vom Coca-Colonialism, von der Coca-Colonisierung,3 geführt hat. Zwischen
der Globalisierung und Coca-Cola gibt es ein wechselseitiges affektives Verweisungsverhältnis, das nachweislich historisch begründet ist und von Ai
Weiwei für seine künstlerische Serie klug und wohlkalkuliert genutzt wurde.
Und es mag sein, daß es überdies kein Zufall ist, daß es mit Ai Weiwei ein chinesischer Künstler war, der diese Serie in den neunziger Jahren begann, ließe
sich China aus heutiger Perspektive doch mit guten Gründen als eine Macht
begreifen, die eine entscheidende Rolle in einer künftigen fünften Phase beschleunigter Globalisierung spielen könnte.
Der Rückgriff des chinesischen Intellektuellen, Aktivisten und Performers
auf den weltbekannten Schriftzug impliziert unübersehbar eine zweifache Einschreibung in die im vorliegenden Band entfaltete Periodisierung der Globalisierung, werden dadurch doch offenkundig zwei Phasen beschleunigter Globalisierung miteinander in eine Verbindung gebracht, ohne deren wechselseitige
Relationalität ein Gutteil der Geschichte des 20. Jahrhunderts unverständlich
bleiben müßte. Die Aufschrift (der Ikone) des Globalen führt in Ai Weiweis
Kunstwerken freilich zu einer doppelten Einschreibung, die eine klare Botschaft, eine unmittelbar verständliche politische Zuschreibung zu enthalten
scheint. Unverblümter Antikolonialismus also?
Sicherlich auch. Denn gewiß lassen sich die jahrtausendealten Urnen, Vasen
und Gefäße, die Ai Weiwei mit dem Schriftzug des Coca-Colonialism versah,
als eine direkte Kritik an einem Expansionsprozeß begreifen, der vom Westen
aus gesteuert die gesamte Welt mit ihren Lebensformen und Lebensnormen,
aber auch mit ihren massenkulturell sich äußernden Interessen und Vermarktungsstrategien überzogen hat und weiter überziehen wird. Die runden, oftmals
bauchigen Gefäße, die dem Prozeß einer Auf-Schreibung des Globalen unterzogen werden, verkörpern gleichsam die Globalität eines Erd-Körpers, dessen
3 Vgl. u.a. Ulfried Reichardt: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, S. 11
und passim.
222
Aus-Erde-Gemacht-Sein zugleich in einer geschichtlichen, ja vor allem
menschheitsgeschichtlichen Dimension zur sinnlichen Anschauung gebracht
wird. So wird ästhetisch produktiv, wie sehr die Form der Erde – und damit
auch der langanhaltende Prozeß der Globalisierung selbst – von Menschenhand
gemacht und geformt ist.
Das Aufschreiben des Globalen, des global icon, erfaßt sowohl den Raum
als auch die Zeit, bemächtigt sich der Artefakte anderer Kulturen und anderer
Zeiten, denen es seinen Stempel, seine Marke, seine Identität nachträglich aufdrückt. Das Aufschreiben wird zu einem Schreiben auf der Unterlage des Anderen, zu einem im Grunde gewaltvollen Überschreiben, bei dem das Andere
freilich palimpsestartig präsent bleibt, wie sehr ihm auch physische Gewalt angetan wird. Gleichwohl: Das Andere wird aus westlicher Sicht zum Eigenen
umgestempelt, wird zum Bestandteil eines Wirtschaftssystems gemacht, das
allem den immer selben Maßstab – dieselbe Norm, dieselbe Form – aufprägt.
Insofern enthält die Serie des chinesischen Künstlers fraglos die erkennbare
Kritik an einem System, das auch und gerade den inter- und transnationalen
Kunstmarkt selbst beherrscht. Denn wird dabei nicht das Andere – sagen wir
hier: die chinesische Kultur – einfach einverleibt, zur bloßen Wertzuschreibung
innerhalb eines weltweit operierenden Kunstmarkts herabgewürdigt? All dies
ist richtig; und doch bleiben Ai Weiweis Kunstwerke nicht auf diese unmittelbar ablesbare, allzu plakativ aufgetragene Kritik beschränkt.
Denn selbstverständlich bedient sich der Künstler selbst in seiner Serie eben
dieser Marktmechanismen, die einen westlich beherrschten Kunstmarkt in der
vierten Phase beschleunigter Globalisierung auszeichnen. Man darf in diesem
Sinne sehr wohl von einem hintergründigen Rückgriff auf den Vorwurf des
Coca-Colonialism sprechen, wird dieser doch im Aufschreiben des global
Vermarkteten ebenso als Teil einer globalen Zirkulation von Waren und Wissen – und oftmals in der Form von wahrem Wissen – sichtbar gemacht. Die
Urnen und Vasen tragen nicht nur die sie ergreifenden globalisierenden Prozesse zur Schau, sondern auch die Art und Weise, wie sie sich selbst unter produktivem Rückgriff auf diese Prozesse in Umlauf setzen und ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgen.
Wir haben es in der Konsequenz mit einer Kunst zu tun, die ihrerseits den
globalen Schriftzug überschreibt, indem sie ihn für sich nutzbar macht, ohne
damit doch das ihrer eigenen Schrift Zugrundeliegende auszulöschen, auszuradieren, vermeintlich unsichtbar zu machen. Es ist im Gegenteil präsenter denn
je. Denn diese Objekte sind noch immer Behältnisse aus dem Neolithikum, aus
der Han- oder Tang-Dynastie: Sie setzen ihrer Einverleibung in ein globales
System des Kapitalismus Widerstand entgegen. Dieser Widerstand ist freilich
keiner Ästhetik des Widerstands verpflichtet, sondern nutzt die Widerständigkeit des Ästhetischen, um dessen Vieldeutigkeit als ästhetische WiderstandsKraft4 zu nutzen.
4 Zum ästhetischen Begriff der Kraft vgl. die Überlegungen von Christoph Menke: Kraft.
Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
223
Dies gilt auch und gerade für die Zirkulationsformen und die Zirkulationsnormen des Globalen. Denn auch hier erfolgt die Einschreibung ins Globale
als ein Aufschreibevorgang, der ohne die globalen Medien – und insbesondere
das weltweite Gewebe des Internet – kaum möglich wäre. Insofern ist in dieser
Hinsicht die Bemerkung ebenso zutreffend wie zugleich unzureichend, daß es
bei der Bemalung einer Urne aus der Han-Dynastie um „die Auseinandersetzung der chinesischen Künstler mit der Kultur und dem Markt des Westens“5 gehe. Denn wir haben es hier mit Künstlern zu tun, die zu wahren
Experten auf dem Gebiet weltweiter Kommunikation in real time geworden
sind und insbesondere im Internet die Widerstands-Kraft des Ästhetischen –
den eigenen Interessen und Zielen entsprechend – auf weltweit unübersehbare
Weise vorzuführen verstehen. Nicht umsonst wurde Ai Weiwei im Oktober
2011 vom britischen Magazin Art Review an Nummer 1 seiner „Power 100“Liste gesetzt und damit zum weltweit einflußreichsten Vertreter der Kunstwelt
gewählt.6 Diese Wirkmächtigkeit seines künstlerischen Agierens ist auch in
der hier besprochenen Serie sehr deutlich. Mag ihn die politische Führung seines Heimatlandes auch durch zeitweilige Inklusion dauerhaft zu exkludieren
versuchen: Der Versuch einer derartigen Exklusion führt letztlich nur zu einer
umso dauerhafteren Inklusion in die Machtsphäre einer transarealen Kunstszene, in der die Künstler ohne festen Wohnsitz längst schon ihre eigenen, einzelne Areas dynamisch überspannenden und querenden Heimaten gefunden,
erfunden und lebbar gemacht haben.
Wer immer sich heute mit chinesischer Gegenwartskunst auseinandersetzt,
wird die Tatsache nicht ignorieren oder gar leugnen können, daß Internetauftritte und Blogs nicht nur bloße aktuelle Vehikel, sondern Ausdrucksformen
und damit Bestandteile des künstlerischen Schaffens auch und gerade in China
(wie auch anderswo) geworden sind. Als im Jahr 2005 im Reich der Mitte die
erste Bloggerkonferenz stattfand, wurden viele Künstler von Sina, einer der
größten Internetfirmen des Landes, dazu eingeladen, sich mit eigenen Blogs
kreativ zu beteiligen. Viele nahmen diese Einladung umgehend an – darunter
auch Ai Weiwei, dessen erster Blogtext gelautet haben soll: „Um etwas auszudrücken, braucht man einen Grund – der Ausdruck ist der Grund.“7
Die Anerkennung dieses Teils des Schaffens als Kunst ist daher ein wichtiger Fortschritt, der zugleich verhindert, in Ai Weiweis Serie nur eine plakative
und bestenfalls gut in Szene gesetzte Anklage eines weltweit allgegenwärtigen
Coca-Colonialism zu sehen. Vielmehr wird diese Kunst selbstreflexiv, wendet
ihr Aufschreiben des Globalen in eine Reflexion über die eigenen Verfahren
5 Samuel Herzog: Coca-Cola aus der Han-Dynastie. „Mahjong“ – eine grosse Ausstellung
chinesischer Gegenwartskunst in Bern. In: Neue Zürcher Zeitung (Zürich) 138 (16. Mai
2005), S. 43.
6 Vgl. hierzu den Bericht in Spiegel Online vom 13. Oktober 2011.
7 Zit. nach Marianne Burki/Li Zhenhua: Die Kunst, die wir nicht sehen. Die Bloggerszene
in China und das Verhältnis sozialer Netzwerke zur Kunst. In: Neue Zürcher Zeitung
(Zürich) NZZ-Online (12. September 2011).
224
der Globalisierung von Kunstwerken, deren virtuelle Existenz ebenso künstlerisch verdichtet ist wie die Materialien und Gegenstände, deren sie sich nicht
selten souverän bedient. Dieses Selbstreflexivwerden einer globalisierten und
globalisierenden Kunst macht gleichsam auf den blinden Fleck ihrer eigenen
Genese künstlerisch aufmerksam, schließt doch jegliche Erkenntnis das Erkennen jenes blinden Fleckes mit ein, der – wie das Austreten des Sehnervs
auf die Netzhaut im Auge – zur unhintergehbaren Voraussetzung jeglichen
Sehens, jeglichen Wissens und ästhetischen Gestaltens diesseits wie jenseits
aller Prozesse von Sichtbarmachung wird.
Daß aber zugleich mit Blick auf die nationalen Gestaltungsbedingungen die
Souveränität der Kunst in China (wie auch anderswo) ihre Grenzen hat, zeigen
die Repressionsmaßnahmen, denen die chinesischen Künstler im Internet (und
auch anderswo) ausgesetzt sind, mit aller unübersehbaren Deutlichkeit. Diese
Repression führt zugleich vor Augen, wie wirkungsvoll die ästhetische Widerständigkeit ist, deren Kraft sich Künstler wie Ai Weiwei im weltweiten Gewebe zu versichern verstehen. Lokale Repression wird dadurch translokalisiert
und letztlich transareal sichtbar und erlebbar gemacht.
Daß sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter eine große Bedeutung
innerhalb dieses Prozesses zukommt, ist längst – und nicht erst seit dem sogenannten ‘arabischen Frühling’ – keine strittige Frage mehr. Diese sich quasi
selbst generierenden Netzwerke genießen zweifellos in Ländern wie China ein
höheres Vertrauen als die öffentlichen Medien und Verlautbarungsmaschinerien, so daß man mit guten Gründen ihre Nutzungsweise „irgendwo zwischen
Wikileaks und ihrem westlichen Gebrauch“ ansiedeln kann.8 Auch wenn mit
staatlichen Mitteln bei hohem Aufwand versucht wird, die Bloggerszene und
gezielt auch bestimmte Künstler auszumanövrieren, ist doch die Tatsache unleugbar, daß Ai Weiweis Ausstellungen weltweit auf allen fünf Kontinenten
präsent sind und ihre virtuellen Dimensionen längst ihrerseits wieder zum Gegenstand spezialisierter Ausstellungen – wie erst vor kurzem etwa in Winterthur9 – geworden sind.
Facebook und Twitter sind im Verein mit anderen Netzwerken folglich dafür verantwortlich, daß sich auf einer weiteren Meta-Ebene die Kunst nicht nur
zur westlichen Globalisierung kritisch äußert und zugleich ihre eigene Globalisierung selbstkritisch überdenkt, sondern diese Globalisierung eigenständig
steuert, um sie dann selbst wiederum einem kritischen Hin- und Herschalten
zwischen Kunstproduzenten, Kunstkonsumenten und Kunstkritikern im weltweiten Maßstab auszusetzen. Die Logiken einer derartigen Kunst schließen die
Kunst ein, die Logiken weltweiter Zirkulationsnormen und -formen künstlerisch produktiv zu machen.
Was aber heißt „im weltweiten Maßstab“? Betrachtet man eine Weltkarte,
welche die Beziehungen der Facebook-Nutzer untereinander (Abb. 11; Stand
8 Ebda.
9 Ebda.
225
Dezember 2010) visualisiert,10 so wird rasch deutlich, daß von einem flächendeckenden sozialen Netzwerk nicht die Rede sein kann. Die erwartbare Tatsache, daß sich die intensivsten und engsten Beziehungen auf der Nordhalbkugel
und dort wiederum zwischen den USA und Europa ausmachen lassen, verweist zugleich auf das Faktum, daß wir es im eigentlichen Sinne mit mehr oder
minder großen Inseln von Facebook-Nutzern zu tun haben, die innerhalb dieser derzeit über 800 Millionen Menschen umfassenden Gemeinschaft miteinander über teilweise sehr große Distanzen hinweg im Austausch stehen. In der
Rangliste der Länder steht die Zahl der Nutzer in den USA an erster Stelle, gefolgt von Großbritannien, Indonesien, der Türkei, Frankreich, Italien, Canada,
den Philippinen, Mexico, Spanien und Indien. Erst nach Argentinien und Kolumbien folgt Deutschland übrigens an vierzehnter Stelle.11 Die höchste Dichte
an Facebook-Nutzern pro Einwohner findet sich demnach in Hongkong, gefolgt von Canada, Großbritannien und den USA; China fehlt in dieser Darstellung, wobei als Hauptgrund dieser ‘Ausblendung’ Repressalien von seiten
der chinesischen Regierung ins Feld geführt werden.12
Abb. 11: Weltkarte vernetzter Nutzer von Facebook (Dezember 2010).
Selbstverständlich wären in eine ausführlichere Beschäftigung mit derartigen weltweiten Relationalitäten auch andere soziale Netzwerke und Anbieter
10 Vgl.<http://a6.sphotos.ak.fbcdn.net/hphotosaksnc4/163413_479288597199_9445547199_ 5658562_8388607_n.jpg> – ich danke
Winfried Gerling für diesen Hinweis. Zur Gemeinschaft der Nutzer von Facebook vgl.
Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Bielefeld: transcript Verlag
2011.
11 Diese Rangliste findet sich auf <http://internet.cytalk.com/2010/07/where-in-the-world-isfacebook-used/>.
12 Ebda.
226
neben dem gleichwohl dominanten Facebook miteinzubeziehen.13 Entscheidend für die hier gewählte Fragestellung aber ist, daß eine derartige auf den
Beziehungen zwischen einzelnen Facebook-Nutzern beruhende Weltkarte zum
einen verdeutlicht, wie ungleich die Nutzung solcher sozialer Netzwerke und
gewiß auch der Zugang zum Internet überhaupt verteilt sind. Zugleich wird
deutlich, daß Ländergrenzen auf dieser Weltkarte zwar abgebildet werden,
keineswegs aber das dominante Charakteristikum angesichts der mobilen, dynamischen Beziehungen darstellen, die sich zwischen unterschiedlichen Areas
unseres Planeten herausgebildet und hergestellt haben. Vor allem aber zeigt
dieses mobile mapping auf sehr anschauliche Weise, daß es weniger Strukturen territorialer Kontinuität als vielmehr offene Strukturierungen dynamischer
Relationalität sind, welche das Welt-Bild dieser Weltkarte ausmachen. Mit einem wie auch immer gearteten spatial turn werden wir derart hochdynamischen Verhältnissen nicht gerecht und bleiben auf der kultur-, kunst- und literaturtheoretischen Ebene gegenüber künstlerischen Prozessen der vierten
Phase beschleunigter Globalisierung, wie sie die Kunstpraktiken von Autoren
wie Ai Weiwei geradezu artistisch entfalten, unrettbar unterkomplex.
Übersehen werden darf dabei freilich nicht, daß die sich etwa in Facebook
oder Twitter herausschälenden insularen, archipelischen und transarchipelischen Verbindungsmuster keineswegs dezentrierte, offene Strukturierungen
mit vielfachen Logiken darstellen, sondern durchaus innerhalb fester, von den
USA her zentrierter Strukturen global agieren. Die Asymmetrien früherer Phasen beschleunigter Globalisierung haben sich nicht einfach verflüchtigt, sondern sind – insbesondere in vektorisierter Form – noch immer allgegenwärtig.
In diesem Sinne handelt es sich bei den hier herangezogenen sozialen
Netzwerken um ein virtuelles Produkt der Massenkultur, das in seinem Design
auf eine möglichst weltweite Verbreitung und Verwendung ausgerichtet ist,
für eine bestimmte Spannbreite kulturell unterschiedlich bedingter Rezeptionsweisen offensteht, in seinem strategischen Gemachtsein im Rahmen der
in diesem Band vorgestellten Überlegungen aber keineswegs naiv affirmiert
werden soll. In Verbindung mit den eingangs vorgestellten und analysierten
künstlerischen Praktiken eines Ai Weiwei handelt es sich um eine experimentelle Modellierung unterschiedlichster Praktiken künstlerischer Produktion,
Distribution und Rezeption, wie sie im Zeichen der vierten Phase beschleunigter Globalisierung nicht ohne die ungleichen Bewegungsmuster vorgängiger Phasen globaler Beschleunigung gedacht werden kann.
Diese Überlegungen beinhalten zweifellos Einblicke und Einsichten von
erheblicher Tragweite ebenso für ein Verständnis der aktuellen vierten Phase
beschleunigter Globalisierung wie für die Bedingungen der künstlerischen, literarischen und kulturellen Produktivität und Kreativität. Denn diese Produktion erfolgt in einer Welt, die im räumlichen Sinne weniger durch Kontinuitäten als durch Diskontinuitäten, weniger durch Stabilitäten als durch Mobilitä13 Vgl. hierzu die Weltkarten unter <http://www.internetradierer.de/social-media-networks/
facebook-regiert-die-welt.html>.
227
ten und weniger durch kontinentale als durch archipelische Strukturen und
Strukturierungen gekennzeichnet wird. Wenn es auffällig ist, wie hoch die
Dichte an Nutzern von Facebook gerade auf Inseln und Archipelen – wie Indonesien oder den Philippinen, der Karibik, Hawaii oder auch Hongkong – ist,
dann wird bei einem zweiten Blick deutlich, daß es nunmehr archipelische und
transarchipelische (wenn auch nicht notwendigerweise offene) Relationalitäten
sind, die den im Internet und in sozialen Netzwerken stattfindenden Austausch
zwischen Menschen auf unserem Planeten kennzeichnen und prägen. Das
Aufschreiben des Globalen läßt sich einschließlich seiner Aufschreibesysteme
200014 heute als ein transarchipelischer, zutiefst transarealer Vorgang beschreiben und begreifen, der die ebenso kunst- wie literaturtheoretische Entfaltung
von Poetiken der Bewegung im Zeichen beschleunigter Globalisierungsprozesse unumgänglich macht.
Unsichtbare Kontinente und Archipele der Sichtbarkeit
Wenn man Ai Weiwei unter den zahlreichen prominenten Künstlern Chinas als
„den einzigen, der weit über die Kulturszene hinaus eine globale Wahrnehmung“ genieße,15 bezeichnen und begreifen will, warum dieser Künstler
„für eine jüngere Generation das Gesicht eines neuen China, das sich kulturell
auf Augenhöhe mit globalen Mitstreitern bewegt“16, repräsentiert, dann gilt es
mitzubedenken, daß seine weltweite Präsenz sich nicht allein auf spektakuläre
Ausstellungseröffnungen oder auf kreative Aktionen gründet, wie er sie etwa
für die Documenta in Kassel entworfen hat, sondern sich auch jener Allgegenwart im Netz verdankt, die in diese Geographie materieller Ausstellungsobjekte
beständig ein mobiles mapping virtueller ‘Anwesenheiten’ hineingewoben hat.
Der Intellektuelle und effiziente Regimekritiker ist zweifellos ein transarchipelischer Netzkünstler.
Wenn Ai Weiwei aus ethischer Verpflichtung und künstlerischem Engagement heraus am Haus der Kunst in München 2008 die Rucksäcke und Schulranzen jener Kinder zu einer großen Installation versammelte, deren Tod die
chinesische Regierung totschweigen wollte, oder bei der Documenta 2007 nicht
weniger als 1001 Chinesen eigens nach Kassel reisen ließ, um im Rahmen dieser lebendigen Reise-Erfahrung all das zu notieren, was sie auf ihrer Besucherreise erleben würden, dann funktioniert die von ihm entfaltete künstlerische
Kreativität wie ein soziales Netzwerk, das die transarealen Beziehungen zwischen den Menschen unterschiedlicher ‘Inseln’ in den Mittelpunkt rückt.
Immer wieder geht es ihm dabei um ein Erinnern mit Blick auf die Zukunft.
So unterschied er in einem Blog vom 28. Juli 2006 mit dem schönen Titel
14 Mit diesem Begriff wird noch einmal verwiesen auf die bereits mehr als ein
Vierteljahrhundert zurückliegende Veröffentlichung von Friedrich A. Kittler:
Aufschreibesysteme 1800–1900.
15 Gerhard Mack: Ai Weiwei will sein Land und die Welt wachrütteln. In: Neue Zürcher
Zeitung (Zürich) NZZ-Online (10. April 2011).
16 Ebda.
228
„Nachbeben“ nicht nur „zwei Arten von Katastrophen: die sicht- und messbaren Naturkatastrophen und die nicht messbaren psychischen Katastrophen“17
voneinander, sondern machte zugleich deutlich, welche tödlichen Folgen das
Totschweigen für die Überlebenden haben kann: „Wenn man das kollektive
Gedächtnis eines Volkes auslöscht und seine Fähigkeit zur Selbstreflexion zerstört, dann ist es, als würde man einen lebendigen Organismus seines Immunsystems berauben.“18 Es sind die Katastrophen, für die die Kunst nicht nur ein
(kulturelles, kollektives) Gedächtnis, sondern auch eine prospektive Perspektivik schafft.
Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich kein Zufall, daß unter den jahrtausendealten Objekten, die Ai Weiwei mit dem Schriftzug von Coca-Cola überschrieb, nicht selten auch Urnen waren, die bei Performances des Chinesen
zerschlagen wurden.19 Ein barbarischer Akt, der allein der eigenen Publicity
dient? Die Destruktion bis zu 7000 Jahre alter neolithischer Urnen kann zweifellos als provozierende ikonoklastische Kritik an der rücksichtslosen Zerstörung von Kulturgütern durch die chinesische Regierung aufgefaßt werden,
weist zugleich aber auch in der ästhetischen Refunktionalisierung dieser ErdKörper auf die Dimension des Lebens hin. Denn diese Urnen wurden nicht nur
vor Menschenaltern von Menschenhand geformt, sie waren auch erdacht für
die sterblichen Überreste von Menschen, deren Namen nicht auf uns gekommen sind.
Hatte Ai Weiwei trotz vielfacher Repressalien gemeinsam mit zahlreichen
Helfern den erfolgreichen Versuch unternommen, die Namen der getöteten
Schulkinder in Erfahrung zu bringen, die ihr Leben aufgrund schlampiger Baubestimmungen und -ausführungen in China verloren, so stehen auch die mit
dem Logo von Coca-Cola versehenen Urnen für den Versuch, unseren Planeten
dadurch mit neuem Leben zu erfüllen, daß Beziehungen zwischen Menschen
aus den entferntesten Weltgegenden durch die Herstellung eines unmittelbaren
Austauschs geschaffen werden. Insofern ist die Kunst von Ai Weiwei eine Lebens-Kunst, die den Erd-Körper, unseren Planeten, im Blick hat und sich
darum bemüht, das auf den ersten Blick nicht miteinander Zusammenhängende
zu verknüpfen und neue Relationalitäten zu erschaffen, die in einem weltweiten
Sinne transarchipelisch sind. Ein Chinesisches Meer/Mehr der Kunst.
Diese hochdynamischen transarchipelischen Beziehungsnetze bilden zweifellos ein Charakteristikum ebenso des Lebens an der Wende vom 20. zum
17 Ai Weiwei: Nachbeben. In: ders.: Macht euch keine Illusionen über mich. Der verbotene
Blog. Ins Deutsche übertragen von Wolfram Ströle, Norbert Juraschitz, Stephan Gebauer,
Oliver Grasmück und Hans Freundl. Herausgegeben von Lee Ambrozy. Berlin: Verlag
Galiani 2011, S. 187.
18 Ebda., S. 188 f. Zum Zusammenhang zwischen Kunst und (Kultur-)Politik in Ai Weiweis
China vgl. Peter Pakesch (Hg.): Art and Cultural Policy in China. A conversation between
Ai Weiwei, Uli Sigg and Yung Ho Chang, moderated by Peter Pakesch. Wien/New York:
Springer Verlag 2009.
19 Vgl. hierzu auch den Bericht zur Ausstellung: Arcadia University Art Gallery Presents:
„Ai Weiwei: Dropping the Urn“. In: <http://gargoyle.arcadia.edu/gallery/09-10/ai.htm>.
229
21. Jahrhundert wie jenes Lebenswissens, das die Literaturen und die Künste
in sich zu kondensieren, zu verdichten und zu transformieren verstanden haben. Der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio hat in seinem 2006 erschienenen Reisetext20 Raga. Approche du continent invisible
(Raga. Annäherung an den unsichtbaren Kontinent) den ozeanischen Raum als
seine Landschaft der Theorie21 gewählt und das bewegliche Bild einer InselWelt und Inselwelt entworfen, die durch die transarchipelischen Beziehungen
zwischen den einzelnen Inseln und Inselgruppen charakterisiert wird.22 Diese
Annäherung an den „unsichtbaren Kontinent“, der ausschließlich aus den Inseln und den diese verbindenden Meeren besteht, geht dabei von einer höchst
komplexen, verschiedenen Zeiten entstammenden und nur aus unterschiedlichen Logiken heraus verstehbaren Vielverbundenheit aus, die vorwiegend,
aber keineswegs ausschließlich von der Insel Raga beziehungsweise Pentecoste, der Pfingstinsel im Archipel des jungen südpazifischen Inselstaates Vanuatu, her entworfen wird.
Die keineswegs allein geographisch, sondern kulturell begründete Diversität der Geschichte(n) innerhalb des südpazifischen beziehungsweise ozeanischen Raumes wird immer wieder betont. So heißt es etwa im Kapitel ‘L’art
de la résistance’ (Die Kunst des Widerstands):
Gibt es heute ein „pazifisches“ Bewußtsein (wie man von einem „lateinamerikanischen“
oder „afrikanischen“ Bewußtsein sprechen könnte)? Die extreme Zerstückelung dieses
unermeßlichen maritimen Raumes und der gemeinsame Kampf gegen die Kolonialmächte
scheinen Bande zwischen den Völkern geknüpft zu haben.
Zahlreiche Inseln sind noch heute unter Vormundschaft oder gar unter einem kolonialen
Regime: der Tahiti-Archipel, die Markisen-Inseln, die Loyality-Inseln oder Neu-Kaledonien, ebenso Hawaii, Guam, Samoa. Andere sind mit größerem oder geringerem Erfolg zur
Unabhängigkeit gelangt – und haben nun die Schwierigkeiten der Autonomie kennengelernt, also Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unterentwicklung, die Übermacht der Industriestaaten oder den rücksichtslosen Tourismus. Aber die Informationen zirkulieren. Es entstehen Bande zwischen den Inseln, zwischen den Archipelen. Selbstverständlich geht es dabei
vor allem um wirtschaftliche Interessen, um Marktchancen.
20 Zu literarischen Inszenierungsformen des Reisens bei Le Clézio vgl. Bernadette Rey Mimoso-Ruiz (Hg.): J.M.G. Le Clézio. Ailleurs et origines: parcours poétiques. Actes du
Colloque 9, 10 & 11 décembre 2004. Toulouse: Editions Universitaires du Sud 2006; Isa
Van Acker: Carnets de doute. Variantes romanesques du voyage chez J.M.G. Le Clézio.
Amsterdam/New York: Rodopi 2008; sowie Claude Cavallero: Le Clézio: témoin du
monde. Essai. Paris: Editions Calliopées 2009.
21 Vgl. zu diesem Konzept die Kapitel 1 (dritte Dimension des Reiseberichts), 2 und 11 von
Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika.
22 In vielen Werken Le Clézios stehen Uferlandschaften für die „Utopie einer anderen Welt“
ein; vgl. hierzu Luc Rasson/Bruno Tritsmans: Ecritures du rivage: mythes, idéologies,
jeux. In: L’Esprit Créateur (Baton Rouge) LI, 2 (2011), S. 1; sowie ausführlich Isabelle
Roussel-Gillet: Plages-mémoires de J.M.G. Le Clézio. In: L’Esprit Créateur (Baton
Rouge) LI, 2 (2011), S. 81–96.
230
Gleichwohl zeichnet sich ein anderer Typus von Beziehungen ab, etwas, das aus Erinnerungen, Gefühlen besteht. Vielleicht ist etwas übrig von den alten Schwingungen, etwas
vom Klang der Schlitztrommeln, der von Insel zu Insel drang, von den Masken, den Tätowierungen, den auf die Erde gezeichneten ruerues oder von dieser undeutlichen und fluktuierenden Stimme der Mythen, welche früher diese Völker vereinigten, von einem Rand
zum anderen in diesem unendlichen Ozean.23
Der Text läßt Inseln und Archipele in einem endlosen Ozean entstehen, die in
ihrer geschichtlichen, kulturellen und sprachlichen Verschiedenartigkeit einen
Bewegungs-Raum abstecken, innerhalb dessen alles mit allem verbunden
werden kann. So entsteht ein anderer Typus von Kontinent: ein Kontinent, der
aus Inseln gemacht ist, die alles Kontinuierliche ebenso unterlaufen wie alles
im traditionellen Sinne Kontinentale. Hier wird nicht ein Kontinent so als Insel
gedacht, wie man die Kontinente Australien oder Amerika als riesige Inseln
ansprechen könnte, sondern gleichsam poly-nesisch eine Polyrelationalität
zugleich vorgefunden und erfunden, die auf der Alltagsebene zunehmend erlebt und auch gelebt werden kann. In diesem Dreieck von Vorgefundenem, Erfundenem und Erlebtem oder noch zu Lebendem entsteht eine aus der Landschaft heraus destillierte Theorie, innerhalb derer ein Kontinent als eine sich
ständig neu aufeinander beziehende transarchipelische Polylogik verstanden
werden kann und verstanden werden soll. Dieser Kontinent neuen Typs ist unsichtbar und gleichwohl real, ragt aus den Wassern empor und ist doch in ihnen wie durch sie verbunden.
Der reale Jean-Marie Gustave Le Clézio bezieht sich in seinem Text über
Raga auf eine nicht weniger reale Reise, die er als Teil des von Edouard Glissant, dem berühmten, Anfang 2011 verstorbenen martinikanischen Dichter
und Kulturtheoretiker initiierten Projekts Les peuples de l’eau (Die Völker am
Wasser) unternahm. Er nutzte dabei zum Teil die Möglichkeit, an Bord der
Fregatte La Boudeuse – der Name dieses Schiffes nimmt jenen des Flaggschiffs der Expedition von Bougainville in die Südsee geradezu augenzwinkernd wieder auf – die ozeanische Inselwelt zwischen den Kontinenten Amerikas, Asiens und Australiens kennenzulernen. Dieser Dreimaster, dessen
Name folglich direkt und unübersehbar auf die großen Entdeckungsreisen des
18. Jahrhunderts in den pazifischen Raum und damit auf die zweite Phase beschleunigter Globalisierung verweist, war 2004 – im vorliegenden Kapitel
wird darauf noch ausführlicher zurückzukommen sein – von Korsika aus zu
einer Weltumsegelung aufgebrochen, zu der für einzelne Teilabschnitte zwölf
Schriftsteller und Journalisten eingeladen wurden, die jeweils an einer der Expeditionen teilnahmen.
Wenn schon früh in Le Clézios Raga die stolze Silhouette der „außerordentlichen Boudeuse, auf der ich einen Teil meiner Reise unternahm“, in einer
Bucht vor der Insel liegend eingeblendet wird,24 dann ist es keineswegs ein
23 J.M.G. [Jean-Marie Gustave] Le Clézio: Raga. Approche du continent invisible. Paris:
Seuil 2006, S. 109 f.
24 Ebda., S. 56.
231
Zufall, wenn die Insel Raga am Ende des Bandes „vom Bordfenster der zweimotorigen Canadair von Vanair aus“ aus dreitausend Meter Höhe ein letztes
Mal gesehen wird.25 Der Text verknüpft hier sehr bewußt die entscheidenden
Fortbewegungsmittel der zweiten und der vierten Phase beschleunigter Globalisierung miteinander, die Fregatte und das Flugzeug, um damit zugleich Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Blick zu nehmen. Die nicht mit Le
Clézio zu verwechselnde Erzählerfigur weiß sich als Teil dieser Kontinuitäten,
weiß sich als Teil dieser Brüche, die sich doch immer noch als vektorisierte,
die alten Bewegungen in die neuen einspeisenden Dynamiken verstehen lassen.
Ebenso wenig ist es überraschend, daß in Raga das Bild von La Boudeuse
vom so ganz anderen Bild der Dampfschiffe jener Blackbirders abgesetzt
wird, die vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. und bis weit über die
Wende zum 20. Jahrhundert hinaus mit ihrer barbarischen Menschenjagd nach
billigen und letztlich versklavten Arbeitskräften die ozeanische Inselwelt
heimsuchten und entvölkerten.26 In diese Zeit der dritten Phase beschleunigter
Globalisierung fällt die bislang wohl dunkelste Epoche jener rücksichtslosen
Ausplünderungen, die zunächst im großen Stil von England und Frankreich,
bald aber auch von den USA, Australien und (zumindest vorübergehend) dem
Deutschen Reich aus ins Werk gesetzt wurden. Im weiteren Verlauf dieses
Kapitels wird auf diese Verbindungen zwischen der ersten, der zweiten, der
dritten und der vierten Phase beschleunigter Globalisierung in Le Clézios
Raga noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein.
Jedoch erscheint es an dieser Stelle als noch dringlicher, auf jene Passagen
im Text des französischen Schriftstellers aufmerksam zu machen, welche die
buchstäbliche Eroberung der ozeanischen Inselwelt durch weitgereiste Anthropologen und Wissenschaftler, aber auch Sensationsreporter, Filmemacher
und Geschichtenerzähler unterschiedlichster Couleur ins Bewußtsein einer
weltweiten, aber gewiß auch europäischen und französischen Leserschaft zu
rufen versuchen. Waren es nicht sensationslüsterne Filmemacher, die 1962 mit
einem ‘Doku-Schocker’ den gesamten Raum für die Europäer in eine „verlorene Welt“ von „Kannibalen“ verwandelten, die als „Überlebende aus der
Steinzeit“ noch gänzlich von der Magie geprägt seien und von der Zivilisation
nichts wüßten?27 Zum Schlimmsten aber zählten auch „jene patriotischen
Schriften der Kolonialzeit, als sich die Großmächte um den Besitz der Inseln
und ihrer Bewohner“ bekriegten, wie etwa Erromango von Pierre Benoit, das
in der Zwischenkriegszeit erschien und wo dieser Autor „das französische
Schicksal der Neuen Hebriden“ unterstreicht.28 Und habe – so die Erzähler25 Ebda., S. 122.
26 Kritik an einigen Fehlern, die Le Clézio bei derartigen historischen Rückblicken unterliefen, äußert Gilles Bounoure in seiner Rezension von Raga in Le Journal de la Société
des Océanistes (Marseille) 125 (2007), S. 337.
27 Jean-Marie Gustave Le Clézio: Raga, S. 121.
28 Ebda.
232
figur in Raga – „in seiner Folge nicht ein Journalist in den sechziger Jahren
Neu-Kaledonien als den größten Flugzeugträger der französischen Marine bezeichnet?“29
Zweifellos waren diese für die Bewohner Ozeaniens, aber auch anderer
Teile der Tropen bedrohlichen Entwicklungen schon weitaus früher absehbar
gewesen. Denn bereits Mitte des 20. Jahrhunderts arbeitete der französische
Anthropologe und Mythenforscher Claude Lévi-Strauss in einem beeindruckenden kleinen Band heraus, wie weit die Zerstörung der längst traurig
gewordenen Tropen gleichsam transtropisch fortgeschritten war. Nicht umsonst tauchte schon zu Beginn der nachfolgend zitierten Passage der Verweis
auf jenes militärische ‘Wunderwerk’ des Flugzeugträgers auf, in dem sich die
Entwicklungslinien des Dampfschiffs und des Flugzeugs miteinander verbinden und es den Weltmächten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubten, die Insel-Strategie der iberischen Mächte der ersten Phase beschleunigter Globalisierung mit Hilfe dieser neueren Transportmittel aus der dritten
Phase zu modernisieren und auf einen neuen technologischen Stand zu heben,
wie er im militärischen Kontext für die vierte Globalisierungsphase kennzeichnend werden sollte. Im Kapitel ‘La Quête du Pouvoir’ (Die Suche nach
Macht) liest man bereits Mitte der fünfziger Jahre in einer brillanten Analyse
des Mythologen und strukturalistischen Zeichenlesers:
Wie könnte heute, wo die polynesischen Inseln in Beton versenkt in Flugzeugträger verwandelt wurden, die schwer auf dem Grund der Südsee verankert sind, wo ganz Asien das
Antlitz eines Krankenreviers angenommen hat, wo die Armenviertel Afrika auffressen, wo
die kommerzielle und militärische Luftfahrt die naive Schönheit des amerikanischen oder
melanesischen Urwalds entstellt, noch bevor sie dessen Jungfräulichkeit zerstören könnte,
wie also könnte heute die vorgegebene Evasion der Reise etwas anderes erreichen, als uns
mit den unglücklichsten Formen unserer historischen Existenz zu konfrontieren? Dieser
großen abendländischen Zivilisation, die Wunder geschaffen hat, die wir genießen, ist es
sicherlich nicht gelungen, sie ohne ihren Widerpart hervorzubringen. Wie bei ihrem berühmtesten Werk, an dem sich Architekturen von einer unbekannten Komplexität entfalten,
fordern die Ordnung und Harmonie des Abendlands die Eliminierung einer ungeheuren
Masse schädlicher Nebenprodukte, die unsere Erde längst infiziert haben. Was ihr, ihr Reisen, uns zunächst und in erster Linie zeigt, ist unser Abfall, ins Gesicht der Menschheit geschleudert.30
Der in den Augen der Europäer noch fortbestehende Zauber der alten Entdeckungsreisen – und die Traurigen Tropen werden nicht müde, seinen nunmehr der Vergangenheit angehörenden Glanz ein letztes Mal zu beschwören –
hat nach gerade erst überstandenem Zweiten Weltkrieg und am Vorabend der
vierten Phase beschleunigter Globalisierung einem Entsetzen angesichts all jener Zerstörungen Platz gemacht, welche die tropischen Inselwelten wie ganze
Kontinente im globalen Maßstab erfaßt haben. Daher verwundert es nicht, daß
Claude Lévi-Strauss in seinem auf Brasilienaufenthalte zwischen 1934 und
29 Ebda.
30 Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques. Paris: Plon 1984, S. 36.
233
1939 zurückgehenden und 1955 erschienenen Band Tristes Tropiques auch
den rhetorischen Figuren und Figurationen der Tropen ausgehend von konkreten Reisebewegungen seiner Erzählerfigur nachspürte. Im ersten, bedeutungsvoll mit ‘Das Ende der Reisen’ (La fin des voyages) überschriebenen Teil
seines Bandes findet sich unter der Überschrift ‘Abreise’ ein denkwürdiges incipit:
Ich hasse die Reisen und die Forschungsreisenden. Und gleichwohl stehe ich nun im Begriff, von meinen Erfahrungen zu erzählen. Aber wieviel Zeit brauchte ich, um mich dazu
durchzuringen! Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich zum letzten Mal Brasilien verlassen
habe, und während all dieser Jahre habe ich mir oft vorgenommen, dieses Buch anzugehen;
und jedesmal haben mich eine Art von Scham und Abscheu daran gehindert.31
Der oftmals poetisch verdichtete Band über die Tropen oszilliert in ständigen
Wendungen und Richtungswechseln zwischen dem Schreiben und dem NichtSchreiben, dem Reisen und dem Nicht-Reisen, der Geste des Entdeckens und
der Scham im Bewußtsein des eigenen Anteils an der von Europäern weltweit
verübten Zerstörung. Traurig werden diese Tropen in einem ästhetisch durchdachten Spiel von Spiegelungen entworfen, in welchem die (rhetorische) Figur
des europäischen Entdeckers in einem rousseauistisch eingefärbten Ethnologen und Tropenforscher reflektiert wird, der sich als letztes Glied einer langen
Kette der Entdecker, Forscher und Zerstörer zu begreifen beginnt.
