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OOTSofRoutes:
Mobilität und Netzwerke
zwischen Vergangenheit
und Zukunft «
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Vorwort
Perspektiven zu vergangenen
Routen, Netzwerken
und Gesellschaft in
herausfordernden Zeiten
Im Exzellenzcluster ‚ROOTS – Social, Environmental and Cultural Connectivity in Past Societies‘ beschäftigen sich Wissenschaftler:innen
unterschiedlicher Disziplinen mit der Rekonstruktion vergangener Gesellschaften. Aus archäologischer und historischer Perspektive werden
Verbindungen von Individuen und Gruppen, von Mensch und Umwelt,
von Ereignissen, Prozessen und Strukturen untersucht.
Globalisierung als weltweiter Prozess, aber auch dessen regionale Wirkungen und Reaktionen stehen im Vordergrund. Eine Grundhypothese
– je verbundener Menschen, desto geringer Konfliktpotenziale – war Ausgangspunkt.
Gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten mit ihren gestörten Kommunikationsnetzwerken und -routen ist es umso wichtiger zu wissen, wie
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Vorwort
Menschen in Krisensituationen reagierten: nicht nur in der industriellen
und postindustriellen Welt, sondern in weit entfernten Zeiten, die uns
sozusagen einen „Spiegel“ unseres Verhaltens und unseren Möglichkeiten liefern. Wie verhielten sich z.B. Wildbeuter, erste Bauern, antike
Gesellschaften oder frühneuzeitliche Stadtgesellschaften in allgemeinen
Krisensituationen?
Insofern haben wir uns entschlossen, eine Broschürenreihe zu erstellen,
die in den aktuellen Zeiten massiv zunehmender globaler Konflikte Informationen allgemeinverständlich präsentiert. ROOTS setzt mit der hier
vorliegenden Broschüre seine 'Booklet Serie‘ fort, die Diskussionen und
Ergebnisse unseres Forschungsclusters einer breiteren Öffentlichkeit
vorstellt. Die kleine Reihe wird benutzt, um auch in anderen Medien Diskurse und Kommentare zu Zukunftsthemen aus der Sicht der Vergangenheit anzuregen.
Nur wer Vergangenes versteht, wird die Gegenwart nachhaltig gestalten
und dauerhaft zukünftige Perspektiven entwickeln können. Als Menschen
sind wir auf die Rekonstruktion unserer Verhaltensweisen in ganz anderen als den heutigen Zeiten angewiesen – nicht nur bezüglich menschlicher Gesellschaften, sondern insbesondere auch im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Umwelt. So kann uns das tiefe Verständnis der
Vergangenheit Möglichkeiten für die Zukunft eröffnen.
Johannes Müller
Sprecher des Exzellenzclusters ROOTS
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Inhalt
02 / Vorwort – Perspektiven zu vergangenen
Routen, Netzwerken und Gesellschaft
in herausfordernden Zeiten
Johannes Müller
Kapitel 1: ROOTS of Routes:
Die Wurzeln von Wegen –
Verbindungen in der (Ur-) Geschichte
08 / Einführung – Zur Geschichte der Wege, die
Menschen, Orte und Ideen verbinden
Henny Piezonka, Lutz Käppel, Andrea Ricci
12 / Globalisierung? Welche Globalisierung?
Tim Kerig
Kapitel 2: Den richtigen Weg wählen
18 / Wege in der Landschaft – Ökologische
und soziale Bedingungen für den
Austausch von Waren, Ideen und
Menschen in der Vergangenheit
Walter Dörfler
24 / Gemeinsam unterwegs – Die Verflechtung von
menschlichen und tierischen Wanderungen
Henny Piezonka und Karolina Varkuleviciute
28 / Klimaflucht
Mara Weinelt
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Inhalt
Kapitel 3: Wie weit reichen Wege zurück?
36 / Versunkene Pfade in der Nordsee –
Auf den Spuren spätpaläolithischer
Rentierjäger vor der Küste Helgolands
Berit Valentin Eriksen und Wolfgang Rabbel
40 / Ursprünge der Seidenstraße
Johanna Hilpert und Jutta Kneisel
46 / „On the Road Again“: Reisewege durch Jütland –
Der Ochsenweg, eine jahrtausendealte Route
Jutta Kneisel, Bente Majchczack, Franziska
Engelbogen, Anna K. Loy, Oliver Nakoinz
52 / Wandeln auf alten Pfaden – Nutzen wir
noch immer keltische Wege?
Franziska Engelbogen
56 / Gekappte Verbindungen – Drei
Wikinger auf Abwegen
Jens Schneeweiß und Henny Piezonka
Kapitel 4: Wege von Dingen und Technologien
64 / Rind und Wagen – der erste „Wilde Westen“ in
Europa? Die Innovation „Rad“ zwischen Ostsee
und Schwarzem Meer 3500-2500 v.u.Z.*
Johannes Müller
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Inhalt
67 / Wege übers Moor
Jan Piet Brozio
68 / Der Weg zum Reichtum – Bernsteinstraßen
im bronzezeitlichen Europa
Benjamin Serbe und Khurram Saleem
72 / Die Analyse von Bernstein
Benjamin Serbe und Khurram Saleem
74 / Die Macht des Wassers – Konnektivität
durch Wasser in Mesopotamien
Andrea Ricci
78 / Wie kam Buddha zu den
Nordmännern nach Schweden?
Jens Schneeweiß
Kapitel 5: Wege von Ritualen und Wissen
84 / Am Ende des Weges – Was Gräber
uns über Netzwerke und Kontakte
in der Urgeschichte verraten
Fynn Wilkes und Henry Skorna
90 / Meerjungfrauen, Gesichter, Häuser und
Vögel – Symbole der Konnektivität
Jutta Kneisel
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Inhalt
96 / Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum als
Reise zur Erkenntnis oder Was das moderne
Konzept der „Theorie" mit einer religiösen
Praxis im Alten Griechenland zu tun hat
Lutz Käppel
102 / Wege zwischen den Welten –
Die rituelle Ökologie von Flüssen
Henny Piezonka
Kapitel 6: Fazit und Ausblick
108 / Entlang des Weges – Ein Blick zurück nach vorn
Lutz Käppel, Henny Piezonka, Andrea Ricci
110 / Übersichtskarte der Themen
112 / Autorinnen und Autoren
116 / Weiterführende Literatur
122 / Impressum
*v. u. Z. = vor unserer Zeitrechnung, alternativ zu v. Chr./vor Christus
n. u. Z. = nach unserer Zeitrechung, alternativ zu n. Chr./nach Christus.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Henny Piezonka, Lutz Käppel, Andrea Ricci
Einführung
Zur Geschichte der Wege,
die Menschen, Orte und
Ideen verbinden
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Einführung
Kein Ort, der uns zu ferne liegt,
kein Ding, das uns zu fremd vorkommt,
kein Weg, der uns zu weit erscheint…
…so mag in einer modernen, vom Lebensstil
großer Städte geprägten Vorstellung die Welt erscheinen. Vor unseren Augen scheint sie sich als
eine global verwobene, gleichsam grenzenlose und
erreichbare freie Fläche auszubreiten: physisch wie
geistig, wirtschaftlich wie medial, kulturell wie technologisch – eine Welt der Vernetzung und Mobilität.
Umso irritierender wirken neue und erstarkende
Erfahrungen von Beschränktheit und Verletzlichkeit
dieses Systems vermeintlich grenzenloser Verfügbarkeit und Zugänglichkeit. Es sind die großen Krisen unserer Zeit – Krieg, wachsende Ungleichheit,
Krankheiten, Klimawandel – , die heute schonungslos offenlegen, dass es auch und gerade in einer
zunehmend globalisierten Welt Engpässe, Grenzen
und Barrieren im ganz konkreten Sinne gibt, denn
stets sind es ganz bestimmte Wege, auf denen Menschen, Waren, Nahrung, Informationen, Wissen verkehren und miteinander verbunden sind. Es zeigt
sich, wie sehr Handelswege und Rohstofftrassen
gleichsam als Durchlässe essenziell für das Funktionieren wirtschaftlicher Systeme sind, wie stark
die Ernährungslage in verschiedenen Regionen der
Welt schon rein geographisch von speziellen Transportwegen zu Nahrungsressourcen abhängt, wie
Kommunikation und gegenseitige Verständigung
vom Vorhandensein offener Kanäle abhängen, und
wie entscheidend die Öffnung oder Schließung ganz
bestimmter Fluchtwege für die sozialen Verwerfungen von Migration ist. Offenbar sind es gerade diese
Durchlässe, auf die es ankommt, wenn sich menschliche Gesellschaft in der Welt konstituiert, entwickelt
und wandelt.
Das vorliegende Heft – das zweite in der Reihe
der „Booklets“ des Exzellenzclusters ROOTS an der
Universität Kiel – lenkt den Blick darauf, wie das Leben der Menschen in ihrer Welt schon immer von
der Verbindung zueinander über ganz bestimmte
Wege abhing und wie die Entwicklung der Menschheit selbst ganz wesentlich von der Art, wie sie über
welche ‚Wege‘ miteinander verkehrten, bestimmt
war. Seit den ältesten Phasen der Steinzeit bis heute
waren es wohl definierte Routen, die den Austausch
von Dingen, Praktiken und Wissen zwischen den
Menschen ermöglichten, so dass sich Netzwerke
bilden und kulturelle Profile entwickeln konnten.
Viele dieser uralten Routen sind noch heute nicht
nur sichtbar, sondern sogar weiter in Betrieb: von
den Kontinente umspannenden Seidenstraßen bis
hin zu den lokalen Trassen des Ochsenweges in
Schleswig-Holstein, von den Wasserstraßen Mesopotamiens und den Flusswelten der Waldzone bis
hin zu den geistigen Wegen philosophischer Betrachtung. Daher lohnt es sich, den Blick zurück zu den
Wurzeln dieser Routen, ja zu den ‚Herkunft von Wegen‘ überhaupt zu lenken. In einem Kaleidoskop von
Perspektiven auf das Thema werden dazu zunächst
die landschaftlichen, ökologischen und klimatischen
Rahmenbedingungen in den Blick genommen. Der
historischen Verortung früher Handels- und Migrationsrouten sind die dann folgenden Beiträge gewidmet. Besondere Aufmerksamkeit wird denjenigen
Routen zuteil, auf denen nachweislich Objekte, Technologien und damit auch kulturelle Praktiken transportiert wurden. Auch religiöse Rituale, Bestände expliziten Wissens, ja sogar philosophische Einsichten
haben ihre Wurzeln in der Bewegung auf Routen.
In diesem Sinne wünschen wir allen Leser*innen
die eine oder andere neue Einsicht in die Weise, in
der die Entwicklung menschlichen Daseins mit der Erschließung, der Nutzung und dem Ausbau verbindender Routen, aber bisweilen auch mit deren Abbruch
verknüpft ist. „ROOTS of Routes“ mag damit auch eine
neue Sicht auf aktuelle Krisen ermöglichen, die mit
dem Blick auf vergangene Vielfalt und Lösungen auch
das Aktuelle besser verstehen lehrt.◆
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 1:
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Kapitel 1: ROOTS of Routes: Die Wurzeln von Wegen – Verbindungen in der (Ur-) Geschichte
ROOTS of Routes:
Die Wurzeln von Wegen –
Verbindungen in der (Ur-) Geschichte
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Globalisierung? Welche Globalisierung?
Tim Kerig
Globalisierung?
Welche Globalisierung?
Ist globaler Austausch Globalisierung? Schon immer wurden Objekte über weite Distanzen
weitergegeben, aber was bedeutet das? Historikerinnen und Historiker, insbesondere aus
dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte, verwenden heute den Begriff der Globalisierung ganz
verschieden: Ist die frühneuzeitliche europäische Expansion nach Afrika, Amerika und Asien
bereits als Globalisierung zu verstehen, oder ist erst die imperialistische Inbesitznahme im
19. Jahrhundert so zu bezeichnen? War vielleicht sogar das 19. Jahrhundert globalisierter als
das 21.? Oder kann womöglich schon die Ausbreitung des Römischen Reiches, oder bereits
des Alexanderreiches, als Globalisierungsprozess verstanden werden?
Was wäre dann mit dem vorangegangenen Perserreich?
Ganz offenbar verstehen Viele unter dem Begriff Globalisierung Unterschiedliches. Archäologinnen und Archäologen haben bereits früh auf weitreichende Austauschverbindungen hingewiesen
und sich bei deren Interpretation häufig auf Erklärungen aus historischen Zeiten berufen. Als besonders inspirierend erwies sich ab den 1970er Jahren
die Weltsystem-Theorie, die insbesondere mit dem
Namen Immanuel Wallersteins verbunden ist. Diese
Theorie bietet eine Erklärung des Zusammenspiels
frühneuzeitlicher Wirtschaftszonen von der europäischen Arktis über die afrikanische Elfenbeinküste
bis in den guatemaltekischen Regenwald: Die NachN'Goran Koffi, Erdherr und Kantonshäuptling vom Stamm der
Ba'ule (Elfenbeinküste) mit seinen Würdezeichen und den Gefäßen
seiner Ahnen. Die besonders für Palmwein genutzten Westerwälder
Krüge sind heilig und nur zu besonderen Anlässen im Gebrauch
(Angaben freundl. Mitteilung A. Zeischka-Kenzler ©Foto: Archiv des
Dokumentationszentrums Kannenbäckerland e.V.)
frage im Kern des Weltsystems – ganz eurozentrisch:
in den europäischen Zentren – bestimme ebenso
die Produktion exotischer Produkte am äußersten
Rand des Systems, etwa von Biberpelzen im heutigen Kanada, wie sie den Sklavenhandel zwischen
Afrika und den europäischen Kolonien in Übersee
erkläre. Starke globale Player etablieren demnach
den Handel mit weit schwächeren Partnern, deren
Ressourcen dann im Rahmen von asymmetrischen
Beziehungen ausgebeutet werden. Solche Austauschbeziehungen verlangen staatliches Handeln,
zumindest teilweise entwickelte Märkte und eine
hohe Nachfrage und Kaufkraft in den Zentren.
Elemente der Weltsystemtheorie sind auch
in der Archäologie immer wieder auf ganz unterschiedliche Erscheinungen angewendet worden. So
wurde etwa die erstmalige Ausbreitung städtischer
und staatlich verfasster Gesellschaften ab dem
4. Jahrtausend v.u.Z. über Mesopotamien bis nach
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Anatolien und in den Iran als Uruk-Weltsystem bezeichnet. Auch die erste Wollproduktion dieser Zeit
soll in den Randgebieten Westasiens für städtische
Zentren wie Uruk erfolgt sein.
Der Austausch von seltenen Feuersteinvarianten, von Steinbeilklingen, Metallen, Farbstoffen,
Bernstein, Edelsteinen, Glas und Elfenbein ist zwischen dem bronzezeitlichen West-, Nord- und Mitteleuropa, dem Balkan und dem Mittelmeerraum
und schließlich den frühen Staaten Ägyptens, Kleinasiens und der Levante durch Funde tausendfach
belegt. Unklar ist aber noch, ob diese Austauschsysteme derart dicht zusammenhängen, dass – wie
einige vermuten – auch hier von einem Weltsystem
gesprochen werden sollte. Hat die Produktion und
Weitergabe dieser Güter eher lokale Bedarfe gestillt,
oder waren sie durch eine den Akteuren bekannte
Nachfrage aus großer räumlicher Distanz motiviert?
Reisten Händler, Sklavenfänger und Söldner durch
das Europa der Bronzezeit?
In einer zunehmend als komplexer verstandenen Welt verschiebt sich die Perspektive auf die
Beziehungen zwischen handelnden Individuen oder
Gruppen. Das entspricht der gegenwärtigen technischen Entwicklung: Moderne Netzwerkforschung
misst Menge und Art der Kontakte zwischen Akteuren, beschreibt diese mittels mathematischer
Methoden (Graphentheorie) und analysiert so, wie
unterschiedlich Akteure ihre Beziehungen zur Welt
gestalten oder doch gestalten können. Fragen, wie
sie die genannte Weltsystem-Theorie aufwarf, können heute präziser neu gestellt, modelliert und nach
einer quantitativen Analyse der Kontakte beantwortet werden. Wer in den ausgebeuteten Gebieten am
Rande des Systems gehörte zu den Gewinnern? Wer
in den Zentren war zwar an der Beschaffung von
exotischen Luxusgütern beteiligt, aber von deren
Konsum ausgeschlossen?
Die früheste Ausbreitung unserer früheren Verwandten und Homo sapiens-Vorfahren aus Afrika
über große Teile der übrigen Welt kann dagegen
kaum als Globalisierung verstanden werden. Die
damit einhergehende Erschließung verschiedenster
Lebensräume führte mitunter zu ausgesprochen
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isolierten Erscheinungen in der körperlichen und
kulturellen Evolution. Die Aneignung neuer Räume
bedeutete eben zunächst auch eine Abnahme der
Bevölkerungszahl pro Fläche – die Bevölkerungsdichte und damit der Kontakt zwischen Menschen
sank.