In manchen Lesern mag da Unbehagen aufkeimen. Denn demontiert hier
nicht ein Protagonist der Globalisierung, der an ihr als Reisender wie als Wissenschaftler Anteil hat, jene Mythen, die sich von der ersten Phase beschleunigter Globalisierung bis in die Gegenwart von Lévi-Strauss gehalten haben?
Die reiche Fülle der Tropen blitzt in ihrer Diversität an Völkern, Lebensbedingungen und Kulturen just in jenem Augenblick auf, in dem die von den Europäern ausgehende Destruktion zur Falle geworden ist und ihr Werk zu vollenden scheint: Alles ist dem unwiderruflichen Untergang geweiht, das Ende der
Tropen steht unmittelbar bevor. Wird hier nicht der Strukturalist Claude LéviStrauss zum Dekonstruktivisten avant la lettre?
Doch das Nevermore, das alle Seiten dieses Bandes durchzieht, reißt an einer Stelle dieses Reiseberichts am Ende aller Reisen auf: Ein allerletztes Mal
noch bietet sich dem Forscher des 20. Jahrhunderts jene unerhörte Möglichkeit, die sich den Columbus und Juan de la Cosa, den Vespucci und Villegaignon, den Alvar Núñez Cabeza de Vaca oder Hans Staden lange Jahrhunderte zuvor so oft und so eindrucksvoll geboten hatte:
Es gibt für den Ethnographen keine aufregendere Perspektive als jene, der erste Weiße zu
sein, der in eine indigene Gemeinschaft eindringt. Bereits 1938 ließ sich diese höchste
Entlohnung nur noch in wenigen Weltregionen erringen, die so selten geworden waren, daß
man sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Seither haben sich diese Möglichkeiten weiter verringert. Ich werde also die Erfahrung der alten Reisenden von neuem erleben
31 Ebda., S. 9.
234
und damit zugleich jenen entscheidenden Augenblick des modernen Denkens, an dem dank
der großen Entdeckungen eine Menschheit, die sich vollzählig und vollständig glaubte,
plötzlich – als wäre es eine Gegen-Enthüllung – die Ankündigung erhielt, daß sie nicht alleine war, daß sie Teil einer umfassenderen Einheit war, und daß sie zunächst, um sich
überhaupt zu kennen, ihr verkennbares Bild in diesem Spiegel betrachten mußte, dessen
von den Jahrhunderten vergessener Teil für mich allein seinen ersten und letzten Widerschein werfen sollte.32
Die Erfahrung dieses „einzigen totalen Abenteuers, das sich der Menschheit
anbietet“33, öffnet sich im Zeichen jenes welthistorischen Prozesses, der mit
Christoph Columbus, Juan de la Cosa, den Brüdern Pinzón oder Amerigo
Vespucci begann, auf ein Bild völliger Zerstörung – in gewisser Weise so, wie
es Las Casas’ kurzgefaßter Bericht über die grauenvollen Zerstörungen in den
Kolonien, seine Brevísima relación de la destrucción de las Indias, bereits auf
für das europäische Gedächtnis unvergeßliche Weise entworfen hatte. Europa
wußte, was es zerstörte, ohne doch zu kennen, was es nie mehr geben sollte.
Das Ende der Tropen und ihrer Bewohner war seit Beginn des 16. Jahrhunderts nicht zuletzt auch eine Trope des europäischen Denkens und Schreibens:
in Hayden Whites Sinne in der Form der Tragödie, mit deutlichen Übergängen
zur Apokalypse. Früh schon wurden die Tropen von den Europäern nur insofern als Fülle erfahren, als sie stets auch zugleich als Falle gefühlt werden
konnten.
Auf der Grundlage eben dieses Mechanismus wird in einer entscheidenden
Passage von Tristes Tropiques ein letzter, von der europäischen Zivilisation
noch nicht erfaßter Stamm ‘entdeckt’ und damit zugleich ‘verdeckt’, zum Verschwinden gebracht: für immer ausgelöscht. Im Verschwinden der Tupi-Kawahib zeigt sich nicht zuletzt auch das Desaster eines europäischen Dursts
nach einem Wissen, das nicht auf ein Wissen vom Zusammenleben mit dem
Anderen gerichtet ist und dessen globales Triumphieren mit allen zu Gebote
stehenden literarischen Mitteln als globales Scheitern vorgeführt wird. Wir
hatten bei unserer Untersuchung der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung bereits gesehen, wie diese höchst problematische Dimension der Zerstörung durch ein absolutes Wissen-Wollen schon von Cornelius de Pauw in aller
Deutlichkeit erkannt und gegeißelt worden war.
Nicht mehr die Karavellen, wohl aber die Flugzeuge skizzieren Kartographien und Choreographien, aus denen die Regenwälder und Urwälder dieses
Planeten Stück für Stück verschwinden: Das Gesicht der Welt wird entstellt.
Die Tropen des Diskurses signalisieren planetarische Räume, die nicht allein
im Zeichen der Fülle, sondern im Zeichen einer apokalyptischen Falle stehen –
einer Apokalypse, die gewiß nicht mehr nur die amerikanischen Tropen, sondern die Tropenwelt überhaupt transtropisch erfaßt. Eine Menschheit, die sich
in der Fülle ihrer Möglichkeiten wähnt, sitzt in der Falle, in ihrer Falle.
32 Ebda., S. 387.
33 Ebda., S. 82.
235
So ist Amerika allein von Amerika aus nicht mehr zu begreifen. Denn die
Erzählerfigur in Lévi-Strauss Traurigen Tropen zeigt auf, wie vor dem Hintergrund der Zerstörung der Tropen Amerikas, Asiens und Afrikas die Entwicklungen in den Amazonasgebieten nur aus der weltumspannenden Dimension
der Tropen heraus noch verstanden werden können. Dies stellt, wie wir sahen,
keineswegs ein neues Phänomen dar: Denn bereits im 16. Jahrhundert bauten
die iberischen Mächte jene weltweiten Infrastrukturen auf, die Mexico über
den Hafen von Veracruz und die Karibik nicht nur transatlantisch mit Europa
verbanden, sondern über den Hafen von Acapulco und die Philippinen
transpazifisch mit dem Handel in Asien verknüpften.34 Die europäischen
Sammlungen von Reiseberichten wie etwa die höchst einflußreiche von Giovanni Ramusio konzentrierten sich am Ausgang der ersten Phase beschleunigter Globalisierung nicht auf einzelne Kontinente oder Regionen, sondern
enthielten neben Reisen in die Neue Welt ganz selbstverständlich auch Berichte über die Tropen in Afrika und Asien.
Die disziplinären und mehr noch disziplinierenden Ordnungen unserer
Wissenschaften haben – von der Anthropologie und Ethnologie über die Geschichtswissenschaft bis hin zu den Philologien – im 19. und 20. Jahrhundert
diese Zusammenhänge weiter in den Hintergrund gedrängt und dank ihrer
Spezialisierung auf einzelne Areas verschleiert, ja zum Verschwinden gebracht. Es ist heute zweifellos an der Zeit, nicht nur im Bereich der Klimatologie die Tropen transtropisch zu verstehen und die auch in Zukunft notwendigen Area Studies durch TransArea Studies anders auszurichten und neu zu
perspektivieren. Zugleich sind – wie es im vorliegenden Band bereits beabsichtigt ist und wie es in ihm versucht wird – territorial verankerte Geschichtsauffassungen durch vektoriell fundierte Formen von Bewegungsgeschichte zu
erweitern und zu transformieren. Denn wir kommen an einer schlichten Tatsache nicht länger vorbei: Die Geschichte(n) und Kultur(en) Europas sind ohne
die Einbeziehung transarealer Prozesse ebenso wenig zu verstehen wie etwa
das Klima Norwegens ohne den Golfstrom aus den Tropen. Nur in diesem
vektoriellen Sinne lassen sich die Archipele der Sichtbarkeit zu neuen, nur auf
den ersten Blick noch unsichtbaren Kontinenten (und Kontinuitäten) zusammenfügen.
Tropen und TransArea Studies
Im Fokus unserer bisherigen Überlegungen tauchten – um die Metaphorik
Pietro Martire d’Anghieras wiederaufzunehmen – in sukzessiven Globalisierungsschüben aus dem Schoße des Meeres Inseln, Archipele und Kontinente
auf, die eine Welt der Tropen konfigurierten, welche die europäischen Mächte
(und Zug um Zug auch neue global players) nach den jeweiligen eigenen Bedürfnissen und Interessen umzugestalten suchten und als koloniale Ergänzungsräume (sei es als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte oder Ferienpara34 Vgl. hierzu ausführlich Serge Gruzinski: Les Quatre Parties du monde. Histoire d’une
mondialisation.
236
diese) an sich banden. Dabei waren diese einzelnen Räume prioritär an die europäischen Metropolen zurückgebunden in der Weise und mit den Bewegungsmustern, die der brasilianische Anthropologe und Kulturtheoretiker
Darcy Ribeiro in einem grundlegenden Essay von 1976 für Lateinamerika aufzeigte. Dort heißt es:
In geographischer Hinsicht ist Lateinamerika eine kontinentale Einheit; ihr entspricht jedoch keine einheitliche soziopolitische Struktur noch ein aktives und interagierendes Beziehungssystem. Dieser große Kontinent ist in einzelne Nationen aufgespalten, von denen
einige sehr geringe Entwicklungschancen haben. Die geographische Einheit hat in Lateinamerika nie zu einer politischen Einheit geführt, weil die verschiedenen Kolonien, aus denen die lateinamerikanischen Gesellschaften hervorgegangen sind, jahrhundertelang ohne
Kontakt nebeneinander bestanden haben. Jede einzelne war direkt an die Metropole gebunden. Noch heute leben wir Lateinamerikaner wie auf einem Archipel, dessen Inseln miteinander durch Schiffe und Flugzeuge verbunden sind und die mehr nach außen auf die weltwirtschaftlichen Zentren hin ausgerichtet sind als nach innen. Sogar die Grenzen der lateinamerikanischen Länder verlaufen längs der unbewohnten Kordillere oder dem undurchdringlichen Urwald, und sie isolieren mehr, als daß sie verbinden, und sie erlauben selten
einen intensiven Kontakt.35
Dem „unsichtbaren Kontinent“ Ozeanien könnte man folglich die „unsichtbare
Inselwelt“ des (Sub-)Kontinents Lateinamerika im Sinne Ribeiros an die Seite
stellen. Die in der soeben angeführten Passage aufgezeigte jahrhundertealte
Abhängigkeitsstruktur erzeugte spezifische Bewegungsmuster, die von nicht
geringerer Bedeutung sind als jene kreisförmigen Bewegungsfiguren der europäischen Entdecker, die von Europa ausgehend notwendig wieder nach Europa
zurückkehren mußten, wollten sie – wie bereits Columbus – ihre Entdeckungen geltend machen und rechtlich absichern. In diesen Choreographien und
Bewegungsfiguren werden Beziehungsgeflechte, Abhängigkeiten und Machtstrukturen wie in von einer unbekannten Hand geführten Schriftzügen lesbar.
Diese Bewegungen wurden vektoriell gespeichert, sind als fundamentale Bewegungsmuster des Verstehens gleichsam vorprogrammiert und gingen bewegungsgeschichtlich ebenso in die Schriften eines Louis-Antoine de Bougainville,
James Cook oder Antoine-Joseph Pernety, eines Georg Forster, Alexander von
Humboldt oder Adelbert von Chamisso wie eines Blaise Cendrars, Claude LéviStrauss oder Clifford Geertz ein – um nur diese zunächst recht unterschiedlich erscheinenden Beispiele zu benennen. Bewegungen machen Sinn.
Pietro Martire d’Anghiera, Cornelius de Pauw oder Guillaume-Thomas Raynal wiederum standen für die andere koloniale Bewegungsfigur: jene eines
Verbleibens im kolonialen Zentrum, ohne die dargestellten und diskutierten
Weltregionen jemals selbst bereist zu haben. Beide Varianten – sowohl die der
‘Reisenden’ als auch jene der ‘Daheimgebliebenen’ – sind elementare Bestandteile einer weithin ‘unbewußten’ Poetik der Bewegung, deren Bahnungen stets in
35 Darcy Ribeiro: Gibt es Lateinamerika? In: ders.: Unterentwicklung, Kultur und
Zivilisation. Ungewöhnliche Versuche. Aus dem Portugiesischen von Manfred Wöhlcke.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 315.
237
einem jeweils spezifischen und kulturell hervorgebrachten Lebenswissen36 gründen. Beide stehen sie freilich eher für eine externe als für eine interne Relationalität der Tropen.
Die ausschließliche Fokussierung dieser einseitigen Orientierung an Europa,
wie sie in den hier genannten Bewegungsmustern zum Ausdruck kommt, verdeckt jedoch die Tatsache, daß sich zwischen diesen Inseln, Archipelen und
Kontinenten längst vielfältige Beziehungen erzeugt haben, die auf der ökonomischen wie der sozialen, der kulturellen wie der politischen Ebene zukunftsweisende Phänomene und Neustrukturierungen hervorgebracht haben. Jenseits
einer gewiß auch fortbestehenden Dialektik von phänomenaler Fülle und zerstörerischer Falle wurden die Tropen zu einem Raum, der sich nicht so sehr durch
seine territorialen oder klimatischen Grenzen definiert, als vielmehr durch immer
neue Bewegungsmuster, die dank ihrer ständigen Querungen und Kreuzungen
diesen Bewegungs-Raum vektoriell stets neu erzeugen. Wie läßt sich diese Vielfalt verschiedenartigster Vektorisierungen denken und abbilden?
Die Area Studies bilden von ihrer grundsätzlichen Ausrichtung, die eine bestimmte Territorialität konstruiert und in eine Wechselbeziehung zu einem
außerhalb befindlichen Zentrum des Wissens setzt, eine Zirkulation des Wissens
ab, die an Europa oder den USA ausgerichtete Bewegungsformen priorisiert und
andere tendenziell weniger stark gewichtet und als weniger relevant ansieht. Im
gegenwärtig im Deutschen zunehmend populär gewordenen Begriff der „Fernkompetenz“ – gemünzt auf Einrichtungen und Forschungszentren, die sich etwa
in Berlin auf unterschiedliche ‘Weltregionen’ spezialisiert haben – kommt dieses
von Europa aus gedachte Muster wohl eher ungewollt sehr deutlich zum Ausdruck.
Das Beispiel der Karibik – und damit jenes Raumes, der seit Ende des
15. Jahrhunderts zu den Räumen verdichtetster Globalisierung zählt – zeigt das
gerade mit Blick auf eine neue Konzeption der Tropen notwendige Verständnis
einer dynamischen Generierung von Raum deutlich auf. Denn es genügt nicht,
den Archipel der karibischen Inselwelt allein aus seiner Beziehung zu Europa
und den jeweils sehr unterschiedlichen (und nur teilweise ehemaligen) ‘Mutterländern’ zu begreifen. Es gilt vielmehr, neben der internen Relationalität des
vielkulturellen Archipels auf der Ebene externer Relationalität zusätzlich zu den
hemisphärischen Verknüpfungen37 der karibischen Inseln mit dem gesamten
amerikanischen Kontinent die transatlantischen wie die transpazifischen Bezugssysteme grundlegend miteinzubeziehen und mitzudenken.38
36 Vgl. zu diesem Begriff u.a. auch den Eintrag „Lebenswissen und Lebenswissenschaft“ in
Ansgar Nünning (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen
– Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar: Metzler 42008, S. 414–415.
37 Vgl. Peter Birle/Marianne Braig u.a. (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas.
38 Vgl. zum 19. Jahrhundert Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.): Caleidoscopios coloniales.
Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX; sowie zum 20. Jahrhundert Ottmar
Ette (Hg.): Caribbean(s) on the Move – Archipiélagos literarios del Caribe. A TransArea
238
Dabei spielen neben den EuropAmericas39 die AfricAmericas40 mit ihren
Wegen über den Black Atlantic ebenso eine wichtige Rolle wie die
ArabAmericas41 mit ihren Migrationen und Beziehungen zur arabischen Welt
oder die transpazifischen AsiAmericas42: Zirkulationen und Migrationen von
Menschen wie von Anbauprodukten, von Wissen wie von Erzeugnissen und
symbolischen Gütern unterspülen eine Sichtweise, die eine bestimmte Region
der Tropen aus ihrer jeweils privilegierten Beziehung zu und mit Europa oder
ihrer jeweils abgegrenzten Territorialität zu verstehen sucht.
Die transareale Vorgabe ist transparent: Wer die Tropen des amerikanischen Doppelkontinents verstehen möchte, wird sich nicht auf Studien der
amerikanischen Tropen unter Einschluß ihrer Beziehungen zu bestimmten
Ländern Europas beschränken dürfen. Die externe Relationalität der Tropen ist
nur denkbar in einer Vektorizität, die weltweiten Maßstabs ist, zugleich aber
nicht raum-, sondern bewegungsgeschichtlich gedacht und entfaltet werden
muß.
Die epistemologischen Konsequenzen einer dergestalt veränderten ‘Blickrichtung’ sind leicht abzusehen. Denn die Untersuchung der Tropen macht
konsequenterweise die Einbeziehung einer transtropischen, transarealen Dimension erforderlich. Die künftig verstärkt kultur-, kunst- und literaturtheoretisch ausgerichtete Entfaltung von TransArea Studies wiederum wird ohne die
Entwicklung einer Poetik der Bewegung, die ihrerseits ebenso auf der Ebene
der Forschungsobjekte und der Forschungssubjekte wie der jeweils spezifischen Methodologien und Analyseverfahren in je unterschiedliche Formen
von Lebenswissen eingesenkt ist, kaum voranzutreiben sein. Es geht um eine
gezielte und epistemologisch reflektierte Vervielfachung der Perspektiven,
strukturiert von einem ‘Forschen mit’ anstelle eines ‘Forschens über’: Gerade
die Karibik mit ihrer weltweit rezipierten kulturtheoretischen wie literarischen
und künstlerischen Produktion belegt, daß die Tropen nicht nur faszinierende
Forschungsobjekte, sondern auch herausragende Forschungssubjekte, Theoriebildungen und Methodologien beheimaten, bereithalten und anbieten.
All dies aber schließt andere Bewegungsmuster und Zirkulationsformen
von Wissen als jene mit ein, die bis weit ins 20. Jahrhundert ganz selbstverständlich schienen und nicht zuletzt die bis heute dominanten wissenschaftli-
39
40
41
42
Symposium; übergreifend vgl. Ottmar Ette/Werner Mackenbach u.a. (Hg.):
Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un simposio transareal.
Vgl. Ottmar Ette/Dieter Ingenschay u.a. (Hg.): EuropAmerikas. Transatlantische
Beziehungen.
Vgl. Ineke Phaf-Rheinberger/Tiago de Oliveira Pinto (Hg.): AfricAmericas. Itineraries,
Dialogues, and Sounds.
Vgl. Ottmar Ette/Friederike Pannewick (Hg.): ArabAmericas. Literary Entanglements of
the American Hemisphere and the Arab World.
Zu dieser Thematik fand im Januar 2007 am Ibero-Amerikanischen Institut PK in Berlin
eine Tagung des Forschungsverbunds Lateinamerika in Berlin-Brandenburg (ForLaBB)
statt; an sie knüpfte im Februar 2012 das Symposium TransPacífico an, veranstaltet vom
Potsdam International Network for TransArea Studies (POINTS).
239
chen beziehungsweise disziplinären Untersuchungsperspektiven geprägt haben. Aus den genannten Gründen ist die herkömmliche Form der Area Studies
nicht länger in der Lage, jene dynamischen Netzwerke zu untersuchen, die
eine Weltregion aus transarealer Sicht ausmachen – handelt es sich aus der
hier gewählten Perspektive doch um ein künftig zu entwickelndes Verständnis,
das eine bestimmte Area nicht mehr allein auf statisch-territoriale Grenzen und
Gegebenheiten beschränkt sieht.
Ein innovatives und zugleich adäquateres Verständnis der Tropen wird daher notwendig andere Bewegungsmuster des Wissens zu berücksichtigen haben, die stärker mobilen, dynamischen Vernetzungsformen von Wissen Rechnung tragen, wobei hier ebenso kontinuierliche wie diskontinuierliche Bewegungstypen sowie Kombinationen aus beiden Berücksichtigung finden müssen. Ziel sollte es dabei sein, bestimmte Areas wie etwa Lateinamerika, Südostasien oder Nordafrika mit Hilfe von TransArea Studies neu zu konfigurieren und aus ihren weltweiten Vernetzungen, aber auch ihrer weltweiten
Vektorizität heraus so zu begreifen, wie dies in den drei vorausgegangenen
Kapiteln bereits angegangen und unternommen worden ist. Diskontinuierliche
Sprünge wie beständige Grenzverschiebungen lassen dabei mobile Kartographien entstehen, die immer wieder neue Räume vektoriell und damit bewegungsgeschichtlich verstehbar machen.
Die Tropen sind wie Tropen Bewegungsfiguren. Und diese lassen auf der
Meeresfläche zunächst unsichtbare Kontinente erscheinen, so wie auch in der
weiten Fläche von Kontinenten Insel- und Archipelsituationen nicht nur denkbar, sondern auch nachprüfbar und neu erforschbar werden. Die Reduktion auf
statische Räume arretiert ein notwendig bewegungsgeschichtliches Verstehen,
ohne welches wir aber gerade die verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung nicht in ihrer dynamischen Komplexität begreifen können.
Wie eine transareale Untersuchung der Karibik – in der sich die unterschiedlichsten Wege des Wissens aus Afrika und Europa, aus Süd-, Mittelund Nordamerika, aus Indien und China oder von den Philippinen queren und
überkreuzen – als Teil der Welt der Tropen zeigt, dürfte es wohl kaum einen
anderen Großraum auf diesem Planeten geben, der intensiver und über längere
historische Zeiträume als diese Weltregion mit anderen Areas vernetzt war und
ist. Die Tropen ihrerseits stellen auf Grund ihrer komplexen externen Vernetzung und einer hochgradig diskontinuierlichen und vielfältigen inneren
Relationalität eine geradezu idealtypische TransArea – und damit stets auch
Trans(it)Area43 – dar. Folglich soll der Welt des Greater Caribbean auch in
diesem vierten Kapitel des vorliegenden Bandes eine noch weitergehende
Aufmerksamkeit zuteil werden.
43 Vgl. hierzu den in der edition tranvía (Berlin) erschienenen Auftaktband der POINTE
(Potsdamer Inter- und Transkulturelle Texte): Ottmar Ette/ Werner Mackenbach u.a.
(Hg.): Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un simposio
transareal.
240
Es wäre aus einer so reflektierten Sichtweise abwegig, die Tropen in ihrer
schon begrifflich gegebenen Pluralität allein anhand von Ekliptik und Sonnenhöhen, Klima und Vegetation, Wind- und Meeresströmungen, der Land-Wasser-Verteilung oder bestimmter ökologischer, ökonomischer, sozialer oder politischer Indikatoren einzugrenzen und damit zu fixieren. Denn jede Migration,
jede Vektorisierung hat im Verbund mit den unterschiedlichen Phasen beschleunigter Globalisierung eigene Logiken und Bahnungen auf die Tropen
projiziert und in die Tropen exportiert.
Die Tropen lassen sich daher als der globale Bewegungs- und Transitraum
schlechthin begreifen. Nicht umsonst ließ Victor Klemperer in einem auf den
12. August 1935 datierten Fragment seiner Lingua Tertii Imperii unter dem
Titel ‘Café Europe’ jüdischen Auswanderern, die sich auf den Weg ins peruanische Exil gemacht hatten, hinterherrufen: „Habt ihr Sehnsucht nach Europen? / Vor euch liegt es in den Tropen; / denn Europa ist Begriff!“44 Nicht nur
für Europa waren die Tropen stets ein Reflexions- und Projektionsraum eigener Hoffnungen und Ängste, eigener Schöpfungen, Störungen und Zerstörungen: eine Fülle, die sich ohne Falle nicht denken zu lassen schien.
In gewisser Weise lassen sich Anfang und Ende jener Mikroerzählungen,
die der Kubaner Guillermo Cabrera Infante 1974 in seinem Band Vista del
amanecer en el Trópico vereinigte, wie die Geschichte jener europäischen
Tropen der Tropen, jener Expansion und Apokalypse lesen, die uns bei unseren Überlegungen vom De Orbe Novo des Pietro Martire d’Anghiera zu den
Tristes Tropiques von Claude Lévi-Strauss führte und noch zu den Literaturen
an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert führen wird. Denn im ersten Text
dieser Vista tauchen zunächst Insel und Inseln aus dem Ozean auf, um einen
(freilich kubanischen) Archipel in der Karibik zu bilden:
Die Inseln stiegen aus dem Ozean empor, zunächst als isolierte Eilande, dann wurden die
Keys zu Gebirgen und die seichten Wasserarme zu Tälern. Später vereinigten sich die Inseln, um eine große Insel zu bilden, die bald dort grün wurde, wo sie nicht golden oder rötlich war. Daneben stiegen weiterhin die Inselchen empor, die jetzt zu Keys wurden, und die
Insel verwandelte sich in ein Archipel: Eine langgezogene Insel zusammen mit einer großen runden Insel, umgeben von Tausenden von Inselchen, Eilanden und sogar anderen Inseln. Da aber die langgezogene Insel über eine definierte Form verfügte, beherrschte sie
den Verband, und niemand hat den Archipel gesehen, so daß man es vorzog, die Insel Insel
zu nennen und die Tausenden von Keys, Eilanden, Inselchen vergaß, welche die große Insel wie die Blutklumpen einer langen grünen Wunde säumen:
Da ist die Insel, die noch immer zwischen dem Ozean und dem Golf emporsteigt: Da ist
sie.45
Diese poetische, literarisch höchst gelungene Genesis läßt eine sich ständig
verändernde Welt unermeßlich vieler tropischer Inseln entstehen, die auf der
44 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun.
21968, S. 195.
45 Guillermo Cabrera Infante: Vista del amanecer en el Trópico. Barcelona: Plaza & Janés
Editores 1984, S. 15.
241
Ebene der Raumstruktur erst vom Menschen künstlich zentriert wird, da sich
aus seiner Sicht alles auf die große Insel konzentriert – so wie kein Geringerer
als Cristóbal Colón Cuba (wie wir sahen) einst nicht nur für eine gewaltige Insel, sondern mehr noch für einen stabilen Kontinent gehalten hatte. Der Fehler
im System der Aneignung des Raumes durch den Menschen, ja gleichsam dessen ‘Ursünde’ besteht hier darin, daß sich alles an einer dominanten Territorialität ausrichtet, dabei aber die mobile Vielverbundenheit einer verwirrenden
Inselwelt in ihrer unabschließbaren Mobilität möglichst weitgehend auszublenden sucht. Guillermo Cabrera Infante hat hier mit dem komplexen, mobilen Lebenswissen der Literatur den Finger in die Wunde nicht nur der kubanischen Geschichte, sondern einer hierarchie- und stabilitätssüchtigen europäischen Raumgeschichte gelegt. Wir haben sie bis heute nicht hinter uns gelassen.
Keine Geschichte – so zeigen die bewegenden Seiten dieses vehementen,
verwundeten und verwunderten Buches des großen kubanischen Exilautors –
wird diesen fundamentalen Irrtum des Menschen freisprechen. Folglich zeigt
sich am Ende – spiegelsymmetrisch zu diesem incipit – eine „traurige, unglückliche und lange Insel“, die sich – aber erst, nachdem sie der letzte Indianer, der letzte Spanier, der letzte Afrikaner, der letzte Amerikaner und schließlich auch der letzte Kubaner verlassen haben – endlich ihrer Lage im tropischen Golfstrom erfreuen darf: „Und da wird sie sein. [...] alle Schiffbrüche
überlebend, für immer vom Golfstrom bespült: schön und grün, unvergänglich, ewig.“46
Cuba, die Insel der Inseln,47 steht sinnbildlich für eine Tropenwelt, die in
ihrer unvergänglichen Schönheit des Menschen nicht bedarf. Mehr noch: Das
incipit führt in seiner kotextuellen Relation mit dem excipit vor, wie die stabilen und zentrierenden Konstruktionen des Menschen diesen Bewegungsraum
natürlicher archipelischer Schönheit rücksichtslos zerstören. Denn schon der
erste Eingriff des Menschen in der von Guillermo Cabrera Infante entworfenen
Schöpfungsgeschichte dieser Welt der Inseln bestand darin, zwischen einer
Hauptinsel, einer größeren Nebeninsel und vielen kleinen Nebeninselchen zu
unterscheiden und zentralisierende Hierarchien einzuführen. Jedem Eiland, jedem cayo, jeder Sandbank wird ein fester, unverrückbarer Platz in einer stabilen Hierarchie zugewiesen. Die Literatur führt hier die Absurdität wie den
Totalitarismus einer nur auf den ersten Blick ‘natürlichen’ Epistemologie eindrucksvoll vor Augen.
Diese Herstellung zentrierter Bewegungs- und Verstehensmuster aber
übergeht die Tatsache, daß sich die ‘Hauptinsel’ selbst aus mehreren kleineren
und größeren Inseln herausbildete, nun aber einer langen Wunde gleicht, in der
sich vor dem Anbruch aller Geschichte das geschichtlich Kommende bereits
ankündigt. Eine traurige Geschichte in traurigen Tropen, fürwahr.
46 Ebda., S. 229.
47 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Kuba – Insel der Inseln. In: ders./Martin Franzbach (Hg.): Kuba
heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2001, S. 9–25.
242
Der Eintritt des tropischen Archipels in die Geschichte aber ist ein Eintritt
in eine europäische Bewegungsgeschichte, die sich im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance – wie wir im Kapitel zur ersten Phase beschleunigter
Globalisierung sahen – mit ungeheurer Beschleunigung globalisiert und die
ihre Zentralperspektiven gewaltsam durchsetzt. Denn die Festlegung des
Äquators und die Fixierung der Zentralperspektive48 sind – beiderseits gewiß
auf arabischen Grundlagen fußend – fast gleichzeitig erfolgende Erfindungen
der Renaissance in Kunst und Kartographie, in Architektur, Malerei und Erdwissenschaft. Die von ihnen ausgehende Gewalt, welche die Körper und das
Denken, die Sinne und das Verstehen der Menschen erfaßt, ist jenseits der von
ihnen ausgehenden eigenen Ästhetik, Logik und Schönheit unbestreitbar.
Vergessen wir an dieser Stelle nicht: Diese mathematisch fundierten Fiktionen erfolgen vom Abendland aus und für das Abendland. Beide Erfindungen
erscheinen uns in ihren Erzeugnissen heute – wohlgemerkt aus okzidentaler
Perspektive – längst als völlig ‘natürlich’: ganz so, wie wir Photographien unserer Erde aus dem Weltall ‘natürlich’ nur in genordeter Form – mit Europa
und Nordeuropa selbstverständlich ‘oben’ – zu verbreiten pflegen. Doch handelt es sich bei diesen sorgsam konstruierten Kartennetzen und Fokussierungen – wie uns ein Blick auf andere Kulturen zeigt – um kulturelle Kodierungen, die ihre höchst eigene Geschichte und ihre eigenen, wenn auch kulturell
verwobenen Entstehungsbedingungen besitzen und mitreflektieren. Sie sind
Visualisierungen einer Epistemologie und Ideologie, die sich in ihrer Sichtbarmachung selbst unsichtbar zu machen versuchen.
Sind die Tropen seit ihrer kulturell kodierten Genesis in der ersten Phase
beschleunigter Globalisierung immer wieder vom scheiternden Experiment
des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Herkünfte geprägt, so ist es
heute an der Zeit, sie transareal zu verstehen und dank ihrer weltweiten Vernetzungen und verschiedenartiger, auch diskontinuierlicher Bewegungsmuster
aus verschiedensten mobilen Perspektiven gleichzeitig und damit transareal
neu zu erfinden. Jenseits der aus der europäischen Perspektive stets privilegierten Abhängigkeitsbeziehungen von Europa eröffnet sich das bislang sträflich vernachlässigte Feld eines vielgestaltigen und diskontinuierlichen Raumes, der durch komplexe globale Bewegungen, die diesen weltumspannenden
breiten Gürtel des Planeten queren, immer wieder von neuem vektoriell konfiguriert und in seiner Pluralität als Bewegungsraum erzeugt wird.
Blicken wir heute nach den Tropen, so gilt es gewiß, die über Jahrhunderte
tradierten Tropen dieses Bewegungsraumes nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie sind als die Tropen unseres Diskurses, die in dieser Sicht des Morgengrauens in den Tropen aus einer kubanischen beziehungsweise karibischen Perspektive aufgezeigt und mikrotextuell entfaltet werden, historisch unhintergehbar und können – dies ruft uns die Literatur in Erinnerung – nicht einfach
verdrängt, vernichtet und vergessen werden.
48 Vgl. hierzu Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks.
243
Ein adäquates Verständnis der Tropen aber wird man aus den unterschiedlichsten Perspektiven nur dann entwickeln können, wenn mit einer transarealen Logik die Tropen nach den Tropen ins Blickfeld einer vektoriell ausgerichteten Bewegungsgeschichte rücken. Sie sind stets, wenn man so will,
Grenzverschiebungs- und Sprung-Tropen und damit kontinuierlich und diskontinuierlich zugleich: Inseln, die einen unsichtbaren Kontinent skizzieren,
und Kontinente, die sich aus ihren Archipelen heraus besser begreifen lassen.
In diesem Sinne sind die Tropen paradigmatisch: Sie sind die TransArea par
excellence und erlauben es, neue mobile Wissens- und Verstehensformen von
Kultur, Geschichte und Literatur in weltweiten Wechselwirkungen zu denken
und zu entfalten.
Nach dem Absolutismus der Wirklichkeit:
eine transareale Landschaft der Theorie
Innerhalb einer – um die von Foucault so populär gemachte Metaphorik zu
benutzen – „Archäologie“ derartiger Denkformen kommt der zweifellos wichtigsten literarischen Gestalt des kubanischen 20. Jahrhunderts, dem Dichter,
Romancier und Essayisten José Lezama Lima, eine kaum überschätzbare, in
der Kulturtheorie aber bislang weitgehend ausgeblendete Bedeutung zu. Denn
der Verfasser des berühmten Romans Paradiso hat in seinem Essayband La
expresión americana (Der amerikanische Ausdruck) basierend auf fünf Vorträgen, die er am 16., 18., 22., 23. und 26. Januar 1957 im Centro de Altos
Estudios des Instituto Nacional de Cultura von Havanna hielt, in ähnlich
wegweisender Manier wie der Argentinier Jorge Luis Borges eine Theorie des
Amerikanischen entfaltet, in welcher der Territorialität eine deutlich nachgeordnete Relevanz zugewiesen wird. Auch wenn er selbst sein Haus, sein Viertel in Havanna kaum einmal verließ: Alles ist bei José Lezama Lima in Bewegung. Er hat in seinen unterschiedlichsten Werken und Schriften entscheidende Aspekte der Literaturen in den Zeiten der vierten Phase beschleunigter Globalisierung vor-gedacht und damit jenen prospektiven Charakter von
Literatur entfaltet, der in traditionell ausgerichteten Literaturwissenschaften im
Schlagschatten der Memoria-Problematik bei weitem zu wenig Beachtung findet.
Bereits im dritten Kapitel des vorliegenden Bandes hatten wir gesehen, daß
José Lezama Lima in seinem zentralen Vortrag die Entwicklungslinien des
Amerikanischen in der Figur José Martís hatte kulminieren lassen. Die sich in
Martí verkörpernde expresión americana speiste sich dabei nicht allein aus der
hispanoamerikanischen Tradition des 19. Jahrhunderts, sondern wußte sich
auch in grundlegender Weise mit den amerikanischen Kulturen präkolumbischer Herkunft wie ebenso mit asiatischen Elementen zu verknüpfen. Falls es
denn etwas „Kubanisches“ (lo cubano) gibt, dann nur dann, wenn es sich nicht
auf die Insel Cuba allein reduzieren und ausschließlich von diesem Territorium
her begreifen läßt. José Martí konnte gerade deshalb für José Lezama Lima zur
Inkarnation der amerikanischen Ausdruckswelt werden, weil er sich nicht auf
244
eine wie auch immer geartete kontinentale Territorialität Amerikas zurückschrauben ließ, sondern – wie sein ebenfalls gegen die kolonialspanische
Macht aufbegehrender Zeitgenosse José Rizal von den Philippinen es tat –
neue, weltumspannende Horizonte für das Denken und Schreiben in spanischer Sprache erschloß.
Dabei schrieb der Gründer und Kopf der Zeitschrift Orígenes zurecht den
Gründer des Partido Revolucionario Cubano in eine weltweite, das Hemisphärische weit übersteigende Dimension ein, die etwa mit der Einblendung der
chinesischen Kultur für die entworfene Fülle der möglichen Abwesenheit, für
la plenitud de la ausencia posible49, einstehen könne. Die Fülle entsteht hier –
anders als im jahrhundertelang tradierten europäischen Tropen-Diskurs – nicht
aus einer Fülle von Anwesenheiten, sondern gerade aus einer Abwesenheit, die
Präsenz aus der Absenz ist und damit der Falle puren Präsent-Seins vielleicht
zu entgehen erlaubt.
Während sich die Kämpfer gegen die Batista-Diktatur im Zeichen der Jahrhundertfeiern auf Martí als den ‘geistigen Urheber’ ihres revolutionären Denkens und Handelns beriefen und den großen kubanischen Intellektuellen schon
bald in die Ikone einer Revolution verwandelten, die Martí in den nachfolgenden Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise für die wechselnden Zwecke und
Ziele einer kubanischen Machtpolitik funktionalisieren sollte,50 griff Lezama
Lima auf jene Ausdrucksformen des Martíschen Schreibens zurück, in denen
sich der Wirbel, der Hurrikan bildet, der geschaffen sei, um alles einschließlich
dessen, der ihn hervorrief, mit sich fortzureißen. Lezama verwies dabei mit
Bedacht auf die schöpferische Kraft dieses remolino, auf die entscheidende
Bedeutung der „poetischen Erkenntnis“ (conocimiento poético)51, auf die Relevanz der „Poesie als Präludium zur Belagerung der Stadt“52, welchem sich der
Dichter von Enemigo rumor in seiner Abscheu gegenüber den herrschenden
Verhältnissen zweifellos aufs Engste verbunden wußte.
Entscheidend bei diesen poetologisch so fruchtbaren Überlegungen ist, so
scheint mir, die Berufung auf ein spezifisches Wissen der Dichtkunst, auf eine
wohl nur der Literatur zugängliche Erkenntnis, die – wie die Formulierungen
zeigen – sehr wohl in die konkrete Umgestaltung von Wirklichkeit umschlagen kann, so wie es das Beispiel von José Martí selbst vorführt. Was aber ist
unter dieser „poetischen Erkenntnis“, unter diesem poetischen Wissen genau
zu verstehen?
Die Antwort fällt karibisch aus. Ausdruck des Amerikanischen ist für Lezama Lima die verdichtende Konfluenz weltweiter Traditionslinien im Zeichen eines Kontinents, im Zeichen einer Insel, die sich wie Magneten inner49 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 115.
50 Zur ebenso komplexen wie spannenden Geschichte der Rezeption José Martís vgl. Ottmar
Ette: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption.
51 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 116.
52 Ebda.
245
halb eines transarealen kulturellen Kräftefelds ausnehmen. Sie bilden für den
Dichter von Fragmentos a su imán einen magnetischen Bewegungsraum, der
im Schnittpunkt aller Wege des Wissens die unterschiedlichsten kulturellen
Elemente weltweit in ein gemeinsames Kräftefeld integriert. Das poetische
Wissen, die poetische Erkenntnis im Sinne Lezamas zielt nicht auf eine Essentialisierung des Amerikanischen, sondern auf dessen unterschiedliche
Areas miteinander verbindende Relationalität und damit auf eine Poetik der
Bewegung: Nicht der Raum, sondern dessen Querung, nicht die statische Präsenz, sondern die dynamische Erzeugung immer neuer möglicher Wege und
Wegkreuzungen zählt. Die Fülle glänzt durch ihre Abwesenheit. Es geht nicht
um Identität, nicht um Nationalität, sondern um die weltweiten Wechselwirkungen zwischen internen und externen Relationalitäten. Diese transareale
Poetik der Bewegung erst vermag es, aus den Abwesenheiten stets aufs Neue
die Fülle des Möglichen zu entbinden – und dies ist mehr als ‘nur’ eine andere
Wendung für die dichterische Phantasie.
Denn Gegenwart und Zukunft sind – und der im Libanon geborene Amin
Maalouf hat uns in seinem großangelegten Essay über die Tödlichkeit
absolut gesetzter identitärer Rückbindungen eindrucksvoll auf diese Tatsache hingewiesen53 – gerade nicht an eine einzige Zugehörigkeit, an eine
einzige Herkunft, an eine einzige Identitätszuweisung gekettet. Nicht die
Wurzeln, die roots, sondern die Wege, die routes, nicht die historischen
Lasten, sondern die zukunftsgewissen Listen sind entscheidend für die Entfaltung multipler Ausdrucksformen, wie sie hier als poetische Erkenntnis
entworfen werden. Es ist die ästhetische Lust dichterischer Erkenntnis, welche Lezama Limas List im Umgang mit einer geschichtlich akkumulierten
Last auszeichnet. Worauf ist diese in jeder Zeile des Dichters spürbare Lust
gerichtet?
Wer in José Lezama Limas La expresión americana nach wie auch
immer zu kategorisierenden Identitätsentwürfen54 einer fest gefügten Latinität oder Hispanität, eines latinoamericanismo oder panamericanismo, einer
cubanidad oder caribeanidad sucht, wird sich schon bald getäuscht sehen:
Der Band des großen Dichters der Orígenes-Gruppe – und darin besteht sein
bedeutungsvollster Vorzug – ist bestrebt, sich möglichst weit entfernt von
derartigen Essentialismen des Kubanischen, des Karibischen oder des Amerikanischen zu halten. Der Essay-Band ist die Einladung zu einem
komplexen Denken, das bereit ist, sich auf das Viel-Logische und damit auf
das Leben einzulassen. Dies ist eine Lebens-Lust, die ihre Kraft nicht aus
der Kategorisierung, sondern aus der listigen Labilisierung alles Kategorialen, alles Kategorischen bezieht.
53 Vgl. Amin Maalouf: Les Identités meurtrières. Paris: Grasset 1998.
54 Vgl. die Kategorisierungen von Gustav Siebenmann: Lateinamerikas Identität. Ein Kontinent auf der Suche nach seinem Selbstverständnis. In: Lateinamerika-Studien (Erlangen) 1
(1976), S. 69–89.
246
Noch radikaler als Martí legte Lezama Lima sein Denken wie den Ausdruck seines poetischen Wissens, seiner poetischen Erkenntnis auf die kreative
Ausgestaltung von Inklusionsmechanismen an, die Cuba und Amerika nicht
als Ergebnisse einer durch Ausschlüsse gezimmerten Identität, sondern als
durch kreative Anverwandlung und Transformation sich dynamisch weiterentwickelnde Kräftefelder präsentieren und verständlich machen sollten. José
Lezama Limas Einladung zum Denken in den Begriffen eines poetischen Wissens, das auf die Komplexität sich überlagernder Bilder seiner eras imaginarias und damit auf die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Finden,
Erfinden und Erleben setzt, ist eine Einladung mit Langzeitwirkung, sich nicht
mit dem Einfachen, nicht mit dem Mono-Logischen zufrieden zu geben, sondern den lebendigen Impuls, den beständigen Stimulus, den Wirbel des Wissens zu suchen.
Lezama Limas Poetik ist folglich nicht an einer Raumgeschichte, sondern
vielmehr an einer Bewegungsgeschichte, an einer zutiefst vektoriellen Sichtweise ausgerichtet, die ihm bereits zu Lebzeiten den Ruf eintrug, ein ‘schwieriger’ Dichter zu sein. Es verwundert daher nicht, daß gleich die ersten Worte
des ersten der insgesamt fünf Vorträge beziehungsweise Essays aus dem Jahre
1957 das Thema des Schwierigen angingen:
Allein das Schwierige ist stimulierend; allein der Widerstand, der uns herausfordert, ist fähig, Arkade, Antrieb und Erhalt unserer Potenz der Erkenntnis (potencia de conocimiento)
zu sein; aber was ist in Wirklichkeit das Schwierige? Allein das in den mütterlichen Wassern des Dunklen Überflutete? Das Originäre ohne Kausalität, Antithese oder Logos? Es ist
die Form in der Entstehung (la forma en devenir), in der eine Landschaft einem Sinn, einer
Interpretation oder einer einfachen Hermeneutik entgegengeht, um danach zu ihrer Rekonstruktion überzugehen, welche definitiv das ist, was ihre Effizienz oder ihren mangelnden
Gebrauch, ihre anordnend tätige Kraft oder ihr verklungenes Echo markiert, mithin ihre
historische Vision.55
Bereits in diesem nicht gerade einfach strukturierten incipit der von Lezama
Lima selbst zu einem Band zusammengestellten Essays wird auf grammatikalischer wie auf stilistischer, auf inhaltlicher wie thematischer Ebene deutlich,
daß es das in Bewegung und Entwicklung Befindliche, das Unabgeschlossene
und mithin die forma en devenir innerhalb einer Landschaft und gerade nicht
deren vermeintliche Gegebenheit und Starrheit sind, die den Essayisten der
Confluencias mit seiner sinnlichen und sinnpotenzierenden Offenheit anziehen. Es geht um das estimulante, um den Stimulus, der das Denken anreizt und
in Bewegung setzt und nicht in erster Linie am Ankommen, am Fest-Stellen,
am ein für allemal Angeordneten ausgerichtet ist.
So geht es auch dem conocimiento poético, der dichterischen, der poetischen Erkenntnis, nicht um ein stabiles, für alle Zeit fixiertes, sondern gleichsam um ein hochgradig dynamisches Wissen, ja einen Wirbel des Wissens, der
gerade dem Schwierigen seinen Bewegungsimpuls verdankt: Sólo lo difícil es
55 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 9.
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estimulante. Das poetische Wissen ist nichts endgültig Abstraktes, zieht nichts
abstrahierend vom Einfachen ab, und sein Begreifen zielt nicht auf ein simples
Auf-den-Begriff-Bringen. Das conocimiento poético ist eine andere Wissensform, die darauf spezialisiert ist, nicht auf bestimmte (gleichsam disziplinierte)
Wissensformen in definierten Diskursen, in vorausgesetzten Vokabularien
spezialisiert zu sein. Es unterläuft damit Wissensnormen des Wissenschaftlichen, ohne dessen Wissensformen auszuschließen. Denn seine Grundlagen
sind poly-logisch: Sie zielen auf Inklusion, nicht auf Exklusion.
Der Begriff der Landschaft, des paisaje, kehrt ein ums andere Mal schon
auf den ersten Seiten, aber auch im weiteren Verlauf von La expresión americana wieder, um gleichsam eine in Bewegung befindliche Landschaft der
Theorie zu bilden, die weder Cuba noch den amerikanischen Kontinent, weder
die vergangenen Geschichtsverläufe noch ihr verklungenes Echo, die visión
histórica, fixieren und festzuschreiben sucht. Diese in einer langen abendländischen Tradition stehende Landschaft56 ist als Landschaft der Theorie aber
mehr als die „historische Vision“57 einer bestimmten Kultur, selbst wenn sie
dies ganz ohne Zweifel auch ist und sein will. Sie ist ein Generierungsprogramm für das Künftige, ein sich ständig veränderndes Modell zur Erzeugung eines Denkens und Handelns, das nicht an einen einzigen Blickpunkt
gebunden ist, sondern prospektiv immer wieder neue Formen findet und erfindet, immer wieder neue Horizonte projiziert und lebbar macht.
Im Spiel mit diesen Landschaften der Theorie erweist sich Literatur als experimenteller Erprobungsraum, aber auch als dynamischer Wissensraum des
Künftigen. Indem das Imaginierbare zum Denkbaren und das Gedachte zum
Schreibbaren, ja zum Publizierbaren wird, eröffnet es, erst einmal veröffentlicht, dem Erlebbaren wie dem Lebbaren neue Horizonte und Verwirklichungsmöglichkeiten. Auch hierin ist Literatur forma en devenir, Wissensform von Wissensformen, die sich dem Leben verpflichtet wissen und sich
daher in ständiger Bewegung befinden.
Wie später bei dem noch zu besprechenden „Reisebericht“ La terre
magnétique von Edouard Glissant spielen Klang und Nachklang, Echo und
Echokammer, in der sich die von allen Seiten kommenden Stimmen und
Klänge bündeln, in Lezama Limas wohl bekanntestem Essay-Band eine entscheidende Rolle. Denn so, wie der Dichter aus Martinique nicht zur Osterinsel reisen konnte und nur aus der Ferne das ihm Berichtete und Vorgelegte zur
Grundlage seines Schreibens machte, so schrieb auch der kubanische Lyriker
von seiner Insel, von der Bibliothek seines Hauses in der Trocadero-Straße
56 Vgl. hierzu Luc Rasson/Bruno Tritsmans: Ecritures du rivage: mythes, idéologies, jeux, S.
1: Dort ist von der Notwendigkeit einer „kleinen Kartographie der sich bewegenden Landschaft des Meeresufers“ die Rede.
57 Emilio Bejel: La historia y la imagen de Latinoamérica según Lezama Lima. In: La
Palabra y el Hombre (Veracruz) 77 (1991), S. 131; sowie Sergio Ugalde Quintana: La
biblioteca en la isla, S. 249.
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aus,58 ohne jemals persönlich nach Indien oder Ägypten, nach China oder Paris
gereist zu sein. Eine Literatur in Bewegung setzt nicht den Autor in Bewegung
im Sinne seiner physischen Mobilität auf der Erdoberfläche voraus.
Die Bibliothek im Haus in La Habana auf Cuba im Archipel der Karibik generiert als Insel innerhalb der Insel der Inseln59 eine Eigen-Zeitlichkeit, eine Eigen-Räumlichkeit und folglich einen Eigen-Sinn, in dem sich die Spielräume
und Bewegungsmuster des Lebbaren und Erlebbaren grundlegend verändern
und erweitern lassen. Wohlgemerkt: Eine bewegungsgeschichtliche Betrachtungsweise ist dabei – um ein derartiges Mißverständnis nachhaltig auszuräumen – mitnichten an die individuellen Reisebewegungen der jeweiligen Verfasserinnen oder Verfasser gebunden, auch wenn diese im Umkehrschluß sehr
wohl einen wichtigen, ja entscheidenden Anteil an Poetik und Poetologie der
ästhetischen Artefakte dieser AutorInnen besitzen können. Für José Lezama
Lima kann (wie für den zuhause gebliebenen Edouard Glissant) das Paradox
des Reisenden gelten, das Denis Diderot als Reaktion auf die Entwicklung der
Entdeckungsreisen in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung in seinem Supplément au voyage de Bougainville seinem Dialogpartner B in den
Mund legte:
Wenn das Schiff nur ein schwimmendes Haus ist, und wenn Sie den Seemann betrachten,
der unermeßliche Räume durchquert und dabei zusammengezogen und unbeweglich (immobile) in einer recht engen Umfriedung lebt, dann sehen Sie ihn, wie er auf einer Planke
die Welt umrundet ganz so, wie Sie und ich auf unserem Parkett das ganze Universum umrunden.60
Das Schiff mit seiner Bibliothek als schwimmendes Haus, das im Falle Lezamas im Hafen von Havanna ankert: Aus dieser Konfiguration entsteht eine
ebenso transhistorische, die unterschiedlichen Zeiten und Geschichten querende, wie eine transspatiale, also unterschiedlichste Räume durchziehende
Sichtweise, deren hoher und oftmals überraschender Bewegungskoeffizient
sich aus einer raumzeitlichen Verschränkung ergibt, die an keinerlei festen
Grenzen haltmacht – es wäre denn (wie es am Ende des titelgebenden Essays
heißt) die Linie eines sich ständig weiterbewegenden Horizonts: „Glücklich
sind die Vergänglichen, die wir die Bewegung als ein Bild der Ewigkeit be-
58 Vgl. hierzu die bereits erwähnte und sehr überzeugende Dissertation von Sergio Ugalde
Quintana: La biblioteca en la isla.
59 Vgl. hierzu Ottmar Ette: Kuba – Insel der Inseln, S. 9–25.
60 Denis Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville ou Dialogue entre A et B. In:
ders.: Œuvres. Edition établie et annotée par André Billy. Paris: Gallimard 1951, S. 964.
Vgl. hierzu auch mit Blick auf die epistemologischen Grundlagen des 18. Jahrhunderts
Ottmar Ette: „Le tour de l’univers sur notre parquet“: lecteurs et lectures dans l’„Histoire
des deux Indes“. In: Gilles Bancarel/Gianluigi Goggi (Hg.): Raynal, de la polémique à
l’histoire. Oxford: Voltaire Foundation 2000, S. 255–272.
249
trachten und absorbiert die Parabel des Pfeiles verfolgen können, bis hin zu ihrer Erdung (enterramiento) in der Linie des Horizontes.“61
So gilt es in Der amerikanische Ausdruck, eine Potenz der Erkenntnis, eine
potencia de conocimiento, vorwärtszutreiben, die sich nur dann zu entfalten
und zu beschleunigen vermag, wenn es ihr gelingt, die verschiedensten Phänomene und Gegenstände miteinander in Verbindung zu bringen und diese
unverdrossene Tätigkeit des Arkadenbildens (enarcar) – um erneut eine Formulierung aus dem incipit zu verwenden – gerade auch auf die unterschiedlichsten Kulturen und kulturgeschichtlichen Horizonte zu beziehen. Die Insel
Cuba, im Schnittpunkt west-östlicher wie nord-südlicher Bewegungs- und
Austauschachsen gelegen, bildet für diesen Flug des Pfeiles einen idealen
Ausgangs- und Beobachtungspunkt. Mithin ist die hohe Frequenz an Bewegungsbegriffen in Lezamas zwischen Literatur und Philosophie oszillierenden
Ausdrucksformen alles andere als ein Zufall: Sie ist Programm.
Die karibische InselInsel62 entfaltet die ihr zugängliche potencia de conocimiento folglich aus ihren immensen historischen und sozialen, vor allem aber
biopolitischen und kulturellen Dynamiken, die sie im Verlauf sehr unterschiedlicher historischer Phasen beschleunigter Globalisierung in dieser Zone
verdichtetster mondialisation vektorisiert hat. Vor diesem Hintergrund ist La
expresión americana – ganz im Sinne des von Fernando Ortiz’ erstmals im
Jahre 1940 vorgelegten anthropologisch-kulturtheoretischen Grundlagenwerks
Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (Kubanischer Kontrapunkt von
Tabak und Zucker)63 – ein entschieden transkulturelles Buch, scheint die
amerikanische Expression doch nur auf diese unterschiedlichste Kulturen querende Weise adäquat ausdrückbar zu sein. Wie komplex die hier implizierte
Bewegungsmetaphorik auf eine Landschaft bezogen ist, mögen die berühmten
Formulierungen des kubanischen Anthropologen und Erfinders des Begriffes
der „Transkulturation“ belegen:
Es gab keine für die Kubanität weitreichenderen menschlichen Faktoren als diese kontinuierlichen, radikalen und miteinander kontrastierenden geographischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Transmigrationen der Siedler (pobladores), diese unablässige Transitorietät an Vorstellungen und dieses Leben, das stets von der Entwurzelung vom bewohnten Boden und stets von der Nichtübereinstimmung mit der ernährenden Gesellschaft
geprägt war. Menschen, Ökonomien, Kulturen und Sehnsüchte, alles hier wirkte irgendwie
fremdländisch, provisorisch, wechselhaft, „Zugvögel“ über dem Land, an seiner Küste, auf
seine Kosten und zu seinem Mißvergnügen.64
Auch hier, wie übrigens später bei Edouard Glissant, die migratorische Metaphorik der Zugvögel: Kulturelle Konfigurationen ohne festen Wohnsitz zeich61 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 429.
62 Vgl. Ottmar Ette: Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus
transarealer Perspektive, S. 13–56.
63 Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar.
64 Ebda., S. 95.
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nen sich ab, die Räume aus Bewegungen, aus vektoriell gespeicherten und
immer wieder anders einspeisbaren Bewegungsmustern hervorgehen lassen –
auch wenn Fernando Ortiz im obigen Zitat von 1940 im Kontext der damaligen Auseinandersetzungen um ‘das Kubanische’ nicht auf die Fest-Stellung
der cubanidad verzichten zu können glaubte. Das Territoriale erscheint im
Licht der Ortizschen Transkulturationstheorie als ein Bewegungsraum (für die
„Zugvögel“), als ein Verbindungsraum (für die Seefahrer) und als ein Lebensraum, der die Entwurzelung, das Fehlen eines festen Wohnsitzes sowie das
von außerhalb Kommende, stets Transitorische, nicht zu reterritorialisieren
und damit räumlich stillzustellen vermag.
Der 1940 im Contrapunteo cubano eingeführte Begriff der Transkulturation ist nicht von ungefähr in der Karibik entstanden: Er ist zum damaligen
Zeitpunkt einer im Sinne Lezama Limas erst an der Linie des Horizontes erahnbaren Poetik der Bewegung verpflichtet, die aus den transhistorischen Erfahrungen der Globalisierung, aus den nie enden wollenden Transfers ihrer
Vektorisierung und den künstlerischen Transformationen ihrer Transarchipelisierung aufruht. Kultur kann seitdem neu buchstabiert werden. Kein anderer
Bewegungs-, Verbindungs- und Lebensraum dieser Erde bot in vergleichbarer
Verdichtung die historischen und sozialen, die ökonomischen und kulturellen
Voraussetzungen dafür, Kultur nicht länger als cultura aus der Bearbeitung
des Bodens, sondern aus dessen Querung, aus dessen Transmigration heraus
programmatisch finden, erfinden und leben zu können.
Letztlich steht dieses Leben aus der stetigen Entwurzelung vom Boden, esa
vida siempre en desarraigo de la tierra habitada65, für ein Lebenswissen ein,
das sich als Wissen aus der eigenen Lebenserfahrung speist und zugleich die
ständige Bewegung in das eigene Wissen vom und im Leben einspeist. Ist Lebenswissen in seiner verdichtetsten Form, in der Form des conocimiento poético, nicht immer zugleich ein Bewegungswissen, das in sich nur die eine
Wahrheit kennt: Daß eben Wahrheit nur im Plural, nur poly-logisch zu haben
ist?
Der für die Anlage eines derartigen Lebens- und Überlebenswissens entscheidende historische Prozeß ist jener der Conquista, folglich jene erste Phase
beschleunigter Globalisierung, die in den Worten von Fernando Ortiz gleichsam zum „Big Bang“66, zum auslösenden Schock der Kulturen in der
sogenannten ‘Neuen Welt’ wurde:
Wenn dieses Indien in Amerika für die europäischen Völker eine Neue Welt war, dann war
Europa die Neueste Welt für die amerikanischen Völker. Sie bildeten zwei Welten, die sich
wechselseitig entdeckten und aufeinander prallten. Der Kontakt (contacto) zwischen beiden
Kulturen war schrecklich.67
65 Ebda.
66 Vgl. hierzu auch Severo Sarduy: Big bang. Barcelona: Tusquets 1974.
67 Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, S. 94.
251
Es ist dieser Schock, dieser zerstörerische Kontakt im Sinne eines fürchterlichen Zusammenpralls, der die Spezifik Amerikas im allgemeinen sowie der
Antillen und Cubas in einem ganz besonderen Maße ausmacht. Die vektorielle
Dimension dieses Zusammenstoßes, also die Speicherung von historischen
Energie- und Bewegungsbahnen, die von Amerika und Europa und bald schon
von Afrika und Asien kommend aufeinander treffen und kollidieren, entfaltet
ihre dynamische Prägekraft von diesem choque aus, der an der Wende vom
15. zum 16. Jahrhundert nach Christus alle weiteren Phasen beschleunigter
Globalisierung mit seinen Bewegungsfiguren markiert. Innerhalb dieses sich
mit ungeheurer Wucht entfaltenden weltweiten Systems avanciert die Karibik
zu einer herausragenden Verdichtungszone oftmals gewalttätiger Globalisierungsprozesse. So entstand eine Asymmetrie globaler Beziehungen, die mit ihrer alles (ver)formenden Kraft über Jahrhunderte anhalten sollte – und die unterschiedlichen Inseln des karibischen Archipels befanden sich mittendrin in
diesem ungeheuren Wirbelsturm.
Auch José Lezama Limas Schriften wissen selbstverständlich von jenem
Schock, wissen von jenem gewaltsamen Zusammentreffen, den der kubanische Dichter seinerseits als „den Zusammenprall (choque) alter Kulturen“68
bezeichnet. Auch wenn er weit davon entfernt ist, alles auf diesen Zusammenstoß von 1492 zurückzubeziehen, stehen für ihn die Bewegungen der fünf
nachfolgenden Jahrhunderte noch immer im Zeichen jener Kräfte und Dynamiken, die der Zusammenprall auf beiden Seiten des Atlantik, bald aber auch
im pazifischen Raum entfesselte, innerhalb dessen die Philippinen die entscheidende transarchipelische Struktur bildeten.
Denn nachdem im Jahre 1566 – wie bereits betont wurde – Miguel de Legazpi im spanischen Auftrag eine Route zu den Philippinen gefunden hatte,
wurde es möglich, von Neuspanien aus mit China und Japan, dem Cipango
Marco Polos, in Verbindung und kontinuierlichen Austausch zu treten und
damit die Erdkugel transpazifisch zu ihrer definitiven (und interessengeleiteten) Rundung zu bringen. Amerika war in Asien, Asien in Amerika angekommen; und die Kreise des iberischen Imperiums schlossen sich und eröffneten in derselben Bewegung eine planetarische Zirkulation, innerhalb derer
den Archipelen der Kanaren und Kapverden, der Azoren und Madeiras, aber
auch der Karibik und der Philippinen eine Bedeutung zukam, auf die wir in so
verschiedenen Kontexten in diesem Band bereits gestoßen sind.
Diese Dynamiken zeichnen sich immer wieder en filigrane in José Lezama
Limas Denken ab. Sein eigenes Schreiben und Philosophieren entnimmt den
von diesen Prozessen ausgelösten inter- und transkulturellen Dynamiken jene
Energien, die den Poeten aus der Trocadero-Straße in Havanna – unabhängig
von der Tatsache, daß er sich nach seiner frühen und kurzen Reise auf den
amerikanischen Kontinent nicht nur seiner stetig wachsenden Leibesfülle wegen kaum einmal mehr vom Fleck bewegte – zu einem der nicht nur für die
68 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 68.
252
kubanische Literatur wie die Literaturen der Amerikas insgesamt wichtigsten
Dichter der Bewegung werden ließen. Die Hafenstadt La Habana, im Schnittpunkt der Bewegungen zwischen dem Norden und dem Süden des Kontinents,
aber auch zwischen den transatlantischen und transpazifischen Austauschbewegungen gelegen, bot hierfür – wie die Kulturtheorien des Anthropologen
Fernando Ortiz nicht weniger eindrücklich belegen – einen überaus anregenden Ausguck auf diese weltweiten Kräftefelder. Denn ist La expresión americana nicht letztlich eben dies: die ihrer Möglichkeiten literarischer Erkenntnis
bewußte Suche nach einer transarealen Poetik der Bewegung aus kubanischer,
aus insularer Perspektive?
So durchziehen die transarealen Dynamiken jene stets evozierte Ferne, jene
sich immer wieder darbietende und entziehende Anwesenheit des Abwesenden, welche Fülle in absentia entstehen läßt, um dadurch zu verhindern, daß
im Diskurs der Fülle immer schon die Falle des Diskurses zuschnappt. Dies
zeigt sich auf geradezu paradigmatische Weise etwa in dem auf März 1971
datierten und den Fragmentos a su imán entstammenden Gedicht ‘Palabras
más lejanas’ (Weiter entfernte Worte) mit seiner echoartig verstärkten Fülle an
Ausdrucksformen der Bewegung, des Auftauchens, Entschwindens und Verschwindens:
Der Morgen schwitzt ein Wort,
schwermütig geworden schwindend,
biegt hin- und herlaufend um die Ecke.
Schweigend betritt er die Taverne,
dort noch die metaphysischen Sänger von Purcell,
das Echo der Glocke macht ihn schlank.
Legten sie die Hand auf seine Schulter,
fügten sie andere Worte dem Horchen bei.
Spielen wird er, sich zu verlieren
mit den Sanden, die ihn glätten.
Fröhlich ist er, sind sie doch gekommen,
um sein neues Gesicht zu sehen, und dämmert ein
im rauchigen Rollen der Münzen.
Einem Eichhörnchen gleich verschwindet er
in der Mitternacht der anderen Ecke
frisch verlöscht.69
Ohne jeden Zweifel darf man, vor dem Hintergrund des in den Fragmentos a
su imán aufgebauten lyrischen Magnetfeldes, José Lezama Limas gesamtes
69 José Lezama Lima: Palabras más lejanas. In: ders.: Fragmentos a su imán. Prólogo de
Cintio Vitier y José Agustín Goytisolo. Barcelona: Editorial Lumen 1977, S. 66: „La
mañana suda una palabra, / apesadumbrada desaparece, / correteando dobla la esquina.
/ Entra silenciosa en la taberna, / todavía allí los cantantes metafísicos de Purcell, / el eco
de la campana la adelgaza. / Pondrían la mano sobre su hombro, / añadirían otras
palabras al oído. / Jugará a perderse / con las arenas que la bruñen. / Está alegre porque
han venido / a verle su nueva cara, se adormece / en el ahumado rodar de las monedas. /
Desaparece como una ardilla, / en la medianoche de la otra esquina / recién apagada.“
253
dichterisches Werk, vor allem aber das Denk-Spiel von La expresión americana einer zu schaffenden Poetik der Bewegung, ja einer sich abzeichnenden
Poetik der Relation zuordnen, wie sie wenige Jahrzehnte später der ebenfalls
karibische Dichter und Essayist Edouard Glissant aus dem Blickwinkel der
französischsprachigen Inselwelt entfalten sollte. Denn es ist eine im obigen
Sinne stets vektorielle Relationalität, die den sonst miteinander unverbundenen
Phänomenen ihre wechselseitig sich verändernde und verstärkende Dynamik
vermittelt. Alles ist mit allem verbunden oder doch verbindbar, wird durch rasche Bewegungen wie im Transit in einen aufleuchtenden und wieder schwindenden Zusammenhang gebracht. So betont Lezama Lima inmitten des von
ihm ausgespannten intertextuellen Netzwerkes mit Klages:
Wenn ich mir verkündige, daß die
Zündhölzer im Jahre 1832 erfunden
wurden, erreiche ich nur, das Vergessen um eine Schicht zu mehren.
Erweitere ich dieses Datum aber um
den Tod von Goethe und seinen Satz
Mehr Licht?!, dann wird es schwieriger, daß mir das gelobte kleine
Datum der Findung der Zündhölzer
noch einmal ent-schwindet. Nicht
umsonst betrachten die Deutschen
derartige Verfahren der Gedächtnisschulung als Formen des „Witzes“,
des Geistes.70
Man könnte diese Passage mit einer Photographie in Verbindung
bringen, die Lezama Lima umgeben von Büchern, aber auch einigen weitgereisten Gegenständen
inmitten seiner Bibliothek just in Abb. 12: José Lezama Lima in seiner
jenem Augenblick zeigt, als der Bibliothek (1969).
Dichter damit beschäftigt ist, sich
mit einem Zündholz lustvoll eine Zigarre anzustecken (Abb. 12). Dieser
Augenblick des Zündens, des kreativen Funkenfluges, siedelt sich sehr bewußt
in einem geschlossenen Innenraum der Bücher an, aus dem sich kein Fenster
hinaus auf die Straße, auf die Außenwelt hin öffnet. Wir haben es unbestreitbar
mit einer hintergründigen Visualisierung von Theorie, ja mehr noch einer
schriftstellerischen Praxis zu tun, die in ihrem verdichteten Bild all jene
Zeichen auslegt, die schöpferisches Tun nach Auffassung José Lezama Limas
auszeichnen. Empfinden wir nicht Sympathie für die Fiktion dieses Subjekts,
70 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 23; „Witz“ im spanischsprachigen
Original.
254
die der ihrem Schreiben zugrunde liegenden Theorie doch ‘nur’ ein Gesicht,
eine Verkörperung, einen figuralen Ausdruck zu geben versucht71?
Denn Lezama Lima schreibt sich mit dieser bildhaften Sichtbarmachung
einer immanenten Poetik ein in eine lange Tradition der Inszenierung des
Schreibtisches und der eigenen Bibliothek, wie sie in ihren unterschiedlichen
Varianten die Moderne seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts durchzieht.72
Was in seiner Bibliothek steht, was auf seinem Schreibtisch liegt, ist von seinem Schreiben ebenso wenig zu trennen wie die Tatsache, daß in dieser weitgespannten und doch auf sich selbst bezogenen Bücherwelt erst der Funkenflug, erst die zündende Verbindung wirklich entscheidend dafür ist, was aus
dieser Welt entsteht und in einem ingeniösen Prozeß von Finden, Erfinden und
Erleben aus der Sphäre des Imaginierbaren ins Lebbare übersetzt werden kann.
Dann erst kommt Leben in den Text.
Der eigentliche „Witz“ dieser von Lezama Lima in La expresión americana
auf den verschiedensten Ebenen in Szene gesetzten Relationalität liegt aber
vielleicht mehr noch darin, daß der kubanische Autor seine (literarischen)
Landschaften mit Hilfe ebenso vielgestaltiger wie überraschender Beziehungsgeflechte und Kombinatoriken gestaltet und in Bewegung setzt. Das
Überraschungsmoment ist als Bewegungsmoment – ebensosehr als motion wie
als emotion – zentral für Lezamas Poetik. Für ihn steht unter Rückgriff auf
Ernst Robert Curtius – und auch hier zeigt sich, wieviel er der Vermittlungstätigkeit von José Ortega y Gassets einflußreicher Schriftenreihe und Zeitschrift
Revista de Occidente verdankte73 – die Notwendigkeit im Vordergrund, die alten Mythen neu zu (re)konstruieren und zu erfinden:74 und zwar so, daß diese
Mythen uns immer neue Gesichter zeigen. Denn: „Die Fiktion von Mythen
sind neue Mythen, mit neuen Ermüdungen und Schrecknissen.“75 Findung und
Erfindung münden in dieser Wendung in Lebens- und Erlebensbegriffe ein.
Wenn Lezama Lima in seinem ersten Vortrag, der unter der Überschrift
„Mythen und klassische Ermüdung“ (Mitos y cansancio clásico) steht, die
Umwandlung erschöpfter, ermüdeter Mythen durch Findung und Erfindung in
neue Mythen als wesentlichen Bestandteil seiner Methode präsentiert, so weiß
er zugleich, daß auch die neuen Mythen stets dem cansancio, der Müdigkeit
anheimfallen können, wenn sich die wechselseitigen Beziehungen nicht in
ständiger Mobilität, Modifikation und Transformation befinden und neue Er71 Zur Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Sichtbarmachung von Theorie in der LichtSchrift der Photographie vgl. Ottmar Ette: Sympathie für die Fiktion eines Subjekts: Roland Barthes’ friktionales ÜberLebenSchreiben (im Druck).
72 Vgl. Ottmar Ette: La mise en scène de la table de travail: poétologie et épistémologie
immanentes chez Guillaume-Thomas Raynal et Alexander von Humboldt. In: Peter Wagner (Hg.): Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality. Berlin/New
York: Walter de Gruyter 1996, S. 175–209.
73 Vgl. hierzu ausführlich die bereits angeführte Studie von Sergio Ugalde Quintana: La
biblioteca en la isla, S. 37–41.
74 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 20.
75 Ebda.
255
lebensformen erschließen. Dies gilt auch und gerade für die Landschaft, die
nicht etwa als Natur und damit als das Objekt, der Gegenstand der Kultur,
sondern als deren Erzeugerin erscheint: „Das einzige, das Kultur schafft, ist
die Landschaft, und darin ist sie uns ungeheuerliche Meisterin, ohne daß uns
die Ermüdung kritischer Dämmerungen durchliefe.“76 Und er fügt mit Blick
auf die Schöpferkraft der Bewohner dieser amerikanischen Landschaften
hinzu: „Über die Funktion und das Organ hinaus gilt es, die Notwendigkeit zu
erzeugen, fremde Landschaften zu inkorporieren, ihre zeugenden Potenzen zu
nutzen, sich in Bewegung zu setzen (movilizarse), um Stücke von stolzer und
güldener Souveränität zu erlangen.“77
Ist hier ein simpler Geodeterminismus, vielleicht auch ein europäischer
Tropen-Diskurs der Fülle am Werk? Keineswegs. Vielmehr wird die Inkorporation, die Einverleibung fremder Landschaften, zu einem Gegenmittel gegen
die Ermüdung, gegen die Erschlaffung, indem die eingeführte Relationalität
zum Motor einer Bewegung wird, welche die alten Bezugspunkte, die alten
Mythen, in immer neue und wechselnde Zusammenhänge einbezieht. Die kreative Kraft78 einer Landschaft (der Theorie) bringt gleichsam eine ständig erneuerte Arbeit am Mythos hervor, die in keiner einzelnen, isolierten Landschaft fest-gestellt wird und konstelliert. Und diese, um mit Hans Blumenberg
zu sprechen, Arbeit am Mythos situiert sich bei Lezama Lima als Arbeit an der
Landschaft dezidiert nach dem „Absolutismus der Wirklichkeit“79.
Damit aber ist nicht nur das vielleicht zentrale poetische Verfahren José
Lezama Limas beschrieben und in eine historische Dimension eingerückt,
sondern zugleich auch eine mobile, transarchipelische Landschaft der Theorie
gestaltet, die quer durch La expresión americana immer wieder neue, weltweite Beziehungen zwischen den unterschiedlichsten Inseln innerhalb dieser
mentalen Kartographien und Choreographien der Weltkulturen herstellt. Es
geht nicht um Zusammenhängendes, Kontinentales, sondern um einzelne
„Stücke von stolzer und güldener Souveränität“80, wie sie die Bibliothek des
Dichters bevölkern.
Mithin ist es eine transareale und zugleich transarchipelische Vision, die
der kubanische Dichter vor den Augen seiner Zuhörer wie seines Lesepublikums entfaltet, eine Vision, die auf einem grundlegenden Bemühen um Inklusion beruht. Immer wieder wird die (amerikanische) Landschaft zum Ausgangspunkt einer weltumspannenden und viellogischen Vielverbundenheit,
aus der die Mythen keineswegs verschwunden sind, sondern in der sie nach
immer neuen Verbindungen, nach einem neuen Finden und Erfinden, vor allem aber auch nach einem neuen Leben und Erleben streben.
76
77
78
79
80
Ebda., S. 27.
Ebda., S. 35.
Vgl. hierzu Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie.
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 41986, S. 9.
José Lezama Lima: La expresión americana, S. 35.
256
So konstituiert sich der Raum nicht in seiner stabilen Territorialität, sondern
erscheint als ein weltweiter Bewegungs-Raum, ein gleichsam unendlicher dynamischer Spiel-Raum, in dem die Relationalität zum Movens einer Potenzialität und Zeugungskraft wird, die nur solange nicht ermüdet und erschlafft, wie
die Mythen nicht fixiert und territorialisiert werden. Allein die Literatur vermag uns wie in einem Experimentierraum transhistorisch diesen Raum und die
dazu gehörige poetische Erkenntnis zu liefern und für immer neue Anwendungen bereit zu halten. Daß die Kubanische Revolution, anders als in Lezama
Limas dynamischem und offenem Modell, längst die von ihr geschaffenen
Mythen ein für allemal spatial wie semantisch festgelegt hat, um sie und sich
gleichsam zu verewigen, ist hier nicht mehr als eine früher oder später historisch werdende Randbemerkung. Was aber bleibt, ist die Einsicht, daß einmal
fixierte Mythen ermüden – und dies im doppelten Sinne.
Amerikas Ausdruck: Suche nach dem Jenseits der historischen Gewalt
José Lezama Limas Vorträge im Januar 1957 fanden, und dies ist in ihnen
nicht unmittelbar erkennbar, vor dem dramatischen Hintergrund des GuerrillaKrieges der Revolutionäre um die beiden Castro-Brüder und Che Guevara in
der Sierra Maestra sowie – weit näher noch – des aufopferungsvollen Kampfes
studentischer beziehungsweise linker Gruppen gegen die Batista-Diktatur in
der Hauptstadt Cubas statt. Als der große Dichter der Orígenes-Gruppe am
22. Januar 1957 seinen Vortrag in einem lyrischen Portrait des kubanischen
Dichters, Essayisten und Revolutionärs José Martí gipfeln ließ, sprach er – wie
wir bereits sahen – bedeutungsvoll von der „Poesie als Präludium zur Belagerung der Stadt“81 und leitete in einer abschließenden Volte über zu einer
Formulierung, die des öfteren als eine kleine Verbeugung vor den zeitgenössischen Revolutionären gedeutet wurde: „für den Stern, der die zur Welt kommende Tat (acto naciente) verkündigt“82. Auch nachfolgende Äußerungen Lezama Limas legen nahe, daß der origenista anfänglich durchaus eine Beziehung zwischen der Revolution Martís und jener Castros erblickte.83
Vieles spricht dafür, daß hier der sich gerade bildende Mythos von der
neuen Schöpferkraft einer Gruppe entschlossener Revolutionäre, auf deren
apostolische Zahl man hinzuweisen auch später nicht müde wurde, in einen
geschichtlichen Verlauf eingespielt wird, für den in La expresión americana
ein Simón Rodríguez, ein Simón Bolívar, aber auch ein Fray Servando Teresa
de Mier oder ein Francisco Miranda beispielhaft angeführt werden84 – so wie
sich heute ein Hugo Chávez ganz bewußt und nicht ohne Geschick in eine
mythische Beziehung zum Libertador einzubauen sucht. Kommt es hier zu
einer Neuerfindung alter Mythen im Gewand der neuen, noch nicht dem cansancio anheimgefallener und ermüdeter Mythen, die sich im Umfeld der Un81
82
83
84
Ebda., S. 116.
Ebda., S. 117.
Vgl. hierzu auch Sergio Ugalde Quintana: La biblioteca en la isla, S. 288.
José Lezama Lima: La expresión americana, S. 116.
257
abhängigkeitsrevolution konfiguriert hatten? Eine derartige Mythenbricolage
ist in Lezama Limas Diskurs im Zeichen der (kubanischen) estrella, des Sterns
der Nationalflagge Cubas, zweifellos angelegt, beinhaltet aber ein Geschichtsmodell und eine Weltsicht Amerikas, die mit jenen der kubanischen
Revolutionäre um Fidel Castro und Che Guevara wenig zu tun hatten.
Wie auch immer man diese kurze Passage interpretieren mag: Es entbehrte
jeglicher Basis, wollte man (wie dies bisweilen unternommen wurde) versuchen, José Lezama Lima zu einem Parteigänger Castros und einem Apologeten des von der Kubanischen Revolution letztlich errichteten Gesellschaftsmodells zu stilisieren. Die nachträglich konstruierte und gepflegte Verbindung
zwischen den Revolutionsjahren 95 und 59 blitzte nur kurz auf, um sofort
wieder zu verschwinden. Vielmehr wurde der Autor von Paradiso seit Ende
der sechziger Jahre, seit der intellektuellen Wasserscheide einer immer oppressiver werdenden Kulturpolitik, in eine zunehmende, wenn auch nicht den Grad
der Verdammung eines Virgilio Piñera erreichende Marginalisierung getrieben, ein ostracismo, aus dem ihm weder sein lange Zeit prekärer nationaler
Ruhm noch sein internationales Prestige als einer der großen Autoren des 20.
Jahrhunderts heraushalfen.
Die goldenen Zeiten einer offenen Kulturpolitik der Revolution waren spätestens seit Ende 1968 im Zuge der sogenannten Padilla-Affäre, der erzwungenen Selbstanklagen kubanischer Intellektueller und der zeitweiligen Inhaftierung mißliebiger Schriftsteller Geschichte: Nicht Logiken der Inklusion,
sondern der Exklusion waren von seiten des Regimes gefragt und allein erwünscht. Neue Normen der Konvivenz zielten auf Formen, die als überkommen gebrandmarkt wurden, um ein möglichst bis in alle Einzelheiten geplantes
und überwachtes Zusammenleben auf der Insel durchzusetzen und sicherzustellen.
In José Lezama Limas transarchipelischer Landschaft der Theorie aber war
kein Platz für Totalitarismen, kein Ort für Praktiken gewaltbereiter Exklusion,
wohl aber ausreichend Raum für eine weltumspannende Spielfläche des Polylogischen, offen für den vielstimmigen Austausch zwischen unterschiedlichen
Kulturen wie für die Entwicklung von Gnosemen einer Konvivenz, Elementen
eines Wissens also, die ein Zusammenleben verschiedenartigster Logiken erlauben. Dafür stand José Lezama Lima ein.
Die Frage der Gewalt spielt in den Überlegungen José Lezama Limas eine
zwar unübersehbare, aber zumeist in der Forschung gleichwohl übersehene
Rolle. Denn bereits die erste Phase beschleunigter Globalisierung, der „Zusammenprall alter Kulturen“85, stand im Zeichen einer Gewalt, die – wie wir
sahen – höchst asymmetrisch verteilt war.
Dabei handelte es sich insbesondere um eine Gewalt, die auf die Körper
einwirkt, diese in Gefängnissen und Kerkern wegschließt, von der Insel beziehungsweise vom Kontinent verbannt oder zu Tode bringt. Immer wieder wird
85 Ebda., S. 68.
258
an die „große romantische Tradition des 19. Jahrhunderts, die des Kerkers
(calabozo)“86, erinnert und damit jene leibhaftige Gewalt87 aufgerufen, die in
der Figur des stets von neuem in anderen Gefängnissen eingesperrten und von
neuem aus diesen ausbrechenden Dominikanermönchs Fray Servando Teresa
de Mier y Guerra kulminiert. Und mit der in La expresión americana ausführlich behandelten Figur des neuspanischen Mönchs und Aufklärers an der
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist damit auch jene zweite Phase beschleunigter Globalisierung, die in Amerika im Zeichen der Emanzipation von
Europa und einer vorwiegend politischen Unabhängigkeit stand, in das Gewaltparadigma miteinbezogen.