So ist im nachfolgenden jüngeren Teil der europäischen Altsteinzeit, dem Jungpaläolithikum (von
vor etwas 45 000 Jahren), für die durch die wildreichen Kältesteppen herumziehenden Gruppen von
Homo sapiens sapiens von einer vergleichsweise geringen Zahl persönlicher Kontakte bei weiträumigen
Schweifgebieten auszugehen: So groß der Raum, so
gering die Anzahl der Kontakte. Das änderte sich
erst am Höhepunkt der Eiszeit, etwa vor zwanzigbis sechzehntausend Jahren. Während dieser Zeit ist
die besiedelte Fläche Europas im Wesentlichen auf
die Pyrenäen-Region und ihr nördliches Vorland zusammenschrumpft. In diesem kondensierten Raum
ist nun von hoher Bevölkerungsdichte und damit
auch von einer hohen Frequenz der Kontakte auszugehen.
Wiederum anders gestalten sich die Raumbeziehungen sesshafter oder doch an bestimmte
Landschaftstypen gebundener Bevölkerungen in
der Mittel- und Jungsteinzeit sowie jüngeren Epochen. Kontakte erfolgen hier durch direkte Nachbarschaftsbeziehungen oder durch Reisen zu ferneren Zielen etwa zum Zweck der Erkundung und
wohl auch zur gezielten Kontaktaufnahme und Materialbeschaffung – sei es im Rahmen einer Handelsreise, zur Heirat, zum Verwandtenbesuch oder
als Raubzug.
Technische Voraussetzungen solcher Reisen
sind Ski und Tragevorrichtungen, beide am Ende
der Jungsteinzeit in Skandinavien bzw. in den Alpen
nachgewiesen. Dazu kommen Rinder und Pferde als
Last- und Zugtiere vor Schleppen und/oder Wagen.
Die Anwendung letzterer hängt entscheidend von
den Wegsamkeiten ab – im größeren Maßstab erstmals nicht vor dem 4. Jahrtausend v.u.Z. und sehr
grob gleichzeitig im erwähnten Uruk-Bereich wie bei
den jungsteinzeitlichen Gruppen nördlich der Mittelgebirge. Im Steppengelände sind die Bedingungen
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Globalisierung? Welche Globalisierung?
»
Schon immer agierten Menschen
global. [...]. Kontakt in die Ferne
entlang unterschiedliche Routen
eröffnet neues Wissen, neue
Techniken, neue Rohstoffe. «
für Rad und Wagen, und auch für Streitwägen, deutlich günstiger als in den Waldzonen, Feuchtgebieten
oder in Flusstälern. Dort verlangt die Entwicklung
der Wegsamkeiten lokal höhere Anstrengungen, wie
sie etwa in den Bohlenwegen Niedersachsens dokumentiert sind (vgl. Beitrag von J. P. Brozio in diesem
Band).
Zu einem entscheidenden Faktor für die weitreichende Ausbreitung und den Austausch fremder Güter in großen Mengen wird insbesondere
die Entwicklung des Schiffbaus und der Navigation.
Die geringen Transportkosten über Wasser führen
dazu, dass große Seen und Archipele, die Ägäis, die
irische See, die dänischen Inseln, sich zu eng vernetzten Kommunikations- und Wirtschaftsräumen
entwickeln. Recht große Gütermengen konnten bereits in der Jungsteinzeit über Wasser transportiert
werden. Besegelung und Warenaustausch entlang
regelrechter Handelsrouten sind dann im Roten
Meer und im Mittelmeer ab der Bronzezeit sicher
belegt. Die skandinavischen Felszeichnungen dieser Zeit zeigen tausende von Schiffen, allesamt geruderte Boote. Von Erwähnungen lederner Segel im
Kanalgebiet aus römischer Zeit abgesehen, gibt es
in West- und Nordeuropa keine Schiffe mit Kiel und
zugleich Besegelung. Das ändert sich erst im 8. Jahrhundert, unmittelbar vor den ersten Wikingerzügen.
Ab diesem Zeitpunkt stehen auch im Norden die in
aufwendiger und mehrjähriger Arbeit hergestellten
Segel zur Verfügung.
Schon immer agierten Menschen global. Wanderungen erreichten neue Siedlungsräume und erschlossen neue Ressourcen. Kontakt in die Ferne
entlang unterschiedliche Routen eröffnet neues
Wissen, neue Techniken, neue Rohstoffe. Mittel der
Erschließung können dabei ebenso das Knüpfen
neuer Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehungen wie auch die kriegerische Aneignung sein.
Überregionale und sogar weltweite Kontakte, Austauschbeziehungen und Migrationen gab es schon
früh. Das moderne Konzept der Globalisierung hat
auch noch weitere Implikationen, unter anderem
umfasst es die Vorstellung von der Verfügbarkeit
aller Güter von und an jedem Ort der Erde. Eine
solche Globalisierung ist an die moderne Geldwirtschaft und die Interessen des internationalen Freihandels gebunden. Aber mit den modernen Menschen-, Waren- und Informationsströmen lassen
sich solche Austauschbeziehungen auch aufbauen
und aufrechterhalten, wie wir bereits in unserer
frühesten Geschichte erkennen: Kommunikation,
Wissen und Rohstoffe erweitern die Möglichkeiten
der Menschheit insgesamt und global. Machen wir
etwas daraus! ◆
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 2:
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Kapitel 2: Den richtigen Weg wählen
Den richtigen Weg wählen
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Wege in der Landschaft – Ökologische und soziale Bedingungen für den Austausch von Waren, Ideen und Menschen in der Vergangenheit
Walter Dörfler
Wege in der Landschaft –
Ökologische und soziale Bedingungen
für den Austausch von Waren, Ideen
und Menschen in der Vergangenheit
Sie bahnten sich ihren Weg durch das Unterholz, bis sie zu dem rosafarbenen
Findling gelangten. Dieser zeigte ihnen, dass sie sich nun auf dem Land
des Nachbardorfes befanden und besonders vorsichtig sein mussten.
Der Warenaustausch war in letzter Zeit ins Stocken geraten, und ihre
wertvolle Fracht konnte leicht Begehrlichkeiten wecken. Die Durchquerung
des Sumpfgebietes würde die nächste Herausforderung bilden ...
Gut passierbare Wege durch die Naturlandschaft bildeten in Mitteleuropa bis weit in die Neuzeit eher die Ausnahme. Der ‚Urwald‘ des Mesolithikums war, anders als unsere modernen Forste, ein
Mischwald mit uneinheitlicher Altersstruktur und
viel Totholz. Dazu kam, je nach Bodenverhältnissen
und Artenzusammensetzung der Wälder, auch viel
Unterholz in Form von Jungwuchs und Sträuchern.
Baumbewuchs bildete bis weit in die Vorgeschichte mit wenigen Ausnahmen die dominierende Vegetationsform in Mitteleuropa. Diese Ausnahmen
bestanden an den vom salzigen Meerwasser beeinflussten Küstenstreifen, an binnenländischen Salzstellen, in Hoch- und Niedermooren und auf Blockschutthalden im Gebirge. So war die Überwindung
weiter Entfernungen eine Herausforderung, bei der
es galt, starke Höhenunterschiede zu vermeiden,
Wald mit Totholz bei Kiel-Elmschenhagen
(Foto: W. Dörfler)
Flüsse und Moore an Furten und Engpässen zu
überwinden und sich einen Weg durch den Wald zu
bahnen. Wildwechsel mögen Pfade durch den Wald
geboten haben, die auch von Jäger- und Sammler
genutzt werden konnten. Für einen Warentransport
über größere Entfernungen dürften sie aber kaum
geeignet gewesen sein. Auch Wasserwege waren
auf kleinen und mittleren Gewässern von Stromschnellen, umgestürzten Bäumen und möglichen
Biberdämmen gekennzeichnet. Größere Flüsse wie
Elbe, Weser, Ems und Rhein boten dagegen gute
Verkehrswege, sie stellten aber gleichzeitig auch Einfallstore für mögliche Aggressoren dar.
An den kleinen und mittleren Gewässern war
es allerdings der Biber, der auch Freiflächen öffnete, die einfacher als der dichte Wald passiert werden konnten. Bis zu einer Entfernung von 45 Metern
vom schützenden Gewässer fällen Biber Bäume und
schaffen damit galerieartige Lichtungen entlang der
Bäche und Flüsse. Dieses flussbegleitende Netzwerk
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Ein typischer Sandweg in der
Altmoräne zwischen CuxhavenDuhnen und Sahlenburg (Foto:
W. Dörfler)
aus lichteren Waldbeständen und Freiflächen mag
für lange Zeit den am ehesten geeigneten Verkehrsweg geboten haben. Sumpfige Abschnitte und die
Einmündung von Nebenflüssen, die durch Furten zu
queren waren, werden aber auch hier die Passage
der Wegstrecken behindert haben. Eine Orientierung im dichten Wald dagegen, zumal, wenn kein
Sonnenlicht die Himmelsrichtung anzeigt, war auf
markante Wegmarken wie Findlinge oder Baumunikate angewiesen. Auch Markierungen an Bäumen
oder gesetzte Steine können Orientierungshilfen
geboten haben, die aber für Ortsfremde kaum von
Nutzen waren.
Im Neolithikum schufen die nunmehr sesshaften Siedlerinnen und Siedler Rodungsinseln in dieser Waldlandschaft. Diese offenen Bereiche waren,
je nach Dauer und Intensität der Nutzung durch
Holzeinschlag und Beweidung, von lichteren Beständen bis hin zu parkartigen Arealen umgeben. Dort,
wo der Wald künstlich aufgelichtet wurde, breiteten
sich allerdings Hasel- und andere Sträucher stärker
aus, wie aus pollenanalytischen Untersuchungen
ersichtlich ist. Auch solche Haselhaine waren nur
schwer passierbar. Erst gegen Ende des Neolithikums gibt es Hinweise auf größere offene Landschaften, in denen nunmehr Megalithgräber und
nicht mehr die von den Eiszeiten zurückgelassenen
Findlinge Orientierungsmarken dargestellt haben.
Die in der anschließenden Bronzezeit errichteten
Grabhügel sind oftmals in Reihen entlang offensichtlicher Verkehrswege orientiert (vgl. Beitrag von
J. Kneisel et al. in diesem Band). Wie der in einigen
Regionen nachgewiesene Aufbau der Hügel aus
Heidesoden erkennen lässt, standen sie oft in Heidelandschaften. Diese Landschaftsform entsteht,
wenn bereits ausgedünnte Wälder zu stark genutzt
werden. Die Sichtbarkeit der Grabhügel bildete offenbar ein wichtiges Motiv in der Standortwahl. Alle
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» Die Überwindung
weiter Entfernungen war
eine Herausforderung,
bei der es galt, starke
Höhenunterschiede
zu vermeiden, Flüsse
und Moore an Furten
und Engpässen zu
überwinden und sich
einen Weg durch den
Wald zu bahnen. «
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Wege in der Landschaft – Ökologische und soziale Bedingungen für den Austausch von Waren, Ideen und Menschen in der Vergangenheit
Erst gegen Ende des Neolithikums
gibt es Hinweise auf größere offene
Landschaften, in denen nunmehr
Megalithgräber und nicht mehr die von
den Eiszeiten zurückgelassenen Findlinge
Orientierungsmarken dargestellt haben. «
»
Ein typischer Fernhandelsweg in der Jungmoräne – Segeberger Landstraße bei Kiel-Wellsee (Foto: W. Dörfler)
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Ausgefahrene Spuren ließen die
Wege immer breiter werden und
führten an Hängen zur Entstehung
von Hohlwegen. «
»
Wege werden zu dieser Zeit unbefestigt gewesen
sein, mit Ausnahme der Bohlenwege durch Feuchtgebiete – deren erste bereits im Neolithikum errichtet wurden (vgl. Beitrag von J. P. Brozio in diesem
Band). In der Bronzezeit erreichten diese in zahlreichen Mooren des nördlichen Mitteleuropas erhaltenen Holzkonstruktionen herausragende Qualität,
allerdings ist ihre Funktion in vielen Fällen ungeklärt.
Fehlende Abnutzungsspuren sprechen eher gegen
eine intensive Nutzung durch Vieh und Wagen oder
Schlitten. Oftmals werden ihnen auch kultische Zwecke zugeschrieben. In den norddeutschen Altmoränenlandschaften waren die unbefestigten Straßen
und Wege aufgrund des sandigen Untergrunds oft
zerfahren und nach Regenfällen schwer passierbar.
Auch für überregionale Verkehrswege, wie etwa die
mittelalterlichen und neuzeitlichen Heer- oder Ochsenwege durch Schleswig-Holstein und Dänemark
sind schwierige Verkehrsbedingungen belegt (vgl.
Beitrag J. Kneisel et al. in diesem Band). Ausgefahrene Spuren ließen die Wege immer breiter werden
und führten an Hängen zur Entstehung von Hohlwegen. Solche Fernwege dienten nicht nur dem Handel, sondern auch als Aufmarschwege für Heere und
im Mittelalter als Pilgerwege.
Auch in jüngerer Zeit waren Fernhandelswege
in der Jungmoräne, wie die Segeberger Landstra-
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ße zwischen Kiel und dem heutigen Bad Segeberg,
unbefestigt oder mit einfachem Kopfsteinpflaster
versehen. Am Stadtrand von Kiel ist ein Streckenabschnitt aufgrund veränderter Wegeführung der
modernen Straße gut erhalten. Er vermittelt einen
Eindruck, wie solche regionalen Verkehrswege bis in
die Neuzeit ausgesehen haben. Häufige Klagen über
ausgefahrene und schwer passierbare Wegstrecken
waren die Folge. Erst Graf Andreas Peter Bernstorff
nahm sich als Leiter der deutschen Kanzlei in Kopenhagen Ende des 18. Jahrhunderts der Sache an. Die
im Jahre 1784 veröffentlichte Wegeordnung unterschied drei Klassen: Landes- und Heerstraßen mit
Post- und Frachtverkehr, Landstraßen und –wege,
die Städten und Marktflecken miteinander verbanden, sowie Kirch-, Leichen- und Gutswege. Für den
Bau und die Unterhaltung der Straßen waren die
jeweiligen Anlieger verantwortlich, was dazu führte,
dass sich an der Qualität, besonders auch der Fernstraßen, zunächst nichts änderte.
Erst vor knapp 200 Jahren begann man die Straßen einer besseren Verkehrsführung anzupassen.
So ermöglichte die erste befestigte Straße in Schleswig-Holstein, die 1830 bis 1832 gebaute Altona-Kieler Chaussee, dass die Fahrzeit für die 91 Kilometer
lange Strecke von 24 auf zehn Stunden verkürzt
wurde. Sie wurde im sogenannten Makadam-Ver· Booklet Serie · 02
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Wege in der Landschaft – Ökologische und soziale Bedingungen für den Austausch von Waren, Ideen und Menschen in der Vergangenheit
fahren erbaut, bei dem drei Schichten mit jeweils
unterschiedlich großen, gebrochenen und gut verdichteten Gesteinsgrößen die Straßendecke bilden.
Andere Straßen und Wege waren aber bis in die
Neuzeit weiterhin in schlechtem Zustand, und viele
Ortschaften bekamen erst Mitte des 20. Jahrhunderts eine gepflasterte oder geteerte Anbindung.
Der Warentransport auf den unbefestigten Wegen
war mühsam. In unwegsamem Gelände wird er bevorzugt auf Packtieren erfolgt sein. Dies war auch
auf den zahlreichen für das Mittelalter nachgewiesenen Salzstraßen die Regel. Im Gebirge sind auch
heute noch Esel und Menschen als Träger zur Versorgung von Almhütten im Einsatz.
Der Fernhandel wurde darüber hinaus sehr
stark mit Booten und Schiffen entlang der Küsten
und auf den großen Strömen betrieben. Besonders
bei Massen- und Schüttgut bietet der Transport
über Wasserwege deutliche Vorteile. Um etwa den
für die Hanse elementar wichtigen Salztransport
von der Lüneburger Saline über Lübeck in den Ostseeraum zu verbessern, wurde 1392 bis 1398 als
erster europäischer Wasserscheidenkanal die Stecknitzfahrt erbaut. Der 97 Kilometer lange Wasserweg
hatte 18 Höhenmeter zu überwinden, wofür zwei
natürliche Flussläufe ausgebaut und ein 11,5 Kilometer langer Kanal mit mehreren Schleusen errichtet
wurde. So konnten Salzkähne mit etwas mehr als
einer Tonne Salz in fünf Wochen von Lüneburg nach
Lübeck gelangen.
Land- und Wasserwege haben seit prähistorischen Zeiten die Landschaften erschlossen und
zu ihrer Umgestaltung zur Kulturlandschaft beigetragen. Sie ermöglichten den Warenaustausch
und die Entstehung von Handelsnetzen. Gleichzeitig gewährleisteten sie den Kontakt und Austausch
zwischen den Menschen. Ortschaften in der Nähe
historischer Heerwege haben aber auch immer
stark unter Einquartierungen von durchziehenden
Soldaten gelitten. Wege bildeten und bilden ein
wichtiges Landschaftselement, das Grundlage für
den Austausch von Menschen, Informationen und
Waren war und ist.
» Um etwa den für
die Hanse elementar
wichtigen Salztransport
von der Lüneburger
Saline über Lübeck in
den Ostseeraum zu
verbessern, wurde
1392 bis 1398 als
erster europäischer
Wasserscheidenkanal die
Stecknitzfahrt erbaut. «
» So ermöglichte die
erste befestigte Straße
in Schleswig-Holstein,
die 1830 bis 1832 gebaute
Altona Kieler Chaussee,
dass die Fahrzeit für die 91
Kilometer lange Strecke
von 24 auf zehn Stunden
verkürzt wurde. «
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Henny Piezonka und Karolina Varkuleviciute
Gemeinsam unterwegs –
Die Verflechtung von menschlichen
und tierischen Wanderungen
Artenreiche Gesellschaften in Bewegung
Bilder von Jägern, die einer vorbeiziehenden
Wildtiergruppe auflauern, von einer Nomadenjurte
in der Steppe, die von Pferden umgeben ist, oder
von einem Hirten, der seine Schafherde über einen
Berghang führt, sind in Büchern, Filmen oder auch
im Internet weit verbreitet. All diese Situationen
verdeutlichen einen wichtigen Aspekt der menschlichen Mobilität: ihre Verflechtung mit den Bewegungen der Tiere.
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In der Archäologie ist die Mobilität von Menschen ein zentrales Untersuchungsfeld. Sie kann
uns Aufschluss über wichtige Bereiche vergangener
Lebenswelten geben, etwa über Wirtschaft, Kommunikationsnetze und sogar soziale Strukturen.
Ein Aspekt, der im Vergleich zu seiner Bedeutung
manchmal nicht ausreichend beachtet wird, ist die
Tatsache, dass diese menschlichen Mobilitätsmuster eng mit Tieren und deren Bewegungen in der
Landschaft verwoben sein können. Solche Mobilitä· Booklet Serie · 02
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2023
Gemeinsam unterwegs – Die Verflechtung von menschlichen und tierischen Wanderungen
Nenzischer Rentierhalter auf der Jamal-Halbinsel, Sibirien,
unterwegs mit seinen Tieren (Foto: O. Kardash, OOO Severnaya
Archeologija, Neftejugansk).
ten sind integrale Bestandteile über den Menschen
hinausgehender, artenreicher Welten. Sie hängen
dabei stark von den nicht-menschlichen Akteuren,
deren Verhalten, Bedürfnissen und Entscheidungen ab. In den Wissenschaften, einschließlich der
Archäologie, setzt sich die Erkenntnis durch, dass
die Trennung zwischen Natur und Kultur ein (westliches) Konstrukt ist. Die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern mit traditionellen Wissensträgern in nichtwestlichen Gesellschaften, z.B.
durch ethnoarchäologische Ansätze, und indigene
Archäologien rücken zunehmend alternative Weltsichten und Lebensweisen in den Fokus. Diese beruhen häufig auf einer stärkeren Integration des
Menschen in seine belebte und unbelebte Umwelt.
Traditionelles ökologisches Wissen trägt dazu bei,
ein neues Licht auf die Mensch-Tier-Beziehungen
und ihre Variationen in der Vergangenheit zu werfen. Es bildet damit den Hintergrund für unsere kurze Darstellung der Rolle solcher Beziehungen für die
Bewegungen und Wege der Menschen.
Um dieses Problem zu veranschaulichen, werfen wir beispielsweise einen Blick auf Jäger- und
Hirtengesellschaften in verschiedenen eurasischen
Landschaften. Ein grundlegender Unterschied
zwischen der tierbezogenen Mobilität von Jägern,
Sammlern und Fischern und derjenigen von Hirtennomaden besteht darin, dass erstere sich eher in
Richtung der Ressourcen für die menschliche Ernährung bewegen, während letztere sich in Richtung
der Ressourcen für die Ernährung des Viehs bewegen. Wie wir sehen werden, gibt es ein Spektrum,
inwieweit menschliche Entscheidungen bzw. tierisches Verhalten diese Bewegungen beeinflussen.
Jäger-Fischer und Tierzyklen
Die Mobilitätsmuster von Jägern und Fischern
sind eng mit den Bewegungen von Tieren und ihrer
vorhersehbaren oder weniger vorhersehbaren Anwesenheit an bestimmten Orten in der Landschaft
verflochten. Jäger-Fischer sind Experten für das Ver-
halten von Tieren. Sie kennen die bevorzugten Routen des Wilds sowie die Brennpunkte des saisonalen
Vorkommens von Zugvögeln und Wanderfischen.
Ihre eigenen Bewegungen in der Landschaft hängen von ihnen ab. Die Orte, an denen sich Routen
von Mensch und Tier kreuzen, bilden geografische
Knotenpunkte in der Landschaft, aber auch Knotenpunkte im Ablauf des Jahres. Diese Orte bieten sich
zu den richtigen Zeitpunkten an, um Konstruktionen
wie Reihen von Fallgruben für große Säugetiere oder
Fischzäune an saisonalen Massenfangplätzen wandernder Fische anzulegen. Archäologische Spuren
solcher Konstruktionen können Aufschluss über die
Verflechtung der beteiligten Menschen und Tiere in
der Vergangenheit geben. Solche Bewegungsmuster können ein aktives Management der Tierpopulationen und ihres Verhaltens beinhalten. Menschen
in Jäger-Fischer-Gemeinschaften versuchen oft,
die Wege der Tiere durch Rituale, aber auch durch
Landschaftspflege zu beeinflussen, z.B. durch kontrolliertes Abbrennen von Vegetation, um Gebiete
zu öffnen, die Tiere anziehen. Der Schutz bestimmter biologisch relevanter Gebiete durch (zeitweilige)
Jagd- und Fischerei-Tabus kann praktiziert werden,
um den Fortbestand wirtschaftlich wichtiger Tierpopulationen zu sichern.
Nomaden und ihre Tiere in Tundra
und Steppe
In den weiten, offenen Räumen der Tundra im
Norden und des Steppengürtels im zentralen Eurasien haben sich verschiedene Formen der mobilen
Lebensweise von Menschen und ihren Tierherden
entwickelt. Ein spezifisches System betrifft die Rentierhaltung in der Tundra im nordosteuropäischen
Russland und in Westsibirien, das bis heute besteht.
Hier versorgen große Herden, die manchmal aus
Tausenden dieser halbdomestizierten Tiere bestehen, ihre Halter mit mehr oder weniger allem, was
sie brauchen, von Nahrung über Rohstoffe für Werkzeuge bis hin zur Kleidung. Außerdem dienen die
25
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
» Transhumanz […]
umfasst die regelmäßige
Bewegung von
Haustierherden […]
zwischen saisonalen
Weideplätzen in niedrigen
und hochgelegenen
Regionen. «
Rentiere dem Transport, da sie auch als Zugtiere für
die Schlitten verwendet werden. Das Erstaunliche an
diesem System des sehr engen Zusammenlebens
von Mensch und Tier in einer extremen Umgebung
ist die Tatsache, dass die Routen der jährlichen Wanderungen weitgehend von den Rentieren und nicht
von den Menschen bestimmt werden. Zwischen den
luftigen Sommerweideplätzen in der nördlichen
Tundra und den geschützten Winterweiden am Rande der Taigawälder im Süden werden Entfernungen
von 500 Kilometern und mehr in einer Richtung zurückgelegt. Die Menschen bestimmen vor allem das
Tempo dieser Wanderungen und entscheiden über
die zahlreichen Zwischenstopps, an denen für einige
Tage ein Lager aufgeschlagen wird.
Mobile Weidewirtschaft hat sich auch in den eurasischen Steppen bereits vor Tausenden von Jahren in den fernen Zeiten der Steinzeit entwickelt, in
den südlichen Regionen bereits um 6500 v.u.Z. Dieses auch Pastoralismus genannte System umfasst
domestizierte Tiere wie Schafe und Ziegen, Rinder,
Pferde und Kamele, die den Menschen Nahrung,
Material, Transport und Gesellschaft bieten. Der nomadische Pastoralismus in Zentralasien basiert entweder auf der saisonalen Bewegung zwischen dem
sesshaften Dorf und verschiedenen Weidegebieten
oder zwischen verschiedenen saisonalen Siedlungen, um die besten Weiden für die Tiere zu finden.
Ausreichend gute Möglichkeiten zur Bewegung der
Menschen und ihrer Tiere an neue Orte sind besonders dann wichtig, wenn die Herden groß sind und
26
das Land schnell überweiden können. Im Nahen Osten, wo die Trockenzeit die Ausdehnung der fruchtbaren Weideflächen begrenzt, konzentriert sich die
mobile Weidewirtschaft auf die Routen entlang der
Flusstäler.
Mobilität der Hirten in den Bergen:
Mediterrane Transhumanz
Eine besondere Form der Weidewirtschaft
(auch als „vertikale Transhumanz“ bezeichnet) umfasst die regelmäßige Bewegung von Haustierherden (in Eurasien üblicherweise Schafe, Ziegen und
Rinder, in Amerika Kameliden wie Lamas) zwischen
saisonalen Weideplätzen in niedrigen und hochgelegenen Regionen.
Im Mittelmeerraum wurde dieses Mobilitätssystem bereits in der Jungsteinzeit ab 6000 v.u.Z.
(kurz nach der Domestizierung der Tiere) angewandt, und es wird auch heute noch praktiziert. Die
meisten Forschenden sind sich einig, dass die Transhumanz als Anpassung an die klimatischen Extreme
der entsprechenden Tieflandregionen entstanden
ist. Die sommerlichen Dürreperioden machen das
Weideland im Tiefland für die Tiere schlecht nutzbar
und zwingen die Hirten, ihre Tiere auf die Weiden
im Hochland zu treiben, wo sie die kühlen und gut
bewässerten Weiden genießen können. Die ältesten Beispiele für Transhumanz haben nur wenige
archäologische Zeugnisse in Höhlen, Felsunterständen und Lagerplätzen hinterlassen. Das deutet darauf hin, dass diese Stätten nur saisonal bewohnt
waren und wahrscheinlich in verschiedenen Jahreszeiten wiederholt genutzt wurden. Die sich rasch
weiterentwickelnden naturwissenschaftlichen Methoden wie die Analyse stabiler Isotope konnten bestätigen, dass die vertikale Mobilität bereits in der
jüngeren Steinzeit in gewissem Umfang stattgefunden hat.
Aus Epochen mit schriftlichen Quellen gibt es
weit umfangreichere Belege für Transhumanz in
Form von Karten, literarischen Quellen, Straßenbegrenzungssteinen und dauerhafteren Unterkünften auf den Weideplätzen. Wir wissen, dass es ein
Netz von großen und kleinen Straßen gab, welche
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Gemeinsam unterwegs – Die Verflechtung von menschlichen und tierischen Wanderungen
Eine Ziegenherde, die durch
ein karges Weidegebiet im
südlichen Jordanien in der
Nähe des Wadi Finan zieht
(Foto: K. Varkuleviciute).
die Siedlungen im Tiefland mit den Weideplätzen im
Hochland verbanden. Diese Wege prägten die Art
und Weise, wie die Menschen lebten und sich bewegten, und sie beeinflussten auch die Landschaftsgestaltung und die Siedlungsentwicklung. Städtische
und ländliche Siedlungen entstanden in der Nähe
der Kreuzungen der Wanderwege, die in Italien als
tratturi, in Spanien als cañadas und in Frankreich
als carraires bekannt sind. In der Nähe der Straßen
befanden sich auch andere wichtige Bauwerke wie
Brücken, Kirchen, Tavernen, Bauernhöfe und Villen,
was zeigt, wie wichtig diese Wanderwege für das
tägliche Leben der Gemeinschaften waren. Diese
Straßen wurden im Laufe der Zeit auch verändert,
um sich an die veränderten Bedürfnisse anzupassen, z. B. durch Verbreiterung der Trassen, um größere Viehherden aufnehmen zu können, oder durch
den Bau neuer Straßen, um einen schnelleren Zugang zu bestimmten Weideflächen zu ermöglichen.
Auch heute noch verändern sich diese Wege ständig, da die traditionellen Straßen weniger genutzt
oder durch modernere Transportmittel wie Züge
und Lastwagen ersetzt werden.
Während im Mittelmeerraum die saisonale
Transhumanz vor allem aus ökologischen Gründen
praktiziert wird, die mit sommerlichen Dürren in den
tieferen Lagen zusammenhängen, hat die Transhumanz in den Alpen eher landwirtschaftliche Gründe:
Hier wird das Tiefland für den Getreideanbau gerodet, so dass die Tiere zum Weiden ins Hochland getrieben und dann wieder hinuntergebracht werden,
wenn es in den Bergen zu kalt wird.
Schlussfolgerungen
Wie die Beispiele aus den Lebenswelten der Jäger-Fischer und der Hirten zeigen, waren Tierzüge
Ankerpunkte für die Art und Weise, wie die Menschen ihre Landschaften verstanden, bewohnten
und organisierten. Die Routen der Tiere waren –
und sind – für die Menschen nicht nur wirtschaftlich (Nahrung), sondern auch kulturell und sozial
wichtig, zum Beispiel als Treffpunkte an Kreuzungen oder durch rituelle und kosmologische Bedeutungen bestimmter Wege und Orte. Im Laufe
der Geschichte entwickelten sich die Straßen im
Zusammenhang mit den Menschen und Tieren,
um sich an deren Lebensweise und Bedürfnisse
anzupassen, was zu neuen und nachhaltigen Verbindungsnetzen führte.
27
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Soziale Faktoren
Demographische Faktoren
Klimawandel
Migration
Umweltfaktoren
Politische Faktoren
Wirtschaftliche Faktoren
Mara Weinelt
Klimaflucht
Schätzungen des Weltklimarates (IPCC) gehen auf der Grundlage modellierter
Klimavorhersagen davon aus, dass bis 2035 mehr als 200 Millionen Menschen wegen
des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen und zu Flüchtlingen werden. Selbst
wenn es gelänge, die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu drosseln,
gehen die Expertinnen und Experten von immer noch 250 Millionen Klimaflüchtlingen
schon in 2100 aus. Besonders gefährdet von den Folgen des Klimawandels sind
aufgrund von Erwärmung, Meeresspiegelanstieg, Dürren und Überschwemmungen
die Arktis, die kleinen Inselstaaten im Pazifik, die dicht bevölkerten Flussmündungen
in Asien und die Gebiete Afrikas südlich der Sahelzone. Nicht nur dort, sondern
weltweit bewirkt der Klimawandel die Veränderung ganzer Ökosysteme, eine
Herausforderung für die zahlenmäßig noch wachsende Menschheit. Auch in Europa
sind die Menschen neuerdings zunehmend Extremereignissen ausgesetzt. Gefahren
wie häufigere, stärkere Dürren und Hitzewellen sowie Hochwasser- und SturmEreignisse erfordern dringend neue Strategien, dem Klimawandel zu begegnen.
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Klimaflucht
Multi-kausales Schema eines Konzeptes
von Klimawandel und Migration (nach
Felgentreff und Geiger 2013).
Jedoch ist das Konzept des Umwelt- oder Klimaflüchtlings, das seinen Ursprung in den 1980er
Jahren hat und in den frühen 2000er Jahren für die
aus New Orleans in Folge des Wirbelsturms Katrina
evakuierten Menschen geprägt wurde, keineswegs
unumstritten. Heute meint die Bezeichnung „Klimaflüchtling" recht unscharf alle jene Menschen, die
wegen regionaler Veränderungen des Klimas und
deren Folgen ihre angestammten Territorien auf
längere Zeit oder für immer verlassen und anderswo
eine Existenzgrundlage zu finden suchen. So fehlt es
bis heute an einer Definition von Umwelt- und Klimaflüchtlingen, noch findet ein Monitoring von Klimamigration überhaupt statt. Daher sind Schätzungen aufgrund vorhergesagter Klimaszenarien mit
sehr großen Fehlern behaftet, und teilweise wird die
Existenz von Klimaflüchtlingen ganz in Frage gestellt.
Folglich fehlt es erst recht an vorausschauenderen
und adäquaten Strategien, die Folgen von erwarteten Fluchtbewegungen zu mindern. Generell werden in einer einseitig verzerrten (Sicht der potenziell
zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichteten Ländern) politischen Debatte Flüchtlingsbewegungen
eher als Versagen von adaptiven Fähigkeiten denn
als adaptive Strategien gesehen. So wird in der Genfer Flüchtlingskonvention wie auch im deutschen
Asylrecht für Klimaflüchtlinge bis dato ein Asylrecht
allenfalls dann in Betracht gezogen, wenn ihr Hei-
matland insgesamt unbewohnbar geworden ist. Die
meisten Studien deuten allerdings auf vielschichtige
Ursachen hin, wobei Umweltveränderungen Auslöser, aber nicht alleinige Ursache von Migrationsentscheidungen sind. Auch wissenschaftlich ist der
Zusammenhang zwischen Klimawandel, Migration
und Flucht bislang nur unzureichend untersucht. Zu
selten noch wird insbesondere das Potenzial von Migration als Adaptationsmechanismus gesehen, eine
Sichtweise, die Migration weniger als problematisch
betrachtet, sondern im Gegenteil als Beitrag zur Lösung von Problemen würdigt, die durch Klimawandel verursacht werden.