In seinen kaum einmal zur Kenntnis genommenen Reflexionen über die
Gewalt unterschied der französische Zeichentheoretiker und Philosoph Roland
Barthes zwischen zwei verschiedenen Typen von Gewalt. Er differenzierte einerseits zwischen einer Gewalt, die in jeglichem Zwang liegt, den eine Kollektivität auf Individuen ausübt, also eine Gewalt des Gesetzes und der
Staatsmacht, die als „Gewalt des Zwanges“ (violence de la contrainte)88
bezeichnet werden kann und eher strukturellen Charakter besitzt; und andererseits der Gewalt, die auf die Körper von Individuen ausgeübt wird, wobei dies
eine „gefängnisartige Gewalt“ (violence carcérale) oder eine „blutige Gewalt“
(violence sanglante) sein könne,89 die Körper zeitweise oder für immer verschwinden läßt, sie etwa verschleppt, foltert oder vernichtet.
Daß die historisch so reiche Tradition des amerikanischen Kerkers keineswegs mit der Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Staaten oder Brasiliens zu Ende ging, mußte Lezama Lima zu einem Zeitpunkt, als blutige Auseinandersetzungen, Verschleppungen und Verstümmelungen im Havanna der
Endzeit der Batista-Diktatur an der Tagesordnung waren, seinen Zuhörern in
der kubanischen Hauptstadt nicht näher auseinandersetzen: Allzu deutlich (und
zugleich doch sehr verhalten umrissen) ragte der Kontext einer allgegenwärtigen Gewalt in den literarischen Text des kubanischen Dichters hinein. Cubas
20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert sich abwechselnder Diktaturen, nur kurz
unterbrochen von ebenso hoffnungsvollen wie vorübergehenden Atempausen:
eine Zeit im Zeichen der Gewalt, von unterschiedlichsten Ideologien und Gegen-Ideologien legitimiert.
Die thematisch so weit gespannte und offene Kommunikationssituation der
Vorträge von Januar 1957 war folglich in ein mörderisches System von Gewalt und Gegengewalt eingestellt und in ein Spannungsfeld zwischen dem
Machtdiskurs des damaligen Tyrannen und einem gegen die barbarische
Macht dieses Tyrannen aufbegehrenden revolutionären Gegendiskurs bis zum
Zerreißen eingespannt. Was war zu tun? Die Sympathien Lezama Limas
86 Ebda., S. 115.
87 Vgl. hierzu Roland Barthes: Propos sur la violence. In: ders.: Œuvres complètes, Bd. III,
S. 903.
88 Ebda.
89 Ebda.
259
dürften zweifellos den gegen die Macht angehenden Studenten gegolten haben; doch ließ er sich selbst nicht in das Geflecht von Macht-Diskurs und Gegenmacht-Diskurs verstricken. Unabhängig davon, ob er in dieser vor den Toren und Fenstern seines Vortragssaales bürgerkriegsähnlich gewordenen
Situation bereits ahnte, daß der akratische, gegen die Macht und um die Macht
kämpfende Diskurs schon bald in einen enkratischen, sich an der Macht und in
der Macht befindlichen Diskurs verwandeln würde,90 dürfte seine Position in
der Spiegelung früherer eras imaginarias weder die des unermüdlich gegen
jegliche Machtkumulierung ankämpfenden Fray Servando Teresa de Mier
noch die eines José Martí gewesen sein, der selbst den Wirbel schuf, der alles
und ihn selbst mit sich fortreißen sollte. José Lezama Lima setzte vielmehr auf
eine andere „Macht“: auf die ästhetische Kraft der Literatur, die ihre eigene
Widerständigkeit, die lebendige Widerständigkeit des Ästhetischen, besitzt
und sie gegen alle Repression wie Gegenrepression geltend machen kann.
Dies aber hieß: Lezama Lima mußte auf die Zeit setzen, welche Bedingung
und Grundlage der Zeitkunst Literatur selbst ist, mußte seinen eigenen Diskurs
so positionieren, daß er weder von der Macht noch von der Gegenmacht vereinnahmt und funktionalisiert werden konnte. Der Text selbst mußte zum eigentlichen Erprobungsraum für die Herausforderung werden, alle physische
oder von Sprache ausgehende Gewalt aufzuheben oder genauer noch: auf eine
fundamentale Weise zu transformieren und auf neue Horizonte hin zu öffnen.
Denn seit der sicherlich bekanntesten Rahmenerzählung der Literaturen der
Welt, der unterschiedliche Kulturen und Jahrtausende querenden Rahmung der
Erzählungen von Tausendundeiner Nacht wissen wir – oder wir können es
zumindest wissen –, daß die Last drohender Gewalt mit Hilfe der List der Literatur in die Lust künftigen Zusammenlebens verwandelt werden kann.91 Damit
stellt sich aber die Frage, welche Strategien und welche Gnoseme des Lebenswissens und Überlebenswissens seitens der Literatur einer Geschichte
entgegengestellt werden können, um der Allgegenwart der Gewalt zu entgehen
und andere Wissensnormen und Wissensformen der Konvivenz zu entwickeln.
Die literarischen Antworten José Lezama Limas hierauf sind klar konturiert
und siedeln sich in einem transarealen Kontext an. Sie bieten keine Rezepte,
enthalten keine Rezepturen, bilden aber komplexe Versuchsanordnungen, mit
deren Hilfe sich begreifen läßt, wie Literatur der herrschenden und sich transhistorisch fortpflanzenden Gewalt nicht eine Gegen-Logik, wohl aber ein viellogisches Denken entgegenzusetzen vermag.
Mit Blick auf die im Zeichen des Schwierigen stehende Frage nach dem
guten Zusammenleben bildet La expresión americana einen fundamental-kom90 Zu den ‘Spielregeln’ des Kampfes zwischen akratischen und enkratischen Diskursen und
zum ‘Umkippen’ des Akratischen ins Enkratische vgl. Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine
intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 346–349.
91 Vgl. hierzu das der Gewalt gewidmete achte Kapitel meines Bandes
ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen
Maßstab.
260
plexen Bewegungs-Raum des Viel-Logischen, der sich weder akratisch noch
enkratisch vereinnahmen läßt und der auf diese Weise alles in Bewegung setzt,
um der sich ausweglos drehenden Spirale der Gewalt zu entgehen. Man könnte
sehr wohl bezüglich der jahrtausendealten abendländischen wie nicht-abendländischen Traditionen die Grundlage allen Erzählens, allen Schreibens in der
Transformation von Gewalt erkennen: Das Erleben von Gewalt wird zur Antriebskraft, zum eigentlichen Motor des Erzählens von Gewalt, um dem Erleiden
von Gewalt ein Ende zu bereiten.
Suchen wir aber nach einer grundlegenden, nicht einfach revolutionären (also
die Verhältnisse logischerweise umkehrenden) Transformation von Gewalt, die
sich ihrerseits nicht der Gewalt bedient, so bietet sich das Polylogische der Literatur an, das sich auf keine Ästhetik des Widerstands, wohl aber auf die Widerständigkeit und Widerspenstigkeit des Ästhetischen verlassen kann. In diesem
Sinne bildet Literatur für ihre Leserinnen und Leser stets ein Gnosem im Sinne
eines friedlichen Zusammenlebens in Differenz, bietet sie doch die Chance, im
Akt des Lesens Verhaltensformen und Verhaltensnormen der Konvivenz in
spielerischem Ernst zu erproben, abzuwandeln und einzuüben. Literatur ist der
Testfall komplexen Denkens, übt uns darin ein, Viel-Logiken zu finden, zu erfinden und zu leben. La expresión americana ist mit dem hier vorgenommenen
transarealen Entwurf des Amerikanischen gerade aus der Nicht-Beschränkung
auf das Amerikanische ein exzellentes Beispiel dafür, welche Antworten die Literaturen der Welt auf die Herausforderungen des Globalen zu geben vermögen.
Die Vorträge von 1957 sind nicht nur eine gewaltlose Kampfansage an die sie
umgebende Gewalt, sondern auch die Suche nach einem Jenseits der historischen
Gewalt. Allein das Schwierige stimuliert und fordert uns heraus.
Halten wir also fest: José Lezama Lima verschließt in seinen Vorträgen wie in
deren publizierter Fassung keineswegs die Augen vor der Gewalt, er schreibt die
Gewalt aber nicht diskursiv fort, sondern kehrt der historischen Last der violencia
entschlossen den Rücken. Dies ist keine Flucht aus der Gegenwart, keine Evasion: Lezama setzt auf die Zeit, die ureigenste Kraft der Literatur, wohl wissend,
daß eine sich drehende Gewaltspirale nicht unmittelbar zu brechen oder auch nur
zu unterbrechen ist. Zugleich macht er deutlich, daß die Geschichte der Gewalt
nicht die einzige Traditionslinie amerikanischer Historie ist und daß vielmehr
eine amerikanische Ausdrucksform existiert, deren Ausrichtung an der Inklusion,
an der transformierenden Integration, von grundlegender Bedeutung ist. Dies ist,
so läßt sich seine Analyse deuten, nicht nur das Erbe, sondern die Zukunft dessen, was er als Ausdruck Amerikas beschreibt.
Denn gegen die radikale Diskursverarmung, die wir in allen Gewaltsituationen unschwer erkennen können, gegen die gezielte Reduktion auf einige
wenige vorfabrizierte Diskursmuster, die in einer gewissen Komplizenschaft
zwischen enkratischem und akratischem Diskurs hart gegeneinander gestellt
werden, kann die Literatur ihre verlebendigende Fähigkeit setzen, die auf der
Komplexität des Lebens beruhende Polysemie und Polylogik gegen um sich
greifende Gewaltdiskurse und Diskursgewalten zu richten. Die Literaturen
261
der Welt setzen ein Wissen in Bewegung, das es uns erlaubt, totalisierenden
Reduktionismen die ästhetische Kraft verdichteten Lebens, gleichsam eine
literarische Lebenskraft, die vom außerliterarischen Leben keineswegs
getrennt ist, mit diesem aber auch nicht ineins fällt, kreativ entgegenzusetzen.
Diese transformierende, kreative Kraft nimmt José Lezama Lima für die
lange Geschichte der Gewalt in Anspruch, der Simón Rodríguez oder Simón
Bolívar, Fray Servando Teresa de Mier oder José Martí in Amerika
ausgeliefert waren, um zu begreifen, auf welche Weise es ihnen gelang, die
expresión americana dank ihrer schöpferischen Einverleibung weiterzuentwickeln und fortzuschreiben.
Genau an diesem Punkt, so scheint mir, liegt die eigentliche Sprengkraft
des Denkens und des Schreibens von José Lezama Lima, so wie es in La expresión americana seinen bis heute faszinierenden und damit die Zeit für sich
gewinnenden ästhetischen Ausdruck gefunden und gewonnen hat. Denn dort,
wo die violence carcérale mit ihrer Logik der Inklusion die langen
Traditionen der Exklusion amerikanischer Kerkerhaft fortsetzt und gleichsam
die Eigen-Logik einer Insel-Welt in die totalitäre Einheit einer GefängnisInsel umschlagen läßt, wird mit La expresión americana eine die Gewalt
immer wieder reflektierende, aber sie nicht inkarnierende Komplexität einer
Inselwelt entfaltet, die in ihrer transarchipelischen Vielstimmigkeit die
Herrschaft einer einzigen, mono-logischen Stimme unterläuft. Zwischen den
imaginären, mythischen Dimensionen des Popol Vuh92 und Joyces
Finnegan’s Wake, zwischen Aleijadinho und Picasso, zwischen dem Indio
Kondori und Cézanne entfaltet sich in diesem Band ein Magnetfeld, dessen
Kraftlinien ebenso transhistorisch wie transkulturell sind, niemals aber der
Gefahr unterliegen, das Eigene durch den Ausschluß des Anderen zu
definieren und zu fixieren.
Insofern ließe sich mit guten Gründen sagen, daß die von José Lezama
Lima immer wieder eingefügten Figuren der Fixierung, einer gewalttätigen,
gefängnisartigen Fest-Stellung und räumlichen wie gedanklichen Ausschließung durch Einschließung, die Vielzahl an Bewegungsbegriffen erst hervortreten läßt, welche die lebendige Dynamik von La expresión americana erzeugt und eindrucksvoll in Schwung hält. Gegen diese Figuren
geschichtlicher (wie implizit auch zeitgenössischer) Gewalt, gegen diese
Repräsentanten der Ausschließung des Anderen, setzt Lezama Lima eine
transarchipelische Gestaltungskraft, welche in diesem Entwurf eines nicht
essentialisierenden und nicht essentialisierten Amerikanischen die eigentliche
transhistorische, alle eras imaginarias durchziehende Bild-Konfiguration im
faszinierenden Wirbel unterschiedlichster Kulturen darstellt. Oder anders
formuliert: Das Ich Amerikas will ein Du, will ein Wir sein, gerade weil es
dadurch in viel tieferer, ja vollkommenerer Weise Amerika sein kann. Wie
ärmlich wirken dagegen alle Rezepte und Rezepturen der Identität, die
92 Vgl. Sergio Ugalde Quintana: La biblioteca en la isla, S. 139–146.
262
zuallererst und immerdar das Ich vom Du, das Eigene vom Anderen
abgrenzen, um sich – und damit dem Ich – ein vermeintlich sicheres
Plätzchen im Zeichen unterschiedlich toleranter bis mörderischer93 Identitätsund Alteritätsdiskurse zu errichten.
Mit dieser weltumspannenden transarchipelischen Modellierung wird der
immer wieder hervorbrechenden historischen Gewalt eine literarische Lebenskraft entgegengestellt, die sich nicht auf die Diskursivität der Gewalt einläßt,
sondern jener diskursiven Armut entgegenwirkt, in die sich das EnkratischAkratische auf immer wieder neue, stets aber gewalttätige Weise verstrickt. In
dieser Bildwerdung, in dieser Imagination zur Bekämpfung einer Diskursarmut, wie sie alle Krisenherde dieser Welt vor Augen führen, liegt die ethische und die ästhetische Kraft einer transarealen Poetik der Bewegung. Insofern bilden die sich wandelnden imaginären Bild-Welten oder eras imaginarias Lezama Limas historisch akkumulierte Entwürfe einer vektoriellen, die
alten Bewegungsbilder speichernden und transformierenden Imagination, die
den calabozo, den Kerker einer reduzierten und reduzierenden Vorstellungswelt zu sprengen sucht.
Der gnostische Raum und der Archipel der Literatur
In seinem abschließenden, am 26. Januar und damit zwei Tage vor der Cena
martiana des Jahres 1957 gehaltenen Vortrag „Sumas críticas del americano“
setzt der kubanische Dichter noch einmal wesentliche Konfigurationen der
vorangegangenen Vorträge ins Bild, mokiert sich über alle Versuche, die Formen der Kunst auf simple Weise zu territorialisieren, insofern man einen Picasso in die sogenannte „spanische Tradition“ förmlich „einzukleben“ suche94,
und verweist darauf, daß es die synthetisierende Kraft der Goethezeit von zeitgenössischen Formen künstlerischer beziehungsweise literarischer Synthese
durchaus zu unterscheiden gelte:
Die großen Figuren der zeitgenössischen Kunst haben Regionen entdeckt, die überflutet
schienen, Formen des Ausdrucks oder der Erkenntnis, die vernachlässigt worden waren,
aber schöpferisch geblieben sind. Joyces Kenntnis vom Neuthomismus, und wäre sie nur
dilettantisch, war kein spätes Echo der Scholastik, sondern eine mittelalterliche Welt, die
im Kontakt mit ihm auf eine eigenartige Weise schöpferisch wurde. Die Ankunft von Stravinsky bei Pergolesi war keine neoklassizistische List, sondern die Notwendigkeit, einen
durchgängigen Faden in jener Tradition zu finden, die der Erkenntnis des Geheimnisses der
Mystik, des Kanons der Schöpfung, des Fixpunkts in den Wandlungen, des Rhythmus in
der Wiederkehr so nahe gekommen war. Die große Ausnahme eines Leonardo oder eines
Goethe verwandelte sich in unserer Epoche in den zeichenhaften Ausdruck, der eine intuitive und rasche Erkenntnis vorheriger Stile erforderlich machte, Gesichter dessen, was
selbst nach so vielen Schiffbrüchen und einer angemessenen Situation in der zeitgenössischen Polemik auch weiterhin schöpferisch geblieben war, im Gleichgewicht zwischen
dem, was sich in die Schatten zurückzieht, und jenem, was aus den Wassern wie ein Strahl
hervorbricht.
93 Vgl. Amin Maalouf: Les Identités meurtrières.
94 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 159.
263
Wenn Picasso vom Dorischen zum Eriträischen, von Chardin zum Provenzalischen sprang,
dann erschien uns dies als allerbestes Zeichen der Zeiten, aber wenn ein Amerikaner Picasso studierte und assimilierte, hieß es horror referens.95
Die in dieser Passage umschriebene Suche von Kunst und Literatur in untergetauchten Räumen und versunkenen Zeiten – und die Wasser- und Schiffbruchmetaphorik dieses Zitats scheint mir hier ausschlaggebend zu sein – legt
nicht die Spuren alter Traditionen frei, sondern bringt auf überraschende Weise
das miteinander in Verbindung, was auf den ersten Blick nicht zusammenzugehören scheint. Angesichts der Tatsache, daß Lezama in den vorangegangenen Vorträgen die transareale Vielgestaltigkeit und Dynamik der amerikanischen Ausdrucksform wie des Ausdrucks des Amerikanischen historisch
entfaltet hatte, mußte nunmehr jegliche Asymmetrie im Polylog der Künste
etwa zwischen Europa und Amerika als hochgradig fehlgeleitet erscheinen,
konnte doch gerade von Amerika aus – wie Borges es in „Der argentinische
Schriftsteller und die Tradition“ bekanntlich tat96 – Anspruch darauf erhoben
werden, nicht territorial bestimmt und rückgebunden zu sein.
Der horror referens entspricht in gewisser Weise dem horror vacui, der auf
mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Karten die unbekannten Räume mit jenen Ungeheuern bevölkerte, welche sich in keine klassifizierende Ordnung und
damit auch in keine verortete Territorialität fügen wollten. Die Amerikaner
aber, dies hatte Lezama in seinem Essay-Band eindrucksvoll gezeigt, durften
längst Anspruch darauf erheben, das Wissen aus anderen Breitengraden nicht
nur zu delokalisieren, mithin an einen anderen (peripheren) Ort zu verbringen,
sondern in der Tat so zu translokalisieren, daß es von verschiedenen Logiken
aus denkbar und lebbar werden konnte und kann. Denn wie könnte eine Welt
sich in ihren Differenzen friedlich entfalten, wenn ihre Ideen, wenn ihre
Konzepte nur von einem einzigen Ort, von einem einzigen Kontinent, von
Europa aus gedacht und verbreitet werden würden?
Eben hier setzt José Lezama Limas hemisphärische Konstruktion des amerikanischen Kontinents im transarealen Spannungsfeld an. In unserer Epoche,
so Lezama, sei es unbestreitbar notwendig, „die Gespenster von Scotland Yard
mit dem Übersetzerkolleg von Toledo in jener engen Zusammenarbeit mit dem
Syndikus der ägyptischen Schreiber zu verbinden.“97 Und mit welcher Lust
führt der kubanische Dichter seine Zuhörer in der Folge aus einer amerikanischen Perspektive durch die Zeiten und die Kulturen in einer weltweiten
und nur scheinbar wirren Sequenz, die uns aber eine Landschaft der Theorie als
mobiles Modell einer künftigen Kultur jenseits aller Exklusionen vor Augen
führt. Kultur beschränkt sich nicht auf das, was der Mensch auf seinem Boden,
auf seinem eigenen Territorium bestellt. Kultur kann nur dann mehr sein, als sie
ist, wenn sie mehr ist als der Ort, von dem sie ist.
95 Ebda., S. 162 f.
96 Vgl. Jorge Luis Borges: El escritor argentino y la tradición, S. 272.
97 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 164.
264
Es überrascht daher nicht, wenn Lezama im weiteren Verlauf mehrere Seiten seines Essays der Landschaft widmet und sich über ein Verständnis von
Landschaft lustig macht, das diese in „sympathischer polygonaler Reduktion“
allein auf eine im voraus definierte „Extension der Natur“ zu begrenzen sucht.98
Denn die von der Naturphilosophie eines Schelling abgezogene Definition der
Natur als dem Sichtbaren des Geistes wie des Geistes als unsichtbarer Natur ist
bei dem Autor der Confluencias eher das ferne Echo einer idealistischen
Philosophie, die im Namen der expresión americana in die „Souveränität der
Landschaft“99 umgedeutet, transferiert und transformiert werden muß.
Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu jenem abgründigen und souveränen Lachen, mit dem der kubanische Intellektuelle Hegel und dessen sich
verselbständigenden europäischen Konzeptionen – mit dem eingestandenen
„Ansinnen, sich über ihn lustig zu machen“100 – den amerikanischen Spiegel
entgegenstreckt. Hegel habe in seiner Philosophie der Weltgeschichte allein
den weißen Kreolen noch geachtet,101 den „schwarzen Kontinent“ (continente
negro) aber vollständig verachtet, da er ihn jeglichen Fortschritts und jeglicher
Bildung für unfähig gehalten habe.102 Das Gespenst von Cornelius de Pauw ist
in der Tat noch in jeder Falte dieser Weltphilosophie lesbar, auch wenn bei
vielen aktuellen Deutern Hegels sich kaum noch eine Kenntnis von de Pauws
einst so akklamierten Schriften über die außereuropäische Welt finden läßt.
Derartige Vorstellungen aber wischte Lezama Lima, der den Disput des
ausgehenden 18. Jahrhunderts um die Neue Welt ganz selbstverständlich
kannte, in seiner kritischen Bilanz mit Verweis auf die expresión americana
hinweg: „Um all dies zurückzuweisen genügt es, den epischen Höhepunkt des
Barock bei Aleijadinho anzuführen, seine Synthese zwischen dem Schwarzen
und dem Hispanischen.“103 Nicht zufällig wird der Gesichtspunkt des Señor
Barroco104, der als Vertreter des amerikanischen Barock stets für die Verschiedenheit der Welten bei gleichzeitig intensiven (wenn auch asymmetrischen)
Austausch- und Transferbeziehungen steht, zum Kreuzungspunkt für den Stolz
des Amerikaners auf die eigenen transarealen Traditionen, die sich weit jenseits europäischer Hegemonialfiktionen hegelianischer wie nachhegelianischer
Provenienz in ihrem Eigen-Leben entwickelt haben. Es ist ein Stolz, der im
Bewußtsein einer reichen Vergangenheit sich der Zukunft zu versichern sucht.
Die auf den ersten Blick erstaunliche Präsenz der US-amerikanischen Kultur
und Literatur mit den zahlreichen Verweisen etwa auf Melville oder Whitman
auf den letzten Seiten des Bandes mag noch einmal hervorheben, daß wir es in
98
99
100
101
102
Ebda., S. 170.
Ebda., S. 171.
Ebda., S. 177.
Ebda., S. 178.
Ebda., S. 179. Zur Kritik an Hegels weltgeschichtlichen Ausblendungen vgl. auch Susan
Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte.
103 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 179.
104 Vgl. hierzu den zweiten Essay in La expresión americana, ‘La curiosidad barroca’.
265
La expresión americana in der Tat mit einer hemisphärischen Konstruktion zu
tun haben, die den Begriff des Amerikanischen weder den USA überläßt noch
stillschweigend für das iberische Amerika reklamiert. Der „gnostische Raum“
(espacio gnóstico)105, der sich ausgehend von den Landschaften Amerikas –
von den inkaischen Kunstbauten über die barocken Kirchen Neuspaniens oder
Perus bis in den US-amerikanischen Jazz – auf diesen wie im Zeitraffer
vorüberziehenden Seiten erstreckt, ist der Raum des conocimiento poético, einer Kenntnis, einer Erkenntnis und eines Wissens, das mit souveräner Geste die
Räume und die Zeiten quert, um eine transareale Poetik der Bewegung zu erzeugen, in der Amerika – und die Beziehungen zu Alfonso Reyes oder José
Vasconcelos bleiben hier zwar unterschwellig, sind aber unüberhörbar – auf einer weltumspannenden Ebene zum „Ausgang aus dem europäischen Chaos, das
blutleer zu werden begann“106, führt.
Nur am Rande sei hier noch einmal angemerkt, daß sich diese neuen Perspektivierungen des amerikanischen Doppelkontinents sehr wohl in die aktuelle
kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung übersetzen lassen. Eine ganze
Vielzahl an neueren Forschungen hat aus dem Blickwinkel unterschiedlicher
Disziplinen die Wichtigkeit einer transarealen Perspektivik nicht allein für den
Raum der Karibik,107 sondern für den hemisphärischen Raum insgesamt ergeben,108 gilt es doch insbesondere, die arabamerikanischen, die europamerikanischen, die afrikamerikanischen wie die asiamerikanischen Beziehungen und deren Transferleistungen näher zu untersuchen,109 um zu begreifen, auf welch
komplexe Weise der gesamte hemisphärische Raum der Amerikas sich aus den
Bewegungen und Dynamiken konfiguriert, die ihn zu unterschiedlichen Zeiten
und in unterschiedlicher Intensität querten oder queren. Erst so läßt sich eine
weltweite Perspektive gewinnen, die notwendig polyperspektivisch verstanden
werden muß.110
105 Ebda., S. 188.
106 Ebda., S. 189.
107 Vgl. hierzu Ottmar Ette (Hg.): Caribbean(s) on the Move – Archipiélagos literarios del
Caribe. A TransArea Symposium; Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.): Caleidoscopios
coloniales. Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX; sowie Ottmar
Ette/Werner Mackenbach u.a. (Hg.): Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y
el Caribe. Un simposio transareal.
108 Vgl. hierzu Marianne Braig/Ottmar Ette u.a. (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der
Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext; Marianne Braig/Ottmar Ette (Hg.):
Dossier: Construcciones hemisféricas. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main/Madrid)
V, 20 (Diciembre 2005), S. 83–156; Peter Birle/Marianne Braig u.a. (Hg.):
Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas.
109 Vgl. hierzu Ottmar Ette/Friederike Pannewick (Hg.): ArabAmericas. Literary Entanglements of the American Hemisphere and the Arab World; Ottmar Ette/Dieter Ingenschay
u.a. (Hg.): EuropAmerikas. Transatlantische Beziehungen; Ottmar Ette/Horst Nitschack
(Hg.): Trans*Chile. Cultura – Historia – Itinerarios – Literatura – Educación. Un
acercamiento transareal.
110 Vgl. hierzu Ottmar Ette/Gesine Müller (Hg.): Worldwide/weltweit. Archipiélagos como
espacios de prueba de convivencia global.
266
Doch kehren wir zu José Lezama Limas Rede vom gnostischen Raum und
von der poetischen Erkenntnis zurück. Denn Amerika verwandelt sich auf die
soeben skizzierte Weise – und damit schließt La expresión americana – in den
eigentlichen „gnostischen Raum, dank einer Natur, die interpretiert und wiedererkennt, die präfiguriert und sehnlich verlangt.“111 Welcher Art aber kann
dieser Raum sein? Und welcher Art ein solches Wissen?
Wir finden auf den ersten Seiten des ersten der fünf Essays eine Antwort,
die uns verrät, daß eine „neue Vision“ stets auch ein „neues Erleben und eine
andere Wirklichkeit ebenfalls mit Gewicht, Zahl und Maß“ zu beinhalten hat.112
Es handelt sich um ein Wissen, das aus der Findung und Erfindung einer
derartigen Vision eine nueva vivencia – und damit ein neues Erleben – schafft,
insofern dieses Wissen eine andere Wirklichkeit hervorbringt, die mit nicht
geringerer Intensität und Materialität imaginiert, erlebt und gelebt werden kann.
Diese Realität aber ist im Sinne Lezama Limas eine Schöpfung aus der Erschöpfung, eine creación, die sich – um hier auf den Titel des ersten Essays
zurückzugreifen – aus der Müdigkeit, dem cansancio der alten Mythen erhebt.
Nicht der radikale (avantgardistische) Bruch und noch weniger die Zerstörung,
die Vernichtung bilden die Grundlage der Schöpfung von Zukunft, sondern die
Fähigkeit, den Diskursen der Macht wie der Gegenmacht mit der Macht von
Diskursen entgegenzutreten, die ihre Faszination aus immer wieder veränderten
Konfigurationen de- und translokalisierten Wissens beziehen. Dabei schließt
der Transfer stets auch Transformation mit ein, ja ist an dieser verändernden,
aber nicht einfach umkehrenden Kraft im eigentlichsten Sinne ausgerichtet.
In der Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Polylogischen mag ein wesentlicher Grund dafür zu sehen sein, daß José Lezama Lima seine fünf Vorträge niemals zu einer textuellen Einheit zusammenführte, sondern in der Vielzahl verschiedener Versuche beließ, zwischen denen sich – den Textinseln
eines Archipels der Literatur entsprechend – immer wieder neue Kombinatoriken herstellen lassen. So entfaltet sich die viellogische Offenheit eines gnostischen Raumes, der nicht von einem einzigen Punkt aus erdacht erscheint und
sich von keinem Punkt aus vollständig beherrschen, ja nicht einmal durchleuchten läßt. Kein Zweifel: Hier versteht sich die expresión americana als
Vorreiterin einer weltumspannenden Zirkulation des Wissens, die nicht in die
Falle kultureller Homogenisierung tappt, sondern die Eigen-Logik, den EigenSinn einer amerikanischen Insel-Welt und Inselwelt innerhalb der Archipelisierung der Welt vorantreibt. Daß eine solchermaßen archipelisierte Welt von
einer Bibliothek in einem Haus in La Habana aus erdacht werden kann, führt
gleichsam am eigenen Textkörper vor, daß dem Anspruch die Einlösung
sogleich auf dem Fuße folgt. Der Text führt vor, was er darstellt, realisiert, was
er repräsentiert.
In der historischen Gestalt von Fray Servando Teresa de Mier – auf den wir
in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung gestoßen waren – präpa111 José Lezama Lima: La expresión americana, S. 189.
112 Ebda., S. 15.
267
rierte José Lezama Lima die Figur des Verfolgten heraus, der aus seiner Verfolgung einen „Modus der Integration“ macht, um auf seinen oft vom Schicksal
getriebenen Fahrten und Irrwegen eine „Künftigkeit“ (futuridad) zu erzeugen,
die ihn „die glückselige Insel, die Unabhängigkeit seines Landes“, erreichen
läßt:113
Fray Servando ist der erste, der sich dazu entschließt, der Verfolgte zu sein, hat er doch intuitiv erfaßt, daß eine andere, in Entstehung begriffene Landschaft ihn sucht, die nicht mehr
auf den großen Bogen zählt, der den spanischen Barock mit seiner Anreicherung im amerikanischen Barock verband, sondern welche die Opulenz eines neuen Schicksals errät, das
Bild, die Insel, die aus den Portulanen des Unbekannten emporsteigt und dabei ein Faktum
schafft, das Auftauchen der Freiheiten, seiner eigenen Landschaft, endlich befreit von der
Verpflichtung zu einem anhaltenden Dialog mit einem Zuschauer, der ein Schatten war.114
Man könnte versucht sein, in diesem Bild des verfolgten Dominikaners die
Spiegelung eines Dichters, Romanciers und Philosophen zu sehen, der nicht
weniger rastlos auf der Suche nach jener Insel war, welche sich wie die karibische Inselwelt der berühmten Weltkarte des Juan de la Cosa aus den Portulanen früherer Kartierungen endlich herausschält. Die Literatur wäre dann, so
ließe sich vermuten, Portulan und Insel zugleich, Findung und Erfindung in
einem, stets abzielend auf ein möglichst intensives Leben und Erleben des
Künftigen, der futuridad. Auf eben dies zielt dieser Ausdruck Amerikas.
Es ist – wie wir im Verlauf dieses Bandes gesehen haben – kein Zufall, daß
es gerade die karibischen Dichter und Essayisten sind, die aus der Erfahrung
einer transarchipelischen Landschaft und dem Erleben einer transhistorischen
Vektorizität eine immer komplexer werdende Landschaft der Theorie gestalteten, in der sich das Bild, die era imaginaria, einer künftigen Welt abzeichnet: einer Welt als Archipel, die aus der Vielfalt und dem Eigen-Sinn ihrer Inseln jene neuen und sich stets verändernden Kombinatoriken generiert, die
weder von einem einzigen Ort aus erdacht noch von einem einzigen Ort aus
beherrscht werden können. Daß die hemisphärischen Konstruktionen Amerikas aus der höchst mobilen Perspektivik einer Insel-Welt als Inselwelt sehr
rasch sich in weltweite Projektionen verwandeln konnten, mag ein beredtes
Zeichen dafür sein, daß die Polylogiken künftiger Konvivenz am überzeugendsten dort entstehen, wo im Zeichen verdichteter Globalisierung das Erleben des Transarealen zum Stimulus, zum Ansporn dafür werden konnte, die
Welt im Schreiben neu zu erfinden. Denn eben darum geht es in diesem vielleicht schwierigen, gewiß aber faszinierenden Ausdruck Amerikas: um die
Findung und Erfindung einer neuen Welt, die sich im gnostischen Raum Amerikas hin zum Leben, hin zum Erleben drängt und die Vision in eine vivencia,
ja in eine Konvivenz verwandelt.
Dieser gnostische Raum poetischer Erkenntnis findet sich aus frankophoner
Sicht nochmals verdichtet im Werk des im Januar 2011 verstorbenen martini113 Ebda., S. 97.
114 Ebda.
268
kanischen Dichters und Essayisten Edouard Glissant. Er konnte in der vierten
Phase beschleunigter Globalisierung nicht nur auf den Theoremen und Denkstilen des französischen Poststrukturalismus und auf den Debatten rund um
Aimé Césaires Négritude aufbauen, sondern vermochte auch, eine überaus
kontinuierliche Traditionslinie für sein Schaffen fruchtbar zu machen, die von
José Martí über Fernando Ortiz bis zu José Lezama Lima und den karibischen
Theoretikern der Gegenwart führt. In Glissants reichem Schaffen kulminiert
am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert ein Denken weltweiter Komplexität, das in vielerlei Hinsicht nicht nur zukunftsträchtig ist, sondern die Zukunft
zu bewahren hilft.
Die magnetische Insel in einem weltweiten Polynesien
In seinem erstmals im November 2007 veröffentlichten Prosatext La terre
magnétique. Les errances de Rapa Nui, l’île de Pâques (Das magnetische
Land. Die Irrfahrten der Osterinsel Rapa Nui), der im Rahmen der vom Verfasser selbst herausgegebenen und bereits erwähnten Buchreihe „Peuples de
l’Eau“ erschien, entwarf der martinikanische Dichter, Kulturtheoretiker und
Philosoph Edouard Glissant das literarische Bild einer Insel, die sich auf verschiedensten Ebenen – wie es schon der Untertitel dieses Werkes ankündigte –
in unsteter Bewegung befindet. Diese „Irrfahrten“ der Osterinsel inmitten der
sie umgebenden Meeresflächen (aus amerikanischer Sicht) weit draußen im
Pazifik stehen dabei stets im Zeichen des Weltweiten, eines den gesamten Planeten umfassenden Koordinatensystems, innerhalb dessen die Insel zum im
mehrfachen Sinne verrückten Fokus, ja zum sichtbaren Bezugspunkt des gesamten Erdballs, eben der terre, wird:
Die Zugvögel bringen das Ei hierher, das erste Ei (das die Welt enthält) garantiert, nachdem man die Meeresströmungen und das Schwindelgefühl der Lüfte beherrscht hat, die
Macht für das laufende Jahr. Ebenso nimmt der runde, heilige Stein, den man den Nabel
der Welt nennt, in etwa die Form eines Eis an, er ist poliert und aus einer Materie gemacht,
die man anderswo auf der Insel nicht findet; und er befindet sich am Meeresufer und nicht
im Zentrum des Landes (terre). Er liegt am Zusammenfluß der Winde mit den Meeresströmungen.115
Besitzt die Welt also doch ein verborgenes Zentrum? Man würde den Kulturtheoretiker der Poétique de la Relation116 gründlich mißverstehen, wollte man
in dieser Passage die Abkehr von einem Denken vermuten, das sich über lange
Jahrzehnte vehement gegen Strukturen zur Wehr setzte, die alles und alle zu
zentrieren suchten. Denn dieser „Nabel der Welt“, von dem wir gleich eingangs erfahren, daß ihn von weither über den Pazifik gekommene japanische
Pilger aufsuchen und verehren,117 bildet für Glissant sehr wohl einen
Kreuzungspunkt aller Konfluenzen von Wasser, Luft und Erde, bündelt ein
115 Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 39.
116 Vgl. Edouard Glissant: Poétique de la Relation.
117 Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 17.
269
planetarisches Beziehungsgeflecht der vier Elemente, das zwischen den Luftund den Meeresströmungen am Rande des magnetischen Landes der Osterinsel in einer dezentrierten Position entstand und mit einem alten Mythos verwoben wird, demzufolge die Zugvögel das Ei, das die Welt enthält, hierher,
auf dieses Eiland, gebracht hätten. Rapa Nui, die Osterinsel, wird von all jenen
Bewegungen erzeugt, welche dieses Ei-Land durchqueren.
Doch Rapa Nui bildet kein übergeordnetes Zentrum, demgegenüber alles
andere bloße Peripherie wäre. Die Insel liegt weit draußen im Meer. Zugleich
läßt der lyrische und vielfach fragmentierte Text Edouard Glissants von Beginn an keinen Zweifel aufkommen: Dieses Land ist mit der ganzen Welt, mit
dem gesamten Erdkörper auf intimste Weise verbunden und verwoben. Die
Osterinsel ist ein Mittelpunkt – aber in Form eines Schnittpunktes ohne Hierarchie, ohne Peripherie, ohne zentrierende Hysterie.
Die mehrfach beschworene Eiform – in der auch das berühmte Ei des Columbus und damit die planetarische Rundung der Welt wie die Macht über den
Erdball mitbedacht sein mag – vereinigt die Bildung des Steines mit der alle
Totalität umspannenden Form des Organischen und des Lebens schlechthin,
erfahren wir doch an anderer Stelle, daß dieses Ei-Land einen (und folglich
keineswegs den) Nabel der Welt enthält, un des nombrils du monde: Und diese
sind „Orte des Todes und der Geburt“118. Tod und Geburt: Das Ei steht wie das
Eiland für die Welt, für das in ihm, für das in ihr Entstehende, birgt mit dem
Leben aber zugleich immer auch den Tod, der in allem Leben ist und ihm
niemals äußerlich bleibt.
Das magnetische Land ist kein sicheres, gefestigtes Land: Seine Existenz
bleibt stets prekär und gefährdet. Kann es nicht jederzeit vom Meer verschlungen werden? Nicht umsonst wird die Vorstellung eingeblendet, daß die ganze
Insel auf einem Süßwasserspiegel entlanggleite und dabei dem Verlauf der
tektonischen Erdplatten folge: Die Insel ist folglich „ein umherirrendes Schiff,
dessen Kurs allein die Zugvögel kennen.“119 Wie die Insel des heiligen
Brandanus120 ist Rapa Nui immer in Bewegung, immer auf dem Weg.
Die Insel evoziert sofort das Bild des Schiffes, mit dem sie in den unterschiedlichsten Formen – sei es in der langen Tradition der schwimmenden Insel, sei es in der Kette von Transferprozessen, die jede Insel oder Inselgruppe
erst konfigurieren – verbunden ist. In der Doppelprojektion von Insel und
Schiff, von der Insel als Schiff, wird dem Insularen jegliche Statik genommen:
Die Insel ist nicht fest als Fels an geologische Tiefen gefesselt, sondern navigiert und verliert sich im mobilen, von Strömungen dynamisierten Element des
Meeres. Kein in der Tiefe verankerter Fixpunkt, sondern ein bewegliches Phänomen der Fläche, der Oberfläche.