Langfristige Prozesse verstehen:
Ein Blick in die Vergangenheit
Um diese Zusammenhänge und Muster besser
zu verstehen, lohnt ein Blick in die tiefere Vergangenheit. So kann die Analyse der Rolle von Klimawandel und sozialen Faktoren bei früheren Migrationsbewegungen zu einem besseren Verständnis
beitragen, welche Konsequenzen solche Dynamiken
langfristig für die betroffenen Regionen hatten. Alternative Strategien, strukturelle Merkmale und
Innovationspotenziale können identifiziert werden,
die frühere menschliche Gesellschaften gegenüber
den Gefahren des Klimawandels resilient gemacht
haben. Eine der Hypothesen, die der Exzellenzcluster
29
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Zu selten noch wird insbesondere das Potenzial
von Migration als Adaptationsmechanismus
gesehen, eine Sichtweise, die Migration weniger als
problematisch betrachtet, sondern im Gegenteil als
Beitrag zur Lösung von Problemen würdigt, die durch
Klimawandel verursacht werden. «
»
ROOTS untersucht, ist die, dass sozial ausgeglichenere Gesellschaften mit gutem Zusammenhalt bessere Möglichkeiten eines ausgewogenen Umgangs
mit Ressourcen und andere Formen der Nachhaltigkeit entwickeln und dadurch klimatischen Stress
langfristig abmildern konnten. Letztendlich können
gerade schlüssige archäologisch-umweltanalytische
Erkenntnisse zu einem Wechsel der Denkweisen in
der hochpolitischen Debatte beitragen. Sie können
helfen, die adaptiven Potenziale von Migration wie
auch die Bekämpfung der Ursachen für die Not Betroffener in den Vordergrund zu stellen. Dazu ist es
von zentraler Bedeutung, die sich gegenseitig bedingenden Effekte und komplexen Dynamiken von Klima-, Umwelt- und Gesellschaftswandel über längere
Zeiträume hinweg empirisch besser zu erfassen.
Während Ausmaß und Geschwindigkeit des
derzeitigen anthropogenen Klimawandels und seiner Folgen unbestritten beispiellos in der Menschheitsgeschichte sind, können historische und prähistorische Klimakrisen durchaus als Vorläufer
heutiger und künftiger Krisen betrachtet werden.
Die Forschung zeigt, dass Menschen wiederholt mit
veränderlichen Siedlungsmustern auf raschen Kli-
30
mawandel reagiert haben. Sie bezeugt auch, dass
tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen
häufig mit Umstellungen des Klimasystems und
damit verbundenen Umweltveränderungen einhergingen. Im Rückblick haben Menschen als Kosmopoliten schon früh ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt,
sich den unterschiedlichsten auf der Erde herrschenden klimatischen Bedingungen anzupassen.
Sie haben dort auch unter extremen Bedingungen
überlebt, solange die nötigen ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Errungenschaften zugänglich und dauerhaft nutzbar waren. Migration ist dabei ein tief verwurzeltes Muster
der Anpassung, das auch als Ausgangspunkt für die
Entwicklung geeigneter Strategien zum Umgang mit
raschem Klimawandel diente. Zu solchen Strategien
zählen etwa episodische Klimawanderungen, wie sie
in Afrika südlich der Sahara seit Generationen praktiziert werden. Dazu gehören aber auch Wirtschaftsstrategien, bei denen Feldbau mit Nutztierhaltung
auf Naturweiden kombiniert wird, wie die im Mittelmeerraum seit Jahrtausenden ausgeübte saisonale Transhumanz (vgl. Beitrag von H. Piezonka und
K. Varkuleviciute in diesem Band).
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Klimaflucht
FLUCHT NACH EUROPA
Auf welchen Routen kommen
Flüchtling über das Mittelmeer?
140.000
UNGARN
RUMÄNIEN
ITALIEN
Menschen haben
Europa 2018 über
das Mittelmeer
erreicht
> 2.200
Italien
23.400
BULGARIEN
Menschen haben auf
der Flucht ihr Leben
verloren oder gelten
als vermisst
SPANIEN
GRIECHENLAND
Spanien
66.000
Griechenland
50.500
Zentrale
Mittelmeerrouten
Westliche
Mittelmeerrouten
MITTELMEER
TÜRKEI
Östliche
Mittelmeerroute
ZYPERN
TUNESIEN
MAROKKO
ALGERIEN
Fluchtrouten
LIBYEN
ÄGYPTEN
Anzahl Flüchtlinge
Quelle: UNHCR (Stand: 14.06.2019); © Aktion Deutschland Hilft/S. Goedecke
Eine globale Klimakrise vor 4200 Jahren
Neue wissenschaftliche Ansätze ermöglichen
ein quasi rückwärts gerichtetes Monitoring früherer Flüchtlingsbewegungen unter erhöhtem Klimastress auf etablierten und möglichen Routen entlang ökologischer und/oder ökonomischer Gefälle.
Dazu identifizieren, rekonstruieren und analysieren
Expertinnen und Experten aus Archäologie und
Umweltwissenschaften gemeinsam die sozialen
Folgen früherer Klimakrisen und werten veränderliche Siedlungs- und Bevölkerungsmuster sowie
Umweltbedingungen aus verschiedenen regionalen
Archiven aus. Den heutigen und zukünftigen ähnliche Klimaszenarien fanden sich zuletzt im mittleren
Holozän (ca. 8000 bis 4000 Jahre vor heute). Damals
herrschten verbreitet wärmere und teilweise instabile Bedingungen im Vergleich zu den heutigen bzw.
vorindustriellen, verbunden mit Umweltgefahren
in ähnlicher Größenordnung. Das neben biblischen
Exodus-Szenarien wohl bekannteste historische Bei-
Heutige Fluchtrouten über das Mittelmeer nach
Europa. Der Anteil an „Klimaflüchtlingen" ist unklar
(Karte: © Aktion Deutschland Hilft / S. Goedecke;
Quelle: UNHCR, Stand 14.06.2019)
31
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Geomagnetische Rekonstruktion der Großgrabenanlage Monte da
Contenda, Arronches, Portugal. Solche zuvor für viele Jahrhunderte
existierende kupferzeitlichen Megasiedlungen wurden im Zuge der
4.2 ky Klima-Krise im Südwesten der Iberischen Halbinsel nahezu
vollständig aufgegeben (nach Ribeiro et al., 2019).
spiel einer „globalen Klimakrise“ der letzten 5000
Jahre ist das sogenannte 4.2 ky (= kilo year) Ereignis. Ausgelöst durch eine Störung des Monsun-Systems führte eine anhaltende Dürrephase vor etwa
4200 Jahren zum Kollaps großer urbaner Zentren
in Mesopotamien und löste große Flüchtlingsbewegungen aus den Trockengebieten hin in die Flussbereiche aus. Die Entwicklung neuer Strategien, diese
dichten Populationen vor dem Hintergrund knapper
Ressourcen zu managen, gilt als wichtige Antriebskraft für die Entwicklung früher Gesellschaften. Hinweise auf direkte Aus- und Fernwirkungen dieses
Ereignisses finden sich weit verbreitet auf der gesamten nördlichen Hemisphäre. Diese Auswirkungen auf unterschiedliche Kulturen unter verschiedenen Klima- und anderen Ausgangsbedingungen
sind derzeit Gegenstand intensiver Forschung.
32
Klima und Anpassung in der Bronzezeit
Iberiens
Eine Studie im Kieler Sonderforschungsbereich
1266 „Scales of Transformation“ hat gezeigt, dass
sich das 4.2 ky Ereignis auf der südlichen iberischen
Halbinsel, einer marginalen Region, mit ausgeprägten Dürrephasen manifestierte. Interessant ist diese
Erkenntnis, weil auch heute für die Iberische Halbinsel überdurchschnittlich zunehmende Trockenheit prognostiziert wird. Vor 4200 Jahren gingen
die Dürrephasen mit großräumigen Bevölkerungsveränderungen am Übergang von der Kupfer- zur
Bronzezeit einher, verliefen allerdings im östlichen
und westlichen Sektor unterschiedlich und teilweise gegenläufig. Während der Südwesten Iberiens
unter trockenen kalten Winterbedingungen einen
starken Bevölkerungsrückgang erfuhr, bei dem die
Aktivitäten in fast allen markanten kupferzeitlichen
Großsiedlungsanlagen um 4200 Jahre vor heute abbrachen, boomte die aufstrebende El-Agar-Kultur
im Südosten trotz ähnlich ungünstiger klimatischer
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Klimaflucht
Dazu ist es von zentraler Bedeutung, die
sich gegenseitig bedingenden Effekte und
komplexen Dynamiken von Klima-, Umweltund Gesellschaftswandel über längere
Zeiträume hinweg empirisch besser zu
erfassen. «
»
Bedingungen mit großen Bevölkerungszuwächsen
und offenbar gut angepassten Wirtschafts- und Ressourcenmanagement bis ca. 3600 vor heute. Eine
langsame Erholung der Bevölkerungszahlen und
die Etablierung neuer, bronzezeitlicher Kulturen
im Südwesten lässt sich hingegen erst einige Jahrhunderte später registrieren. Welche Rolle damals
tatsächlich Bevölkerungsbewegungen von Ost nach
West gespielt haben, ist derzeit noch schwer zu rekonstruieren. Hier werden weitere Untersuchungen
der Verwandtschaftsbeziehungen beider Regionen
anhand ihrer genetischen und kulturellen Signaturen Auskunft geben.
33
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 3:
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Kapitel 3: Wie weit reichen Wege zurück?
Wie weit reichen Wege zurück?
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Fundort Ahrensburger Kultur
Fundort Federmesser-Gruppen
Fundort Hamburger Kultur
Helgoland
N
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250 km
Versunkene Pfade in der Nordsee – Auf den Spuren spätpaläolithischer Rentierjäger vor der Küste Helgolands
Berit Valentin Eriksen und Wolfgang Rabbel
Versunkene Pfade in der Nordsee –
Auf den Spuren spätpaläolithischer
Rentierjäger vor der Küste Helgolands
Gegen Ende der letzten Eiszeit mussten Jäger- und Sammlergruppen mit weitreichenden
klimatischen Veränderungen fertig werden. Als sich die Welt erwärmte, schmolzen die
Gletscher, der Meeresspiegel stieg, große Gebiete wurden überflutet und ganze Landschaften
verschwanden im Meer. Dieses dynamische Muster der Landschaftsveränderung ist
ein wichtiges Forschungsthema im Exzellenzcluster ROOTS, in dem Forscherinnen
und Forscher den Zeitpunkt und die Art der Besiedlung Nordeuropas durch Jäger und
Sammler in dem Zeitraum zwischen ca. 15.000 und 9.500 v.u.Z. untersuchen. In der
Erdgeschichte bezeichnet man diese Zeit als spätes Pleistozän und frühes Holozän, mit
Blick auf menschliche Gemeinschaften und ihre Kultur spricht man vom Spätpaläolithikum.
Das Forschungsgebiet erstreckt sich dementsprechend weit über die heutige 'Terra firma'
hinaus bis hin zu den vergangenen Landschaften, die von der Nordsee überflutet wurden.
Archäologische Artefakte und vom Meeresboden gebaggerte tierische Überreste zeigen, dass
sich mobile Jäger- und Sammlergruppen einst im
Doggerland, heute mitten in der Nordsee gelegen,
aufhielten. Die frühere menschliche Nutzung dieser
ausgedehnten Region, die Dänemark, Deutschland,
die Niederlande, Belgien und Großbritannien miteinander verbindet, ist für unser Verständnis des prähistorischen Siedlungsverhaltens in Nordeuropa von
entscheidender Bedeutung. Heute ist vor allem die
südliche Nordsee als Fundort für Sedimente, Knochen und Artefakte aus dem Pleistozän und frühen
Ungefähre Ausdehnung von Doggerland (blau) im Spätglazial
sowie Meeresspiegel und Gletscher um ca. 11.000 v.u.Z. Die Karte
zeigt die Lage der archäologischen Inventare der wichtigsten
spätpaläolithischen Kulturgruppen (Hamburger, Federmesser und
Ahrensburger) mit Artefakten aus rotem Helgoländer Feuerstein
(nach C. Lux-Kannenberg, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloss Gottorf).
Holozän bekannt. Aus dem Gebiet um die Insel Helgoland liegen dagegen bisher keine steinzeitlichen
Artefakte vor. Archäologische Funde an Land deuten
jedoch darauf hin, dass während des Spätpaläolithikums prähistorische Jäger- und Sammlergruppen
zwischen Helgoland und dem heutigen Festland mit
Werkzeug-Sets aus dem charakteristischen roten
Helgoländer Feuerstein unterwegs waren.
Diese Jäger- und Sammlergruppen waren in
hohem Maße von Rentieren abhängig, und höchstwahrscheinlich haben sich diese Menschen beim
Verfolgen der wandernden Rentierherden in das
Doggerland-Gebiet vorgewagt. Rentierknochen werden heute häufig vom Nordseeboden gefischt oder
gebaggert, und man nimmt allgemein an, dass die
Herden regelmäßig zwischen dem heutigen Festland und den früheren Doggerlandgebieten hin
und her zogen. So deuten die Ergebnisse von Iso-
37
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
» Die Menschen der
Vergangenheit sind aufgrund
der Umweltbedingungen
bestimmten Routen
gefolgt. «
topenanalysen darauf hin, dass die Rentierherden
während des fraglichen Zeitraums größtenteils in
Ost-West-Richtung durch die Region zogen. Wahrscheinlich überwinterten sie im Osten und wanderten entlang der großen Flusssysteme und Schmelzwassertäler zu den Sommerweiden im Westen, also
nach Doggerland. Die Existenz von Transportmitteln
(Boote, Schlitten, Skier) im Spätpaläolithikum wird
in der Wissenschaft kontrovers diskutiert, da bisher
keine direkten Beweise vorliegen. Wir müssen also
davon ausgehen, dass Menschen die Rentiere jagten, indem sie die Herden entlang ihrer saisonalen
Wanderungen abpassten. Wahrscheinlich errichteten menschliche Gruppen ihre Lager an Aussichtspunkten, die auch andere Ressourcen für die Zeit
des Wartens boten.
Die modernen Bezeichnungen für die wichtigsten spätpaläolithischen Gruppierungen der Rentierjäger, Hamburger und Ahrensburger Kultur, leiten
sich von den namensgebenden Fundplätzen nördlich der Elbe im Ahrensburger Tunneltal bei Hamburg ab. Über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren schlugen die prähistorischen Jäger hier
immer wieder ihr Lager auf. Es steht außer Frage,
dass der alte Flusslauf der Elbe in der fraglichen Zeit
eine sehr wichtige Wanderroute markierte. Diese
Route hätte die Rentiere und ihre Jäger direkt nach
Helgoland geführt, das damals als feste Landmarke
in einer weiten und sich wandelnden Landschaft
auffiel. Die Reminiszenz an den australischen „Ayers
Rock“ ist natürlich spekulativ, aber aus der Sicht der
damaligen Jäger- und Sammlergruppen vielleicht
gar nicht so abwegig. Helgoland wäre mit Sicherheit
ein Aussichtspunkt gewesen, der den Jägern einen
perfekten Blick über die Landschaft und die Möglichkeit geboten hätte, wandernde Rentierherden
38
aus der Ferne zu erkennen. Darüber hinaus ist Helgoland der einzige Ort westlich des Jungmoränengebiets, an dem Feuerstein in guter Qualität natürlich
vorkommt. In der Steinzeit wäre dies eine begehrte
Ressource gewesen, die sogar einen Abstecher von
der Rentierjagd wert sein durfte.
Forschung auf dem Meeresgrund
Aufgrund der jüngeren Geschichte, einschließlich der schweren Bombardierungen während des
Zweiten Weltkriegs, gibt es auf Helgoland heute
keine Überreste von steinzeitlichen Siedlungen
mehr. Selbst die früher auf der nahegelegenen
Insel Düne aufgedeckten Feuersteinvorkommen
sind inzwischen vollständig verschwunden. Um das
Siedlungs- und Mobilitätsverhalten vergangener
Jäger- und Sammlergruppen zu erforschen, muss
man sich daher den versunkenen Gebieten in der
Umgebung zuwenden. Hier stellt der Bereich nördlich und nordöstlich von Helgoland einen hochinteressanten Bereich zur Modellierung und Vorhersage
prähistorischer Fundorte dar. Dieses Gebiet hat mit
hoher Wahrscheinlichkeit einst gute Möglichkeiten
für spätpaläolithische Siedlungen geboten. Allerdings ist noch nicht bekannt, inwieweit diese prähistorischen Landformen und Siedlungsplätze noch
unter dem Meer erhalten sind – das ist laufende
Forschung.
Beispiel eines roten Helgoländer Feuersteins (mit freundlicher
Genehmigung von S. Hartz, Museum für Archäologie, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloss Gottorf).
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Versunkene Pfade in der Nordsee – Auf den Spuren spätpaläolithischer Rentierjäger vor der Küste Helgolands
Künstlerische Darstellung
von spätpaläolithischen Rentierjägern vor Helgoland (mit
freundlicher Genehmigung
des Museums für Archäologie,
Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloss
Gottorf).
Prähistorische Jäger- und Sammlergruppen
zeichnen sich in der Regel durch ein hohes Maß an
Mobilität aus, und selbst auf dem Festland sind ihre
Lagerplätze oft schwer auffindbar. Auf der Grundlage ethnoarchäologischer Studien und regionaler
Erhebungen, bei denen eine große Zahl prähistorischer Siedlungsreste untersucht wurde, stellt man
jedoch fest, dass es bestimmte Faustregeln für die
Lage von Siedlungen gibt. Die Menschen der Vergangenheit sind aufgrund der Umweltbedingungen
bestimmten Routen gefolgt. Diese Routen sind besonders leicht zu rekonstruieren, wenn es ein großes Gewässer (See oder großen Fluss) gibt, an dem
sich die Bewegungen in der Landschaft orientieren.
Aussichtspunkte (d. h. Hügelkuppen mit guter Aussicht auf die Umgebung) wurden aufgrund ihrer exponierten Lage meist nur kurzzeitig genutzt. Häufiger wurden geschützte Standorte in der Nähe einer
Süßwasserquelle bevorzugt.
Perspektiven für die Forschung
Ziel der Forschung im Exzellenzcluster ROOTS
ist es, die spätpleistozäne und frühholozäne Landschaft im heutigen Nordseegebiet nördlich von
Helgoland zu rekonstruieren, die einst von spätpaläolithischen Jäger- und Sammlergruppen intensiv
genutzt wurde. Für diese frühe Bevölkerung muss
Helgoland als weithin sichtbare Landmarke von
immenser Bedeutung gewesen sein. Es muss ein
Orientierungspunkt in einer weiten Landschaft gewesen sein und zeitweise vielleicht das einzige feste
Objekt in einer dynamischen Umgebung. Gleichzei-
tig war Helgoland die Quelle von hochwertigem Feuerstein, der bereits in der späten Altsteinzeit über
weite Strecken in das heutige Binnenland transportiert wurde. Die Rekonstruktion der prähistorischen
Siedlungsmuster und Wanderungswege im Überflutungsgebiet ist daher eine der zentralen ungelösten Fragen der heutigen Steinzeitforschung für das
nördliche Mitteleuropa.
Antworten sollen unter anderem hochauflösende meeresgeophysikalische Messmethoden (z.
B. Hydroakustik) liefern, die es ermöglichen, vergangene Landschaftsformen, die heute unter dem
Meer liegen, zu untersuchen und zu kartieren.
Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Entwässerungssystemen, da diese für die Mobilität
und Siedlungsdynamik prähistorischer Jäger- und
Sammlergruppen eine entscheidende Rolle gespielt
haben. Die sedimentäre Füllung der Kanäle wird
im Detail untersucht, um ihre Entwicklung zu rekonstruieren. Zur Überprüfung der Daten dient die
Analyse von Sedimentkernen mit hochauflösenden
Multiproxy-Methoden (Sediment, Pollen, Foraminiferen sowie Makrofossilien von Pflanzen und Insekten). Die Integration der Daten aus den Kernen
und der Sedimentecholotdaten wird schließlich zu
einem detaillierten Modell der heute überfluteten
Paläolandschaft führen. Es ermöglicht im Idealfall,
die wahrscheinlichen Standorte der Siedlungen der
Jäger und Sammler und die damit verbundenen Migrationswege zu Lande und zu Wasser aus der fraglichen Zeit zu bestimmen.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Johanna Hilpert und Jutta Kneisel
Ursprünge der Seidenstraße
d
oa
kR
il
rS
la
Po
Ulaanbaator
Istanbul
Valencia
Piraeus
Suez
Chittagong
Nairobi
Singapore
Wirtschafts- und Transportkorridore der „Belt and Road
Initiative“ (BRI)
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Schematischer Verlauf
der sog. antiken Seidenstraßen
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Ursprünge der Seidenstrasse
Seit jeher nutzen die Menschen bestimmte Wege für Migration, Tausch und Handel.
Sie entwickelten über weite Strecken reichende Kommunikationsnetzwerke. Entlang
dieser Routen wurden nicht nur Waren verteilt, es breiteten sich auch Ideen,
Innovationen, Technologien sowie Gene oder Krankheiten aus. Diese von geographischen
Gegebenheiten geprägten Korridore haben schon immer einen großen Einfluss auf
lokale, trans- und interkontinentale Entwicklungen. Ortschaften in vorteilhafter
Lage konnten beispielsweise die Kontrolle über den Warenfluss erlangen, und sie
entwickelten damit strategische Vorteile gegenüber abgelegeneren Ansiedlungen.
„The New Silk Road“, Ziel und Verlauf
Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Korridore
ist in jüngster Zeit durch die chinesische „Belt and
Road Initiative“ (BRI) wieder verstärkt ins Zentrum
des öffentlichen Interesses gerückt. BRI hat das Ziel,
durch den Aufbau von Infrastruktur über Land und
See und die Etablierung einer Wirtschaftsroute die
Anbindung von Ostasien nach Afrika und Europa zu
ermöglichen und zu festigen. Dabei werden sowohl
vorhandene Strukturen weiter ausgebaut als auch
neue Versorgungswege und Knotenpunkte wie Häfen, Güterbahnhöfe und ganze dazugehörige Städte
geschaffen.
Die Anbindung von China nach Europa erfolgt
entlang vier Haupttrassen. Die maritimen Routen
erreichen den europäischen Kontinent über den hohen Norden („Polar Silk Road“) und im Süden über
das Mittelmeer („21st Century Maritime Silk Road“).
Die landgebundenen Korridore verlaufen zum einen
über die Landbrücke südlich des Schwarzen Meeres und zum anderen im Nordosten über den Ural.
Der südwestliche Weg führt über Iran, Afghanistan
und die Türkei, den Bosporus überquerend entlang
der Donautiefebene nach Zentraleuropa. Die nordöstliche Route läuft durch Sibirien durch die nordeuropäische Tiefebene, wo sie sich bei Berlin mit der
südöstlichen Route verbindet und zu den großen
Umschlagplätzen um Nürnberg und Duisburg führt.
Es liegt auf der Hand, dass der Verlauf dieser
Routen von den Landschaften, durch die sie führen,
Wirtschafts- und Transportkorridore der „Belt and
Road Initiative (BRI) und schematischer Verlauf der
antiken Seidenstraßen (Karte: J. Hilpert).
beeinflusst wurde. So bilden Flusstäler, Gebirgspässe und Landbrücken natürliche Korridore. Menschliche Eingriffe und technische Neuerungen, wie
beispielsweise der Bau des Suezkanals oder die Entwicklung von Flugzeugen, haben tiefgreifende Auswirkungen auf den Fluss von Waren und Menschen.
Jedoch ist der prinzipielle Verlauf von Schiffswegen,
Straßen und Schienen immer den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterlegen. So lassen sich die großen
Muster heutiger Handels- und Kommunikationstrassen bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen.
„Seidenstraße(n)“ im 2. Jahrhundert v.u.Z.
Der Rückbezug der „Neuen Seidenstraße“ in
(prä-)historischen Zeiten ist auch Teil des chinesischen Narrativs des 21. Jahrhunderts. Seit Beginn
der Initiative bezieht man sich auf die berühmte
antike Seidenstraße, die bereits seit dem 2. Jahrhundert v.u.Z. den chinesischen Raum mit Europa verbunden haben soll. Der Begriff der „Seidenstraße(n)“
wurde Ende des 19. Jahrhunderts von dem Geographen Ferdinand Freiherr von Richthofen geprägt. Er
beschrieb damit die Routen, welche die fernöstliche
Han-Dynastie vor mehr als 2000 Jahren mit dem Mittelmeerraum und Rom verbanden. Dabei handelt es
sich aber nicht um eine einzelne definierte Straße
quer durch den asiatischen Kontinent, sondern um
ein ganzes Netzwerk von Verbindungswegen, die
einen sehr großen geographischen Raum verknüpften. Auf diesen Routen bewegte sich weit mehr als
nur die Handelsware Seide. Tiere, Menschen, Sprachen, Innovationen und Religionen, aber auch Konflikte oder Krankheiten breiteten sich entlang der
Route aus, wie beispielsweise die Pest.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
» Seit jeher nutzen die Menschen bestimmte
Wege für Migration, Tausch und Handel. Entlang
der genutzten Routen wurden nicht nur Waren
verteilt, es breiteten sich auch beispielsweise
Ideen, Innovationen, Technologien sowie Gene oder
Krankheiten aus. «
Beispiele prähistorischer Routen (1):
Die erste Migrationswelle des Homo
sapiens vor 100.000 bis 25.000 Jahren
Die genannten Korridore, die heute bei der Erschließung die BRI und bei den historischen sogenannten Seidenstraßen so überaus wichtig waren,
spielten schon viel früher eine bedeutende Rolle.
Bereits in der Prähistorie, also in der Zeit vor der
schriftlichen Geschichtsschreibung, waren die Verbindungswege vom Bosporus über die Karpaten
und Alpen im Süden und die Route vom Ural in die
Nordeuropäische Tiefebene im Norden wichtig. Die
Nutzung dieser Wege lässt sich an Verteilungsmustern archäologischer Funde nachvollziehen.
Hinterlassenschaften der ersten modernen
Menschen, des Homo sapiens, machen beispielsweise seine Migration nach Europa nachvollziehbar.
Früheste Funde weisen darauf hin, dass erste Gruppen den afrikanischen Kontinent bereits vor mehr
als 100.000 Jahren verließen. Sie erreichten Europa
dabei durch die gleichen geographischen Korridore,
die der BRI heute nutzt. Sie gelangten sowohl über
die Sinai-Halbinsel als auch durch das „Tor der Tränen“, die Bab-el-Mendeb-Meeresstraße zwischen
dem Roten Meer und dem Golf von Aden, auf die
arabische Halbinsel. Menschenknochen, aber auch
andere Funde wie Steinwerkzeuge sowie genetische
Untersuchungen belegen, dass eine Hauptroute
der Migration über die Levante verlief und über die
Meerenge zwischen dem Schwarzem Meer und dem
Marmarameer nach Europa führte.
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Die Besiedlung der restlichen Welt von Afrika
aus wird in mehreren Wellen vonstattengegangen
sein. Während sich nicht abschätzen lässt, ob alle
Auswanderungswellen erfolgreich waren, so steht
doch fest, dass in Europa die ersten Gruppen des
modernen Menschen spätestens vor 40.000 Jahren
Rumänien erreichten, und dann vor mindestens
25.000 Jahren in Portugal ankamen.
Beispiele prähistorischer Routen (2):
Ausbreitung neuer Lebenskonzepte mit
den ersten Bauern in Zentraleuropa vor
10.000 bis 7000 Jahren
Auch die Ausbreitung der ersten Bauern Richtung Zentraleuropa erfolgte über dieselben Korridore wie bereits zuvor. Im Bereich des fruchtbaren
Halbmondes im Norden der arabischen Halbinsel
gaben erste Menschengruppen vor ca. 10.000 Jahren
ihr Dasein als Jäger und Sammler auf und wurden
sesshaft. Sie fingen an, Häuser zu errichten, Getreide anzubauen und Schafe, Ziegen und Rinder zu
domestizierten. Sie stellten Tongefäße zum Kochen
und zur Vorratshaltung her.
Über den Landweg erreichten diese ersten
jungsteinzeitlichen Kulturen über den Bosporus das
Donaubecken, wo die sogenannten linearbandkeramischen Gruppen entstanden. Die Menschen der
Linearbandkeramik begaben sich auf große Wanderungen, um neue Siedlungen auf den fruchtbaren
Lössböden Zentraleuropas zu errichten. Sie nutzten
auf dem Weg in die nordeuropäische Tiefebene das
Donautal als natürliche Passage durch die großen
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Ursprünge der Seidenstrasse
Ausbreitungsweg der
ersten seßhaften Kulturen
Ausdehungsgebiet der
Migrationsrouten des
Linearbandkeramik
Homo Sapiens nach Europa
Migrationsrouten des anatomisch modernen Menschen nach Europa und Ausdehnung der ersten sesshaften Gemeinschaften
(Karte: J. Hilpert).
Gebirge der Alpen und Karpaten. Nur wenige Jahrhunderte später erreichte die Linearbandkeramik
ihre maximale Ausdehnung. Ihr Gebiet umfasste die
ungarische Tiefebene und erstreckte sich von den
Ebenen westlich des Schwarzen Meeres im Osten
bis nach Kujawien in Polen. Nördlich entlang der Alpen verlaufend, reichte es bis nach Westfrankreich
und in die niederrheinische Tiefebene.
Die Kommunikation innerhalb der Ausbreitungsgebiete dieser ersten sesshaften Kulturen brach jedoch nicht ab. Anhand von Verzierungselementen
der Keramik und der Verteilung von Artefakttypen
wie persönliche Schmuckstücke aus der Spondylusmuschel aus Adria und Ägäis lassen sich weitreichende Verbindungen nachvollziehen. Die Menschen hörten also nicht auf zu reisen und hielten über weite
Strecken Kontakt miteinander.
Beispiele prähistorischer Routen (3):
Neue Technologien und Statussymbole
in der Bronzezeit vor 3700 bis
2800 Jahren
Am Beginn der Bronzezeit führte der neue Bedarf an Rohstoffen wie Kupfer und Zinn zu einer Intensivierung der Netzwerke. Das technische „Knowhow“ der Bronzeherstellung und der dafür nötige
Rohstoff gelangen entlang des Kaukasus über die
Karpaten weiter bis nach Nordeuropa. Dieser Prozess dauerte über zwei Jahrtausende an. Überall
dort, wo das neue Metall genutzt wurde, erleben wir
gesellschaftliche Veränderungen und die Zunahme
sozialer Ungleichheit. Prunkvolle Monumentalbauten und reiche Gräber zeugen in vielen Teilen Europas von einer wohlhabenden Oberschicht, die Kontrolle und Macht über Kupfer und Zinn hatte.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Natürliche Bernsteinvorkommen im Nord- und Ostseeraum,
Ausbreitung von Bernsteinartefakten und Kaurischnecken
sowie lokale Zentren mit Gesichtsurnen in der Bronze- und
Eisenzeit (Karte: S. Beyer und
J. Kneisel).
N
Kauri
Salz
Bernsteinvorkommen
+
Relative Häufigkeit
angeschwemmten Bernsteins
Austauschrouten
Bernsteinartefakte
Lokale Zentren mit Gesichtsurnen
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300 km
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Ursprünge der Seidenstrasse
Diese Routen können durch Luxusgüter wie den
Bernstein erfasst werden (vgl. Beitrag von B. Serbe
und K. Saleem in diesem Band). Bernstein gelangte mit regulärem Handelsgut in die entferntesten
Gebiete, von den baltischen Fundplätzen bis nach
Ägypten und in die Levante. Die Verteilungsmuster
des Bernsteins waren über die Zeit veränderlich und
richteten sich nach Angebot und Nachfrage. Der Zusammenbruch von ganzen Gesellschaftssystemen
führte zur Erschließung neuer Handelspartner und
Herausbildung neuer Zentren, die für einige Jahrhunderte Bestand hatten. In diesen Zentren akkumuliert sich Reichtum, und weitreichende Verbindungen sind durch exotische Artefakte sichtbar.
Im Schlepptau von Waren und Technologie verbreiten sich auf diesen Wegen auch Weltanschauungen und religiöse Elemente. Die Einführung der
Brandbestattung etwa folgte den großen Austauschrouten, die eingangs beschrieben wurden.
Beispiele prähistorischer Routen (4):
Handelszentren und Händler der
Eisenzeit vor 2 800 bis 2 400 Jahren
Doch wer waren die Händler? In der Eisenzeit entstehen in Europa Machtzentren, die erneut
durch monumentale Grabhügel gekennzeichnet
sind. Zentrale Siedlungen und einzelne Regionen
mit einer Häufung von Gütern wie Gold, Bernstein
und Exotika wie Glas und Kaurischnecken sowie Elfenbein zeugen von weitreichenden Kontakten vom
Baltikum bis zum Indischen Ozean. Glas und Elfenbein verbreiten sich in dieser Zeit über das Mittelmeer und die Balkanroute bis nach Nordeuropa. Die
Kaurischnecken dagegen gelangen über die nördliche Route, wahrscheinlich durch die Vermittlung
früher Reiternomaden, nach Polen und später über
die südliche Route über Ungarn und die Karpaten
bis nach Süddeutschland.
Der Reichtum der Zentren ist verknüpft mit besonderen Rohstoffen und mit der Kontrolle dieser
Rohstoffe wie Salz im Südharz oder in den Alpen,
Bernstein in Jütland oder an der Danziger Bucht,
oder Metalle. In Nordeuropa lassen sich die Händlergruppen, die zwischen den Zentren hin- und
Der Mensch ist schon
immer mobil, er prägt
seine Umwelt, aber die
Umwelt prägt auch den
Menschen und seine
Mobilitätsmuster. «
»
herreisen, anhand ihrer Bestattungssitte belegen.
Urnen mit Gesichtern treffen wir in Dänemark, an
der Danziger Bucht sowie in Mitteldeutschland und
Italien an, immer in rohstoffreichen Gebieten und
immer mit Lücken zwischen diesen Regionen (vgl.
Beitrag von J. Kneisel in diesem Band). Über die
Polarroute gelangen einzelne Exemplare bis nach
Norwegen.