118 Ebda., S. 71.
119 Ebda., S. 41.
120 Vgl. María José Vázquez de Parga y Chueca: San Brandán, navegación y visión. Aranjuez: Ediciones Doce Calles 2006.
270
Die nur den Zugvögeln, nicht den Menschen bekannten Wege der Insel als
Schiff auf einer Irrfahrt bewirken, daß die Insel zugleich von Dauer und vergänglich, dauerhaft und flüchtig ist: „Die Insel ist ephemer und verloren.“121 In
diese flüchtige Beständigkeit, die gewiß auch jene der Literatur und des
Schreibens selbst ist, schreiben sich die plattentektonisch getriebenen Bewegungen der Insel wie der Vorstellungen und Phantasien ihrer Bewohner ein:
Die Insel wandert, und niemand weiß, wieviele Zentimeter im Jahr, und so wird sie vielleicht das Schicksal der archipelischen Länder erfahren, die eines Tages, von dem ebenfalls
niemand weiß, von den unvermeidlichen Reibungen zwischen den Platten in die Tiefe gerissen werden, und das Imaginäre der Bewohner der Osterinsel steuert durch den Raum des
Pazifik und unter dem Mond des großen Dreiecks, auf der Suche nach dem verlorenen
Wort. Das ist fast wahr.122
Dieses Fast-Wahre, dieses presque vrai der Literatur, nimmt die Bewegungen
der Insel und ihrer Bewohner auf und gibt beiden jenes „verlorene Sprechen“
wieder, wann und wo auch immer die Insel für immer im Meer versinken
mag. Ihre (zweifellos mit dem Attribut des göttlichen Auges versehene)
Dreiecksform nimmt die Dreiecksform des gesamten polynesischen Archipels
in sich auf und bildet somit das fraktale Muster einer Insel, die eine Insel der
Inseln ist:
Das offene Dreieck ist das polynesische Dreieck, das an einer seiner Ecken dieses andere
Dreieck, das entfernteste und einsamste überhaupt, markiert, das die Gesamtheit
abschließt und diese ganze Oberfläche stützt: das magnetische Land.123
In dieser Dreiecksform, die in der christlichen Ikonographie das Göttliche in
seiner Anwesenheit repräsentiert, aber auch das Dreieck im Zentrum eines
menschlichen Körpers sein könnte, vergegenständlicht und objektiviert sich
eine Landschaft der Theorie, die im Rahmen jener Tradition, die den karibischen Raum schon so früh prägte, ganz selbstverständlich eine Theorie im
weltweiten Maßstab ist. Und vergessen wir dabei nicht, daß die Landschaft
für Edouard Glissant zugleich Natur und Kultur – und damit letztlich auch
etwas Lebendiges ist; so heißt es in Le discours antillais: „(Unsere Landschaft
ist ihr eigenes Monument: Die Spur, die sie bedeutet, ist darunter spürbar. Es
ist ganz Geschichte.)“124 Landschaftselemente sind bei Edouard Glissant stets
121
122
123
124
Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 42.
Ebda., S. 48 f.
Ebda., S. 48.
Edouard Glissant: Le discours antillais. Paris: Gallimard/Folio 1997, S. 32; verstärkend
hierzu sei ein Zitat Edouard Glissants aus einer Pressekonferenz am 26. Juni 2006 im
Madison-Hotel in Berlin genannt: „Dans la Caraïbe comme en général dans les
Amériques le paysage est le véritable monument historique et cette dimension-là a
beaucoup influencé ce que je fais en poésie. Le paysage devient un personnage à la fois
des romans et de la pensée et de la poésie. C’est pourquoi dans tout ce que j’ai écrit,
romans poésie, essais, le paysage est un personnage vivant.“
271
Elemente einer Theorie lebendigen (da aus dem Leben selbst kommenden)
Schreibens. Texttheoretisch klingt dies bei ihm dann so:
Ich weiß nicht, in welchem Alter meiner sehr jungen Jahre ich davon träumte, einen Text
entwickelt zu haben, der sich unschuldig, aber auf dichte Weise aus Triumph über sich
selbst so einrollte, daß er Stück für Stück seine eigenen Sinne erzeugen könnte. Sein Faden
war die Wiederholung, zusammen mit jener nicht wahrnehmbaren Abweichung, die vorrücken läßt. In allem, was ich schreibe, habe ich immer diesen Text verfolgt. Es stört mich
noch immer, die so wirbelnde Eindrehung, die er schuf, nicht wiederzufinden, eine Bewegung, die in ein Buschdickicht hineinzufahren und Vulkane herunterzustürzen schien. Aber
ich habe bisweilen so etwas wie einen Schatten davon bewahrt, der die Wortfelsen miteinander verbindet, welche ich längs einer derartigen Landschaft aufhäufe, ja, ein Buschdickicht, überragt von einem Vulkan.125
Das (lebendige) Dreieck der Insel Rapa Nui im Dreieck des polynesischen Archipels126 bildet die fraktale Konfiguration nicht allein der Insellandschaften
des Pazifik, sondern beinhaltet zugleich als Eiland in der Eiform des von Zugvögeln (hervor)gebrachten Eis jenen Nabel der Welt, von dem aus die Rundung der Erde gedacht und in ihren weltweiten Dimensionen überdacht werden kann. Denn einerseits ist die Osterinsel auf eine geradezu extreme Weise
eine Insel-Welt, die eine in sich abgeschlossene Welt mit ihrem eigenen Raum,
ihrer eigenen Zeit und folglich auch ihren eigenen Bewegungsmustern repräsentiert. Wie keine andere Insel auf diesem Planeten ist sie – wie gleich zu Beginn des Bandes betont wird – von anderen Ufern, von anderen Ländern durch
gewaltige Distanzen getrennt und damit isoliert.127
Dies ist ein Faktum, das in der Darstellung der Genese des Textes auch
durch die Tatsache bewußt in Szene gesetzt wird, daß es dem Dichter in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr möglich war, eine so weite und anstrengende Reise wie die zur Osterinsel selbst in Angriff zu nehmen. So sollte
anstelle Edouard Glissants dessen Lebenspartnerin Sylvie Séma die Reise unternehmen und dem zuhause gebliebenen Verfasser dieses poetischen Reiseberichts durch Skizzen und Notizen, durch Zeugnisse und Zeichnungen mit jenen
Grundlagen für ein Schreiben versorgen, das explizit auf die Beglaubigung
durch das eigene In-Augenschein-Nehmen verzichtet, um von einem anderen
Ort des Schreibens aus diese Welt literarisch zusammenzufügen. Une île peut
en cacher une autre.
Das magnetische Land ist folglich ein Reisebericht, der nicht auf der Reise
des Schriftstellers aufruht. Die Funktionen von Reisendem und Schreibendem
werden weitgehend aufgetrennt. Damit werden Grundlagen der Gattung des
125 Edouard Glissant: La Cohée du Lamentin. Poétique V. Paris: Gallimard 2005, S. 20.
126 Vgl. zur spezifischen Problematik Rapa Nuis im Schnittpunkt unterschiedlicher
Geschichten und Insel-Projektionen Grant McCall: Rapanui: Traum und Alptraum.
Betrachtungen zur Konstruktion von Inseln. In: Heide Weinhäupl/Margit Wolfsberger
(Hg.): Trauminseln? Tourismus und Alltag in Urlaubsparadiesen. Wien: Lit Verlag
2006, S. 263–278.
127 Vgl. Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 10.
272
Reiseberichts insofern aufgekündigt, als der Schreibende auf den Bericht einer
– ihm freilich sehr vertrauten – Reisenden wie auch auf andere Zeugnisse zurückgreift, die ihm zur Verfügung stehen. Das von Sylvie Séma, der auf die
Osterinsel stellvertretend Reisenden, Vorgefundene wird mit dem am heimischen Schreibtisch Erfundenen zu etwas gemeinsam Hergestelltem und mehr
noch gemeinsam Erlebten. Dabei sei nicht verschwiegen, daß dem Text
zugleich eine geradezu testamentarische Dimension zuwächst, insofern der
Schriftsteller aus der Perspektive der Reisenden in eine ‘andere Welt’ rückt,
als wollte er die Wege der Reisenden aus einem Jenseits kommentieren und
mit seinem literarischen Wort – dem einst verlorenen Wort, auf dessen Suche
sich die Insel gemacht hat – begleiten. Durch den Tod des Schriftstellers wenige Jahre später ist diese ganz eigene Dimension des Textes offenkundig und
folglich lesbar geworden.
Andererseits ist diese geographisch extrem isolierte, eine eigene Welt für
sich bildende Insel nicht nur eine abgeschlossene Insel-Welt, sondern zugleich
eine Inselwelt, insofern sich in ihr eine ganze Welt von Inseln überlagert und
bündelt. So schaffen sich in dem kleinen Eiland Rapa Nui mit seinen Vulkanen die vier Elemente von Feuer und Erde, Luft und Wasser in den Meeresund Luftströmungen, aber auch in den Bewegungen der tektonischen Erdplatten wie des feurigen Magmas, das mit dem pazifischen Feuerring verbunden
ist, einen Bewegungs-Ort vielfältigster planetarischer Konfluenzen, an dem
sich eine Welt von Inseln immer wieder neu konfiguriert.
Rapa Nui wird in diesem Sinne als fraktale Vervielfachung des Insularen zu
einer InselInsel128, in der sich nicht nur die verschiedensten Inseln Polynesiens
überkreuzen und überschneiden, sondern das vielgestaltige Gemachtsein dieser
(Poly-)Insel aus anderen Inseln noch dadurch vervielfacht wird, daß die von
der Lebenspartnerin des Erzählers bereiste Insel vom Erzähler selbst von anderen Inseln aus – seien es die der Antillen oder der Ile de France – niedergeschrieben und weltweit verwoben wird. Die ganze Welt in einer Insel, die die
ganze Welt ist, ohne doch deren Zentrum zu sein oder sein zu wollen.
Doch kommen wir an dieser Stelle unserer Überlegungen noch einmal auf
die so ungewöhnliche Auftrennung der Funktionen von Reisen und Schreiben
zurück. Wir sollten nicht der Verlockung erliegen, der weiblichen Reisenden
das Auffinden und Erleben der Osterinsel, dem männlichen Schriftsteller aber
als Schöpfer und Demiurgen das Erfinden und Durchdringen des Gegenstands
zuzuordnen. Denn bei beiden, ebenso der Figur der Reisenden wie der Figur
des Daheimgebliebenen, bilden sich Finden, Erfinden und Erleben in einem
intensiven Wechselspiel so heraus, daß es nicht der bis zum Ende des
18. Jahrhunderts vorherrschenden epistemologischen Trennung zwischen
voyageur und philosophe entspricht, zwischen dem vermeintlich zufällig und
planlos sammelnden Reisenden und dem im Zentrum des Wissens situierten
Philosophen, der das so Gesammelte erst in ein System, in eine klare und
128 Zum Begriff der InselInsel vgl. das siebte Kapitel in Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab.
273
durchdachte Ordnung überführt. War nicht die erste Karte der Inselwelt der
Karibik im Jahre 1500 von der Hand des großen Steuermannes Juan de la Cosa
so entworfen worden, daß in ihr die Inseln im Zentrum der neuen Welt gleichsam aus den mittelalterlichen Portulanen aufstiegen, um sich gemeinsam mit
den alten Mythen Asiens auf einer Weltkarte wiederzufinden, in der sich das
Aufgefundene und Erlebte mit dem Erfundenen ebenso präzise wie phantasiereich verband?
Die komplexe Relationalität der Textgenese ist für Das magnetische Land
von großer Relevanz, so daß der erste lange Satz des incipit dieses Prosabandes
einer so vielschichtigen semantischen wie lebensweltlichen Beziehung bewußt
gewidmet wird. Der Text setzt folglich etwas schwerfällig, ja sperrig ein:
Wir waren darin übereingekommen, die Arbeit aufzuteilen und folglich auf zwei Arten mit
der Insel zu verkehren, die sich vielleicht ergänzten: Sylvie auf eine Weise, die man wohl
als Feldforschung bezeichnen muß (vorab würde sie nach Santiago fliegen, dann ganz nach
ihrem Willen bis Valparaíso reisen, um sich einen Traum zu erfüllen, wie ihn alle Kinder
der Welt hegen, um anschließend in einem mindestens dreiundzwanzigstündigen Flug auf
die Osterinsel zu gelangen), und ich mit meinen Kommentaren zu dem, was sie von dort
schicken und von dort mitbringen würde, Notizen, Impressionen, Zeichnungen, Filme und
Photos, um all dies mit ihrer Hilfe in die Ordnung oder Unordnung der Literatur zu überführen, die ich ihren Dokumenten und ihrem so abrupt zum Ausdruck gebrachten Gefühl
geben würde.129
Am Ende des dritten von insgesamt sechs Teilen dieses Bandes – und damit
genau im Zentrum der gesamten Textstruktur von La terre magnétique – läßt
sich eine bemerkenswerte Konfluenz der verschiedenen Blicke und Blickrichtungen feststellen, die den Text in ihrer Vereinigung erzeugen. Die Vielgestaltigkeit dieser Konfluenzen durchzieht den gesamten Band von Beginn an
ebenso wie das fraktale Muster einer Insel, die in der lyrischen Prosa dieser
verdoppelten Reise zur Osterinsel von Beginn an diese Insel mit der Welt verknüpft. Immer wieder weitet sich die Perspektivik, werden explizite Beziehungen der Osterinsel nicht allein zum polynesischen Archipel und nach Tahiti,
sondern auch zum amerikanischen Mittelmeer der Antillen wie zum europäischen Mittelmeer mit seinen Inseln Sardinien und Korsika, aber auch nach Island hergestellt, das schon Columbus auf seinen frühen Fahrten kennengelernt
hatte.130 Eine Welt der Inseln wird entworfen.
Auf diese Weise generiert und manifestiert sich eine transarchipelische
Sicht, die über alle „Routen der Welt“131 von Insel zu Insel, von Archipel zu
Archipel sich so entfaltet, wie der französische Dreimaster La Boudeuse unter
der Schirmherrschaft der UNESCO und unter dem Kommando von Kapitän
Patrice Franceschi am 27. Juli 2004 vom korsischen Bastia aus eine Weltumsegelung in Angriff nahm, in deren Verlauf von 1.063 Tagen und etwa 60.000 zu129 Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 9.
130 Ebda., S. 62 f.
131 Ebda., S. 63.
274
rückgelegten Kilometern zwölf verschiedene Schriftsteller und Journalisten, die
von Edouard Glissant zuvor ausgewählt worden waren, jeweils Expeditionen
zu einzelnen „Völkern am Wasser“ unternahmen, bevor das französische Segelschiff am 25. Juni 2007 – und folglich nur wenige Monate vor Erscheinen
von Das magnetische Land – nach Korsika zurückkehrte. Das literarische und
philosophische ist vom maritimen Vorhaben ebensowenig isolierbar wie die
Osterinsel von den anderen der auf dieser Seefahrt besuchten Inseln: Die Insel
und das Schiff reflektieren sich wechselseitig und setzen die unterschiedlichsten Transferprozesse in Szene. Der in Zusammenarbeit mit Sylvie Séma entstandene Band Edouard Glissants bildet – nicht nur von seinem Anspruch, sondern auch von dessen Einlösung her – eine offene Strukturierung, die als Band
die verschiedenen Bände, die unterschiedlichen Reisen der beteiligten Autoren,
auf wohlkalkulierte Weise miteinander verbindet.
Diese relationale und zugleich transarchipelische Sichtweise, die sich immer
wieder gerade zwischen der Osterinsel und den Antillen entwickelt, prägt die
poetische und poetologische Prosa Edouard Glissants und knüpft zweifellos an
seine berühmte „Poetik der Relation“ an, die er ausgehend von den Antillen
zunächst innerarchipelisch entwickelte, bevor er sie hemisphärisch auf den gesamten amerikanischen Kontinent ausweitete. In seiner 1981 in Le discours
antillais angelegten und 1990 in Poétique de la Relation entfalteten Theorie,
die sich in einem kritischen Dialog mit wesentlich stärker zentrierenden Vorstellungen schärfte, wie sie Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël
Confiant in ihrem vielbeachteten, aber auch vielüberschätzten Eloge de la
créolité von 1989 ausformulierten,132 ließ Glissant keinen Zweifel daran
aufkommen, daß seine Raumkonzeption der Antillen zugleich relational und
hemisphärisch gedacht war. Denn Glissant begriff die Antillen als „Multi-Relation“, die keineswegs als verstreute Fleckchen Erde in einem „See der USA“
zu begreifen seien, sondern gleichsam den „Ästuar der Amerikas“133 bildeten.
Es ist, als hätte Edouard Glissant den anspruchsvollen Versuch unternommen,
jene Landschaft José Lezama Limas als eine Landschaft der Theorie zu entwerfen, in der doch alles stets in Bewegung, forma en devenir, sein muß und nicht
zu einer festen Form gerinnen darf.
Was wäre nun folgerichtiger als eine Ausweitung dieser Konzeption ins Weltweite, eine Universalisierung, die sich – wie Gesine Müller aus der Perspektivik
der Konvivenz herausarbeitete134 – bereits im 19. Jahrhundert ebenso in der
französisch- wie in der spanischsprachigen Karibik in aller Deutlichkeit zeigte?
132 Vgl. Jean Bernabé/Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant: Eloge de la Créolité; vgl.
hierzu auch das elfte Kapitel meines bereits erwähnten Bandes Literatur in Bewegung.
133 Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 249.
134 Vgl. hierzu den überzeugenden Aufsatz von Gesine Müller: „Nunca se llega a ser
caribeño del todo.“ ZusammenLebensWissen in transkolonialer Dimension. Oder:
karibische Literaturen im 19. Jahrhundert. In: Ottmar Ette (Hg.): Wissensformen und
Wissensnormen des Zusammenlebens. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2012 (im
Druck).
275
Die hemisphärische Sicht weitet sich in Das magnetische Land konsequent
zu einer transarchipelischen Dynamik, deren Relationalität sich nunmehr
weltweit aufspannt und zugleich auch den amerikanischen Kontinent umfaßt:
ein Polynesien, ein Vielinselland im globalen Maßstab. Dies zeigt der bereits
angesprochene Mikrotext im Zentralstück des gesamten Bandes mit seiner
makrogeographischen Dimensionierung mit größtmöglicher Präzision:
Rapa Nui sein, Aufbewahrungsort des Einzigartigen und des ganz Gewöhnlichen, dieser
Kräfte, welche die Völker des Pazifik und Südamerikas getragen haben. [...] Papa Kiko
singt ein Klagelied der Quechua von den Höhen der Anden, und er tanzt zum Schlag des
Tambourins annäherungsweise eine Schrittfolge aus Vanuatu, mit einer totalen Tiefgründigkeit. Pirù perfektioniert das Einsammeln des Mülls, wenn dieser auch ständig überquillt.
Der Insel-Körper der Insel ist in ihnen, seine Geheimnisse haben in den Venen der Vulkane
der Bewohner Wohnsitz, untrennbar zirkulierend. Da die Insel so weit entfernt ist von jedem Maß und von jeder Berechnung und von jedem Blick und von jeder Annäherung, liegt
sie für immer im Blickwinkel von oben, der mit seinen Gaben die dort unten versammelten
Archipele gesegnet hat.135
Die Verbindung der aufgrund der gewaltigen Distanzen scheinbar isolierten
Insel-Welt mit den Inselwelten der Archipele, aber auch den Anden des kontinentalen Amerika läßt eine Welt entstehen, die im Blick von oben wie aus der
Perspektive des Schöpfers die dynamische, mobile Relationalität eines Planeten hervorbringt, in der die Gesänge räumlich weit voneinander entfernter
Kulturen von verschiedenen Punkten aus hörbar werden, ohne doch miteinander zu verschmelzen. Die offenkundig transkulturelle Anlage dieser polyphonen Orchestrierung von Pazifik und Amerika dynamisiert eine transareale Modellierung im weltweiten Maßstab. Von der Insel-Welt und Inselwelt der Osterinsel wird das Archipele und Kontinente miteinander verbindende Planetarische – und dies eröffnet eine geradezu österliche Dimension – neu begreifbar,
neu erlebbar, neu lebbar.
Zum aktuellen Zeitpunkt ist Amerika bekanntlich durch den Treibhauseffekt und die damit einhergehende Verringerung der polaren Eismassen im
Norden wieder zu einer Insel geworden, die sich sehr wohl als große, kontinuierliche und zusammenhängende Landmasse präsentiert, nicht aber zugleich
auch jene zweite Bedeutungsebene von continens erfüllt, die darauf beruht,
daß die Kontinente Afrikas, Asiens und Europas untereinander zusammenhängen, so daß man ohne die Überquerung von Meeren oder Meerengen von einem Kontinent zum anderen ‘wandern’ kann. Wenn die hemisphärische Konstruktion Amerikas aus geographischer Perspektive durch die Abschmelzung
der Polarkappen aber längst eine insulare Struktur innerhalb der kontinentalen
Masse zum Vorschein gebracht hat, dann ist eine transarchipelische Vision als
Blickgeflecht von Insel-Bewohnern der Entwurf einer Welt, die in der doppelten Logik von Insel-Welt und Inselwelt gerade auch in der nordsüdlichen
Erstreckung des Neuen Kontinents anschaulich wird. Mit anderen Worten: Die
135 Edouard Glissant: La terre magnétique, S. 92.
276
Beziehung zwischen Insel und Kontinent läßt sich nicht mehr nur als Gegensatzstruktur, sondern auch als komplementäre Verweisungsstruktur und mehr
noch als ein fraktales Muster begreifen, das in den gebrochenen Selbstähnlichkeiten zwischen Kontinent und Insel oszilliert. Noch evidenter ist dies zweifellos im Verhältnis zwischen dem ‘Kontinent’ Australien und jenem „unsichtbaren Kontinent“, der – schließt man sich Jean-Marie Gustave Le Clézios
Approche du continent invisible136 an – von Polynesien, Melanesien oder
Mikronesien gebildet wird. Glissant ist zweifellos am Ende seines Lebens
noch ein letzter, kulturtheoretisch klug vorbereiteter Coup gelungen, indem er
seine antillanische Inselwelt in der transpazifischen Insel-Vielheit gleichsam
transarealisierte.
In diesen einem ersten, nur an der Meeresoberfläche haftenden Blick
eher verborgenen theoretischen Konstellationen ließe sich ein wesentlicher
Grund dafür erkennen, warum Glissant seinem Band nicht den Titel L’île
magnétique, sondern vielmehr La terre magnétique gegeben hat. Denn das
französische „terre“ schließt (anders als das Lexem „Land“, aber vergleichbar mit dem deutschen „Erde“) die so wichtige planetarische Dimension mit
ein. Die auf diese Weise skizzierte mobile, dynamische Sichtweise des Planeten eröffnet ein transareales Verständnis von Welt. Dieses ist nicht an
Territorien und feste Grenzziehungen gebunden, sondern versteht Räume
aus den sie querenden Bewegungen, um die so entstandenen BewegungsRäume in sich wechselseitig transformierende Beziehungsgeflechte zu überführen. Nichts auf diesem Planeten ist fest, ein für allemal fixiert: La terre
magnétique entwirft die oftmals verborgenen Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die das Kräftefeld unseres polynesischen, vielinseligen Globus
bestimmen.
Vor diesem Hintergrund bleibt der Eigen-Sinn, die Eigen-Logik einer Insel-Welt bestehen; doch im selben Augenblick wird offenbar, daß auch
diese Eigen-Logik eines gegebenen Eilands nicht zu begreifen ist, solange
sie nicht auf die transarealen Spannungsverhältnisse weltumspannender Inselwelten bezogen wird. Dies aber ist nicht mehr und nicht weniger als eine
lebendige Strukturierung, die auf keine ein für allemal fixierte Begrifflichkeit festzustellen ist. Im Magnet- und Kräftefeld der Erde und ihrer Inseln
kommt es zu immer neuen Choreographien, zu immer neuen errances:
Wanderungen und Migrationen, die – so will es zumindest scheinen – keiner
ideologischen, weltanschaulichen oder geschichtsphilosophischen Teleologie mehr verpflichtet sind. Sich verlagernde, wandernde Inseln sind längst
keine ‘Eigenheit’ des europäischen Mittelalters mehr.
Mag sein, daß eine solche lebendige Poly-Logik sich nicht immer leicht
erschließt, obwohl Edouard Glissant sich redlich bemühte, sie am Beispiel
einer viel-logischen Landschaft der Theorie – eben am Exempel des polynesischen Pazifik – durchzubuchstabieren. Mag sein, daß wir in den abschlie136 J.M.G. Le Clézio: Raga. Approche du continent invisible.
277
ßenden Überlegungen des Erzählers – der sich wohl mit Blick auf den oft zu
Unrecht als „schwierig“, ja „unverständlich“ geltenden Glissant darüber beklagt, gleich wieder die alte Leier, „die immer gleiche Litanei“ hören zu
müssen (Qu’est-ce que ça veut dire je ne sais pas137) – die Angst des karibischen Dichters und Theoretikers vor dem Unverständnis seines Lesepublikums durchhören können. Doch ist das Schwierige nicht eben dadurch
charakterisierbar, daß es stimuliert?
Denn im Grunde genommen ist alles ganz einfach, macht man sich erst
einmal insulare und transarchipelische Logiken zueigen oder zunutze, die wie
die Literatur nicht nach der Wahrheit, sondern bestenfalls nach Wahrheiten im
Plural fragen. Und so endet der Text, indem das Schwierige, das Schwere aufgelöst wird und in den gefundenen oder erfundenen, in jedem Falle aber erlebten und gelebten Worten von Inselbewohnern eine ungewohnte Leichtigkeit
gewinnt: „Nichts ist in Wahrheit wahr, alles ist total lebendig: Ja, dies ist die
Übersetzung, welche diese Menschen dem wütenden Atem des Steines geben,
ja ja, sagt Ammy: Nichts ist wahr, alles ist lebendig.“138
Derartige Textpassagen machen angesichts der Tatsache, daß nichts in
Wahrheit wahr ist, unmißverständlich klar: Die Literatur ist ein Experimentierfeld des Lebendigen, ein Erprobungsraum des Lebens im Leben selbst, in dem
es nicht um die Wahrheit, sondern um die Wahrheiten geht. Eine InselInsel
wie Edouard Glissants magnetisierende Osterinsel, in der sich in größter
räumlicher Isolierung die unterschiedlichsten Inseln – geradezu magnetisch
voneinander angezogen – transarchipelisch überlagern und verdichten, läßt
sich so mit guten Gründen als ein privilegierter Bewegungs-Ort konzeptualisieren, von dem aus die Welt neu zu betrachten, neu zu erfinden ist. Von hier
aus kann die Welt – und ist dies nicht die Leistung der Literatur, die Aufgabe
der Literaturwissenschaft? – mit neuen Begriffen für ein neues und vor allem
lebendiges Begreifen prospektiv geöffnet werden.
Inseln als Kontinente, Kontinente als Inseln
Die verschiedenen Dimensionen des Lebens und des Lebendigen stehen auch im
Zentrum von Jean-Marie Gustave Le Clézios Reisetext Raga. Approche du continent invisible, der an dieser Stelle im Verlauf unserer Überlegungen ein zweites
Mal befragt werden soll. Im fünften, den Lebensmitteln gewidmeten Kapitel seines 2006 im Rahmen von Edouard Glissants Projekt „Die Völker am Wasser“
erschienenen und stark vom Denken des martinikanischen Dichters geprägten139
Bandes zeigt sich, daß es dabei nicht allein um das Leben der Menschen, sondern
auch um das Leben der Inseln und die nachhaltige Sicherung dieses Lebens geht.
Denn die Inseln Ozeaniens wurden von ihren ursprünglichen Bewohnern nicht
einfach besetzt, so wie dies später unter der Herrschaft der verschiedenen Kolo137 Ebda., S. 118.
138 Ebda.
139 Vgl. die Rezension von Gilles Bounoure in Le Journal de la Société des Océanistes
(Marseille) 125 (2007), S. 337 f.
278
nialmächte der Fall war. Sie wurden vielmehr sehr sorgfältig bestellt und
geradezu liebevoll als lebendige Wesen behandelt:
Sobald sie mit alledem fertig sind, gehört diese Erde (terre) ihnen. Nicht, als ob sie sie für alle
Ewigkeit besäßen, sondern um von ihr zu leben und sie zu genießen. Diese Erde ist ihnen von
den Geistern der Toten geschenkt worden, um deren Geschichte fortzusetzen. Sie ist ein lebendiges Wesen, das sich bewegt und sich mit ihnen zusammen ausstreckt, ist ihr Fell, auf dem sie
frösteln und auf dem sie begehren.140
In dieser Passage aus dem Kapitel ‘Taro, Yams, Kava’ wird nicht allein eine lebendige Verbindung zwischen den Lebenden und ihren Toten, die ihnen das
Land und ihre Geschichte vermacht und übergeben haben, sondern auch eine am
Zusammenleben ausgerichtete Beziehung zwischen den Menschen und ‘ihrer’
Insel, ihrem Land, ihrer Erde, hergestellt. Denn Konvivenz meint niemals nur das
Zusammenleben der unterschiedlichsten Menschen miteinander, sondern auch
das (möglichst verantwortliche und auf Zukunft gestellte) Zusammenleben von
Mensch und Natur, von Leben und Leben.
Dabei handelt es sich um ein Zusammenleben im fundamentalsten Sinne, geht
es hier doch um eine Symbiose, in der die beiden verschiedenen Lebewesen,
Menschen und Inseln, mit all ihren Ängsten, all ihren Lüsten ein gemeinsames
Leben teilen. Die Insel wird daher nicht unterworfen und ausgeplündert, wird
nicht mit Pflanzungen, Plantagen und Polizeistationen überzogen, um möglichst
kontrolliert hohen Profit aus dem Land ziehen zu können, sondern in ein Lebenswissen einbezogen, das zugleich ZusammenLebensWissen und ÜberLebensWissen ist. Denn es soll ermöglichen, auch unter schwierigen Bedingungen
die Lebensgrundlagen aller Lebewesen nachhaltig sicherzustellen. Alles ist dabei
von Leben durchströmt. Die Inseln leben und bewegen sich, schwimmen mit den
Menschen mitten in einem unermeßlichen, eigentlich menschenfeindlichen
Ozean, dessen gewaltige Ausmaße im Text immer wieder beschworen werden.
Schwimmende, sich verlagernde Inseln auch hier.
Über dieses über lange Besiedlungszeiträume hinweg aufgebaute Ökosystem
brechen – wie Le Clézios Raga eindrucksvoll vorführt – die verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung mit aller Wucht – und aller Perfidie – herein.
Dabei ist aufschlußreich, daß die Erzählerfigur jenen Zeitraum, den wir als vierte
Phase beschleunigter Globalisierung bezeichnet haben, mit jener „Welle, die
heute alle Küsten der Welt überschwemmt, bis in den entlegensten Archipel hinein“141, identifiziert. Und weiter: „Die Globalisierung (mondialisation) ist
zweifellos in erster Linie jene der Epidemien.“142 Nicht weniger schlimm als die
Verfehlungen einzelner, die ihre Liebespartner ganz bewußt mit dem Aids-Virus
anstecken – und damit ein (wie wir sahen) die Jahrhunderte durchlaufendes Globalisierungsthema weiterspinnen –, seien die großen pharmazeutischen Konzerne, „die sich weigern, zu geringeren Kosten jene Medikamente zu verteilen,
140 J.M.G. Le Clézio: Raga. Approche du continent invisible, S. 65 f.
141 Ebda., S. 93.
142 Ebda.
279
welche die Entwicklung von Aids verlangsamen, so daß sie die Kranken aus den
ärmsten Ländern zum Tode verurteilen“143. Die Krankheiten erscheinen hier
nicht als Geißeln der Natur: Sie sind auf vielfältige Weise mit dem Handeln des
Menschen und seinen sehr spezifischen Interessen verbunden und erweisen sich
in der Form von Epidemien oder Pandemien einmal mehr als Leitindikatoren beschleunigter Globalisierung.
Doch nicht allein auf der Ebene von Epidemien und Seuchen sind verschiedene historische Phasen beschleunigter Globalisierung in Raga präsent. Während
die iberischen Seefahrer und ‘Entdecker’ der ersten Welle diesen aus Inseln bestehenden Kontinent nur auf der Suche nach reicheren Regionen durchsegelt
hätten und auf ihrem Weg nach dem sagenumwobenen Südkontinent diese
Inselwelt ebensowenig als Kontinent zu erkennen vermochten, wie dies die Bougainvilles und Cooks der zweiten Phase taten, brach mit der dritten Phase beschleunigter Globalisierung das Unheil vervielfacht über die Welt Ozeaniens
herein. Im Kapitel ‘Blackbirds’ wird unter Verweis auf wissenschaftliche Untersuchungen herausgearbeitet, was die sogenannten ‘Entdeckungen’ und Forschungsreisen der Europäer und US-Amerikaner im pazifischen Raum an
Menschenleben kosteten.
Diese Zahlen sind schockierend und erinnern an jene der Bewohner der Antillen, die im Verlauf der ersten Phase beschleunigter Globalisierung weitestgehend der Vernichtung preisgegeben wurden. Die schlichten Zahlenkolonnen
lesen sich wie die Sterberegister und Opferzahlen einer Entwicklung, die wie
eine Naturkatastrophe über die Area der Neuen Hebriden hereingebrochen wäre.
Und doch haben wir es hier nicht mit den Folgen einer Pandemie zu tun, sondern
mit einer von Menschenhand hervorgerufenen und gesteuerten Katastrophe:
1800: Schätzungen zufolge etwa 1.000.000 Bewohner
1882: 600.000 (Schätzung lt. Speiser)
1883: 250.000 (Schätzung lt. Thomas)
1892: weniger als 100.000 (Colonial Office in London)
1911: 65.000 (Volkszählung der britischen Regierung)
1920: 59.000 (idem)
1935: 45.000 (idem)144
Der scharfe, katastrophenartige Einbruch der Bevölkerungszahlen während
des Zeitraums der dritten Phase beschleunigter Globalisierung verweist nicht
allein auf die Auswirkungen von Epidemien, die von den Globalisierern eingeschleppt wurden, sondern vor allem auf die Folgen einer rücksichtslosen Ausplünderung der Bevölkerung, die unter sklavereiähnlichen Bedingungen zur
Zwangsarbeit in den Plantagen der Globalisierer von den sogenannten Blackbirds herangezogen wurden. Denn in einer Biopolitik brutalsten Ausmaßes
wurden die Inselbewohner von regelrechten Menschenjägern – von denen wir
auch noch in anderen Teilen der Tropen hören werden – in französische, briti143 Ebda., S. 94.
144 Ebda., S. 47.
280
sche, US-amerikanische, australische und deutsche Kolonien deportiert. Mit
langanhaltenden Folgen:
Insgesamt wurden in dieser zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 100.000 Melanesier erfaßt,
wobei der größte Teil dieser Männer und Frauen niemals mehr in ihr Geburtsland zurückkehrte. Diesen Blutzoll spürt man noch heute, hundert Jahre danach. Der Eindruck der Verängstigung, der auf diesen Küsten liegt, die Isolierung der Dörfer, die hoch oben in den
Flanken der Gebirge angelegt wurden, sprechen noch immer von der verfluchten Zeit, als
jedes Auftauchen eines Segels am Horizont bei den Bewohnern Furcht und Schrecken verbreitete.145
Gerade in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung scheint eine spezifische Sensibilität für all jene Prozesse und Entwicklungen, Zerstörungen und
Grausamkeiten entstanden zu sein, die sich in der dritten Phase in so starkem
Maße beobachten lassen, die aber in der europäischen Geschichtsschreibung
lange Zeit bestenfalls ignoriert, zumeist aber – und dies nicht selten bis heute –
vorsätzlich eskamotiert und ausgeblendet wurden. Die ästhetische Auseinandersetzung mit früheren Globalisierungsphasen ist zu einem festen Bestandteil
der Gegenwartsliteraturen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert geworden, wofür in der Folge noch ein weiteres, anderen kulturellen Areas entstammendes Beispiel analysiert werden soll. Anders als viele wissenschaftliche
Disziplinen wissen die Literaturen der Welt sehr genau, daß sich die aktuelle
Phase beschleunigter Globalisierung nur dann adäquat verstehen läßt, wenn
man sehr bewußt die gelebten Ereignisse und Vektorisierungen aus früheren
Phasen beschleunigter Globalisierung miteinbezieht. Une mondialisation peut
en cacher une autre.
Die Literaturen der Welt haben dabei längst die Funktion übernommen,
diese zerstörerischen Phänomene, Massaker und Massenvernichtungen nicht
nur punktuell, sondern in einem transarealen Bewegungszusammenhang aufzunehmen und dabei nicht allein mit den Mitteln und Möglichkeiten eines
historiographischen Gedächtnisses beziehungsweise einer geschichtswissenschaftlichen Erinnerungspolitik, sondern auch mit anderen Formen einer Memoria zu experimentieren, die nicht bloß der schieren ‘Aufarbeitung’ des Vergangenen, sondern weit mehr der Gestaltung von Zukunft zugewandt sind. So
heißt es im abschließenden Kapitel ‘Inseln’ mit unüberhörbar prospektiver
Akzentuierung:
Die Insel ist in Wahrheit wohl einer jener Orte, an denen das fixierte Gedächtnis die geringste Bedeutung besitzt. Antillen, Mascarenen, aber auch die Atolle des Pazifik, die Archipele der Gesellschafts-Inseln und von Gambier, Mikronesien, Melanesien, Indonesien.
Sie waren so unerträglichen, so abscheulichen Vergewaltigungen und Verbrechen ausgesetzt, daß ihren Bewohnern nichts anderes übrig bleibt, als an einem Punkt in ihrer Geschichte den Blick davon abzuwenden und wieder leben zu lernen, da sie sonst in Nihilismus und Verzweiflung versinken müßten.146
145 Ebda., S. 54.
146 Ebda., S. 123.
281
Es geht in dieser wichtigen Passage nicht um ein Ausradieren oder ein
Verdrängen des Vergangenen und seiner Schrecken, sondern um eine Erinnerungskultur, die im Moment des Vergessens von neuem die Möglichkeit eröffnet, wieder leben zu lernen, um künftig von neuem selbstbestimmt leben zu
können. Das Vergangene ist damit nicht verschwunden, sondern vielmehr im
doppelten Wortsinn aufgehoben: ein paradox erinnerndes Vergessen, das auf
Zukunft zielt und auf die Wiedergewinnung des Lebens aus ist. In diesem
wichtigen Gnosem eines ÜberLebensWissens scheint das fundamentale Versprechen der Literatur auf: ein Wissen vom Leben im Leben bereitzuhalten,
das auf lebendige Weise zum Leben angeeignet und für das eigene Leben
fruchtbar transformiert werden kann. Literatur versteht sich hier als LebensMittel147.
Doch es sind keineswegs nur die Inseln, die im Fokus eines in den Literaturen der Welt weit verbreiteten Schreibens stehen, das sich im Bewußtsein der
aktuellen Globalisierungsphase früheren Phasen beschleunigter Globalisierung
kritisch zuwendet. Denn so, wie in der obigen Passage die Beziehungen und
Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Archipelen von den Antillen
bis nach Indonesien ins Bewußtsein gerückt werden, so lassen sich auf nicht
weniger transareale Weise auch Kontinente miteinander in Beziehung setzen,
die vergleichbar von der Wucht der Globalisierungsphänomene erfaßt wurden.
Gerade für den transtropischen Bereich lassen sich in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung zahlreiche Beispiele in den Literaturen der Welt
finden.
Der 1936 im peruanischen Arequipa geborene Mario Vargas Llosa, wie Le
Clézio einer der Literaturnobelpreisträger der letzten Jahre, hat sich in seinem
Gesamtwerk zunächst mit seiner peruanischen Heimat, insbesondere Lima,
bald auch den Anden und dem Amazonasraum seines Heimatlandes, später
aber auch (in Der Krieg am Ende der Welt) mit Brasilien und (in Das Fest des
Ziegenbocks) mit der Inselwelt der Karibik auseinandergesetzt. In dieser sukzessiven Ausweitung der Diegesen seiner Romane und Erzähltexte kommt
zweifellos seinem 2010, im Jahr seiner Stockholmer Auszeichnung veröffentlichten Roman Der Traum des Kelten148 aufgrund seiner zunächst multispatialen und multitemporalen Anlage eine besondere Bedeutung zu. Denn hier
werden in einer sehr bewußt transareal angelegten Romandiegese Europa, Afrika und Amerika so miteinander verbunden, daß die drei Kontinente nicht
voneinander getrennt gedacht werden können: Sie sind Bestandteile eines interdependenten Systems, dessen Herrschaftswissen freilich sehr ungleich verteilt
ist. Was aber haben diese drei Areas im so prosperierenden Fin de siècle vor
Ausbruch des Ersten Weltkriegs miteinander zu tun?
147 Vgl. zu dieser wichtigen Dimension von Literatur Ottmar Ette: LebensMitte(l) Literatur.
Vom Lesen des Lebens als Mittel des Lebens: Überlegungen im Anschluß an Honoré de
Balzacs „La Peau de chagrin“ (im Druck).
148 Mario Vargas Llosa: El sueño del celta. México: Santillana/Alfaguara 2010.
282
Bereits in der gelungenen, von
Pep Carrió entworfenen Umschlaggestaltung des Romans
wird in den Umrissen des Kopfes
von Roger Casement, dem Protagonisten dieser Geschichte, eine
Weltkarte sichtbar, in der die Orte
dieses in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung angesiedelten Geschehens wie Inseln
erscheinen, welche durch Blutstropfen miteinander verbunden
sind (Abb. 13). Die historische
Figur des 1864 in der Nähe von
Dublin geborenen und 1916 in
London
wegen
Hochverrats
hingerichteten Roger Casement
verbindet dabei seine beiden so
asymmetrischen Herkunftsinseln
Irland und England mit den
Schauplätzen jener extremen
kolonialen und neokolonialen
Ausbeutung,
denen
zum
Abb. 13: Buchumschlag von Mario Vargas
damaligen Zeitpunkt der Kongo
Llosas El sueño del celta.
und das Gebiet des Putumayo im
peruanischen Amazonastiefland
ausgeliefert waren. Es ist die Welt einer rücksichtslosen Expansionspolitik im
Wettrennen der Industriemächte um die Verteilung der ‘letzten’ Kolonien, wie
sie auf paradigmatische Weise im Jahre 1884 in der Afrika-Konferenz in Berlin
– die in das Romangeschehen mehrfach eingeblendet wird – zutage trat. Eine
Welt im Fadenkreuz vieler alter, aber auch einiger neuer Kolonialmächte.