Fazit
Der Blick in vergangene Jahrtausende zeigt,
dass die moderne Seidenstraße uralten Mobilitätsmustern folgt, die seit Menschheitsbeginn der Verbreitung von Innovationen, Techniken, Rohstoffen,
Ideen, aber auch gesellschaftlichen Entwicklungen
Vorschub leisteten. Die Routen über Land und über
das Meer folgen dabei naturräumlichen Gegebenheiten, wie Flusstälern, Bergpässen, Strömungen
und Windrichtungen. Entlang dieser Routen entstanden Zentren, die maßgeblich die regionale Entwicklung beeinflussen und an denen sich Reichtum
und Luxus in Form von Exotika akkumulierte.
Der Mensch ist schon immer mobil, er prägt seine Umwelt, aber die Umwelt prägt auch den Menschen und seine Mobilitätsmuster. Denn es sind die
gleichen Routen, auf denen die Flüchtlingsströme
sich bewegen, neue Ideen und Vorstellungen nach
Europa bringen. Es sind aber auch die gleichen
Wege, auf denen Technologie verbreitet und Waren
verhandelt werden.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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„On the Road Again“: Reisewege durch Jütland – Der Ochsenweg, eine jahrtausendealte Route
Jutta Kneisel, Bente Majchczack, Franziska
Engelbogen, Anna K. Loy, Oliver Nakoinz
„On the Road Again“: Reisewege
durch Jütland – Der Ochsenweg, eine
jahrtausendealte Route
„On the road again“. Jeden Sommer bewegt sich eine Karawane aus Autos und Wohnmobilen
in den Norden nach Dänemark, Schweden und weiter nach Norwegen. Das Ziel für Tausende
von Sommerurlaubern sind die Ferienwohnungen und Campingplätze Skandinaviens.
Übernachtungszahlen aus dem Jahre 2019 belegen, dass die Westküste Dänemarks um
Zentren wie Ribe und Ringköping, Skagen an der Nordspitze, und Djursland an der Ostküste
bevorzugt werden. Zwei Hauptrouten, die die Urlauber benutzen, umfassen zum einen
die Bundesautobahn A7 beziehungsweise die Europastraße E45, die auf dem Geestrücken
von Schleswig-Holstein nach Hirtshals oder Frederikshavn zu den Fähren nach Schweden
und Norwegen führt. Zum anderen sind es die Bundesstraßen an der Westküste, die
Nr. 5 und 11, die die Urlauber nach Norden bringen. Diese gut ausgebauten Straßen
ermöglichen heute ein schnelles Vorankommen innerhalb eines Tages. Doch folgen die
modernen Routen jahrtausendalten Wegesystemen, die sich über die Jütische Halbinsel
ziehen. Nicht immer waren diese Wege offen, und nicht immer war das Ziel der Norden.
Ochsenweg
Der Ochsenweg ist heute eine beliebte touristische Attraktion in Schleswig-Holstein. Auf Strecken,
die noch heute den Namen Ochsenweg oder Heerweg führen, lässt er sich mit dem Fahrrad von Hamburg bis Nordjütland erkunden. Der Name Ochsenweg stammt aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, als die
Route für den Massentransport von Ochsen nach
Westeuropa verwendet wurde. Die Ochsendrift war
Der Ochsenweg in Schleswig-Holstein, hier
bei Lürschau, bildete eine bis zu 80 m breite
Trasse (Foto: L. Hermannsen, Archäologisches Landesamt Schleswig-Holstein).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
» Der Ochsenweg ist dabei
keineswegs als eine einzelne Route zu
verstehen. Mehrere Trassen verliefen
von Norden nach Süden und wiesen
teils auch Querverbindungen auf. «
ein lohnendes Geschäft der Kaufleute. Sie erwarben
die überzähligen Rinder in Nordjütland und trieben
sie im Frühjahr zu den Märkten nach Itzehoe und Husum zum Verkauf. Dort erholten sich die Rinder auf
den fetten Sommerweiden und wurden im Herbst
weiterverkauft. Bis zu 24.000 Ochsen passierten in
einem Jahr die Grenze nach Holstein. Entlang der
Wege standen Rasthäuser mit großen Weideflächen,
in denen die Treiber und das Vieh pausieren lassen
konnten. Je nach Startpunkt dauerte die Reise 1-2
Wochen mit Tagesleistungen von etwa 30-40 km.
Der Ochsenweg ist dabei keineswegs als eine einzelne Route zu verstehen. Mehrere Trassen verliefen
von Norden nach Süden und wiesen teils auch Querverbindungen auf. Teile der Hauptroute Ochsenweg
verlaufen parallel zu der heutigen Europastraße E45
und den Bundesstraßen entlang der Westküste. Moderne Wegstreckenberechnungen belegen, dass die
Route des Ochsenwegs tatsächlich den kostengünstigsten und kürzesten Wegen folgt. Noch heute sind
die breit ausgetretenen Wege an einigen Stellen in
der Landschaft sichtbar.
Ältere Wegesysteme
Der Ochsenweg entstand nicht erst im Mittelalter, sondern orientiert sich an noch älteren, teils
bereits vor 5500 Jahren bestehenden Wegesystemen. Sichtbar werden diese älteren Wegesysteme
anhand von markanten Monumenten in der Land-
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schaft, den Großsteinbauten der Steinzeit und den
Grabhügeln der Bronzezeit. Besonders die bronzezeitlichen Grabhügel, von denen wir heute über
90.000 kennen, bilden ein dichtes Netz von Landmarken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Hügel
entlang von älteren Wegen errichtet wurden. Ihre
Lage auf Kuppen und an Moränenkanten macht sie
zu idealen Wegmarken für die bronzezeitlichen Verbindungsrouten auf der Jütischen Halbinsel. Auch
heute noch sind die Hügel über große Entfernung
in der Landschaft sichtbar. Sie stehen für ein komplexes Wegesystem. Anders als der Ochsenweg, der
auf den Austausch entlang einer Nord-Süd-Achse fokussiert ist, weisen die bronzezeitlichen Wege auch
auf lokale Kommunikationsnetzwerke hin. Diese
binden das Hinterland in das übergeordnete Wegenetz ein. Im dänischen Amt Ringköping verlaufen die
Wege kreisförmig, bevor sie wieder auf die Hauptroute treffen. Hügelketten entlang des Limfjords
belegen Ost-West-Verbindungen zwischen Ost- und
Nordsee. Die Hauptorientierung der Wegerouten
verläuft allerdings Nord-Süd und in weiten Teilen
überlappend mit dem Ochsenweg.
In der Bronzezeit, ab etwa 1700 v.u.Z., ist der
Norden in ein gesamteuropäisches Austauschnetzwerk eingebunden. Rohstoffe wie Kupfer und Zinn,
aus denen die Bronze entsteht, stammen aus dem
Karpatenbecken oder dem alpinen Raum (vgl. Beitrag von J. Hilpert und J. Kneisel in diesem Band).
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„On the Road Again“: Reisewege durch Jütland – Der Ochsenweg, eine jahrtausendealte Route
Diese wichtige Nord-Süd-Verbindung und ihre Abzweigungen nach Osten und Westen führten zu
bedeutenden lokalen Zentren. Sie bedingten oder
förderten die Entwicklung des Wegenetzes, und an
ihren Endpunkten konnte sich Reichtum akkumulieren. Gleichzeitig waren sie zu bestimmten Zeiten
Ausgangspunkte kultureller Entwicklung, die sich
von dort aus über den ganzen Ostseeraum verbreitete. Aus der Errichtungszeit der Grabhügel (17001100 v.u.Z.) sind besonders reiche Bronzebeigaben
überliefert. Schmuckscheiben, Fibeln, Schwerter
und Dolche weisen auf reiche Gesellschaftsschichten hin, die Zugang zu den Ressourcen des Südens
Die Verteilung bronzezeitlicher Grabhügel, eisenzeitlicher
Grubenfelder und eisenzeitlicher
bis mittelalterlicher Wall- und
Grabenanlagen, sowie der Verlauf
des Ochsenweges auf der Jütischen Halbinsel (Karte: J. Kneisel
und B. Majchczack).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
hatten und sich mit Prunkbeigaben und Statussymbolen der neuen Zeitepoche bestatten ließen. Die
Bronze gelangte über die Hauptroute entlang der
heutigen Europastraße E45 in den Norden und verteilte sich in Mittel- und Nordjütland über die kleineren Wegenetze.
Grenzen und Sperrungen
Doch nicht immer waren die Wegenetze offen
und zugänglich. Ab der Eisenzeit (ca. 500 v.u.Z.) beobachten wir die Entstehung von Befestigungsgräben und Landsperren. Die Landsperren bestehen
aus kleinen dichten Grubenfeldern und sind vor
allem an der Westküste nördlich von Esbjerg und
bei Ringköping belegt. Sie liegen häufig quer zu den
Grabhügelreihen und blockieren den Zugang der
kreisförmigen Routen im Amt Ribe und Ringköping
zur Nordsee. Wall- und Grabenanlagen wie der Ol-
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gerdiget aus dem 1. Jh. v.u.Z. liegen an der Ostküste
der Jütischen Halbinsel und werden als Grenzbefestigungen zwischen den Jüten und Angeln angesehen.
Das Danewerk, ein Wallsystem, das im Mittelalter
seine Blütezeit erlebte, grenzt die Jütischen Halbinsel an ihrer engsten Stelle vom Süden ab. Doch nicht
jede Engstelle bildete eine Grenze: Gerade an engen
Kreuzungen oder Querstraßen zwischen Wasser
und Landstraßen wurden die wichtigsten Handelsplätze und Städte gegründet, wie etwa Haithabu/
Schleswig und Ribe oder Aalborg.
Und sie reisten weit…
Die beschriebenen Wegesysteme, von der Steinzeit bis hin zu den heutigen Autobahnen, folgen den
naturräumlichen Begebenheiten der Landschaft.
Die Hauptrouten verliefen entlang der Geestrücken,
die mit ihren sandigen Flächen schnellen Abfluss
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„On the Road Again“: Reisewege durch Jütland – Der Ochsenweg, eine jahrtausendealte Route
Ydby Hede, Nordjütland:
Bronzezeitliche Landschaft mit
Grabhügeln und modernem
Weg (Foto: J. Kneisel).
» Auch heute können wir
noch beobachten, welch große
Auswirkungen Sperrungen dieser
Hauptwege zur Folge haben können,
und wie wichtig dementsprechend ein
funktionierendes Wegenetz für den
Kontakt und Transport zwischen den
Regionen ist. «
von Regenwasser ermöglichten und im Gegensatz
zu den feuchten Marschen einfacher zu durchqueren waren. Sie folgten Furten und bildeten die kürzeste begehbare Verbindung zwischen der Jütischen
Halbinsel und dem Süden. Eine der bekanntesten
Routen führt bereits seit der jüngeren Steinzeit von
der Gegend um Rendsburg über Schleswig und
Flensburg bis nach Aalborg am Limfjord. Weitere
Routen verliefen zu den nordfriesischen Inseln oder
der Thy Region in Nordwestjütland. Grabhügelreihen und Großsteingräber markieren seit 5000 Jahren den Verlauf dieser Routen.
Die Interessen und die Richtung des Handels
wechselten allerdings über die Jahrhunderte: Bronze aus dem Süden, Rinder aus dem Norden bis hin
zu Feriengästen aus dem Süden. Gleichzeitig waren
diese Wegenetze auch immer wieder anfällig für
Unterbrechungen und Sperrungen, wie wir sie bei-
spielsweise aus der Eisenzeit und dem Mittelalter
kennen. Bestehende Wegenetze wurden durch Befestigungsanlagen kontrolliert, gesperrt und regionale Grenzen zwischen Bevölkerungsgruppen gezogen. Damit sind diese Wegesysteme ein Spiegel
der jütischen Geschichte über viele Jahrtausende
hinweg.
Auch heute können wir noch beobachten, welch
große Auswirkungen Sperrungen dieser Hauptwege
zur Folge haben können, und wie wichtig dementsprechend ein funktionierendes Wegenetz für den
Kontakt und Transport zwischen den Regionen ist.
Die jütischen Wegesysteme sind Teil eines Europäischen Wegenetzes und damit Ausdruck der europäischen Vernetzung. Sie belegen Austauschprozesse
seit der Steinzeit und sind als Infrastruktur zugleich
ein Mittel dieses Austauschs.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Wandeln auf alten Pfaden – Nutzen wir noch immer keltische Wege?
Franziska Engelbogen
Wandeln auf alten Pfaden – Nutzen
wir noch immer keltische Wege?
Ist man heute auf einer Autobahn oder Landstraße unterwegs, liegen Gedanken an
die Vorzeit nicht gerade nahe. Im Südwesten Deutschlands oder in Südeuropa denkt
man vielleicht noch am ehesten an römische Straßen, die sich schnurgerade durch die
Landschaften zogen und den „unzivilisierten“ Norden für die römischen Invasoren zugänglich
machten. Doch dass viele unserer heutigen Wegstrecken tatsächlich auf deutlich älteren
Wegen beruhen, ist weniger bekannt. Wie weit gehen unsere Wege in die Vergangenheit
zurück? Wandeln wir noch heute auf keltischen, oder sogar noch älteren Pfaden?
Wie finden Archäologen Wege?
Mit der Befestigung eines Weges durch Schotter oder Pflastersteine ist die Wahrscheinlichkeit,
dass dieser auch nach zweitausend Jahren noch erhalten bleibt, deutlich höher. Es verwundert daher
nicht, dass römische gepflasterte Straßen viel bekannter sind als ihre noch älteren Vorgänger. Doch
auch ohne massive bauliche Maßnahmen können
sich Wege erhalten. So sind beispielsweise Hohlwege aus dem Mittelalter in ganz Europa bekannt. Ein
Hohlweg ist ein Trampelpfad oder Fahrweg, der sich
durch die intensive Nutzung im Laufe der Zeit immer
weiter in den Untergrund eingetieft hat. Durch fehlende Vegetation, ein leichtes Gefälle und weichen
Boden ist so im Laufe der Jahre und Jahrhunderte
durch jeden Fußgänger, Ochsen- oder Pferdekarren
Erde verloren gegangen. Ein anderes Beispiel sind
Bohlenwege, die teilweise seit der Jungsteinzeit vor
allem in moorigem Gelände nachgewiesen werden
können (vgl. Beitrag von J. P. Brozio in diesem Band).
Römische Straßen zwischen dem Kaiserstuhl
und Strasbourg (nach K. S. Gutmann 1912, 16-25).
Hier kommen zwei günstige Faktoren zusammen:
Zum einen macht der feuchte, moorige und durchaus gefährliche Untergrund eine Befestigung durch
Bohlen und andere hölzerne Elemente notwendig;
zum anderen kann das Holz bis heute im feuchten
Boden konserviert bleiben. Diese Bedingungen
treffen allerdings nur auf einige besondere Stellen
in wenigen Gebieten Europas zu. Um alte Wege in
anderen Regionen und Zeiten erkennen zu können,
greifen Archäologinnen und Archäologen auf andere Hinweise zurück.
Von alten Steinen und Grabhügeln
zu Wegen
Am Anfang steht die Überlegung, wie man sich
in vorgeschichtlichen Zeiten – ohne Landkarte, Straßenschilder oder Navigationssysteme – in der Landschaft orientiert hat. Auffällige Bäume, Felsen oder
Flussbiegungen sind hier sicherlich genutzt worden,
aber diese sind nicht immer sehr beständig. Die
jüngsten Unwetterkatastrophen beispielsweise im
Ahrtal zeigen drastisch, wie sich eine Landschaft
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Grabhügel in Jütland als Wegweiser für den Ochsenweg (nach S. Müller 1904).
nach nur einem Regenereignis verändern kann. Wie können also Verbindungen erhalten bleiben, die über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende Bestand hatten?
Seit der Bronzezeit werden nahezu in ganz Europa Grabhügel errichtet, die bis heute in großer Anzahl in der Landschaft sichtbar sind.
Es sind Bestattungsplätze, die bis in die Eisenzeit hinein errichtet und
genutzt wurden. Über einem zentralen Grab wurde ein Erdhügel aufgeschüttet, in welchen später teilweise noch weitere Menschen bestattet wurden oder auf den noch weitere Erdschichten aufgetragen
»
Am Anfang steht die Überlegung, wie man sich
in vorgeschichtlichen Zeiten – ohne Landkarte,
Straßenschilder oder Navigationssysteme – in
der Landschaft orientiert hat. «
wurden. Solche Grabmonumente können daher sehr unterschiedlich
groß sein. Beispielsweise ist der Magdalenenberg (Baden-Württemberg) mit etwa 100 m Durchmessern einer der größten Grabhügel der
frühen Eisenzeit. Ihre meist exponierte Lage auf Hügelrücken, ihre
teilweise immense Größe, ihre Lage in Sichtweite zu Flüssen und auch
ihre Erwähnung in Sagen, wie z.B. der Sage von Beowulf, legen nahe,
dass diese Monumente auffallen sollten, gesehen werden sollten, und
somit auch als Orientierung dienten.
Bereits früh in der Erforschung von Routen hat der dänische Altertumsforscher Sophus Müller den Zusammenhang von Wegen und
Grabhügeln am Beispiel des Ochsenweges festgestellt (siehe Beitrag
#8 Kneisel et al). Auf der Karte kann man deutlich erkennen, dass sich
die Grabhügel entlang einer Linie aufreihen. Der Ochsenweg folgt dieser so markierten Linie. Es genügt, den Grabhügel sehen zu können,
man musste nicht unbedingt darauf steigen, um dem Weg zu folgen.
Für eine bessere Rundumsicht bietet sich ein Umweg auf die Hügelkuppe jedoch an.
Durch die moderne Landwirtschaft sind inzwischen zahlreiche
Grabhügel verloren gegangen; in bewaldeten Gebieten sind sie dagegen noch immer gut sichtbar. Die Tradition der Grabhügel setzte in
der Bronzezeit ein und endete mit der Eisenzeit. Genau in dieser Zeit
werden also die meisten der heute noch sichtbaren Grabhügel be-
» Wir nutzten noch immer dieselben Routen, wir
überqueren an den gleichen Stellen die Flüsse – auch
wenn es heute viel schneller und bequemer geht. «
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Wandeln auf alten Pfaden – Nutzen wir noch immer keltische Wege?
Eisenzeitliches Wegenetz und
bekannte Grabhügel in Baden-Württemberg (nach F. Faupel 2021).
standen haben. Für die Forschung sind diese Hügel
also eine wunderbare Quelle, um alte Wege der Vorgeschichte wieder zu finden.
Wandeln wir noch immer auf keltischen
Wegen?
Um alte Wege zu rekonstruieren, nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters ROOTS neben klassischen Ausgrabungen auch modernste computergestützte Methoden.
Basierend auf der Kartierung aller bekannten Grabhügel berechnet ein Algorithmus beispielsweise die
ideale Strecke entlang der Hügel, umgeht Umwege
über die Hügel und rekonstruiert so die eisenzeitlichen Wege. Hierbei führt der Algorithmus die Wege
durch dichte Ballungen von Grabhügeln und nicht
über die Grabhügel selbst. In einem zweiten Schritt
werden Kreuzungen und Kurven reduziert, um einen
realistischen Weg zu erhalten, ohne dabei den Grabhügel aus der Sichtweite zu verlieren. Das Ergebnis
ist eine Kartierung alter Wege, die verglichen mit römischen Straßen und bronzezeitlichen Übergängen
über den Rhein erstaunliche Deckungsgleichheit
besitzen. Auch heute folgen zahlreiche Land- und
Kreisstraßen diesen Wegen, und zwar nicht nur in
Baden-Württemberg oder entlang des Ochsenweges. Ein Blick aus dem Fenster während der Fahrt
kann sich daher durchaus lohnen!
Seit der Erfindung des Autos und vor allem
nach 1950 hat sich unsere Lebenswirklichkeit drastisch verändert. Eine Reise von Stuttgart nach
Hamburg ist zu einem Wochenendtrip geworden.
Autobahnen, Tankstellen und Raststätten machen
die Reisen bequem und schnell. Auch wenn sich
Lifestyle und Reisegewohnheiten seit der Eisenzeit
stark gewandelt haben, ist dennoch auch manches
gleichgeblieben: Wir nutzten noch immer dieselben
Routen, wir überqueren an den gleichen Stellen die
Flüsse – auch wenn es heute viel schneller und bequemer geht.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Jens Schneeweiß und Henny Piezonka
Gekappte Verbindungen –
Drei Wikinger auf Abwegen
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Gekappte Verbindungen – Drei Wikinger auf Abwegen
Routen und Siedlungsgebiete
der Wikinger, hervorgehoben
sind die hier näher betrachteten West-, Ost- und Nordrouten
(Karte: S. Juncker, CAU Kiel).
Wer kennt sie nicht, die Wikinger? Als Händler, Räuber und Entdecker sind die geschickten
Seefahrer berühmt für ihre weitreichenden Netzwerke. Ihre vielbefahrenen Routen
führten sie durch ganz Europa und weit darüber hinaus. Sie haben diplomatische
Beziehungen und Handelsverbindungen zu den großen Reichen des Frühmittelalters
gepflegt, sie haben in kleinen, schnellen und mobilen Gruppen die Reichtümer des
christlichen Abendlandes geplündert, und sie brachen in Teile der Welt auf, die noch nicht
„entdeckt“ waren. Nach Hause zurückgekehrt sind sie oft reich beladen mit arabischem
Silber, byzantinischem Gold, karolingischen Preziosen, oder einfach nur mit wilden
Geschichten. Manche ließen sich in den neu erschlossenen Regionen nieder. Um die
Verbindung zum skandinavischen Mutterland zu sichern, gründeten sie Stützpunkte auf
den viele Tagesreisen langen Wegen, die sich dadurch zu festen Routen etablierten.
Doch wo sind sie geblieben? Was ist aus jenen geworden, die fernab der Heimat ein neues
Leben begonnen hatten? Und was geschah, wenn die Verbindung abriss? Die Geschichten
von Rollo, Rurik und Erik, drei Wikingeranführern aus unterschiedlichen Zeiten und
Regionen, sollen illustrieren, wie schwierig es ist, diese Fragen zu beantworten und wie
unterschiedlich und zugleich komplex sich die Entwicklungen gestalten können.
Rollo und die Normannen im Westen
Ab dem späten 8. Jahrhundert fuhren Wikinger
verstärkt auf Raubzüge über die Nordsee zu den Britischen Inseln, nach Irland und ins Frankenreich. Im
späteren 9. Jahrhundert ließ die Intensität der Raubüberfälle in diesen Regionen nach. Nun blühten in
Skandinavien und dem Ostseeraum die Verbindungen nach Südosten zu den Arabern auf, während im
Westen bald nur noch einige normannische Restverbände unterwegs waren. Mit der fränkischen Kultur
waren sie schon länger bekannt, und als nun der
Rückbezug nach Skandinavien an Bedeutung verlor,
siedelten sie sich verstärkt im Norden Frankreichs
und auf den Britischen Inseln an. Einer von ihnen
war Rollo, der sich mit seinen Kriegern am Ende
des 9. Jahrhunderts im Gebiet der unteren Seine
festsetzte. Obwohl sie wahrscheinlich mehr Pira-
» Doch wo sind sie
geblieben? Was ist aus
jenen geworden, die
fernab der Heimat ein
neues Leben begonnen
hatten? Und was
geschah, wenn die
Verbindung abriss? «
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
(a)
(b)
(c)
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Gekappte Verbindungen – Drei Wikinger auf Abwegen
Materielle Zeugnisse der West-, Ost- und
Nordroute:
(a) Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux
mit normannischem Schiff (Quelle:
Normannisches Schiff, Detail des Teppich
von Bayeux; ©: public domain, https://
upload.wikimedia.org/wikipedia/
commons/f/fe/Flotte_normande.jpg).
(b) 786 in Bagdad geprägter Dirham des
berühmten Abbasidenkalifen Hārūn
ar-Raschīd (Quelle: Dirham Hārūn arRaschīd;
© CC BY-SA 3.0, author: Yevlem, eigene
Arbeit, https://commons.wikimedia.
org/w/index.php?curid=12146489).
(c) Schachfigur aus dem berühmten Lewis
Chessmen Hoard aus Walrosszahn
(Quelle: Walrosszahnfigur: ©: CC-BY-SA
4.0, https://en.wikipedia.org/wiki/Game_
pieces_of_the_Lewis_chessmen_hoard).
ten als Händler waren, gehörte Rollo sicherlich der
normannischen Eliteschicht an. Im Jahr 911 schloss
er einen Friedensvertrag mit dem Karolinger-König
Karl dem Einfältigen. Er und seine Mitstreiter nahmen den christlichen Glauben an und verpflichteten
sich, die Seine-Mündung gegen andere normannische Räuber zu verteidigen. Die enge Bindung an
das Mutterland Dänemark riss nun ab, und die Rolloniden integrierten sich schnell in das christliche
Feudalsystem. Richard I., ein Enkel Rollos, erweiterte
seinen Herrschaftsbereich nach Westen auf die Normandie. Die integrative Funktion des Christentums
bzw. der Kirche, mit der die Teilhabe an der Macht
aufs engste verbunden war, hatte der Karriere der
Rolloniden besonderen Vorschub geleistet. Ihr wohl
berühmtester Vertreter war Wilhelm der Eroberer,
ein Urenkel Richards I., und auch das Haus Windsor
geht auf die Rolloniden zurück.
Rurik und die Waräger im Osten
Zur gleichen Zeit, als die Orientierung der Wikinger nach Westen nachließ, wurden die Verbindungen über Osteuropa nach Mittelasien und Byzanz intensiviert. Die Erschließung des Weges nach Süden
entlang des Dnepr und der Wolga hatte schon im
8. Jahrhundert begonnen. Der intensive Ausbau er-
folgte aber erst im Zuge des Aufstiegs der persischstämmigen Samaniden-Dynastie in Mittelasien im
späten 9. und im 10. Jahrhundert. Die Vormachtstellung der Waräger, wie man die Wikinger-Gruppen in
Osteuropa auch nennt, wird mit einer Berufungslegende begründet, von der die Schriftquellen berichten: Die slawischen und finno-ugrischen Stämme
lagen im Streit miteinander und luden 862 den Waräger Rurik von jenseits des Meeres (Skandinavien)
ein, um über sie zu herrschen. Wahrscheinlich diente diese Legende als eine nachträgliche Legitimation
der Eroberung. Die Waräger ließen sich nieder und
gründeten Stützpunkte, die als Warenumschlagplätze und zur Kontrolle des Handels auf dem langen
Weg durch die osteuropäischen Wälder dienten. Auf
diesem Weg strömten nun enorm große Mengen
arabischen Silbers ins skandinavische Mutterland.
Eine Assimilation lässt sich in dieser Phase noch nicht
feststellen, denn die im Osten angesiedelten Waräger
behielten ihre Sitten, Tracht und Sprache bei.
Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte des
10. Jahrhunderts. Mit dem Zusammenbruch der Samaniden-Dynastie versiegte die Quelle des Silbers
und damit eine wesentliche Grundlage der wikingischen Wirtschaft. Während die Ostroute also vollkommen an Bedeutung verlor und die Verbindung
zum Mutterland immer stärker nachließ, blieben die
ansässigen Waräger als Angehörige der Führungsschicht vor Ort. Der südliche Einfluss wuchs und
führte letztlich zur Christianisierung und Staatsbildung: 988 machte der Rurikide Vladimir das orthodoxe Christentum zur Staatsreligion der Kiewer Rus’
und besiegelte damit die Verbindung nach Byzanz.
Die Annahme des neuen Glaubens führte damit zur
stärkeren Herausbildung einer eigenen Identität,
die die Rus’ nun von den umgebenden heidnischen,
judaistischen, muslimischen und römisch-katholischen Nachbarn unterschied. Aus dem 11. Jahrhundert liegen keine skandinavischen Bodenfunde
mehr vor, wie z.B. Fibelschmuck im Ringerike- oder
Urnesstil, die Assimilierung war nun vollzogen. Rurik
gilt als Begründer der ersten russischen Herrscherdynastie, die bis ins 16. Jahrhundert die Moskauer
Zaren stellte.
59
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Erik und die Grönländer im Norden
Durch das Versiegen der arabischen Silberquellen kam es zu einer erneuten Umorientierung im
Ostseeraum nach Westen. Das zeigt sich eindrucksvoll an den nun vermehrt in Skandinavien auftretenden westlichen Münzen, die seit dem späten 10.
Jahrhundert die arabischen Dirhem ablösen, aber
auch an neuen wikingischen Aktivitäten in England
und Fahrten nach Island und darüber hinaus. Erik
der Rote, ein Raubein, das schon so manchen auf
dem Gewissen hatte, fuhr 984 von Island weiter
nach Westen. Die dort neu entdeckte Insel nannte
er beschönigend „Grünes Land“. Der Name war Programm, versprach er doch blühende Landschaften,
um weitere Siedler anzulocken. So entstanden zwei
Ansiedlungen an Grönlands Westküste, die zusammen etwa 3000 Menschen beherbergten. Die Siedler machten Jagd auf Walrosse, deren Elfenbein als
Luxusgut nach Europa gebracht wurde, und praktizierten eine schlichte Landwirtschaft, mit der sie
sich autark ernährten.
Seit dem frühen 14. Jahrhundert wurde es am
Vorabend der „kleinen Eiszeit“ langsam kälter, und
Eisgang blockierte immer häufiger die Schiffswege
zwischen Grönland und Norwegen. Die Verbindung
nach Norwegen löste sich immer weiter und die
grönländischen Nordmänner verloren allmählich
den Bezug nach Europa. Das Leben auf Grönland
wurde zur Herausforderung. Doch die altnordische
Gemeinschaft auf Grönland war sehr hierarchisch
organisiert; Religion und Kirche galten als Grundpfeiler der Gesellschaft. Seit der Zeit um 1200 waren
Inuit eingewandert, mit denen sich die Nordmänner
nun die Westküste teilten. Die viel besser angepasste Lebensweise der Inuit übernahmen die europäisch-stämmigen Siedler allerdings nicht. Um 1350
musste die Ostsiedlung aufgegeben werden, in der
sich nun Inuit niederließen. Die letzte Nachricht aus
Grönland stammt von 1408, kurz danach wurde der
Schiffsverkehr zwischen Norwegen und Grönland
gänzlich eingestellt. Wir wissen nicht, wie lange die
Siedler auf Grönland noch Bestand hatten. Ihr Verschwinden ist hinsichtlich seiner genauen Ursachen
und seines Verlaufs noch ungeklärt. Die autarke eu-
60
ropäische Lebensweise hat auf Grönland der Klimaveränderung nicht standhalten können, und für eine
Anpassung an die Überlebenstechniken der Inuit
waren die kulturellen Grenzen offenbar zu hoch.
Was geschah, als die Verbindung abriss?
In allen drei Beispielen war es insbesondere das
Abbrechen der Verbindung zum Mutterland, das die
Wikingergruppen in der Ferne zu wegweisenden
Entscheidungen für ihr weiteres Schicksal zwang.
Äußere Faktoren wie Klimaveränderungen oder
der veränderte Zugang zu Rohstoffen und Handelsgut beeinflussten die Aufrechterhaltung oder das
Ende bestehender Routen und Netzwerke. Gerade
diese – die weitreichenden Netzwerke und Handelsrouten – waren es, die den Ruhm und Erfolg der
Nordmänner in der Wikingerzeit bestimmten. Für
ihre Funktionalität spielte offensichtlich die Verbindung „nach Hause“ eine grundlegende Rolle, an die
auch die Identität und das entsprechende politische
Agieren gebunden waren. Im Falle des Verlustes der
Verbindung, des Abgeschnittenseins einer Gruppe
inmitten einer andersartigen Umgebung, sehen wir
zwei gegensätzliche Möglichkeiten der weiteren Entwicklung. Einerseits führt das Festhalten an einer
nur gedachten, vermeintlichen Verbindung zur alten (und zunehmend verklärten) Heimat zu einem
kulturellen Konservativismus. Ein extremes Beispiel
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Gekappte Verbindungen – Drei Wikinger auf Abwegen
» Äußere Faktoren wie
Klimaveränderungen oder der veränderte
Zugang zu Rohstoffen und Handelsgut
beeinflussten die Aufrechterhaltung
oder das Ende bestehender Routen und
Netzwerke. «
dafür sind die nordischen Siedler in Grönland. Ihr
Beharren auf dem tradierten Eigenen verhinderte
möglicherweise, dass sie den überlebensnotwendigen Schritt einer Anpassung ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise an die sich verändernden klimatischen
Verhältnisse gehen konnten, obwohl sie das Beispiel
der Inuit vor Augen hatten. Andererseits geht die
schnelle Assimilation in einem anderen Lebensumfeld, wie wir sie nach dem Abreißen der Verbindung
sowohl bei Rolloniden als auch bei den Rurikiden
beobachten können, mit der Schaffung einer völlig
neuen kulturellen Identität einher. In beiden Fällen
waren die Akteure schon zuvor mit den „anderen“
Gepflogenheiten gut vertraut, und das Christentum
bildete das wichtigste identitätsstiftende Element.
Die Verbindungen zum Mutterland, die wikingischen Wurzeln, wurden zur Legende, die vor allem
als Herrschaftslegitimation eine Rolle spielte und
der neuen Identität zu einem besonders kraftvollen
Wirkungspotenzial verhalf.
Was bleibt? Spuren früherer
Verbindungen in Archäologie
und Sprache
Archäologinnen und Archäologen sind Spurenleser. Sie rekonstruieren alte Routen und Verbindungen anhand von Objekten, die in einer Gegend
fremd erscheinen, aber in einer anderen gut be-
kannt sind (vgl. Beitrag von J. Schneeweiß in diesem
Band). Aber wie lassen sich Zeitpunkt und Gründe
gekappter Verbindungen erkennen? Im Falle des
kulturellen Konservativismus wird an alten Formen
und Techniken festgehalten, die archäologisch-typologische Methode greift nicht mehr, weil keine neuen Impulse ankommen. Wir „sehen“ nicht, dass die
Objekte mitunter Jahrhunderte in Gebrauch sind.