Mögen auch die riesigen Ströme des Kongo und des Amazonas auf die Tatsache verweisen, daß es sich hier keineswegs um Inseln in einem geographischen Sinne, sondern um Teile riesiger Kontinente handelt, so wird doch im
Verlauf des von Vargas Llosa klug, wenn auch mit mancherlei Wiederholungen orchestrierten Geschehens deutlich, daß wir es mit Inseln in einem globalen, weltwirtschaftlichen Sinne zu tun haben. Diese kontinentalen Inseln aber
befinden sich – ganz so wie die geographische Insel Irland gegenüber England
– in einer Situation extremer Unfreiheit und Abhängigkeit von jenen Zentren
des Welthandels und der Weltpolitik, welche den Globalisierungsschub im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste
von Menschenleben in den Kolonien vorantreiben.
Mario Vargas Llosa hat seinen Gegenstand gut gewählt. In der Figur des
hochdekorierten und in den Adelsstand erhobenen britischen Diplomaten und
283
des später gegen England rebellierenden irischen Nationalhelden Roger Casement selbst kulminieren immer wieder gleichsam transarchipelisch die verschiedenen Landschaften, Asymmetrien und Formen der Ausbeutung, die den
Kongo, das Gebiet am oberen Putumayo und schließlich Irland über all ihre
Differenzen hinweg miteinander verbinden. Denn stehen letztlich hinter allen
politischen und wirtschaftlichen Aktionen nicht dieselben Interessen, dieselben
Kräfte? Und ist – wie es im Roman wiederholt heißt – der Kongo nicht überall?
Roger fühlte sich in Raum und Zeit an den Kongo versetzt. Dieselben Szenen des Grauens,
dieselbe Verachtung der Wahrheit. Der Unterschied bestand darin, daß Zumaeta auf Spanisch sprach und die belgischen Beamten auf Französisch. Sie leugneten das Offenkundige
mit derselben Unverfrorenheit, denn beide glaubten sie, daß Kautschuk zu sammeln und
Geld zu verdienen Ideale der Christen waren, welche die schlimmsten Missetaten gegen
jene Heiden rechtfertigten, welche selbstverständlich stets Kannibalen waren und Mörder
ihrer eigenen Kinder.149
Der kolonialistische europäische Diskurs, der die übelsten Greueltaten rechtfertigt, hat längst alles überwuchert und ist zur Selbstverständlichkeit, zur
zweiten Natur der sogenannten ‘Zivilisierten’ geworden. Erst aus einem tieferen, im Sinne Wilhelm Diltheys durcherlebten150 Verständnis der kolonialen
und neokolonialen Situationen in Afrika und Amerika erwächst dem leidenschaftlich für seine Ideale an Menschlichkeit kämpfenden britischen Diplomaten nicht nur eine Einsicht in die menschenverachtende Rücksichtslosigkeit
der sich als so ‘zivilisiert’ in Szene setzenden ‘Mutterländer’, sondern auch in
die Tatsache, daß seine eigene irische Heimat denselben Prinzipien britischer
Machtpolitik unterworfen und ohnmächtig ausgeliefert ist. Irlands Situation
wird für Roger Casement erst im Lichte der Rohkautschukgewinnung am Putumayo und am Kongo neu lesbar, schreibbar, erlebbar – und damit transformierbar. So beschließt er, gegen das von ihm über lange Jahre diplomatisch
vertretene Großbritannien anzutreten und sich damit dem zweifellos mächtigsten Protagonisten der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, dem
britischen Empire, in den Weg zu stellen. Ein hoffnungsloser Fall?
Ja und nein. In jedem Falle ein Stoff, aus dem (freilich durchaus widersprüchliche) Nationalhelden gemacht werden können, gerade auch dann, wenn
sie ihre Ansichten und Einsichten nicht aus dem unmittelbaren Bannkreis
nationaler Erfahrungen beziehen. Denn nur aus einer weltweiten Perspektive
erkennt der Romanheld des Schriftstellers mit der peruanischen und spanischen Staatsbürgerschaft, daß Irland letztlich nichts anderes als eine Kolonie in
den Händen britischen Kapitals ist – nicht anders als die gut getarnten Mechanismen der Peruvian Amazon Company, die solange die Reichen reicher und
149 Ebda., S. 174.
150 Vgl. hierzu Wilhelm Dilthey: Goethe und die dichterische Phantasie. In: ders.: Das
Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 161985, S. 139.
284
die Armen ärmer machen, bis Casement wie schon in seinem Bericht über die
belgische Ausplünderung des Kongo Öffentlichkeit herstellt und die ganze
Unmenschlichkeit aufdeckt, auf welcher die Aktiengewinne dieses scheinbar
so untadeligen Unternehmens an der Londoner Börse wirklich beruhen. Kolonialismuskritik also? Zweifellos. Hatte der historische Roger Casement nicht
„grauenhafte Verbrechen gegen primitive Völker und indigene Gemeinschaften zweier Kontinente“151 erforscht und auf diese Weise die Spielregeln in jener Phase beschleunigter Globalisierung erkannt und freigelegt, die bis zum
Ausbruch des Ersten Weltkriegs galten, jenes schmutzigen interessegeleiteten
Krieges, unter dessen günstigen Bedingungen er selbst das Schicksal Irlands in
einer Allianz mit dem Deutschen Reich gegen das Empire zu verknüpfen
suchte?
Der gesamte Aufbau des Romans, der sich in die Kapitel ‘El Congo’, ‘La
Amazonía’, ‘Irlanda’ und einen nachfolgenden Epilog untergliedert, läßt von
Beginn an keinen Zweifel daran, daß sich die Tropengebiete Afrikas und
Amerikas trotz ihrer sehr unterschiedlichen politischen Situation – auf der einen Seite eine belgische Kolonie, auf der anderen der wirtschaftlich abhängige
und korrupte peruanische Nationalstaat – in einer strukturellen Analogie befinden. Sie unterliegen den Rahmenbedingungen einer im Wettlauf der Mächte
um die letzten zu verteilenden Kolonien gezielt beschleunigten Globalisierung,
wobei sie ganz wie das England so nahe Irland wie abhängige Inseln mit ihren
Machtzentren in Europa verbunden und deren Interessen gnadenlos unterworfen sind. Der Traum des Kelten versucht es immer wieder zu verdeutlichen:
Die Sache Irlands war ohne ein Verständnis der globalen Mechanismen britischer Weltherrschaft nicht adäquat zu verstehen.
Entscheidend in diesem weltumspannenden Wettlauf um Profite, Märkte
und Macht waren jeweils möglichst billig einsetzbare Arbeitskräfte, ohne deren ‘freie’ Verfügbarkeit die angestrebte Gewinnmaximierung der die wirtschaftliche Globalisierung vorantreibenden Konzerne niemals möglich gewesen wäre. Unter dem Vorwand christlicher Missionierung und Zivilisierung
wurden – zeitgleich zu den Deportationen von Arbeitssklaven im pazifischen
Raum, von denen Le Clézios Text berichtet – ganze Völker in die als Lohnarbeit getarnte Versklavung oder in den Tod getrieben, ein Prozeß von höchster
Brutalität, den El sueño del celta in allen Details menschlicher Grausamkeit
nachzuzeichnen und mehr noch sinnlich nachvollziehbar zu gestalten sucht.
Auspeitschung, Verstümmelung, Folter und Mord – wie zuvor in La fiesta del
chivo ist das Arsenal an Grausamkeiten und Gewalttaten, das der peruanische
Autor vor den Augen seines Helden (und seiner Leserschaft) entfaltet, schier
unerschöpflich. Hieraus bezieht der Roman seine ihm eigene Gewalt, die er
gegen die Gewalt skrupelloser Mächte in Stellung bringt.
Dabei ist es kein Zufall, daß dieser Erzähltext, der wie stets bei Vargas
Llosa auf Feldforschungen des Schriftstellers vor Ort beruht, die ein Jahrhun151 Mario Vargas Llosa: El sueño del celta, S. 194.
285
dert zurückliegende Globalisierungsphase aus einer Perspektive betrachtet, die
ohne das Erleben der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung sicherlich
undenkbar wäre. Mag der in seiner Präsidentschaftskampagne in Peru knapp
an dem späteren Diktator Fujimori gescheiterte Autor in seinen politischen
Überzeugungen auch noch so sehr ein dem Neoliberalismus huldigender
Schriftsteller sein: Sein Roman präsentiert einer nach dem Literaturnobelpreis152 mehr denn je weltweiten Leserschaft die ganze Wucht und
Zerstörungskraft einer wirtschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen
Expansion, die einen Grad an internationaler Verflechtung und Abhängigkeit
schuf, wie diese erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder erreicht werden sollte. Der Traum des Kelten impliziert – jenseits aller nicht
immer glücklichen politischen Statements, die sich nie auf der Höhe seines literarischen Schaffens befinden – auch eine Stellungnahme gegenüber all jenen
Kräften, welche den Globalisierungsschub unserer Tage vorantreiben.
Es ist daher nicht von anekdotischer, sondern von struktureller Bedeutung,
daß sich auch im Roman selbst verschiedene Phasen beschleunigter Globalisierung wechselseitig beleuchten und in ihren Kontinuitäten hinterfragen. Dies
erfolgt schon an einer frühen Stelle des Romanverlaufs, als der Protagonist
noch an die zivilisatorische Mission der Europäer glaubt und für die Sanford
Exploring Expedition just an einem Ort arbeitet, bis zu dem „vier Jahrhunderte
zuvor die Karavelle des Diego Cao“153 vorgestoßen war. Doch ausgerechnet
dort, wo der portugiesische Seefahrer einst auf einem Felsen seinen Namen –
der damals noch lesbar war – verewigt hatte, beginnt nun eine deutsche Ingenieursfirma mit dem Aufbau einer Stadt für europäische Kolonialbeamte, deren Häuser aus europäischem Holz hier zum ausschließlichen Nutzen europäischer Konzerne errichtet werden. Wie schon in Le Clézios Text, wo das deutsche Samoa nicht unerwähnt blieb, wird auch im Roman Vargas Llosas mit
Blick auf die dritte Phase deutlich, mit welchen Mitteln das neu gegründete
Deutsche Reich verzweifelt Anschluß an die großen Kolonialmächte zu finden
suchte. Bismarcks Schatten ist – dies zeigen beide Texte deutlich auf – nicht
nur in Europa, sondern auch in Afrika, Amerika und Ozeanien allgegenwärtig,
auch wenn das Deutsche Reich, anders als die USA, nicht mehr vor 1914 in
die erste Reihe expandierender Weltmächte vorzudringen vermochte.
Die wiederholte Einbeziehung der ersten, der iberischen – und in Afrika vor
allem portugiesischen – Phase beschleunigter Globalisierung154 läßt keinen
Zweifel daran aufkommen, daß Der Traum des Kelten die Prozesse der Globalisierung als Phänomen de longue durée, als eine sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Entwicklung, zu begreifen und anschaulich zu machen
152 Vgl. Fernando A. Iwasaki Cauti: Vargas Llosa de cuyo Nobel quiero acordarme.
Madrid: Instituto Cervantes 2011. Eine Übersicht über das gesamte Schaffen bieten
Efraín Kristal/John King (Hg.): The Cambridge Companion to Mario Vargas Llosa.
Cambridge/New York: Cambridge University Press 2010.
153 Mario Vargas Llosa: El sueño del celta, S. 54.
154 Ein weiterer Verweis findet sich u.a. auf S. 73; weitere Hinweise passim.
286
bemüht ist. Noch einmal: Die Literaturen der Welt haben Globalisierung noch
nie – und damit anders als die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen, die es eigentlich besser wissen müßten – als ein am Ausgang des 20.
Jahrhunderts ‘neu’ auftauchendes Phänomen verstanden. Denn literarische
Texte reagieren geradezu seismographisch auf alle Bewegungen, die andere,
auf frühere Bahnungen zurückgehende Bewegungsmuster in sich gespeichert
haben.
Die Bezeichnung Roger Casements als „der britische Bartolomé de las Casas“155, als der große Freund indigener Völkerschaften seines Jahrhunderts –
ein Satz, der dem Schriftsteller Joseph Conrad zugeschrieben wird –, stellt
nicht nur mit einem Augenzwinkern aus der Blickrichtung der vierten Phase
beschleunigter Globalisierung eine direkte Beziehung zwischen der ersten und
der dritten Phase her, sondern macht zugleich deutlich, daß über die Verbindungen zwischen Afrika und Amerika hinaus längst die gesamte Tropenwelt
zum Bewegungsraum europäischer Interessen geworden war. Auf der Hauptinsel des Empire liefen im Norden Europas alle Fäden zusammen, mit deren
Hilfe die kolonialen Inseln im globalen Süden – von Indien bis Ozeanien, von
der Karibik bis nach Südafrika – kontrolliert und nach Belieben manövriert
werden konnten.
Aber was, so darf man sich bei all diesen nicht allein transarealen, sondern
auch transhistorischen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Räumen und
Zeiten der Globalisierung fragen, hat eigentlich die (europäische) Menschheit
aus all diesen Katastrophen, aus Genozid und Zerstörung, die nicht zuletzt aus
Glaubenseifer oder Profitgier über die (gesamte) Erdbevölkerung gebracht
wurden, gelernt?
Exklusionen und Inklusionen: von Kautschuk, Coolies und Korallen
Mario Vargas Llosas sehr bewußt transareal angelegter Roman gibt auf diese
von ihm nahegelegte Frage – und darin liegt bei allem Abzielen auf Breitenwirkung einer seiner größten Vorzüge – keine einfachen Antworten. Er führt
in erster Linie einen langen Lernprozeß vor Augen. Denn auch der britische
Staatsbürger sieht sich im Kongo immer wieder bohrenden Fragen ausgesetzt,
auf die er in den ersten Jahren keine schlüssigen Antworten zu geben vermochte: „Waren die Interessen des Empire nicht wichtiger als die weinerlichen
Klagen einiger halbnackter Wilder, die Katzengeschlechter und Schlangen anbeteten und Menschenfleisch aßen?“156 Durfte man denn, so Roger Casement
in seinen Selbstgesprächen, nicht als Europäer hoffen, daß der zivilisatorische
Fortschritt aller verwerflichen Übergriffe zum Trotz nicht letztlich allen Menschen, auch den auf ihrem eigenen Kontinent wie Lasttiere mißhandelten Afrikanern, von Nutzen sein würde?
Gleichwohl trat dem Iren immer klarer vor Augen, daß sich seit der Eroberung Amerikas durch iberische Konquistadoren kaum etwas verändert
155 Ebda., S. 74.
156 Ebda., S. 108.
287
hatte und daß die meisten Weißen – oder solche, die sich dafür hielten157 – die
Indianer aus der Kategorie „Mensch“ noch immer ganz selbstverständlich exkludierten:
Für sie waren die Indigenen aus dem Amazonasgebiet im eigentlichen Sinne keine
menschlichen Wesen, sondern eine niedere und verachtenswerte Form der Existenz, die
den Tieren näher stand als den Zivilisierten. Daher war es statthaft, sie auszubeuten, sie
auszupeitschen, sie zu entführen, sie zur Kautschukgewinnung abzutransportieren oder sie,
falls sie Widerstand leisteten, zu töten wie tollwütige Hunde.158
Und doch hatte sich zugleich etwas zu verändern begonnen. Denn es war
möglich geworden, durch die Macht des Wortes, durch die Kraft offizieller
Berichte eine Öffentlichkeit wachzurütteln, die – erst einmal in ihrem durchaus
gewinnbringenden Schlaf gestört – zu reagieren und zu agieren durchaus in
der Lage war. Und es war eine weltweite Öffentlichkeit, die nunmehr erreicht
werden konnte, eine Öffentlichkeit, die bei allen scharfen Asymmetrien an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert innerhalb gewisser Grenzen als eine entstehende Weltöffentlichkeit bezeichnet werden darf. Eine Informationsgesellschaft159 im aktuellen Sinne der vierten Phase beschleunigter Globalisierung
funktionierte gewiß noch nicht; und doch gab es zu Roger Casements Zeiten
Möglichkeiten, die unbestreitbar entstandene Macht weltweiter Kommunikation160 zu nutzen und das Räderwerk der Ausbeutung gleichsam vor Ort vorzuführen, an jenem noblen Firmensitz der Peruvian Amazon Company im Herzen des Welthandelszentrums London. Dies waren Möglichkeiten, wie sie der
Roman selbst auf wenigen Zeilen verdichtet aufzeigt:
Roger war in den Büros der Peruvian Amazon Company in Salisbury House, E.C., im Finanzzentrum London gewesen. Ein fürwahr spektakulärer Ort, mit einem Landschaftsgemälde von Gainsborough an der Wand, uniformierten Sekretärinnen, mit Teppichen ausgelegten Büros, Ledersofas für die Besucher und einem ganzen Bienenschwarm an Clerks
mit ihren gestreiften Hosen, ihren schwarzen Gehröcken, ihren Hemden mit hohen gesteiften Krägen und ihren Schnickschnack-Krawatten, die mit Rechnungen beschäftigt waren,
Telegramme verschickten und erhielten, Lieferungen von getalgtem und duftendem Kautschuk in alle Industriestädte Europas verkauften und sich bezahlen ließen. Und am anderen
Ende der Welt, am Putumayo, die Huitotos, Ocaimas, Muinanes, Nonuyas, Andoques, Rezígaros und Boras, die langsam ausgelöscht wurden, ohne daß jemand einen Finger krumm
gemacht hätte, um an diesem Zustand etwas zu ändern.161
157 So wurden die Iren in den USA bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts kategoriell nicht als
Weiße betrachtet; vgl. zur Problematik dieser historisch höchst wandelbaren Kategorie
Nell Irvin Painter: The History of White People. New York/London: W.W. Norton 2010.
158 Mario Vargas Llosa: El sueño del celta, S. 209.
159 Manuel Castells: Das Informationszeitalter.
160 Vgl. Manuel Castells: Communication power. Oxford/New York: Oxford University
Press 2008.
161 Ebda., S. 220.
288
Auf wenigen Zeilen wird hier eindrucksvoll die weltweite Interdependenz bei
gleichzeitiger radikaler Asymmetrie der Machtverteilung innerhalb einer detailreich ausgemalten Situation vorgeführt, in der die modernen transatlantischen Kommunikationsmedien den Austausch wirtschaftlich notwendiger Informationen per Überseekabel sicherstellen. Doch diese Kommunikationsstrukturen gehorchen einseitigen Interessenlagen, die weit über die Interessen
jener Sekretärinnen und Büroangestellten hinausreichen, die als sichtbare
„Uniformierte“ letztlich auf das verweisen, was zunächst unsichtbar bleibt.
Gerade im unsichtbar Bleibenden werden jedoch auf diesen wenigen Zeilen
die Machtstrukturen ästhetisch wirkungsvoll zum Vorschein gebracht und
stillschweigend sichtbar gemacht. Ein Räderwerk weltweiter Ausbeutung und
Macht, gut geschmiert, für eine kleine Minderheit erdacht: ein fein abgestimmtes Landschaftsgemälde der dritten Phase beschleunigter Globalisierung.
Überhaupt die Kunst: In dieser mit dem zeitgenössischen Dekor und der
damaligen Mode wohlvertrauten Passage des historischen Romans kommt
auch ihr in Form einer dekorativen Malerei eine genau bestimmte Funktion zu:
jene einer ornamentalen, das symbolische Kapital ihrer Besitzer zugleich zeigenden und steigernden Rolle, die in ihrem Entwurf einer Landschaft zugleich
all jene Landschaften verbirgt, für deren Wert und Würde sich niemand verbürgt. Gegen eine solche Kunst, für die hier Thomas Gainsboroughs Gemälde
stellvertretend steht, rebellieren sowohl der Protagonist als auch der Roman
selbst, versuchen sie doch, für ein Bewußtsein einzutreten, das man mit Alexander von Humboldt als ein komplexes Weltbewußtsein162 bezeichnen
könnte. Es stellt die Landschaft am Putumayo abrupt in die so gepflegte Landschaft an der Themse.
Ohne an dieser Stelle auf die im gesamten Roman feststellbare hohe Frequenz des Lexems „Leben“ (vida, vivir, viviente usw.) eingehen zu können,
sei doch betont, wie sehr in Vargas Llosas Roman eine immanente Poetik
eingewoben ist, welche der Kunst die Aufgabe zuweist, die Komplexität
und Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens im literarischen Experimentierraum ästhetisch nacherlebbar zu gestalten. Die Einsicht Roger
Casements, derzufolge „das Leben, das komplexer ist als alle Berechnungen“163, sich jeglicher wissenschaftlichen Berechenbarkeit entzieht, wird
zur Grundlage einer Handlungs- und Figurengestaltung, in der die literarische Gestalt von Roger Casement selbst zum „lebendigen Beispiel all
dieser Zweideutigkeiten“164 gerät.
In Casements politischen und biopolitischen, humanistischen und nationalistischen, erotischen und ökonomischen Positionen wird eindrucksvoll zur
Anschauung gebracht, mit welcher Offenheit, Widersprüchlichkeit und Widerspenstigkeit sich das Leben im Dreieck von Finden, Erfinden und Erleben lite162 Vgl. Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete
Projekt einer anderen Moderne.
163 Ebda., S. 355.
164 Ebda.
289
rarisch repräsentieren läßt. Aufgabe der Literatur ist es nicht, diese ‘Ambiguitäten’ aufzulösen und in Berechenbarkeit zu überführen. Aufgabe der Literatur
ist es nicht, Rezepte und Rezepturen für die einfache und sachgerechte Lösung
all dieser realen Probleme zu liefern. Es geht vielmehr darum, Denk- und Interpretationsmuster zu erproben und bereitzustellen, welche die Nacherlebbarkeit von Lebensprozessen anstreben, indem diese anhand literarischer (wenngleich bisweilen historischer) Figuren intensiv durchgespielt (und im Diltheyschen Sinne durcherlebt) werden.
Kaum eine andere literarische Figur könnte uns so wirkungsvoll wie Vargas Llosas Roger Casement dazu dienen, aus unserer gegenwärtigen Perspektive die Problematiken des Globalisierungsschubs an der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert so plastisch in ihren Widersprüchen aufzuzeigen und damit in
ihrer transarealen Dynamik buchstäblich zu vergegenwärtigen. In Roger Casements Gestalt verkörpert sich die Gewalt, die in der dritten (wie in der ersten, wie in der zweiten, wie in der vierten) Phase beschleunigter Globalisierung alle Körper erfaßt – im Finanzzentrum London mit seinen uniformierten
Sekretärinnenpuppen und wohlgekleideten Schreiberlingen wie am „Ende der
Welt“ mit seinen verschleppten, versklavten, vernichteten Körpern der indigenen Völker.
Wollte man es paradox formulieren, so könnte man behaupten, daß Roger
Casement gerade deshalb, weil er sich selbst nunca de ninguna parte165 fühlte,
also nirgendwo je zuhause war, sein Leben im Kampf für den Traum von einem freien, unabhängigen Irland verlieren mußte. Das Irland dieses Traumes,
dieses sueño, steht als ‘seine’ Heimatinsel für all jene Inseln, die er in seinem
Leben ohne festen Wohnsitz zu den seinen gemacht und für die er sein Leben
riskiert hatte. Als Wanderer zwischen den Welten – zwischen Irland und England, aber auch zwischen Europa, Afrika und Amerika – mußte er ein sehr feines Gespür für das Schicksal all jener Völker besitzen, die am Ende der oben
zitierten Passage nach der Schilderung des luxuriösen Firmensitzes der Peruvian Amazon Company in London kurz auftauchen, um als deportierte, versklavte Lohnarbeiter und der Ausrottung preisgegebene ‘Arbeitskräfte’ endgültig von der Geschichte verschlungen zu werden. Nichts bleibt von ihnen im
Räderwerk asymmetrischer Macht zurück.
Denn dieser Menschen, die gefälschten Dokumenten entsprechend als
Lohnarbeiter geführt und offiziell für ihre Arbeit bezahlt werden, scheint sich
niemand in Europa oder anderswo annehmen zu wollen. Doch mag die offizielle Geschichte sie auch ausgeschlossen haben: Der Traum des Kelten versucht, dieser historischen Exklusion in der aktuellen Globalisierungsphase eine
Inklusion entgegenzusetzen, die sie zwar nicht in Subjekte ihrer eigenen Geschichte verwandelt, zumindest aber als von der Geschichte Mißhandelte wieder in Erscheinung treten läßt. Wie in wissenschaftlichen Abhandlungen als
Objekte der Geschichte, gewiß, aber doch zugleich als lebendige Subjekte, die
165 Ebda., S. 374 f.
290
uns in ihren Blicken, in ihren geschundenen Körpern am Kongo wie am Putumayo mit ihrem einzigen Gut, ihrem nicht wegzudefinierenden Leben, konfrontieren.
Wie Vargas Llosas Erzählerfiguren vom Standpunkt der vierten Phase beschleunigter Globalisierung zunächst auf die dritte Phase und deren Exklusionen blickend, so entfaltet auch der 1956 in Port-Louis auf Mauritius geborene
Dichter, Filmemacher und Kulturtheoretiker Khal Torabully166 aus einem verdoppelten historischen Weltbewußtsein heraus seit den achtziger Jahren sein
Projekt der Coolitude. Es bildet den poetisch wie poetologisch reflektierten
Versuch, auf der Grundlage der Inklusion all jener von der Geschichte Ausgeschlossenen eine Vision und Revision historischer wie aktueller Globalisierungsprozesse zu entwickeln, die all jene als lebendige Subjekte zur Sprache,
zum Sprechen bringen will, welche sich zumeist unter elenden Umständen als
Lohn- und Kontraktarbeiter weltweit verdingen mußten.
Dabei geht es im Vergleich zu Vargas Llosas Roman weder um die
schwarzen Sklaven, deren Versklavung zumindest auf einer formaljuristischen
Ebene im Verlauf eines langen 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, noch um
die unter sklavereiähnlichen Bedingungen ausgebeuteten Kautschukarbeiter,
die größtenteils den indigenen Gruppen am Kongo oder am Putumayo zur
Zwangsarbeit ‘entnommen’ und zwangsrekrutiert wurden. Allerdings tauchen
auch in Der Traum des Kelten am Rande des Geschehens kleinere Gruppen
aus entfernteren Regionen herangeführter Lohnarbeiter auf, denen die bei der
Anwerbung versprochene kostenlose Rückfahrt etwa nach Barbados oder Trinidad nicht gewährt, sondern aus fadenscheinigen Gründen verwehrt wird, um
sie weiter in absoluter Abhängigkeit zu halten. Ein derartiges Schicksal, eine
derartige Lebenserfahrung wird zum historischen Ausgangspunkt des von
Khal Torabully entwickelten Konzepts der Coolitude, bilden doch erste Migrationen – etwa von Indien auf die Antillen – nicht selten den Beginn weiterer,
sich anschließender Migrationen innerhalb des weiten Gürtels der von den
Kolonialmächten beherrschten Tropen. Die auch in Lafcadio Hearns karibischen Insel-Texten allgegenwärtigen Coolies zählen zu den eigentlichen
transtropischen Protagonisten der dritten Phase beschleunigter Globalisierung,
eine Tatsache, die uns erst in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung
die Kulturtheorie und die poetische Praxis des aus Mauritius stammenden
Schriftstellers in aller Lebendigkeit vor Augen geführt hat.
Der mit einer Arbeit über die Semiologie des Poetischen in Lyon promovierte Khal Torabully, der Gründungsmitglied einer französischen Forschergruppe über Globalisierung (Groupe d’Etudes et de Recherches sur les Globalisations, GERM) ist, hat in seinen poetischen wie in seinen poetologischen
Texten den vorwiegend aus Indien, aber auch aus China und anderen Ländern
stammenden Coolies nicht nur ein literarisches Denkmal, gleichsam einen Ge166 Zum Werk von Khal Torabully vgl. Véronique Bragard: Transoceanic Dialogues:
Coolitude in Caribbean and Indian Ocean Literatures. Frankfurt am Main/Berlin/New
York: Peter Lang 2008.
291
dächtnisort, setzen wollen, sondern auch eine Poetik globaler Migration entwickelt, wie sie bereits in seinem 1992 erschienenen Band Cale d’Etoiles –
Coolitude (Sternendock – Coolitude) zum Ausdruck kommt:
Coolitude, um den ersten Stein meines Gedächtnisses allen Gedächtnisses zu legen, meine
Sprache aller Sprachen, meinen Teil des Unbekannten, den zahlreiche Körper und zahlreiche Geschichten immer wieder in meinen Genen und in meinen Inseln hinterlegt haben.
Dies ist der Gesang meiner Liebe zum Meer und zur Reise, die Odyssee, welche meine zur
See fahrenden Völker noch nicht geschrieben haben... und meine Mannschaft wird im Namen derer auftreten, welche die Grenzen auslöschen, um das Land des Menschen zu vergrößern.167
In diesem mit homerischen Anklängen versehenen Gesang der Liebe tritt an
die Seite der Memoria all jener Vergessenen und von der Geschichte Verschlungenen, auf die wir im vorliegenden Band erstmals in den Beschreibungen und Photographien des Insel-Nomaden griechisch-irischer Herkunft Lafcadio Hearn gestoßen waren, eine unverkennbar prospektive Dimension. Denn
es geht dem poeta doctus, der aus einer Familie stammt, die einst auf der Suche nach Arbeit von Indien nach Mauritius gekommen war, nicht um eine abgeschlossene Vergangenheit, deren verschlossenes Grab man mit mitgebrachten Steinchen pflichtschuldigen Angedenkens ehren müßte. Ausgehend von
jenen kollektiven wie individuellen Erfahrungen, welche die weitgehend entrechteten Lohn- und Kontraktarbeiter insbesondere in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung erdulden mußten, wird eine auf Zukunft gestellte
und die aktuelle Globalisierung mit ihren Migrationen neu beleuchtende Poetik entwickelt, die sich schon früh in ihrer globalen Relationalität gerade im
Bereich der Tropen äußert. So heißt es wiederum in französischer Sprache:
Ihr aus Goa, aus Pondicheri, aus Chandernagor, aus
Cocame, aus Delhi, aus Surat, aus London, aus Shanghai,
aus Lorient, aus Saint-Malo, Ihr Völker aller Schiffe,
die Ihr mich mitnahmt zu einem anderen Ich, mein Sternendock
ist mein Reiseplan, mein Spielraum, meine Vision des
Ozeans, den wir alle durchqueren, auch wenn wir die
Sterne nicht unter demselben Winkel sehen.
Sage ich Coolie, sage ich auch jeden Steuermann ohne eine
Registrierung an Bord; ich sage jeden Menschen, der zum Horizont
seines Traumes aufbrach, welches Schiff auch immer er nahm oder
nehmen mußte. Denn wenn man den Ozean überquert, um auf die Welt
anderswo zu kommen, dann liebt es der Seemann einer Reise ohne Rückkehr,
sich in seine Geschichten, in seine Legenden und in seine Träume zu versenken. Die
Zeit einer Abwesenheit von Gedächtnis.168
167 Khal Torabully: Cale d’Etoiles – Coolitude, S. 7.
168 Ebda., S. 89: „Vous de Goa, de Pondicheri, de Chandernagor, de / Cocane, de Delhi, de
Surat, de Londres, de Shangai, / de Lorient, de Saint-Malo, peuples de tous les bateaux /
qui m’emmenèrent vers un autre moi, ma cale d’étoiles / est mon plan de voyage, mon
292
Der Begriff des Coolie ist historisch verankert, aber nicht exkludierend gedacht: Er wird von Torabully auch in einem übertragenen Sinne gebraucht und
beleuchtet spezifische Phänomene einer Globalisierung ‘von unten’, einer
Globalisierung der Migranten, die auf der Suche nach Arbeit Meere überqueren. In lyrischer Verdichtung entsteht so ein weltweites Netzwerk all jener
‘Reisenden’, die als Objekte einer extremen Ausbeutung die Inseln und Städte
Indiens, Chinas und Ozeaniens mit den europäischen Kolonialhäfen verbinden.
Dabei wird am Beispiel der Veränderungen des lyrischen Ich deutlich aufgezeigt, daß in jedem Übersetzen, in jedem Übersetzen, in jedem Transfer stets
eine Transformation enthalten ist, die das Ich zu einem anderen macht und dabei immer neue Spielräume und Blickwinkel eröffnet. Der Ozean wird zum
verbindenden und zugleich trennenden Element, das auch die Städte dieses
Netzwerks kolonialer Ausbeutung in Inseln verwandelt, die ihren eigenen
angle, ihre eigene Perspektive entfalten. Die „Odyssee“169 der Kontraktarbeiter, auf die wir bei Lafcadio Hearn bereits gestoßen waren, die ansonsten aber
in allen Identitäts-Diskursen über so lange Zeit weitestgehend ausgeblendet
war, nimmt zwischen all diesen Inseln ihren weltweiten Lauf. Doch eine
Rückkehr nach Ithaca ist in den Bordbüchern und Reiseplänen nicht vorgesehen.
Der indische Coolie wird folglich in seiner historischen Gestalt präzise
wahrgenommen und rekonstruiert, bleibt aber nicht auf die konkrete geschichtliche Figur beschränkt, sondern wird insofern metaphorisch und mehr
noch figural170 ausgeweitet, als all jene ins Blickfeld einer Lyrik und einer
Theorie gerückt werden, die unter unmenschlichen Bedingungen eine Reise
zumeist ohne Wiederkehr angetreten haben. Das, was niemals aufgeschrieben
wurde, das, was dem Gedächtnis und der Erinnerung entschlüpfte, das, was
niemand in seine jeweilige Identitätskonstruktion integrieren wollte, verdichtet
sich in Khal Torabullys Schriften ebenso poetisch wie poetologisch zu einem
relationalen Verständnis historischer Prozesse, die nicht territorialisirend und
von einem Punkt aus zentrierend zu betrachten sind, sondern bewegungsgeschichtlich – und nicht länger raumgeschichtlich – aus einer ozeanischen Perspektive (oder einer Perspektive Ozeaniens) heraus verstanden werden müssen. Die Figura des Coolie ist dann, erst einmal ‘entdeckt’, überall präsent.
Denn sie ist weit mehr als eine Figura der Memoria: Sie kündet im vervielfachten Sinne von einer anderen Zeit.
aire, ma vision de / l’océan que nous traversons tous, bien que nous ne / vissions pas les
étoiles du même angle. // En disant coolie, je dis aussi tout navigateur sans / registre de
bord; je dis tout homme parti vers l’horizon / de son rêve, quel que soit le bateau qu’il
accosta ou / dût accoster. Car quand on franchit l’océan pour naître / ailleurs, le marin
d’un voyage sans retour aime replonger / dans ses histoires, ses légendes, et ses rêves. Le
/ temps d’une absence de mémoire.“
169 Vgl. hierzu das Kapitel ‘The Coolie Odyssey: A Voyage In Time And Space’ in Marina
Carter/Khal Torabully: Coolitude, S. 17–44.
170 Vgl. hierzu Erich Auerbach: Figura, S. 55–92.
293
Auch wenn die Tropen in ihrer Abhängigkeit von äußeren Mächten stets
eine brennende Wunde bleiben – „Ich werde eines Tages eine andere neue
Welt entdecken. / Aus ihr werde ich die Tropen herausbrennen / Und Columbus verfluchen mitsamt seiner verfluchten Wirtschaft.“171 –, so bleiben sie
doch eingespannt in ein weites Netzwerk von Bewegungen, als deren Begründer Christoph Columbus stellvertretend angeklagt wird. Dieser kurz eingefügte
Rückblick auf die erste Phase beschleunigter Globalisierung mit ihrem weltweit sein Fangnetz auswerfenden Wirtschaftssystem öffnet sich freilich auf ein
Künftiges, auf eine ‘Neue Welt’ in einem anderen Sinne, in der die neuen
Möglichkeiten ausgelotet werden, eine andere Welt zu bauen. Denn eine andere, in diesem Sinne neue, auf künftigem Zusammenleben in Differenz beruhende Welt ist möglich. Khal Torabullys Ästhetik ist ethisch fundiert, ihre
Gestik postkolonial.
In seinem 1999 vorgelegten Gedichtband Chair Corail, Fragments Coolies
(Korallenfleisch, Coolie Fragmente)172 hat der mauritianische Dichter, der im
übrigen auch als Filmemacher hervorgetreten ist und beim Internationalen
Filmfestival von Cairo für La Mémoire maritime des Arabes 2010 mit dem
„Golden Award“ ausgezeichnet wurde, eine nicht wie bei Deleuze und Guattari am Rhizom,173 sondern an der Koralle, diesem symbiotischen Lebewesen
des Meeres, ausgerichtete Metaphorologie eingeführt: „In meinem Gedächtnis
sind auch Zungen / Meine Coolitude ist nicht ein Stein / Sie ist Koralle.“174
Coolitude ist kein toter Gedenk-Stein, sondern lebendig züngelnde, sprechende
Koralle – allein: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Wird hier die Sprache nicht zu obskur, zu ‘schwierig’?
Nehmen wir diesen Stimulus also auf. Die für Torabullys eigenes Schreiben
so wichtige Sprachenvielfalt und das Übersetzen wie das Übersetzen an andere
Ufer stellen unablässige Transferprozesse dar, die immer wieder zu Transformationsvorgängen werden: „nicht mehr der Hindu-Mensch aus Calcutta / sondern Korallenfleisch von den Antillen“175. Aus diesen Mutationen, aus diesen
Metamorphosen ergibt sich eine Schreibpraxis und zugleich eine Kulturtheorie, die beide unverkennbar transarchipelisch aufgebaut sind. So heißt es in Torabullys Beitrag für eine von der Universität Potsdam im Sommer 2011 veranstaltete Tagung programmatisch:
171 Khal Torabully: Voices from Indentured. Unveröffentlichtes Manuskript 2011: „I will
one day discover another new world. / From it I will burn the Tropics / And damn
Columbus for his damned economics.“
172 Khal Torabully: Chair Corail, Fragments Coolies. Guadeloupe: Ibis Rouge Editions
1999.
173 Vgl. hierzu Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizom. Aus dem Französischen übersetzt von
Dagmar Berger u.a. Berlin: Merve Verlag 1977.
174 Khal Torabully: Chair Corail, Fragments Coolies, S. 82: „Dans ma mémoire sont des
langues aussi / Ma coolitude n’est pas une pierre non plus, / elle est corail.“
175 Ebda., S. 108: „non plus l’homme hindou de Calcutta / mais chair corail des Antilles“.
294
Das die Coolitude begründende korallene Imaginäre stellt einen Vorschlag dar, um diese
Verschiedenartigkeiten zu archipelisieren, die für die Menschheiten so notwendig sind (une
proposition d’archipéliser ces diversités si nécessaires aux humanités). Es stellt ganz konkret unser Imaginäres aus den polylogischen, archipelischen Indien in die zeitgenössische
Realität, wo Ökonomie, Kulturen und Ökologie nicht voneinander getrennt werden können,
so wie dies die gegenwärtige Globalisierung mit ihren wiederholten Pannen voller Gewalttätigkeiten belegt.176
Diese transarchipelische Sichtweise, die historisch auf den schmerzhaften Erfahrungen von Millionen indischer Coolies aufruht, welche auf ihrer verzweifelten Suche nach Arbeit Fünf- und Zehnjahresverträge unterschrieben, die sie
ebenso auf die Inseln des Indischen Ozeans wie nach Ozeanien, ebenso auf die
britischen West Indies wie auf die französischen Antillen verschlagen konnten,
verbindet sich mit dem für Torabullys Schreiben entscheidenden Theorem der
Koralle, das er 2011 wie folgt begründete:
Die Koralle ist in ihrem lebendigen Habitat beobachtbar, ganz im Gegensatz zum Rhizom,
das sich unter der Erde befindet. Darüber hinaus erlaubt sie mir, ein agglutinierendes Verbundensein, das sich ähnlich wie ein Palimpsest aus Schichtung, aus Verdichtung, aus Sedimentierung aufbaut, und nicht nur ein erratisches Verbundensein zu entwickeln, wobei
sie den egalitären Aspekt der Verbindung beibehält, steht sie doch allen Strömungen gegenüber offen. Die Koralle ist ihrem Wesen selbst nach hybrid, denn sie ist aus der
Symbiose eines Phytoplanktons und eines Zooplanktons geboren. In Sachen Metaphorik
der Diversität könnte es schlicht nicht besser sein. Sie ist Wurzel, Polyp und Abplattung, ist
von sich verändernder Form, schmiegsam und hart und dazu noch verschiedenfarbig. Obgleich sie verwurzelt ist, setzt sie doch die größte Migration auf der Erde frei, die des
Planktons, die man vom Mond aus ebenso sehen kann wie das Grand Bareer Reef, das von
der UNESCO als Welterbe der Menschheit eingestuft wurde. Dieser korallene Archipel ist
ganz einfach die auf der Erde sich am weitesten ausbreitende lebendige Skulptur, und auch
sie kann man vom Mond aus sehen.177
Die Rekurrenz des Lexems vivant (lebendig) am Anfang wie am Ende dieser
Passage unterstreicht, in welch starkem Maße auch im Theorem der Koralle
für Torabully die Lebensprozesse von entscheidender Bedeutung sind. Auch
wenn der Dichter und Theoretiker der Coolitude vielleicht die Tatsache nicht
miteinbezogen hat, daß kein Geringerer als Charles Darwin einst mit dem Gedanken spielte, die Koralle in seinem Denken zum „Symbol der gesamten
Naturentwicklung“ zu machen und als „Modell einer Evolution“ zu benutzen,
„die anarchisch in alle Richtungen wächst und nicht – wie beim Baummodell
176 Khal Torabully: Quand les Indes rencontrent les imaginaires du monde. In: Ottmar
Ette/Gesine Müller: Worldwide/weltweit. Archipiélagos como espacios de prueba de
convivencia global, Ms. S. 12. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Khal Torabullys in
<http://www.ialhi.org/news/i0306_8.php>.
177 Khal Torabully: Quand les Indes rencontrent les imaginaires du monde, Ms S. 10 f.
295
– den Menschen als Krönung am Ende der Entwicklung“ versteht:178 Die Koralle wird bei Torabully nicht nur zu einem Lebens-Theorem, sondern verkörpert in ihrer Lebendigkeit zugleich ein Wissen vom Überleben und vom Zusammenleben, das diese Gemeinschaft von Lebewesen in ihrer sym-bio-tischen Daseinsform zu Kunstwerken von gewaltigen Ausmaßen anwachsen
läßt. Bereits Darwins „korallene Inspiration“179 hatte sich einer langen
künstlerischen und naturphilosophischen Traditionsgeschichte zu versichern
gewußt, in der „die Korallen und ihre im Lebenskampf erzeugten Produkte in
den Bereich der Kunst gehören“180. Hatte nicht schon der im vorliegenden
Band in anderem Zusammenhang erwähnte Leon Battista Alberti darauf aufmerksam gemacht, auf welch einfache Weise komplexe Naturformen aus der
Perspektive des Menschen in semantisch hochpotenzierte Kunstwerke umgedeutet werden können?181
Daß sich die Koralle beim Autor aus Port-Louis als Konkurrenzbegriff zur
poststrukturalistischen Theorie des Rhizoms versteht, ist offenkundig; zugleich
aber wird deutlich, daß Koralle und Rhizom durchaus in einer vergleichbaren
Weise für das Nicht-Zentrierte, für das Sich-Vernetzende und für das NichtHierarchische einstehen, wobei die Koralle in ihrem Oszillieren zwischen ihrer
lebensspendenden (und zugleich erotischen) Fleischlichkeit – der Chair Corail
– und ihrer bildhauerischen Dimension als Gedenk-Stein eine dynamische
Verbindung zwischen Geologie und Biologie, zwischen Tierischem und
Pflanzlichem, zwischen Tod und Leben, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft vor Augen führt, deren poetische Valenz in Torabullys Lyrik ausgespielt werden kann. Die symbiotische Welt der Koralle verbindet sich mit einer Konvivenz, die aus der Perspektive der Tropen eine Lebens-Welt entstehen läßt, die sich unterhalb wie oberhalb der Meeresoberfläche ansiedelt
und entfaltet. Als poetische Trope verkörpert die Koralle die Bewegungswelt
der Tropen und ist dank ihrer Migrationen das transtropische Lebewesen par
excellence.
Es ist faszinierend zu sehen, wie dynamisch und bewegungsgeschichtlich
mobil der mauritianische Autor seinen Entwurf der Koralle anlegt, die man in
einem allgemeinen Sinne gerade mit Blick auf das Grand Bareer Reef eher mit
Starrheit und Widerständigkeit assoziieren würde. Doch Khal Torabully hört
auf das Rauschen ihrer Geschichte, ihres Geschichtetseins, ihrer lebendigen
Sedimentation. Und er verweist auf ihre naturhafte und zugleich palimpsestartige Kunst. Erst aus dieser zutiefst lebendigen Geschichte kleinster Lebewesen erwächst die Widerständigkeit der riesigen Korallenriffe.
178 Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die
Tradition der Naturgeschichte. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 22006, S. 1. Ich danke
Gesine Müller für den Hinweis auf diese Publikation.
179 Ebda., S. 70.
180 Ebda.
181 Ebda., S. 11.
296
Die von Khal Torabully wiederholt betonte Verbindung zwischen Koralle
und Migration ist innerhalb der Bild-Welten dieses Dichters und Theoretikers
mit einer Coolitude verknüpft, die sich in das Ozeanische wie das Migratorische einschreibt. So heißt es in einem Vortrag des mauritianischen Kulturtheoretikers vor der Unesco:
Es ist unmöglich, die Essenz der Coolitude ohne die Reise der Coolies über die Meere zu
verstehen. Diese entscheidende Erfahrung, diese Odyssee der Coolies, hinterließ eine unauslöschliche Markierung in der imaginären Landschaft der Coolitude.182
Die hier implizit angesprochene Landschaft der Theorie bereichert zweifellos
die im vorliegenden Band transareal über vier Phasen beschleunigter Globalisierung entfaltete Relationalität von in sich abgeschlossener Insel-Welt und archipelischer wie transarchipelischer Inselwelt insofern, als die Lebens- und
Bewegungsformen der ins Ungewisse entlassenen Coolies, aber auch die
epistemologische und poetologische Metapher der Koralle nicht allein auf der
Ebene einer sich verdichtenden Metaphorologie eine lebendige und weiter
verlebendigende Dynamik in diese transtropischen Landschaften der Theorie
einbringen. Khal Torabullys korallene Begriffswelt ist zutiefst transareal geprägt.
Dies läßt sich auch begriffsgeschichtlich belegen. In einem gemeinsam mit
der britischen Historikerin Marina Carter verfaßten Band wird 2002 der Begriff der Coolitude historiographisch insofern verankert, als seine verschiedensten Aspekte systematisch unter Einbeziehung historischer Quellen diskutiert werden. Dabei werden die oftmals brutalen Methoden der Rekrutierung
billiger Arbeitskräfte, wie wir sie im Licht von J.M.G. Le Clézio in dessen
Reisetext Raga am Beispiel der sogenannten Blackbirders bereits im ozeanischen Raum kennengelernt hatten, immer wieder deutlich herausgearbeitet.
So wurde – um nur ein individuelles Beispiel herauszugreifen – im Jahre
1882 ein kleiner Junge namens Dawoodharree wie so häufig unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben, um auf der Pflanzung mit dem schönen
Namen „Sans Souci“ auf Mauritius als Kontraktarbeiter eingesetzt zu werden.
Die Leitung dieser Pflanzung lehnte es entschieden ab, den Jungen auf dessen
Antrag hin wieder freizulassen:
Dawoodharree wurde gleichzeitig mit fünf oder sechs anderen Männern, die zusammen
mit ihm aus Indien kamen, engagiert, und er war sich bewußt, daß er nach Mauritius
gegangen war, um einen Kontrakt über fünf Jahre einzugehen, daß seine Überfahrt wie
auch die Überfahrten der anderen vom Sirdar von „Sans Souci“ Estate bezahlt worden
und die diesbezüglich vom Sirdar verauslagte Summe von dieser Gesellschaft
übernommen worden war.183
182 Khal Torabully: The Coolies’ Odyssey. In: The Unesco Courier (Paris) (October 1996),
S. 13.
183 Zit. nach Marina Carter/Khal Torabully: Coolitude, S. 24.
297
Legalität, Legitimität und feudal-kapitalistische Unmenschlichkeit sind in diesem juristisch argumentierenden postabolitionistischen Dokument kaum noch
voneinander zu unterscheiden. Hier geht es in keinster Weise um Fragen der
Konvivenz, sondern der Ausplünderung und Konkupiszenz. Sklaverei mag
hier nur noch als Metapher sichtbar sein; doch sie ist weit mehr: von den
Coolies gelebte und durchlebte Wirklichkeit. Der Kontrakt wird zum Konstrukt, durch den das tropische Versprechen der Fülle einmal mehr zur Falle
wird. Für diese von der Geschichte Vergessenen entfaltet Khal Torabully
zugleich eine Poesie und eine Poetik, ein Theorem und eine Theorie, die in der
Lage sind, mit Blick auf all jene Entwicklungen, die im Verlauf der dritten
Phase beschleunigter Globalisierung einen dramatischen Höhepunkt erreichten, eine sinnlich erfahrbare und mehr noch nacherlebbare Landschaft zu konstruieren, die ohne die kulturtheoretischen Hintergründe des aktuellen Globalisierungsschubs nicht vorstellbar wären. Literatur läßt diese vergessenen Leben
wieder lebendig werden und macht dank ihrer ästhetischen Kraft nacherlebbar,
welches die Bewegungen, welches die Bahnungen sind, die palimpsestartig
unsere aktuellen Bewegungsbahnen vektorisieren und noch immer mitbestimmen.
Kein Zweifel: Es handelt sich um eine transareal konzipierte Landschaft der
Theorie, die ohne die politischen, sozialen und kulturellen Kontexte der 1968
politisch unabhängig gewordenen Insel Mauritius sicherlich nicht hätte entworfen werden können. Denn die vor ihrer Kolonisierung unbewohnte Insel
im Indischen Ozean, die unter der kolonialen Herrschaft Portugals (1505–
1598), der Niederlande (1598–1710), Frankreichs (1715–1810) und Englands
(1810–1968) stand, bündelt wie in einem Brennspiegel viele jener historischen
Entwicklungen, die charakteristisch sind für eine transarchipelische Vielverbundenheit, welche gerade im Bereich der Tropen – wie wir sahen – eine sehr
spezifische Ausprägung erfahren hat. Ganz so, wie sich auf der religiösen
Ebene Hinduismus, Katholizismus, Protestantismus und Islam auf engstem
Raum begegnen, so lassen sich auf der sprachlichen Ebene neben dem Morisyen (einer auf dem Französischen basierenden Kreolsprache, die nahezu von
der gesamten Bevölkerung verwendet wird) auch verschiedene nordindische
Varianten des Hindi, südindische Sprachen wie das Tamil sowie verschiedene
südchinesische Dialekte unterscheiden, wobei das Englische Amtssprache ist
und das Französische nicht nur von einer Oberschicht als Muttersprache gesprochen wird, sondern in den Massenmedien vorherrscht. Ein sprachlicher,
religiöser, kultureller Mikrokosmos, den Khal Torabully mit ästhetischen wie
epistemologischen Mitteln auf den Makrokosmos hin zu öffnen versteht.
Die Welt der Coolitude ist folglich ebenso mit Blick auf die mauritianische
Herkunft Khal Torabullys wie auf die weltweiten Migrationen der Coolies
selbst eine in höchstem Maße nicht nur vielkulturelle, sondern auch vielsprachige Welt, in der das Über-Setzen im unterschiedlichsten Sinne von entscheidender Bedeutung ist. Übersetzen und Übersetzen gehören folglich unbestreitbar zum Kernbestand dessen, was man mit Khal Torabully und Marina Carter
298
als the Coolie Heritage184 bezeichnen darf. Auch wenn der vielsprachige Autor
aus Mauritius in seinen Schriften wie in seinem Schreiben gewiß nicht alle
sprachlichen wie translingualen Dimensionen auszuleuchten vermag, so kann
doch kein Zweifel daran bestehen, wie sehr seine theoretische Prosa und seine
lyrische Praxis von ständigen sprachenquerenden Prozessen geprägt sind –
eine Tatsache, die nicht allein in seinen öffentlichen Lesungen hörbar wird.
Wenn man folglich mit guten Gründen von einem Revoicing the Coolie185
sprechen will, dann gilt es zu berücksichtigen, daß die vielen Stimmen der
Coolitude niemals einstimmig und einsprachig waren und künftig auch nicht
sein können. Auch wenn sich Khal Torabully immer wieder gegen den Einwand oder Vorwurf verteidigen mußte, in seinen Konzeptionen durch einen
gewissen Rückbezug auf den Begriff der von Césaire und Senghor geprägten
Négritude bisweilen essentialisierend vorzugehen,186 und auch wenn man die
Begrifflichkeit von der Suche nach „Identität“187 terminologisch als problematisch erachten kann, steht die große Bedeutung des Denkens und Schreibens
des mauritianischen Autors doch außer Frage: „In der ,post-ethnischen Gesellschaft‘ von Mauritius, wo der ,Einschlag der Moderne‘ konkurrierende ancestrale Kulturen weggerieben hat, schälte sich Khal Torabully als ein
,homme-pont‘, als eine menschliche Brücke, heraus.“188
Denn an die Stelle einer Kette wechselseitiger Exklusionen – „Der Weiße
weist den Schwarzen zurück und dieser den Coolie“189 – setzt der Autor von
Chair Corail, Fragments Coolies ein Schreiben, das sich im Verbund mit
Schreibformen weiß, die (in einer oftmals diasporischen Situation) vielsprachige imaginaires polylogiques et archipéliques entfesseln. Sie öffnen sich hin
auf eine „Kontaminierung von Diskursen, Gattungen, Orten und sogar Sprachen“190, die keinerlei raumgeschichtlicher, territorialisierender Rückbindung
mehr unterliegt.
Indien wird auf diese Weise neu pluralisiert, erfährt als les Indes, las Indias
oder the Indies nun eine selbstgesteuerte Orientierung, in der Ost-Indien und
West-Indien, Asien und Australien, Europa, Amerika und Ozeanien auf literarischer wie auf kulturtheoretischer Ebene in eine wechselseitige Vielgestaltigkeit und Polylogik von Relationen einbezogen und geöffnet werden. Ihr
Reichtum ist auch der Reichtum transarealer Literaturen wie transarealer Studien. Denn das, was diese transareal weitaus komplexer zu verstehenden Literaturen und Theorien entfalten, wird unsere Weltsicht und unser Weltbewußtsein, nicht zuletzt aber gerade auch unser konkretes Welterleben – und dazu
184
185
186
187
Ebda., S. 117.
Ebda., S. 214.
Vgl. Khal Torabully: Quand les Indes rencontrent les imaginaires du monde, Ms. S. 1 f.
Vgl. auch wiederholt noch im Schlußteil von Marina Carter/Khal Torabully: Coolitude,
S. 215 und passim.
188 Ebda., S. 216.
189 Khal Torabully: Quand les Indes rencontrent les imaginaires du monde, Ms. S. 7.
190 Ebda., Ms. S. 9.
299
bedarf es keiner Sehergabe – Stück für Stück verändern und grundlegend
transformieren. Die Coolitude ist alles Andere als ein Problem der Anderen:
Sie erlaubt uns, die Literaturen der Welt weit über die Welt der Literatur hinaus anders und neu zu verstehen und begrifflich zu begreifen. Und damit unsere Welt auf polylogische Weise weiter zu machen.
Insularien im aktuellen Globalisierungsschub
Gibt es eine Zukunft für die Insularien, für jene Insel-Bücher also, deren
Wichtigkeit für die erste Phase beschleunigter Globalisierung in diesem Band
ausführlich diskutiert wurde? Und wie könnte eine Schreibweise aussehen,
welche diese Tradition für die Literaturen der Welt unter den Bedingungen des
aktuellen Globalisierungsschubs fruchtbar und nutzbar macht? Wollten wir
also heute nach den möglichen Formen von Insularien fragen, die in der Lage
wären, eine polylogische, von vielen Logiken wie von vielen Sprachen gequerte globale Sichtweise zu entwickeln, dann käme sicherlich den literarischen Kurz- und Kürzestformen eine besondere Bedeutung zu. Denn die
mikrotextuelle, kleine und kleinste Text-Inseln bildende literarische Form, die
zum Gegenstand nanophilologischer Forschungen geworden ist,191 bietet auch
heute noch die Möglichkeit, eine Welt nicht aus der Perspektive kontinentaler
Kontinuität, sondern vielfach gebrochener Insularitäten polyperspektivisch zu
entfalten.
Stellvertretend für viele andere Autorinnen und Autoren, welche die literarische Praxis der Kürzesttexte – insbesondere im spanischsprachigen Amerika
– zu einer beeindruckenden Blüte geführt haben, seien in der Folge die Experimentaltexte Yoko Tawadas angeführt, deren Schaffen in vielerlei Hinsicht
als eine höchst kreative Reaktion auf die Herausforderungen der vierten Phase
beschleunigter Globalisierung verstanden werden kann. Wie kaum eine andere
Künstlerin versteht sie es, in ihren Arbeiten einen Spannungsbogen aufzubauen, der sich in immer neuen Oszillationen transareal zwischen dem japanischen Archipel und dem deutschsprachigen Raum entfaltet.
Aus der in diesem Band gewählten Perspektive ließe sich das Gesamtwerk
der in Japan geborenen Schriftstellerin als ein einziges großes Insel-Buch, ein
Isolario der Kontinente und Kulturen, der Sprachen und Sprachspiele, der Insel-Welten und Inselwelten begreifen, wobei sich die Langformen ihrer Romane wie bewegliche Kontinente innerhalb der unterschiedlichsten Formen
von Kurz- und Kürzesttexten ausnehmen. Das Meer, die See, bildet in diesem
weltumspannenden Archipel der Tawadaschen Texte stets das zugleich trennende und verbindende, aber selbst in der Trennung noch immer relationierende bewegliche, verflüssigende Element: Eine Welt aus Inseln, die sich nicht
im Wasser, im Flüssigen, im vermeintlich Grenzenlosen auflöst, weil sie sich
dann selbst liquidieren würde.
191 Vgl. hierzu Ottmar Ette (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in
der Romania. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008.
300
Die programmatische Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit, wie sie für ein in
diesem Sinne konzipiertes weltumspannendes Insel-Buch des 21. Jahrhunderts
paradigmatisch sein müßte, findet sich in verdichteter Weise bereits im Titel
ihres Bandes Überseezungen192. Denn spielt dieser Titel nicht zwischen dem
(sprachlichen) Übersetzen und dem (räumlichen) Übersetzen eine Vielzahl
von Deutungsmöglichkeiten aus, die mit verschiedenartigsten Phänomenen der
Translation zwischen unterschiedlichen Areas, unterschiedlichen Sprachen,
unterschiedlichen Kulturen zu tun haben?
Gleichviel, ob wir es hier mit interlingual zwischen verschiedenen Sprachen oder intralingual innerhalb derselben Sprache vorgenommenen „Übersetzungen“, mit „Übersee-Zungen“ räumlich weit entfernter Sprachen, mit einer
Abhandlung „über Seezungen“ für literarische Feinschmecker, mit einem
vielleicht verlockenden Übersehen der untereinander differierenden Zungen,
mit dem Aufruf „Üb Ersetzungen!“ an die Adresse passiver Leser, mit der
Aufforderung „Üb er Setzungen!“, die sich an alle männlichen Leser richten
könnte, die sich der großen Bedeutung von (etwa genderspezifischen) Setzungen oder Definitionen nicht bewußt sein sollten, oder anderen ludisch generierbaren und zwischen der See und die See schwankenden Sinnzuweisungen
zu tun haben: Stets läßt sich der Sinn nicht definitiv fest-stellen, beginnt immer
wieder zu oszillieren, zwischen zwei oder mehreren Polen zu schwanken, so
daß das Übersetzen zwischen verschiedenen Räumen wie das Übersetzen zwischen verschiedenen Kulturen zu einer niemals abschließbaren Bewegung gerät. Die Bewegung des Sinnes und der Sinne ist in Yoko Tawadas Überseezungen-Werk radikal offen – eine Offenheit, die im übrigen auch in den beeindruckenden Performances der Künstlerin zutage tritt.
Läßt sich Tawadas oftmals durch gezielt gestreute Biographeme ins Spiel
gebrachte Lebensform als ein Pendeln zwischen Japan und Deutschland, aber
auch anderen Ländern und Kontinenten beschreiben, so steht ihre Literatur unzweifelhaft im Zeichen eines ZwischenWeltenSchreibens193, wie es für die
Literaturen ohne festen Wohnsitz charakteristisch ist. Daß diese Oszillationen
dabei nicht nur das Leben der 1960 in Tokyo geborenen, erstmals 1979 mit der
Transsibirischen Eisenbahn nach Deutschland gekommenen, seit 1982 für
lange Zeit in Hamburg, seit 2008 in Berlin lebenden194 und an der Universität
192 Vgl. Yoko Tawada: Überseezungen. Tübingen: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
2002.
193 Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Kap. 6:
‘Oszillationen’.
194 Unterschiedliche Akzentuierungen im paratextuellen Apparat von Yoko Tawadas
Büchern sind stets aufschlußreich. Vgl. hierzu die Angaben in der Erstausgabe von Yoko
Tawada: Talisman. Tübingen: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 1996; oder Yoko
Tawada: Neun Fragmente. In: dies./Aki Takase: diagonal. CD. Tübingen 2003, Booklet.
Einen informativen Überblick über Leben und Werk bieten Albrecht Kloepfer/Miho
Matsunaga: Yoko Tawada. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 64. Nachlieferung. München: Edition
text+kritik 2000.
301
Zürich im Bereich der neueren deutschen Literatur über das Thema „Spielzeug
und Sprachmagie“ promovierten195 Schriftstellerin prägen, ist offenkundig.
Denn Yoko Tawadas Schreiben ist gewiß nicht ausschließlich, wohl aber
grundlegend von mikrotextuellen Schreibformen geprägt, die Strategien eines
transarchipelischen Schreibens ermöglichen, das nicht auf die Erzeugung kontinuierlicher Textoberflächen, sondern auf die Schaffung vielfach unterteilter,
durchbrochener, geborstener und durch längere oder kürzere Intervalle voneinander getrennter Text-Inseln charakterisiert wird. So entstanden vielfach
Kurz- und Kürzesttexte, die sich quer durch das Gesamtwerk zu immer neuen
Archipelen und Inselgruppen anordnen lassen.196
Die künstlerischen Ausdrucksformen dieses transarchipelischen, folglich
verschiedene Archipele weltweit querenden Schreibens sind ebenso vielfältig
wie vieldeutig, ebenso humorvoll wie lustvoll, ebenso poetisch wie poetologisch komplex. Den beiden Formen räumlichen wie sprachlichen Über-Setzens
kommt dabei stets eine herausgehobene Bedeutung zu.
Wie vielleicht kein anderer Text führt dieses ebenso ludische wie luzide
Spiel der literarische Essay „Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ vor, ein Prosatext, der dem mittlerweile in siebter Auflage vorliegenden
Band Talisman entstammt.197 In diesem von literatur- und übersetzungstheoretischen Diskursen durchzogenen experimentellen Versuch erscheint das
Übersetzen nicht als etwas dem in einer bestimmten Einzelsprache verfaßten
Text Äußerliches und dem Schreibakt zeitlich Nachgeordnetes, sondern als
etwas dem Schreiben selbst Gegenwärtiges und schon immer Inhärentes.
Übersetzung ist allgegenwärtig: In jedem Text ist immer schon dessen Übersetzung angelegt und eingeschrieben. Und man möchte hinzufügen: Jede
Möglichkeit einer Insel impliziert die Herausforderung, zu ihr übersetzen und
übersetzen zu können.
In diesem Sinne postuliert die Ich-Figur dieses Essays eine spezifische Form
des translingualen Schreibens mit der Fähigkeit, „beim Schreiben ein oder
mehrere fremde Denksysteme [...] im Text präsent zu machen“198. Damit ist der
195 Yoko Tawada: Spielzeug und Sprachmagie – eine ethnologische Poetologie. Diss.
Zürich 1998. Tübingen: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 2000.
196 Zu Dimensionen archipelischen Schreibens bei Yoko Tawada vgl. bereits ausführlich
Ottmar Ette: Zeichenreiche. Insel-Texte und Text-Inseln bei Roland Barthes und Yoko
Tawada. In: Christine Ivanovic (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation.
Beiträge zum Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Yoko Tawada. Tübingen:
Stauffenburg Verlag 2010, S. 207–230.
197 Zur Problematik der Übersetzung vgl. allgemein Miho Matsunaga: Die Dimension der
Übersetzung in Werken von Yoko Tawada. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X.
Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – die Germanistik auf
dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bd. 7. Bern/Berlin/Frankfurt am Main: Peter
Lang 2002, S. 329–335.
198 Yoko Tawada: Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch. In: dies.: Talisman,
S. 130 f. Vgl. hierzu die Analyse dieses Essays in Ottmar Ette: Zeichenreiche, S. 207–
302
– für das Schreiben Yoko Tawadas – zentralen These der Weg bereitet, daß
„Original“ wie „Übersetzung“ bereits im Schreibakt selbst angelegt und nicht
voneinander radikal getrennt sind. Dies aber könne man nur verstehen, „wenn
man sich diese Entstehung nicht in einem Zeitpunkt auf einer fortlaufenden
Zeitlinie vorstellt, sondern in einem Zwischenraum auf einer Schwelle.“199
Dieses Schreiben im Zwischenraum und aus der Bewegung im Zwischenraum ist als ZwischenWeltenSchreiben ein zutiefst translinguales Phänomen,
in dem verschiedene Sprach- und Denksysteme nicht nur nacheinander gequert, sondern füreinander gegenwärtig gehalten werden. In der einen Sprache
sind die anderen Sprachen stets präsent, bilden unterhalb und oberhalb der an
der Oberfläche erscheinenden Sprache textuelle Schwellen, die nicht nur interlinguale, also zwischen zwei Sprachen übersetzende Verbindungen bilden
(ohne daß sich diese Sprachen dabei wechselseitig veränderten), sondern
translinguale Bewegungs-Räume entstehen lassen, die den Transfer zwischen
den Sprachen mit einer wechselseitigen Transformation der Sprachen verknüpfen.
Ein In-sich-Ruhen des Sinnes wie der Sinne ist bei einer derartigen Transformation nicht vorstellbar. Und Wahrheit (wie auch die ‘wahre’ Übersetzung)
kann es nur im Plural geben.
Auf diese Weise wird der Zwischenraum, die Schwelle, zum eigentlichen
Erprobungsraum des Textes, zum Experimentierfeld, ja zum Sprachen-Labor,
in dem viellogische offene Strukturierungen eine Relationalität zwischen archipelisch miteinander zusammenhängenden Inseln testen. Das sprachliche
Übersetzen verbindet sich so unauflöslich mit einem räumlichen Übersetzen,
das zwischen den Text-Inseln, den Sprach-Inseln und den Lebens-Inseln hinund herpendelt. Aber sind dies nicht Poetologien, die das Poetische aus dem
Blick verlieren?
Keineswegs. Wenn die Spielorte von Tawadas Texten zwischen Deutschland und Japan, Südafrika und den USA, zwischen Europa, Asien, Afrika und
Amerika hin- und herspringen, dann ist damit gewiß nicht eine nur im räumlichen Sinne transarchipelische Situation gemeint, in der ein Kontinent wie Afrika zur Insel, eine Insel wie Japan zum Kontinent und alles in einen weltweiten Bewegungs-Raum verwandelt wird. In dieser weltweiten Relationalität, in
der sich alle Texte Tawadas zu einem großen Insel-Buch verbinden, entstehen
die poetischen Abenteuer nicht allein auf der Ebene einer weltumspannenden
Geographie, sondern auf jener einer Querung unterschiedlichster Sprachen und
Zeichensysteme, die in das hochgradig vektorisierte Spiel zwischen den Orten,
zwischen den Worten und zwischen den Welten hineingezogen werden. Einen
Fixpunkt kann es in beweglichen Archipelen nicht geben.
Dies führt Yoko Tawada auch in ihrem im Herbst 2010 erschienenen Gedichtband Abenteuer der deutschen Grammatik, auf den ich mich im folgen230. Der vorliegende Beitrag führt diese Überlegungen anhand neuerer Texte aus dem
Band Abenteuer der deutschen Grammatik weiter.
199 Yoko Tawada: Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch, S. 134.
303
den konzentrieren möchte, eindrucksvoll vor. Denn im Spiel zwischen dem (in
der deutschen Sprache) Gefundenen oder Vorgefundenen, dem (in deutscher
Sprache) Erfundenen und dem (als und in der Sprache) Erlebten oder vom Lesepublikum zu Erlebenden gibt es keinen Stillstand, kann es keinen Fixpunkt
geben. Yoko Tawadas Texte lassen ihre LeserInnen nicht in Ruhe.
In diesem Band, der laut Klappentext das zwanzigste Buch der Autorin in
deutscher Sprache darstellt, spielen Übersetzungen eine wichtige, ja entscheidende Rolle. Denn schon im Titel schwingen unter, über oder neben der deutschen Sprache andere Sprachen unüberhörbar mit. Man könnte hier von einer
heterolingualen Struktur im Sinne Naoki Sakais sprechen,200 insofern stets an
ein mehrsprachiges oder mehrsprachige Segmente umfassendes Publikum gedacht ist. Analog hierzu gibt es keine wie auch immer geartete literarische
Zentralperspektive: Alle Texte Yoko Tawadas sind polyperspektivisch angelegt.
Dies wird besonders im dritten Teil der Gedichtsammlung, ‘Die Mischschrift des Mondes’, deutlich, der nur aus einem einzigen Gedicht besteht, dessen Titel freilich für einen allein europäischer Sprachen kundigen Leser noch
nicht einmal lesbar, entzifferbar ist (Abb. 14). Die „Anmerkung“ der Autorin
klärt darüber auf, um welche Art von Experiment es sich hier handelt:
Das ist eine Transkription der Übersetzung des Gedichts „Die Flucht des Mondes“ (aus:
Yoko Tawada „Nur da wo du bist da ist nichts“ konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 1987.
Übersetzt aus dem Japanischen von Peter Pörtner). Um Japanisch zu schreiben, muss man
die Bedeutungsstämme mit chinesischen Ideogrammen schreiben und alles andere (Hände
und Füße der Wörter) mit einer phonetischen Schrift. Das Gedicht zeigt, dass man mit dieser Mischmethode auch Deutsch schreiben kann.201
Halten wir zunächst fest: Die in Gedicht und Paratext in Szene gesetzte Mischung oder Überkreuzung von Sprachen und Zeichensystemen ist auf den
ersten Blick alles andere als einfach nachvollziehbar. Das in Abenteuer der
deutschen Grammatik abgedruckte Gedicht ist kein inter-, sondern ein intratextuelles Neu-Schreiben, eine réécriture eines Gedichts, das in einem früheren Band Yoko Tawadas dreiundzwanzig Jahre zuvor veröffentlicht wurde.
Dabei handelte es sich freilich bereits 1987 um eine allographe Übersetzung
des mit der Autorin wiederholt zusammenarbeitenden Japanologen Peter Pörtner. Dieses (räumliche und sprachliche) Über-Setzen vom Japanischen ins
Deutsche bildet den oszillierenden Ausgangspunkt für eine Transkription, die
sich als Übersetzen in ein anderes Zeichensystem, das des Japanischen, umschreibt.
Dies freilich erfordert einen Rückgriff auf die chinesischen Ideogramme
und damit ein historisches Übersetzen von Japan nach China und zurück,
200 Vgl. Naoki Sakai: Translation and Subjectivity. On „Japan“ and Cultural Nationalism,
S. 3 f.
201 Yoko Tawada: Abenteuer der deutschen Grammatik. Gedichte. Tübingen: konkursbuch
Verlag Claudia Gehrke 2010, S. 41.
304
wobei es in der Transkription damit nicht nur zu experimentellen Friktionen
zwischen der abendländischen Alphabetschrift und dem im Japanischen
üblichen Zeichensystem, sondern auch zwischen letzterem und den darin
verwendeten Ideogrammen chinesischer Herkunft kommt, die wiederum durch
eine phonetische Schrift komplettiert werden müssen, ohne die die
deutschsprachige Übersetzung des japanischen Gedichts nicht auf Deutsch
ausgesprochen werden könnte.
Gewiß: Die schlichte Bewegung des Übersetzens von einer Insel zur anderen sieht einfacher aus. Entscheidend aber ist, daß der Rückgriff auf eines der
frühesten ins Deutsche übersetzten eigenen Gedichte das Gesamtwerk Yoko
Tawadas in eine Kontinuität diskontinuierlicher autographer wie allographer
Übersetzungsvorgänge stellt, ohne welche die transarchipelische Welt der in
Tokyo geborenen Schriftstellerin und Dichterin nicht vorstellbar wäre.
Abb. 14: Yoko Tawada: Die Flucht des Mondes.
305
Mit anderen Worten: Der soeben vielleicht etwas umständlich umschriebene Ablauf demonstriert den Vorgang eines recht komplexen Über-Setzens
zwischen dem Deutschen, dem Japanischen und dem Chinesischen, wobei
sich dieser Prozeß auf ein Gedicht bezieht, das seinerseits – anders als die
autographen Transkriptions- und Translationsvorgänge – das Ergebnis der
Arbeit eines anderen (also allographen) Übersetzers ist. Das Resultat der
gesamten Abläufe wiederum ist eine Transkription in miteinander
verschränkte Schriftzeichen europäischer und asiatischer Provenienz, die in
der Abfolge von links nach rechts und von oben nach unten auf Deutsch
ausgesprochen werden können und müssen.
Damit verbinden sich transareale, unterschiedliche kulturelle Areas querende Bewegungen mit transkulturellen und translingualen Aspekten zu einer
Gedichtform, die wohl nur für Leser zugänglich ist, die des Deutschen und
des Japanischen mächtig sind. Darüber hinaus aber – und dies scheint mir
wichtig zu sein – konfigurieren die unterschiedlichen Schriftzeichen in ihrer
Abfolge Inseln und Archipele, die in ihrer Relationalität wie in ihrer
gleichsam abstrakten, abgezogenen Zeichenhaftigkeit zu graphischen TextInseln, zu archipelischen Graphismen werden.
Soviel zunächst zur Poetologie. Und die Poesie? An dieser Stelle ist es unverzichtbar, auf jenes erstmals 1987 veröffentlichte Gedicht zurückzugreifen,
das Yoko Tawada in einer Nachricht vom 3. März 2011 als die „deutsche
Übersetzung“202 der ‘Mischschrift’ aus Abenteuer der deutschen Grammatik
bezeichnete:
Die Flucht des Mondes
Ich sang in der Toilette
da kam der Mond
herangerollt
nackt
auf einem Fahrrad
Er hatte den Weg mitten durch den Metaphernpark genommen
um mich zu treffen
Draußen die Straße entlang
spazierte zähneputzend eine schöne Frau
Auf der Bank im Park
trank ein Mann in Umstandskleidung Apfelsaft
Am Ende eines Jahrhunderts ist Gesundheit eben angesagt
Im Himmel klafft ein Loch
Die mondgestaltige Angst der mondgestaltige Kummer sind weg
Alles Gestaltige flattert munter
um das Loch herum
202 Mail von Yoko Tawada an O.E. vom 03.03.2011.
306
Die Falte des Abgrunds glättet sich
Auf der blanken Oberfläche der Sorge
treten die Dichter auf Schlittschuhen an
Mond – meiner – neben mir203
Eine vergleichende Durchsicht des in ‘Die Mischschrift des Mondes’ abgedruckten Gedichts zeigt, daß sich in dieser Fassung gegenüber der in Abenteuer
der deutschen Grammatik abgedruckten mehrere Varianten beziehungsweise
Abweichungen – die hier nicht in allen Details verfolgt werden können –
ausmachen lassen. ***Entscheidend jedoch scheint mir bei diesen Oszillationen translingualen Über-Setzens, daß zum einen die Übersetzung ganz im
Sinne des Essays über Paul Celan im Schreibvorgang selbst schon angelegt ist,
daß es also wenig Sinn macht, zwischen einem „Original“ und einer nachfolgenden „Übersetzung“ klar zu unterscheiden.
Noch wichtiger vielleicht ist aber zum anderen die Tatsache, daß das Gedicht am eigenen Körper – gleichsam unter Zuhilfenahme seiner „Hände“ wie
seiner „Füße“ – verdeutlicht, daß es unmöglich ist, diesen lyrischen Text und
damit letztlich die Welt von einer einzigen Sprache, einer einzigen Area, einer
einzigen Kultur aus zu verstehen. Globalisierung als einsprachiger Prozeß, als
Prozeß einer einzigen sich monolingual durchsetzenden Logik, ist nicht mehr
und nicht weniger als eine Falle, in der sich die Literaturen der Welt mit ihrer
Fülle an Wahrheiten, mit ihrer korallenen Konvivenz, freilich nicht verfangen
werden.
Das Gedicht macht nicht nur unübersehbar auf seine transareale, unterschiedliche kulturelle Areas querende Verfaßtheit aufmerksam, sondern zwingt
geradezu zur Reflexion über transareale Beziehungen, die in einem traditionell
komparatistischen, vergleichenden Sinne nicht mehr adäquat beleuchtet und
verstanden werden können. Hat sich in diesem Netz der Bewegungen vielleicht
deshalb im Gedicht der Mond auf die Flucht begeben?
Nicht umsonst war in Nur da wo du bist da ist nichts – die Inselkette
monosyllabischen Wortmaterials gibt den LeserInnen gleichsam einen japanisierenden Schlüssel für die Lektüre mit – eine ungeheuer starke Vektorisierung aller Sinnbildungsprozesse vor Augen geführt worden, demonstrierte die
Leserichtung deutschsprachiger und japanischer Gedichte von links nach
rechts, von rechts nach links, von oben nach unten und von unten nach oben
bei gleichzeitiger Lesbarkeit und Zählweise der Buchseiten von hinten nach
vorne und von vorne nach hinten die Nicht-Gültigkeit eines einzigen Prinzips,
einer einzigen Logik der Anordnung. Gegenläufige Bewegungsrichtungen
unterlaufen jeglichen Versuch, polyperspektivische Wahrnehmungsprozesse
203 Yoko Tawada: Tsuki no toso/Flucht des Mondes. [Dt. Übers. von Peter Pörtner]. In:
dies.: Nur da wo du bist da ist nichts. Tübingen: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
31997, S. 71. Die mir in der Mail vom 03.03.2011 mitgeteilte Fassung des Gedichts
enthält einige Varianten, die hier jedoch nicht weiter verfolgt werden können.
307
auf monologische Verstehensprozesse der Unterordnung zu reduzieren. Texte
als Insel-Welten und Inselwelten, irreduzibel viel-logisch, nicht zu einer Vernunft zu bringen.
In der „Mischschrift des Mondes“ entfaltet das Gedicht folglich eine
Eigen-Logik, die zugleich aufgrund ihrer Translingualität relationalen
beziehungsweise transarchipelischen Zuschnitts ist. Als lyrisch verdichtete
Text-Insel läßt sich das Gedicht folglich zugleich als Insel-Welt und als
Inselwelt verstehen: Es ist in sich abgeschlossen, entfaltet seine eigene Logik
der ‘Mischung’ oder wechselseitigen Verschränkung, ist aber nur deutbar,
wenn unterschiedliche Segmente kulturellen und sprachlichen Wissens
integriert werden können. Von einem einzigen Standpunkt aus lesend, ist nur
zu verstehen, daß man nichts versteht.
Das Treffen zwischen einem auf der Toilette singenden Ich und einem
Fahrrad fahrenden Mond in den ersten beiden Strophen des Gedichts wird in
der dritten Strophe durch die Begegnung zwischen einer schönen Frau und einem auf einer Bank sitzenden Mann abgelöst, so daß sich hier Kontraste der
Bewegung (sitzend versus mobil) in Überkreuzstellung entsprechen. Die eine
Bewegung wird in die andere übersetzt. Das durch die Bewegung des Mondes
entstandene Loch zieht in der dritten Strophe beunruhigende Bedeutungszuweisungen an, die in der vierten Strophe jedoch geglättet und zur Oberfläche
eines dichterischen Schaulaufens werden, so daß am Ende in der letzten Strophe die Possessiv- und Personalpronomina der ersten Person Singular das Ich
des Eingangsverses wieder aufzunehmen vermögen. Die als Flucht gekennzeichnete Bewegung des Mondes – genauer: eines Mondes, der vom Ich als
„meiner“ angeeignet wird – führt eine Bewegung zu ihrem Ende, welche in
einer Transgression der Trennung von Himmel und Erde besteht. Denn die
kreisrunde Scheibe des Mondes hat sich mit dem im Apfelsaft verflüssigten
Erdapfel verbunden – Martin Behaims in Form eines Apfels ausgeführter
Globus von 1492 läßt als Matrix dieser Verflüssigung schön grüßen. Auf den
Apfel als Frucht semantischer Verdichtung werden wir sogleich noch einmal
zurückkommen.
Indem das Gedicht zusammenführt, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört und in jedem Falle weit voneinander entfernt ist, leitet es über zu
einer Vereinigung, die – wie die Umstandskleidung andeutet – ein Künftiges
hervorbringt, das weder allein vom Ich noch vom Mond, weder allein von der
Frau noch vom Mann her erfaßt werden kann. Insofern darf – ohne andere
Deutungsansätze auszuschließen – das einzige Gedicht des Teiles ‘Die
Mischschrift des Mondes’ als ein lyrisch verdichteter Text verstanden
werden, der sich für die hier skizzierten Vorgänge transarealen,
transkulturellen und translingualen Über-Setzens in hervorragender Weise
eignet. Und ruft das Loch im Himmel nicht die inverse Form einer Insel auf,
wobei das sie umgebende Wasser – erst einmal zur blanken Oberfläche
gefroren – zum Spiel- und Erprobungsraum über die Leere hinweggleitender
Dichter gerät?
308
weltweit
An dieser Stelle ließe sich ein weiterer, in den zweiten Teil des Gedichtbands
(‘Eine poetische Nachbarschaft’) aufgenommener Prosatext mit dem Titel ‘eine
fernaufnahme aus der nähe’ einfügen, beleuchtet er doch die bereits in ‘Die
Flucht des Mondes’ bearbeitete Spannung zwischen dem Fernen und dem Nahen aus einem anderen Blickwinkel. Der etwas mehr als eine Seite umfassende
Text ist durchgängig in Minuskeln ohne Interpunktion und ohne Absätze verfaßt und läßt sich aufgrund seiner Kürze, der sprachlichen Verdichtung und der
bestimmenden narrativen Strukturen aus spezifisch nanophilologischer204 Perspektive als Mikroerzählung verstehen. Da er aus
inhaltlicher wie struktureller Sicht
als Prosatext eine Vielzahl von
Bezügen und intratextuellen Relationen zu der im selben Band
publizierten (und damit kotextuellen) „Mischschrift“ von ‘Die
Flucht des Mondes’ aufweist, soll
diese Mikroerzählung in der gebotenen Kürze etwas näher untersucht werden.
Wie im zuvor untersuchten
Gedicht erscheint gleich zu Beginn des Textes die Protagonistin,
bei der es sich hier freilich nicht
um ein Ich, sondern um „das
mädchen“205 handelt, dem ebenfalls kein individualisierender
Name beigegeben wird. So lauten
Abb. 15: Yoko Tawada. Foto: Isolde Ohlbaum.
die ersten Zeilen dieser Mikroerzählung:
das mädchen blickt hinein in einen raum der größer ist als die hansestadt in ihren augen ein
segelschiff auf der blauen sehnsucht vertrauen im lächeln der mund halb geöffnet was kann
alles mit dem nordseewind hineinkommen [...]206
Im bereits durch den Titel evozierten Spannungsfeld von Ferne und Nähe
verweisen Blick und Augen des Mädchens im Sinne Helmuth Plessners
204 Vgl. zu diesem Konzept Ottmar Ette (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und
Kürzestformen in der Romania.
205 Yoko Tawada: eine fernaufnahme aus der nähe. In: dies.: Abenteuer der deutschen
Grammatik, S. 33.
206 Ebda.
309
auf den menschlichen Fernsinn des Sehens,207 während der halbgeöffnete
Mund, in den etwas hineingeraten kann, den Geschmackssinn einblendet,
der sich als Nahsinn – wie auch Nase und Ohr – körperlich-leibhaftig auf
einen Innenraum hin öffnet. Im Verbund mit anderen eingestreuten Biographemen, die schon in diesem incipit eine in der Hansestadt Hamburg
fokussierte Diegese und damit einen der langjährigen ‘Pendelorte’ Yoko
Tawadas nahelegen, ließe sich dieses Mädchen mit dem halbgeöffneten
Mund sehr wohl mit von der Autorin stets sorgfältig gestalteten ikonischen
und skripturalen Paratexten in Verbindung bringen, die eine immanente
Poetik Yoko Tawadas visualisieren.208 Auch wenn man nicht notwendigerweise vom „Mythos der Autorin Tawada“209 sprechen muß, so fällt doch
auf, wie fein die paratextuellen Elemente aufeinander abgestimmt zu sein
pflegen, so daß stets poetologische Beziehungen zwischen Paratext und
‘eigentlichem’ Text, in diesem Falle der hier untersuchten Mikroerzählung, hergestellt werden können.
An dieser Stelle ließe sich in diesem Fall eine Relation weniger mit der
dem Band Abenteuer der deutschen Grammatik beigegebenen Photographie der Autorin als eher mit Isolde Ohlbaums Portraitphoto von Yoko
Tawada herstellen, das sich oberhalb des vorderen Klappentexts des Bandes Talisman findet (Abb. 15). Es präsentiert eine junge Asiatin, die aus
einem Zwischenraum zwischen zwei rohen Mauerwänden und damit aus
einem Spalt hervorlugt, der sich in der leichten Öffnung ihres Mantels,
aber auch ihres Mundes wiederholt. Man könnte hier auf jene Bedeutung
und textgenerierende Produktivität verweisen, die Roland Barthes in seinem japanischen Insel-Buch Das Reich der Zeichen dem interstice, dem
Spalt, der Öffnung und dem Zwischenraum auf epistemologischer wie
erotischer Ebene beimaß,210 um die evident poetologische Dimension dieser Körper-Inszenierung im Spiel von Innenraum und Zwischenraum, aber
auch von Nähe und Ferne zu erfassen.
Just dieses Spannungsfeld wird ausgehend von den ersten Zeilen der
Mikroerzählung aufgebaut, erscheint hier doch ein „raum der größer ist als
die hansestadt in ihren augen“, während der „nordseewind“ wie „ein böser
luftzug“ in den Körper des Mädchens einzudringen versucht. 211 Zugleich
scheint in umgekehrter Vektorizität eine Stimme aus dem Mund zu kom207 Vgl. Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne (1970). In: ders.: Gesammelte
Schriften. Bd. III: Anthropologie der Sinne. Herausgegeben von Günter Dux, Odo
Marquard und Elisabeth Ströker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 317–393.
208 Vgl. zur Wichtigkeit des Paratextes auch Ruth Kersting: Fremdes Schreiben. Yoko Tawada. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006, S. 60 f.
209 Ebda., S. 60. Zur Bedeutung der Photographie vgl. auch Ottmar Ette: Zeichenreiche, S.
222 f.
210 Zur Verbindung mit dem leeren Zeichen vgl. den Mikrotext ‘L’interstice’ in Roland Barthes: L’Empire des signes. In: ders.: Œuvres complètes, Bd. II, S. 762–764.
211 Yoko Tawada: eine fernaufnahme aus der nähe, S. 33.
310
men, die – nach tausendjährigem Schweigen – „den nebel bricht und die
wolken aus dem weg räumt“212. Das Mädchen ist nicht länger stumm, es
beginnt, in eine sich eröffnende Weite hineinzusprechen.
Der Raum, der von Beginn an größer als der Stadtraum ist, öffnet sich auf
eine planetarische, ja kosmische Dimension, wobei „der fast skandinavische
himmel“ in unmittelbare Kontiguität gestellt wird mit einem „bio-apfel“, der
„am baum der weisheit“ hängt.213 Auch hier steht der (wiederum mit der Gesundheit konnotierte) Apfel zweifellos für den Erdapfel des Globus, blendet
zugleich aber auch jene Ur-Szene des Erzählens und der Konvivenz ein, die
uns mit Blick auf das Paradies und die Vertreibung der ersten Menschen im
Buch Genesis erzählt wird.214 Die fernaufnahme reflektiert nicht nur das räumlich so weit Entfernte der Erde und des Himmels, sondern auch die Vor-Zeit
des Menschengeschlechts, in deren Nach-Zeit alle Literatur wie alle Versuche
des Zusammenlebens notwendig nach-paradiesisch sind. Im Mikrokosmos der
Mikroerzählung – und dies ist ein durchaus gattungsspezifisches Element215 –
scheint der Makrokosmos der Schöpfungsgeschichte auf.
Wenn im weiteren Fortgang des Tawadaschen Prosatextes „eine goldene
schlange lebendig geflochten am rechten ohr“ dem Mädchen flüsternd eröffnet, „wie man die sprache mittelbar macht“,216 dann wird hier im Zeichen des
Baumes der Erkenntnis am sinnlichen Lustort Ohr eine Geschichte der
Menschheit, eine Geschichte der Sprache und eine Geschichte der Literatur
wie ihrer Kommunikationsformen skizziert, die in semantisch verdichteter,
fraktaler Form in die Mikroerzählung Eingang findet. Literatur birgt ein rebellisches Wissen, das vom Baum der Erkenntnis gekostet hat und – im Flüstern
der Schlange am Ohr wird es wieder lebendig – höchst körpernah bleibt.
Die Sinnlichkeit der Szenerie, die mit dem Ohr nach dem Mund einen ‘eindringlichen’ Körpersinn in Szene setzt, läßt so vom Raum der Text-Insel aus
den längst unzugänglich gewordenen Raum des Paradieses entstehen, von dem
aus eine Schöpfungsgeschichte im Zeichen der Vertreibung, der Migration, der
Ferne und Entfernung erkennbar wird. Die Text-Insel der Mikroerzählung baut
Insel-Räume auf, welche die Hansestadt und Skandinavien, das irdische Paradies und den Himmel miteinander im Zeichen der Bewegung, im Zeichen jenes „segelschiff[es] auf der blauen sehnsucht“217 weltweit vernetzen. Der Text
bietet eine Nahaufnahme des Fernen.
Die Geschichte der Literatur, die das Kind schon „aus der bibliothek der
gebärmutter“ bezogen hatte, wird lustvoll („an den lippen die lust“) von „plan
212
213
214
215
Ebda.
Ebda.
Vgl. hierzu meinen Band Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies.
Vgl. hierzu Ottmar Ette: Del macrocosmos al microrrelato. Literatura y creación –
nuevas perspectivas transareales. Traducción del alemán de Rosa María S. de Maihold.
Ciudad de Guatemala: F&G Editores 2009.
216 Yoko Tawada: eine fernaufnahme aus der nähe, S. 33.
217 Ebda.
311
eines engels an der elbe“ konstruktiv auf eine Welt projiziert, die im Spiel von
Ebbe und Flut im Zwischenraum eines immer wieder überspülten Sandstrandes entsteht und durch „leuchtende hände“ geformt wird.218 Der
Zwischenraum ist formbar, wird als Erprobungsraum auch kollektiv modellierbar. Damit erfolgt eine Inwertsetzung von Raum als Saum im Sinne eines
unsteten, sich immer wieder verflüssigenden „Dazwischen“ als hochmobilem
Vektorenfeld.
Das zunächst „fremde werk“ des Mädchens wird für „die kinder aus der
nachbarschaft“ zum eigenen Werk, an dem alle mitarbeiten, so daß ein Raum
der Schöpfung, aber auch des lustvollen Zusammenlebens – und damit ein
letztlich paradiesischer Raum – im Zwischenraum des Sandstrandes entsteht.
Vorgegebene Lego-Formen, die nur das ferngesteuerte Nachbauen der „legosaurier“219 ermöglichen, verlieren für die Kinder an Interesse. Als das Mädchen dann um „sieben uhr“ den Himmel „wie eine jalousie“ herunterzieht und
die Kinder nach Hause gehen, erscheinen „rosen und lilien als Muster“220 auf
jenen Tüchern, die von der Mutter gebügelt werden – Zeichen eines fernen locus amoenus, eines Paradieses, das wie eine ferne Insel doch aus der Nähe
aufgenommen und versprachlicht, mittelbar und zum LebensMittel gemacht
werden kann.
Das Bügelbrett der Mutter wird am Ende zu einem „floß zwischen tag und
nacht“221. Auch im globalen Spiel von Licht und Finsternis eröffnet sich ein
Zwischenraum, von dem aus „das meer“ und der „horizont des dialogs“ am
Ende der Mikroerzählung erreichbar werden: „die laternen der lettern flackern
in der ferne die schatten der meeresfrauen der wind aus acht himmelsrichtungen“222. Die Buchstaben erscheinen so wie Lichtpunkte, wie Inseln auf der
Fläche des Meeres, über die der Wind aus allen und in alle Himmelsrichtungen
weht.
Die Literatur und ihre Lettern sind selbst zu jener Bewegung geworden, die
im Vektorenfeld der Schiffe und der Winde die Inseln in Zeit und Raum miteinander verbinden, untereinander sprachlich vermittelbar machen. Der körperlich-leibhaftige Zwischenraum des Mundes, der zwischen den Gezeiten,
zwischen Ebbe und Flut entstehende raum-zeitliche Zwischenraum des
Strandes und der im Zeichen des Baumes der Erkenntnis, im Zeichen der Vertreibung aus der Vorzeit des Paradieses entstandene Zwischenraum der Literatur schaffen so eine Geschichte, in der das Ferne und das Nahe
transarchipelisch und diskontinuierlich in Raum und Zeit miteinander verbunden werden und direkt kommunizieren. Dieser in einem fundamentalen
Sinne transareale Insel-Raum wird beim Lesen immer wieder neu erlebbar.
218
219
220
221
222
312
Ebda.
Ebda.
Ebda.
Ebda., S. 33 f.
Ebda., S. 34.
Yoko Tawadas Literatur, die sich aus den vielfachen Bewegungsmustern
eines Hin und Her des viellogischen Über-Setzens speist, schafft eine Welt, die
sich aus der Relationalität ihrer Inseln, ihrer Archipele, als eine transarchipelische Inselwelt verstehen läßt, in der die unterschiedlichsten Sprachen und die
verschiedenartigsten Zeichensysteme, die Ferne aus der Nähe und die
Nachbarschaft aus der Fremde in eine Bewegung der Konvivenz gezogen
werden, die im Zeichen des Apfels, des Apple, und damit nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Vertreibung aus dem Paradies entstanden ist. Ihre
Texte bilden in ihrer Gesamtheit ein Insel-Buch, in dem – jenseits des Dialogs
– ein Polylog der Sprachen und Kulturen experimentell erprobt und lesbar,
transareal erlebbar gemacht wird.
Anders als für Benedetto Bordone ist für die auf Japanisch und Deutsch
schreibende Autorin im Kontext der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung der transarchipelische Bewegungs-Raum nicht länger von einem Ort (Venedig oder Europa), von einem Wort und einer einzigen Sprache her, von einer
Kultur aus verstehbar und beherrschbar. Auch nicht von der in tausenderlei
Formen in ihrem Schreiben wiederkehrenden Figura des Ich. So heißt es in einem Gedicht aus dem Band Abenteuer der deutschen Grammatik, das mir
Yoko Tawada einmal als poetologisches Anregungsmittel vorab übersandte:
Die zweite Person Ich
Als ich dich noch siezte,
sagte ich ich und meinte damit
mich.
Seit gestern duze ich dich,
weiß aber noch nicht,
wie ich mich umbenennen soll.223
Das Ich durchzieht das Dich nicht weniger als das Mich, hat im Gewebe der
Pronomen folglich keinen festen Wohnsitz, keinen Fixpunkt. Wie eine bewegliche, wandernde Insel, wie wir sie so oft auf europäischen Kartenbildern des
Mittelalters sehen können, aber auch in so vielen literarischen Schöpfungen
wiederfanden, die in diesem Band präsentiert wurden, durchlaufen das Wort
wie der Klang des Ich die gastfreundlichen Wörter „mich“, „dich“ und „nicht“.
Mitnichten läßt sich folglich das Ich räumlich verdichten oder vernichten –
denn verzichtbar ist das Ich nicht, wenn Abenteuer der deutschen Grammatik
erlebt und transareal erlebbar gemacht werden sollen.
In diesen wie in vielen anderen „Abenteuern“ wird eine ludische Luzidität
erkennbar, die ohne ihre translinguale Sensibilität und Sinnlichkeit die Experimentierfläche der Literatur nicht auf so intensive Weise polyperspektivisch
nutzen könnte. Im Archipel sich ständig verändernder Figuren geht in Yoko
223 Yoko Tawada: Die zweite Person Ich. In: dies.: Abenteuer der deutschen Grammatik, S.
8.
313
Tawadas Isolario jegliches Zentrum, nicht aber das Du, nicht aber der Sinn mit
seinen vielen vektoriell eingetragenen Himmelsrichtungen verloren.
Aus der textuellen Matrix ihrer Literatur, aus den Zwischenräumen ihrer
translingualen Findungen und Erfindungen hat sich längst eine transareale
Bibliothek entfaltet, deren Texte sich als Insel-Welten zu immer neuen Inselwelten anordnen, ohne im Leben und Erleben das Ferne, das Fremde, das
Andere unterzuordnen. So wird im Erprobungsraum der Literatur eine Welt
konfiguriert, die im buchstäblichsten Sinne weltweit ist, ohne doch auf den im
Goetheschen Sinne verstandenen Begriff der Weltliteratur reduzierbar zu sein.
Das klangschöne Wort weltweit bildet – und hierin besteht im Deutschen sein
Abenteuer – die Wiederholung der welt im weit, jedoch so, daß sich die Differenz zwischen l und i wortwörtlich als eine Minimaldifferenz lesen läßt. Dieses minimale Differieren programmiert und konfiguriert im Spannungsfeld
zwischen der graphischen Kontinuität des nicht durchbrochenen l und der relationalen Insularität der beiden ungleichen Inseln des i die Welt, unsere Welt,
immer wieder neu, immer wieder anders. Denn die fragmentierte, diskontinuierliche Anlage größerer und kleinerer Inseln, wie sie im i gespeichert ist,
unterläuft die sich im l verkörpernde Kontinuität einer homogenen, kontinuierlichen, gleichsam kontinentalen Welt-Sicht so, wie das Insularium als
Imaginarium einem hegemonialen Welt-Entwurf die Widerständigkeit und
Lebenskraft divergierender dynamischer Entwürfe entgegensetzt. Die Zukunft
transarealer Literaturen und Kulturen, deren historische Spuren in diesem
Band prospektiv untersucht werden sollten, ist längst angebrochen. Auch die
ihrer Theorien.
314
Abbildungsverzeichnis
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Abb. 13: Buchumschlag von Mario Vargas Llosas El sueño del celta. Madrid: Alfaguara 2010.
Abb. 14: Yoko Tawada: Die Flucht des Mondes. In: Abenteuer der deutschen Grammatik. Tübingen: Konkursbuch 2010.
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Sachregister
Area Studies 40, 47, 54-55, 240-244
Asymmetrien 17-18, 22, 29-30, 45, 66,
103, 124, 131, 136-138, 169, 174, 181,
184, 199, 231, 251, 261, 267-268, 285286, 291, 293
Bewegungsfiguren 36, 45-46, 48-49, 83,
89, 109-111, 144, 200-201, 207, 241243, 255
Bewegungsgeschichtliche Dimensionen
Translokal 46, 49-50, 73-74, 76-77,
202, 229, 267, 270
Transnational 13, 47, 49-51, 56, 227
Transkontinental 32, 47, 49-51, 67, 93,
100, 113, 166, 180, 190
Transareal 12, 24, 38, 41-42, 47-55,
66, 69, 76, 79, 89, 91, 101, 104,
106, 113-116, 124-130, 135, 140142, 146-148, 153-154, 156, 160,
171, 174-176, 179, 194, 197, 199201, 205, 207-208, 210, 215, 220221, 228-230, 232, 240, 242-244,
247-249, 253, 256, 259, 263, 264,
266-269, 271, 279-280, 284-285,
290, 292, 299-301, 303, 308-310,
313, 314-316
Bewegungsräume
Tropen 85, 89, 93, 111, 146-147, 160,
247, 289
Amerikas 127, 137-139, 178, 249
Archipele 154, 201, 204, 246
Karibik 210, 254
Biopolitik 48, 89, 105, 114, 138, 211, 221,
253, 283, 292
Black Atlantic 23, 48, 93, 148, 242,
Coca-Colonialism 226-228
Coolitude 48, 293-302
Cultural Turn 34, 35
Disziplinär
Inter- 40, 53
Multi- 40
Trans- 40, 50, 54
Erlebenswissen 12, 65, 67, 159, 206
Faktizität 63-64
Fiktionalität 45, 63-64, 79, 137
Finden, Erfinden und Erleben 65, 79, 87,
88, 250, 258, 276, 292
Fraktale Strukturierungen 49, 70, 76, 79,
149, 153, 159, 202-204, 274-275, 277,
279, 313
Friktionalität 45, 137, 257, 307
Globalisierung (Allgemein) 10-14, 14-16,
38, 41, 43-44, 46, 51, 53, 55, 60, 103,
105, 147, 187, 244, 253-255, 299, 309
Erste Phase 16-21, 45, 48, 50, 60-62,
64, 67-69, 71-72, 76, 82, 91, 94-95,
97-98, 101, 104, 109, 150, 181,
186, 220, 236, 239, 242, 261, 295
Zweite Phase 21-26, 45, 87-88, 111114, 124, 132-138, 140, 142, 146149, 157-160, 181, 235, 239, 252,
262, 270
Dritte Phase 26-29, 52, 166-170, 175,
177, 179-182, 191-192, 195-199,
201, 204, 211, 213, 221, 225, 236,
283, 291, 294-295, 300
Vierte Phase 29-34, 41-42, 52, 106,
207, 225-229, 231, 236, 248, 271,
282, 284-287, 291, 302, 315
Hemisphärische Raumkonstruktionen 36,
37, 43, 52, 133, 153, 169, 174, 188,
190, 194, 197, 242, 248, 267, 268-269,
271, 278-279
Heterogenität 119, 127-130, 136, 137,
186-187, 204
Hybridisierung, Hybridität 140, 150, 155,
156, 187, 293
Inklusion- /Exklusionmechanismen 41,
116, 128, 153, 158, 160, 185-187, 197,
228, 250-251, 259, 261, 263-264, 265,
267, 290, 293, 301
Inselwelt 18, 24, 29, 50, 52, 64-65, 67, 70,
71-72, 76-77, 79-82, 96, 140, 153, 166,
327
195, 199, 203-205, 207, 209-210, 212213, 215-216, 218-219, 221, 234-237,
241-242, 245, 257, 265, 270-271, 276,
279-280, 283, 285, 299, 303, 310, 314315
Insel-Welt 76, 80, 82, 140, 153-154, 205,
207, 218-219, 234, 265, 270-271, 275276, 279-280, 299, 303, 310, 315
InselInsel 76, 220, 253, 276, 281
Koloniales Kaleidoskop 18, 52, 79-81,
187, 199, 202, 205-207, 242, 269
Konvivenz 10, 33, 72, 74, 88, 89, 92, 95,
101, 116, 119, 128, 133, 138-139, 149,
150-151, 154, 158-160, 196-198, 218,
261, 263-264, 271, 276, 278, 282, 299,
309, 313-314
Koralle (Theorem) 296-299, 309
Kulturalität
Mono- 41, 126
Multi- 41, 187
Inter- 41, 100
Trans- 12, 33, 37, 41-42, 44-45, 60,
103, 106, 126, 140, 171, 173, 195,
211, 213, 221, 279, 308, 310
Landschaften der Theorie 50-51, 79, 158,
204, 209, 233, 251, 259, 261, 267, 271,
274, 278, 280, 299-300
Lebenswissen 10, 49-50, 54, 60, 67, 105,
134, 138, 159, 192, 217, 233, 241, 243,
245, 254, 263, 282,
Literatur als ÜberLebensMittel 14, 284285, 314
Literaturen der Welt 13-14, 34-35, 38-39,
43-46, 50-51, 54-55, 88, 135, 208,
263-264, 284-285, 289, 302, 309
Literaturen ohne festen Wohnsitz 30, 3739, 40, 43, 49, 200, 208, 210, 304
Mobile Mapping 35, 40, 53, 219, 230, 232
Medialität
Mono- 43
Multi- 43
Inter- 43, 215, 258
Trans- 43-44, 65, 74, 87, 215
Mestizierung (mestizaje) 138-140, 187
Migrationsprozesse 33, 36-39, 50, 105,
127, 210, 242-244, 253-254, 280, 294301, 313
Mikrokosmos/Makrokosmos 49, 71, 75,
153, 202, 213, 220, 301, 313
Mise en abyme 149, 202, 204
328
Mythos 38, 63-64, 67, 78, 109, 121, 131,
178, 195-196, 214, 234, 236-238, 258261, 265, 270, 273, 276,
Négritude 272, 301
Poetik der Bewegung 34-35, 43, 46, 52,
55, 174, 241, 243, 249, 254-257, 266,
269
Poetik der Relation (Poétique de la Relation) 207, 257, 272, 278
Polylogik 12, 38, 79, 82, 125, 135, 159,
198, 214, 235, 261, 264, 267, 270-271,
297, 302
Polypespektivität 38-39, 74, 79, 125, 146,
159, 197, 214-215, 269, 302, 306, 310,
315
Polyrelationalität 215, 234
Praktischer (Amerikanischer) Humanismus 174-175, 177, 187, 191-193, 197198
Rhizom (Theorem) 32, 212, 297-298
Spatialität
Multi- 45, 285
Inter- 45
Trans- 45, 178, 253
Spatial Turn 34, 35-37, 53, 230
Sprachliche Dynamiken
Monolingual 42, 309
Intralingual 42, 303
Multilingual 42
Interlingual 42, 303, 305
Translingual 37-38, 42-44, 52, 103105, 201, 203, 301, 305, 308, 309311, 315
Temporalität
Multi- 44, 285
Inter- 44
Trans- 44-45, 127, 130-131, 178
TransArchipelische Dynamiken 18, 24,
27-28, 37-38, 48-49, 56, 76, 80, 82-83,
121, 140, 150, 153, 194, 199-201, 205206, 207-221, 231-233, 235, 254-255,
259, 261, 265-266, 271, 277-281, 286,
297, 299-300, 304, 306, 308-314
TransArea Studies 54-56, 240-243
Transferprozesse 13-14, 18, 23, 29, 44, 54,
87, 96, 124, 128, 135-137, 139, 174,
182, 207-208, 210, 253, 268-270, 273,
278, 295, 297, 305
Transkulturation 41, 253-255
Tropen (Bewegungsfiguren) 45-46, 48-49,
83-96, 109-113, 122, 144, 200-201,
207, 237, 241, 243, 255
ÜberLebensWissen 10, 12, 67, 134, 159,
254, 263, 282, 284
Übersetzungs- Translationstheorie 14, 38,
42-43, 49, 67, 71, 101, 103-106, 201,
303-309
Vekrtorisierungen, Vektorizität 15, 34-39,
43, 45-46, 48-50, 54-55, 61-62, 66, 68,
70, 79, 154, 166, 168, 200-201, 203,
207, 210, 218-219, 221, 235, 240-241,
243, 247, 250, 253-255, 257, 266, 271,
284, 300, 306, 309, 312, 314-315
Welt-Bild 36, 62, 68, 230
Weltgeschichte 17, 32, 66, 149, 178, 268
Weltliteratur 24, 38, 43, 51, 62, 316
Wissenszirkulation 17-19, 22, 41, 50, 64,
77, 124, 191, 210, 227, 242-243, 270
Zivilisation/Barbarei 9, 34, 88-89, 127, 94,
121, 129, 139, 143, 147, 161, 169, 233,
235-237, 239, 240, 262
ZusammenLebensWissen 10, 32, 50, 101,
116, 135, 159, 192, 263, 276, 278, 282,
ZwischenWelten 30, 37, 40, 49, 76, 96,
104, 159-160, 201, 208, 220, 253, 304305
329
Namensregister
Abonji, Melinda Nadji 43
Acosta, José de 18,
Africanus, Johannes Leo (al-Hassan alWazzan) 42, 98, 99-106
Albert, Mathias 13, 30,
Alberti, Leon Battista 60, 68, 96, 298
Alegre, Francisco Javier 118,
Almarza, Sara 133,
Alzate, José Antonio 118,
Auerbach, Erich 59, 155, 296,
Bachmann-Medick, Doris 34, 35, 38, 43,
Bachtin, Michail 13,
Bade, Klaus 38
Bancarel, Gilles 24, 25, 111, 119, 252
Barthes, Roland 34, 89, 257, 262, 304,
312, 313
Batista, Fulgencio 171-172, 248, 260, 262
Behaim, Martin 62, 68, 311
Bejel, Emilio 251
Bellermann, Ferdinand Konrad 145
Belting, Hans 60, 68, 246
Benjamin, Marius 187
Benjamin, Walter 36, 71,
Benoit, Pierre 236
Bernabé, Jean 206, 278
Bernecker, Walther L. 19, 149, 151,
Billig, Volkmar 69, 71
Birle, Peter 37, 52, 133, 242, 269
Bitterli, Urs 17, 88
Bloch, Ernst 66
Blumenberg, Hans 166-167, 259
Bohnenkamp, Anne 62,
Bolívar, Simón 131, 132, 159, 160, 175,
195, 260, 265,
Bongie, Chris 23, 207,
Bordone, Benedetto 57, 71-79, 81-82, 211,
315
Borges, Jorge Luis 175-176, 197, 247, 267
Bougainville, Louis-Antoine de 21, 36,
109-110, 235, 241, 252, 283
Bounoure, Gilles 236, 281
Braig, Marianne 37, 52, 133, 242, 269
Bredekamp, Horst 298
Bremer, Fredrika 208-211
Bremer, Thomas 151
Brendecke, Arndt 17
Bronfen, Elisabeth 187
Brunelleschi, Filippo 60, 68, 97
Buch, Hans Christoph 151
Buche, Irina 125
Buck-Morss, Susan 24, 149, 151, 268
Buffon, Georges-Louis Leclerc de 111,
113, 116, 125, 145
Burki, Marianne 228
Bush, George W. 10
Cabeza de Vaca, Alvar Núñez 238
Cabrera Infante, Guillermo 244-246
Cadamosto, Alvise de 97
Carter, Marina 48, 114, 296, 299, 300, 301
Casement, Roger 285-293
Castells, Manuel 12, 291
Castorena, Juan Ignacio 118
Castro, Fidel 171, 192, 260-261
Cavallero, Claude 233
Celan, Paul 304, 305, 310
Cendrars, Blaise 86, 241
Cerezo Martínez, Ricardo 63, 86
Cervera y Topete, Pascual 168
Césaire, Aimé 272, 301
Chamisso, Adelbert von 178, 179, 241,
Chamoiseau, Patrick 206, 278
Chávez, Hugo 175, 260
Clavijero, Francisco Javier 111, 118, 123131, 134, 135-136, 141, 143, 183-184,
186
Columbus, Cristoph 16, 18, 39, 61-62, 6468, 78-80, 92-94, 97-98, 148, 167, 238,
241, 273, 277, 296
Confiant, Raphaël 206, 278
Conley, Tom 69
Connor, Steven 71
Cook, James 21, 241, 283
Coronelli, Vincenzo Maria 79
Correa, Diego 116
Cortés, Hernan 18, 64, 71, 75, 114
331
Cosa, Juan de la 19, 36-37, 61-63, 65-69,
73-74, 78, 82-83, 86, 92, 95, 98, 142,
210, 238, 271, 276
Crosby jr., Alfred W. 20
Curtius, Ernst Robert 258
Darío, Rubén 29, 167-167, 168, 169, 175,
191,
Darwin, Charles Robert 298
Del Monte, Domingo 209
Deleuze, Gilles 297
Desportes, Marc 51
Dessau, Adalbert 174
Díaz de Gamarra, Benito 118
Díaz de Isla, Ruy 20
Díaz del Castillo, Bernal 18
Diderot, Denis 25, 38, 95, 111, 122, 143,
252
Dilthey, Wilhelm 287, 292
Dimock, Wai Chee 35
Djebar, Assia 49
Dolores Poyo, José 182
Duchet, Michèle 122
Dürer, Albrecht 20-21
Edgerton, Samuel Y. 59
Eguiara, José Juan 118
Eisenstadt, Shmuel N. 27
Eisler, Colin 20
Elcano, Juan Sebastián 17, 91, 96
Elhuyar, Fausto de 118
Epaulard, Alexis 101
Ette, Ottmar 10, 11, 12, 15, 18, 19, 24, 26,
30, 34, 35, 37, 38, 40, 45, 49, 50, 51,
52, 53, 59, 64, 70, 76, 88, 91, 95, 101,
111, 112, 116, 119, 121, 124, 142, 143,
149, 167, 169, 171, 174, 192, 199, 200,
202, 203, 208, 210, 219, 220, 233, 242,
244, 246, 248, 252, 253, 257, 258, 263,
269, 276, 278, 285, 292, 297, 302, 304,
305, 311, 312, 313
Exler, Andrea 225
Fernández de Lizardi, José Joaquín 45,
118, 134-138, 140, 141
Fernández de Oviedo, Gonzalo 18
Forster, Georg 36, 241
Foucault, Michel 22, 247
Franco, Jean 137
Gallardo Cabrera, Salvador 126, 129
Gama, Vasco da 97,
García Canclini, Néstor 187
332
Geertz, Clifford 75, 241
Gerbi, Antonello 129, 146, 183
Gil, Juan 79, 80
Gilli, Filippo Salvatore 195
Gilroy, Paul 23, 48, 93, 148
Glissant, Edouard 39, 207, 235, 252, 254,
257, 271-281
Goethe, Johann Wolfgang von 38, 43, 62,
64, 178, 265-266, 287, 316
Gómez de Avellaneda, Gertrudis 208, 210
Gómez, Máximo 193
González Echevarría, Roberto 102
Greenblatt, Stephen 17, 76, 91
Gruzinski, Serge 17, 95, 239
Guadarrama González, Pablo 174, 191192
Guattari, Félix 297
Guevara de la Serna, Ernesto (Che) 260261
Habermas, Jürgen 26, 32
Haustein, Lydia 225
Hearn, Patricio Lafcadio Tessima Carlos
(Koizumi Yakumo) 28, 29, 52, 86,
210-211, 213-216, 218-221, 294, 296
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 152, 268
Heredia, José María 208-209
Herzog, Samuel 227
Hokusai, Katsushika 215
Hörisch, Jochen 12, 144
Hostos, Eugenio María de 210
Hulme, Peter 168
Humboldt, Alexander von 15, 25-26, 59,
61, 64, 73, 80, 91, 96-98, 118, 141147, 152, 159, 161, 195, 210, 241, 292,
Huntington, Samuel P. 9-10, 30, 35-36
Ingenschay, Dieter 52, 242, 269
Iwasaki Cauti, Fernando A. 288
Jakobson, Roman 42
Karrow, Robert W. 72, 75, 79
Kittler, Friedrich A. 124, 231
Klausnitzer, Ralf 12
Kleist, Heinrich von 25, 148-160
Klemperer, Victor 244
Koselleck, Reinhart 23, 153
Kraume, Anne 36
Krauss, Werner 167
Kristeva, Julia 35
Lapérouse, Jean-François 21
Las Casas, Bartolomé de 18, 92, 94-95,
98, 99, 238, 289
Latour, Bruno 39
Lausberg, Heinrich 83, 85
Le Clézio, Jean-Marie Gustave 42, 233,
234, 235-236, 279, 281-283, 288-289,
300
Legazpi, Miguel de 95, 255
Lehnert, Gertrud 197
Leo X (Papst) 99, 102-103
Lepenies, Wolf 22, 23
Lévi-Strauss, Claude 116, 204, 236-239,
241, 243
Lezama Lima, José 134, 170-176, 179,
192-193, 197-199, 207, 247-250, 252272, 278
Liburnio, Nicolò 75
Liu, Lydia H. 42
López de Gómara, Francisco 18
Loster-Schneider, Gudrun 150, 155, 156
Lüsebrink, Hans-Jürgen 24, 119, 121, 150
Müller, Gesine 18, 23, 52, 151, 155, 199,
202, 207, 242, 269, 278, 297, 298
Müller, Herta 43
Mukherjee , Bharati 46
Muñoz, Juan Bautista 25
Maalouf, Amin 9-12, 15, 32, 35, 42, 43,
50, 55, 99, 101, 207, 249, 265
Mack, Gerhard 232
Mackenbach, Werner 52, 242, 244, 269
Madrigal, Luis Iñigo 135
Magellan, Ferdinand 17, 91, 96, 194
Malraux, André 118
Martí, José 27, 29, 52, 170-202, 205-209,
248-250, 260, 263, 265, 272
Martire d’Anghiera, Pietro 59-60, 90-91,
93-94, 98, 240-241, 244
Massignon, Louis 101
Masson de Morvilliers, Nicolas 120
Mathis-Moser, Ursula 37
McCall, Grant 275
Menke, Christoph 227, 259
Mercado, Manuel 191
Mercator, Gerhard 66, 90, 92
Mertz-Baumgartner, Birgit 37
Messling, Markus 53
Michelena, José Mariano 118
Miranda, Francisco 170, 260
Montaigne, Michel de 95
Montesquieu, Baron de (Charles-Louis de
Secondat) 126,
Moreau de Saint-Méry, Médéric-LouisElie 155
Morus, Thomas 22, 71, 92
Moulin Civil, Françoise 199
Padilla, Heberto 261
Painter, Nell Irvin 290
Pakesch, Peter 232
Pannewick, Friederike 51, 52, 242, 269
Pauw, Cornelius de 25, 112-116, 128, 130,
143, 155, 156, 160-161, 239, 241, 268,
Paz, Octavio 126
Pemberton, John Stith 225
Pérez Bonalde, Juan Antonio 193
Pernety, Antoine-Joseph 36, 109, 111-112,
241
Petersson, Niels P. 15, 27
Petrarca, Francesco 219
Phaf-Rheinberger, Ineke 52, 242
Phelan, John Leddy 28
Plessner, Helmuth 311
Polo, Marco 66, 79-81, 92, 96, 255
Pröll, Julia 37
Ptolemäus, Claudius 59-61, 72, 92
Naranjo Orovio, Consuelo 199,
Nietzsche, Friedrich 41
Nitschack, Horst 52, 269
Nünning, Ansgar 71, 83, 241
O’Gorman, Edmundo 64, 117-118, 121,
134,
O’Gorman, Juan 107, 117-119, 122-123,
126, 136, 142-143
Oliveira Pinto, Tiago de 32, 242
Orsenna, Erik 64, 65,
Ortega y Gasset, José 41, 191, 258
Ortelius, Abraham 92
Ortiz, Fernando 41, 253-256, 272
Osterhammel, Jürgen 15, 27, 50,
Özdamar, Emine Sevgi 49
Rama, Angel 130, 136, 177
Ramusio, Giovanni Battista 97-99, 101,
104, 239,
Rasson, Luc 234, 251
Rauchenberger, Dietrich 93, 99, 101, 102
Raynal, Guillaume-Thomas 24-25, 87, 89,
111-112, 120-123. 126, 128, 130-131,
141, 143, 147-148, 241, 258
Redouane, Najib 99
333
Reichardt, Ulfried 10, 15, 62, 226
Rey Mimoso-Ruiz, Bernadette 233
Rey Rosa, Rodrigo 49
Reyes, Alfonso 175, 197, 269
Ribeiro, Darcy 240-241
Río, Andrés del 118
Ritter, Joachim 219
Rivera, Diego 117
Rivero Lake, Rodrigo 53
Rizal, José 29, 52, 191, 199-207, 248
Robbins, Bruce 35
Robertson, William 25, 123, 126, 130-131
Rodó, José Enrique 27, 41, 169, 175, 177,
188, 191, 197
Rodríguez, Simón 170, 260, 265
Rojas Mix, Miguel 28, 62, 86, 92
Rojas, Arístides 195
Rousseau, Jean-Jacques 126, 219, 238
Roussel-Gillet, Isabelle 234
Rugendas, Johann Moritz 146
Sahagún, Bernardino de 18
Sakai, Naoki 38, 306
Salomon, Noël 135
Sánchez, Yvette 63, 95
Sarduy, Severo 254
Sarmiento, Domingo Faustino 139
Schama, Simon 51
Scharlau, Birgit 18, 124, 174
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von
267
Schiller, Johann Christoph Friedrich von
203
Schlögel, Karl 34
Schlögl, Rudolf 16
Schubarth-Engelschall, Karl 100, 102
Séma, Sylvie 39, 275, 278
Serafin, Silvana 69, 72, 75
Sforza, Francesco Maria 99
Siebenmann, Gustav 250
Soja, Edward W. 34
Sonetti, Bartolomeo dalli 69, 71
Speckmann, Thomas 10
Staden, Hans 238
Starobinski, Jean 39, 219
Tawada, Yoko 49, 302-315
Teresa de Mier, Fray Servando 118, 121,
125, 130-134, 170, 260, 262-265, 270271
334
Thayer Mahan, Alfred 166
Tietz, Manfred 24, 119
Todorov, Tzvetan 9, 18
Todorova, Maria 47
Torabully, Khal 48, 117, 293-302
Toscanelli, Paolo dal Pozzo 60, 80, 92, 9697
Tritsmans, Bruno 234, 251
Ugalde Quintana, Sergio 117, 173, 175,
251, 252, 258, 260, 265
Unamuno, Miguel de 41, 191
Van Acker, Isa 233
Vargas Llosa, Mario 64, 285-293
Vasconcelos, José 269
Vázquez de Parga y Chueca, María José
273
Vega, El inca Garcilaso de la 18, 183
Verne, Jules 86
Vespucci, Amerigo 61-64, 238
Villaverde, Cirilo 208
Vitier, Cintio 177, 178, 195, 256
Wajsbrot, Cécile 49
Walcott, Derek 70-71
Waldseemüller, Martin 61-62, 92
Wehler, Hans-Ulrich 166, 179
Weigel, Sigrid 156
Weinberg, Liliana 195
Weischet, Wolfgang 91
Weiwei, Ai 41, 223-233
Werner, Michael 13
White, Hayden 83-85, 96, 239
Whitman, Walt 173, 268
Willdenow, Karl Ludwig 144
Williams, William Carlos 10, 11
Winkle, Stefan 19, 20, 25, 26, 29, 31
Zantop, Susanne 153
Zea, Leopoldo 200-201, 167, 200, 201
Zemon Davis, Natalie 99, 102,
Zeuske, Michael 23
Zhenhua, Li 228
Zhiri, Oumelbanine 102
Zimmermann, Bénédicte 13
Zweig, Stefan 66, 90