Eine Assimilation dagegen führt schnell dazu, dass
die eigentlich Fremden das ringsumher Übliche
übernehmen; sie werden auf diese Weise archäologisch „unsichtbar“. In Bezug auf die Rolle der Wikinger ist in der Normandie die Diskrepanz zwischen
der schriftlichen Überlieferung und den fast nicht
vorhandenen archäologischen Quellen besonders
groß. Der Zeitpunkt des Abreißens von Routen lässt
sich somit noch halbwegs bestimmen, aber um über
die Gründe und das weitere Geschehen Auskunft zu
erlangen, sind wir auf andere Quellengattungen angewiesen. Was Jahrhunderte und bis in die Gegenwart Bestand haben kann, sind sprachliche Spuren.
Bis heute heißt die Normandie nach den Nordmännern. Weniger bekannt ist, dass auch Russland und
Belarus die Nordmänner im Namen tragen, denn
die Finnen nannten die Skandinavier Rus'. Auch der
Name Grönlands hat – bis auf weiteres – nichts mit
der heutigen Wirklichkeit zu tun und kündet von alten, längst verschwundenen Wikingerrouten.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 4:
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Wege von Dingen und Technologien
Wege von Dingen und Technologien
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Johannes Müller
Rind und Wagen – der erste „Wilde
Westen“ in Europa? Die Innovation
„Rad“ zwischen Ostsee und
Schwarzem Meer 3500-2500 v.u.Z.
Der europäische Kontinent wird zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder durch besondere
Verbindungen geprägt, die sich durch technische oder soziale Innovationen entwickeln.
Eine davon, die für die Menschheitsgeschichte von großer Bedeutung ist, betrifft den
Einsatz von Zugtieren und die Erfindung von Rad und Wagen. Vor 5400 Jahren werden
Rad und Wagen in Europa erfunden. Abgesehen von tiergezogenen Schlitten in den weiten
Steppen nördlich des Schwarzen Meeres sind es die Spuren von Rädern im Megalithgrab
von Flintbek bei Kiel oder die Abbildungen eines von Rindern gezogenen Wagens in
Bronocice bei Krakau, die diesen Innovationskomplex archäologisch belegen. Hinzu treten
Holzräder in den Seen der Voralpenregion ab ca. 3300 v.u.Z., die einen Nachweis bilden.
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Rind und Wagen – der erste „Wilde Westen“ in Europa? Die Innovation „Rad“ zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 3500-2500 v.u.Z.
0
1m
N
Rinder und Wagen werden im Laufe der Jungsteinzeit zum Erfolgsmodell. Von Nordjütland bis
nach Mesopotamien kommen sie zum Einsatz, zunächst rituell bei religiösen Handlungen, später
dann auch zu Transportzwecken wirtschaftlicher
Art. Vermehrt stellen wir auch das Anlegen von Bohlenwegen fest, die über Furten oder in Feuchtgebieten trockenere Landstriche miteinander verbinden.
Ausgesprochene Bedeutung erlangt die Verfügungsgewalt über die neue Technologie offensichtlich ab ca. 3200 v.u.Z. zwischen Schwarzem
Meer und Nordsee durch die sogenannten „Kugelamphoren-Gesellschaften“. Diese Gemeinschaften
sind gekennzeichnet von kalebassenartigen Keramikgefäßen, den sogenannten Kugelamphoren.
Sie siedeln vor allem auf Terrassen am Rande von
Flussauen und beginnen, Rind und Wagen in ihre
rituellen Praktiken zu integrieren. Während in den
letzten Jahrhunderten des vierten vorchristlichen
Jahrtausends noch unterschiedliche Gruppen Tierdeponierungen vornehmen, „monopolisieren“ spätestens ab 2950 v.u.Z. die Kugelamphoren-Gesell-
Drei um 2900 v.u.Z. bei Zauschwitz in der Nähe
von Leipzig (Sachsen) bestattete Rinder: Sowohl die
antipodische Doppelbestattung im östlichen Teil der
Grabgrube als auch die Rinder im Westen sind mit
Grabbeigaben für das Jenseits ausgestattet (nach
Bergemann 2018, 314 , Abb. 179 links).
schaften die Bestattung von Rindern und Wagen für
sich. Zwischen der Westukraine und Nordwestjütland
finden wir nun Doppelbestattungen von Rindern. Diese liegen sich in Grubengräbern oft in mit den Hufen
„antipodisch“ gegenüber. Teilweise hat sich in den Gruben den Spuren nach zu urteilen auch ein Wagen befunden. Die Bestattung der Wagengespanne ist umso
auffälliger, als hier die Tiere, ähnlich wie Menschen in
gleichzeitigen anderen Bestattungen, mit Speise- und
Getränkebeigaben für das Leben nach ihrem Tod ausgestattet werden.
65
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Großräumige Netzwerke entstehen,
die als ‚Schnurkeramik‘ oder
‚Glockenbecher‘ bezeichnet, jetzt große
Gebiete in Interaktionsgemeinschaften
zusammenschließen. «
»
Eine rituelle Praxis wird folglich zur sozialen
Praxis. Sie ist nicht nur Ausdruck der Wertschätzung gegenüber den betroffenen Tieren, sondern
verdeutlicht und untermauert die weitreichenden Netzwerkbeziehungen, die sich zwischen
der Landschaft Podolien im Osten und Holstein
im Westen ergeben hatten. Offensichtlich haben
wir in diesen Zeiten den Beginn großräumiger
„Kulturerscheinungen“ vorliegen – ein Abbild der
Möglichkeiten, die die Erfindung „Rad und Wagen“
auch für Viehhalter bedeutet.
Entsprechendes setzt sich im gesamten dritten Jahrtausend v.u.Z. fort. Großräumige Netzwerke entstehen, die, als „Schnurkeramik“ oder
„Glockenbecher“ bezeichnet, jetzt große Gebiete
in Interaktionsgemeinschaften zusammenschließen. Auch hier wurden weiter Bohlenwege angelegt, wenn die klimatischen Veränderungen das
Überbrücken von Furten mit anderen Mitteln erforderten. Eine spannende Zeit der Konnektivität!
Allerdings: Statt einer Kolonisationsbewegung wie
im „Wilden Westen“, werden hier alte Praktiken
durch neue ersetzt – Rind und Wagen haben also
eine ganz andere Bedeutung.
Eingeritzte Darstellungen von Rindergespannen mit Wagen aus
dem Galeriegrab von Züschen bei Kassel (Hessen) (ca. 3000 v.u.Z.)
(T. Pape, nach Foto von S. Burmeister 2004).
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Rind und Wagen – der erste „Wilde Westen“ in Europa? Die Innovation „Rad“ zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 3500-2500 v.u.Z.
Jan Piet Brozio
Wege übers Moor
Wege aus Bohlen oder liegenden Rundhölzern gehören zu den ältesten uns noch bekannten Wegen.
In der nordeuropäischen Tiefebene wurden sie
häufig gebaut, um schwer passierbares Gelände
wie Moore zu überqueren, ohne kilometerweite
Umwege gehen oder fahren zu müssen. Ein internationales Grabungsteam hat 2021 ein drei Meter
langes Stück eines solchen jungsteinzeitlichen Weges in Niedersachsen freigelegt. Bereits während
der Untersuchungen zeigte sich, dass der Weg aus
Erlen- und Birkenstämmen gebaut worden war,
die man dicht nebeneinander auf längs liegende
Birkenäste gelegt hatte. Durch die feuchte Umgebung haben sich viele der Hölzer ausgezeichnet erhalten, sodass sogar die Arbeitsspuren der
Steinäxte noch sichtbar waren. Die Datierung des
Weges auf 2450 v.u.Z. fällt dabei in einen Zeitraum,
der mit einer erhöhten Mobilität der Menschen in
Europa verbunden ist, wobei auch Reaktionen auf
klimatische Veränderungen zu beobachten sind.
Dass der Weg auch mit Rad und Wagen befahren
wurde, belegen zwei Wagenachsen, die an einer
anderen Stelle neben dem Weg im Moor entsorgt
wurden. ■
Neolithischer Bohlenweg
Pr 7 am Dümmer, Niedersachsen, während der Ausgrabungen im Jahr 2021 (Foto:
J. P. Brozio).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Der Weg zum Reichtum – Bernsteinstrassen im bronzezeitlichen Europa
Benjamin Serbe und Khurram Saleem
Der Weg zum Reichtum –
Bernsteinstraßen im
bronzezeitlichen Europa
"One Belt, One Road" – dieses aus der Volksrepublik China stammende Konzept steht seit
geraumer Zeit im Fokus der internationalen Politik. Das auch als „Neue Seidenstraße“
bekannte Projekt beschreibt den Ausbau einer spezifischen Handelsinfrastruktur zwischen
dem chinesischen Festland und den drei Kontinenten Afrika, Asien und Europa. Der
Name bezieht sich auf die historische „Seidenstraße“, die berühmte Handelsverbindung
zwischen Europa und China, die auf den Seidenhandel zwischen dem 1. und 13. Jahrhundert
n.u.Z. zurückgeht (vgl. Beitrag von J. Hilpert und J. Kneisel in diesem Band) – Die Idee des
Fernhandels und des Austauschs zwischen verschiedenen Teilen der Welt – die Globalisierung
– ist nicht neu (vgl. Beitrag von T. Kerig in diesem Band). Auch die „Seidenstraße“ ist nicht
die älteste bekannte Handelsroute (vgl. Beitrag von J. Kneisel et al. in diesem Band).
Betrachten wir also eine noch ältere Handelsroute, die so genannte „Bernsteinstraße“.
Baltischer Bernstein im bronzezeitlichen
Griechenland?
Tatsächlich kann die bronzezeitliche „Bernsteinstraße“ nicht wirklich als „Straße“ bezeichnet
werden. Die ersten Diskussionen zu diesem Thema
begannen bereits vor mehr als hundert Jahren, und
in der heutigen Archäologie wird der Begriff „Bernsteinstraße“ inzwischen eher als Konzept denn als
tatsächliche Straße betrachtet. Aber was ist mit
Bernstein? Warum war er gerade in der Bronzezeit
so wichtig?
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dieser Frage begann, als der Archäologe Heinrich Schliemann und sein Team im Jahr 1876 in den
mykenischen Schachtgräbern Bernsteinornamente
entdeckten. Diese Gräber stammen aus der Zeit um
1600 v.u.Z. Die Bernsteinfunde in ihnen galten als
Sensation. Es schien undenkbar, dass Objekte wie
Bernsteinperlen aus dem Gräberfeld von
Jelšovce, Slowakei (Foto: F. Wilkes).
Bernstein aus einer Entfernung von etwa 2500 Kilometern in diesen reichen Gräbern auftauchen könnten. Niemand dachte an eine mögliche Verbindung
zwischen den „zivilisierten Hochkulturen“ des Mittelmeerraums und dem angeblich „barbarischen,
primitiven und unzivilisierten“ Norden. Jeder wusste
von den reichen Bernsteinvorkommen an der Westküste Dänemarks oder im Samland an der östlichen
Ostsee. Es ist kein Zufall, dass das Bernsteinzimmer
im 18. Jahrhundert von einem Bernsteinschleifer aus
Danzig (dem heutigen Gdańsk) hergestellt wurde
und zu den prestigeträchtigsten Objekten der damaligen Zeit gehörte. Es wurde sogar als „Achtes
Weltwunder“ bezeichnet.
Doch da man im späten 19. Jahrhundert Zusammenhänge zwischen Ostseeraum und Mykene für
unmöglich hielt, entwickelte sich eine Diskussion darüber, ob der Bernstein in den Schachtgräbern wirklich aus dem Norden kam, oder ob er nicht vielmehr
aus einer anderen Lagerstätte z.B. in Sizilien stamm-
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
te. Das liegt geographisch nicht nur viel näher, sondern auch Funde mykenischer Keramik, die auf Kontakte zwischen dem bronzezeitlichen Griechenland
und Sizilien hindeuteten, wurden dort gemacht.
Die Entdeckung der Bernsteinsäure
Zu dieser Zeit entdeckte der Danziger Apotheker
Otto Helm die „Bernsteinsäure“, die im „Baltischen
Bernstein“ aus dem Norden, nicht aber im „Sizilianischen Bernstein“ vorhanden war. Das Verfahren zur
Gewinnung der Säure war damals allerdings sehr
speziell und zerstörte die archäologischen Funde.
Heute ist der Grundgedanke der Herkunftsbestimmung von Bernstein derselbe, aber die spezifischen
Methoden wurden verfeinert. In den 1960er Jahren
entdeckte Curt W. Beck, Professor am Vassar College in New York, dass baltischer Bernstein eine
besondere Art der Infrarotabsorption aufweist, die
durch die Methode der Spektroskopie identifiziert
werden kann (vgl. Beitrag von K. Saleem und B. Serbe
in diesem Band). Mehrere Bernsteinfunde wurden
auch in der Technischen Fakultät der CAU Kiel mittels Fourier-Transform-Infrarot-Spektroskopie (FTIR)
analysiert und aufgrund des Vorhandenseins der
"Baltischen Schulter" als Baltischer Bernstein identifiziert. Dieses spezifische Muster, das als „baltische
Schulter“ bezeichnet wird, wurde bei keiner anderen
Art von fossilem Harz in Europa beobachtet. Es wird
vermutet, dass es auf das Vorhandensein von Bernsteinsäureestern zurückzuführen ist, einer organischen Komponente, die spezifisch für den baltischen
Bernstein ist.
Einer der größten Vorteile dieser neuen Methode ist, dass sie zerstörungsfrei funktioniert. Sie ist
auch billiger und schneller als frühere Ansätze und
ermöglicht die Analyse vieler Bernsteinproben in kurzer Zeit. Diese Revolution in der Analytik ermöglichte
es, zahlreiche archäologische Funde aus ganz Europa
zu untersuchen. Das Ergebnis: Bei den meisten Bernsteinfunden in archäologischen Kontexten handelt
es sich tatsächlich um „baltischen Bernstein“, d. h. er
stammt ursprünglich aus den Gebieten Dänemarks
oder dem Samland. Das gilt auch für die Bernsteinfunde aus den mykenischen Schachtgräbern, wie
70
» Aber sie würde
höchstwahrscheinlich ein
hochkomplexes soziales System
offenbaren, das mit der Idee des
Handels verbunden ist: Der Weg
zum Reichtum. «
dies zunächst Ende des 19. Jahrhunderts und zweifelsfrei in den 1960ern nachgewiesen wurde. Daraus
lässt sich schließen, dass es einen Mechanismus für
die Verteilung über weite Entfernungen gegeben haben muss.
Bernstein vernetzt das vorgeschichtliche
Europa
Wie bereits erwähnt, ist die Idee von Bernsteinhandelsrouten nicht neu. Nach der Entdeckung der
Bernsteinsäure durch Otto Helm nahm die Diskussion an Fahrt auf und bezog sich zunächst auf die bekannten römischen Handelsrouten, die von antiken
Absorbtionsspektra baltischer und sizilianischer Bernsteintypen
(zusammengestellt nach Murillio-Barroso/Martinón-Torres 2012,
Abb. 2-3).
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Der Weg zum Reichtum – Bernsteinstrassen im bronzezeitlichen Europa
Häufigkeit der Erwähnung
vorgeschlagener Abschnitte
der „Bernsteinstraße“ (Karte: B. Serbe).
Autoren genannt wurden. Im Jahr 1925 veröffentlichte der in England lehrende Archäologe Jose Maria de
Navarro eine erste Studie über den Bernsteinhandel
und seine Routen durch Europa auf der Grundlage
archäologischer Funde, die verschiedene Standorte
mit nahe gelegenen geographischen Merkmalen wie
Flüssen und Gebirgspässen in Verbindung brachten.
Seine Methode löste viele Diskussionen aus, von der
Behauptung, es handele sich um das „vollständigste
System, das es gibt“, bis hin zu Stimmen, die sagten,
es funktioniere nur, wenn man alle bronzezeitlichen
Fundstätten mit Bernstein (über 1200 Jahre hinweg)
auf einmal einbeziehen würde. Nichtsdestotrotz
wurde dieses Modell lange Zeit favorisiert und spielte eine wichtige Rolle in der Diskussion über die
„Ausbreitung der Zivilisation“ von Griechenland in
das übrige Europa. Andere Autoren trugen zu dieser Diskussion bei, indem sie das System der „Bernsteinstraßen“ erweiterten und dann über die richtige Route stritten.
Heute werden dieser Ansatz und seine ursprüngliche Methode kritischer gesehen. Die Verbreitung von Bernstein ist kein natürlicher Prozess,
der zu einem beobachtbaren Muster führt, sondern
vielmehr ein kultureller Prozess, bei dem verschiedene und komplexe soziale Faktoren eine große
Rolle spielen. Daher spiegelt die Verknüpfung verschiedener Fundorte mit Bernstein eher ein soziales
Netzwerk von Einflüssen als ein vollständiges Straßensystem, wie es heute existiert.
Hätten wir nicht all die schriftlichen und digitalen Quellen zum Infrastrukturprogramm „One
Belt, One Road“, würden sich Archäologie und Geschichtswissenschaft auch in einigen tausend Jahren noch über den genauen Verlauf der „One Road“
streiten und sich fragen, welche Häfen Teil der maritimen Seidenstraße gewesen sein könnten und welche Landstraßen und Eisenbahnen in den „One Belt
Economies“ genutzt worden wären. Verschiedene
Autoren würden unterschiedliche Routen vorschlagen, einige z. B. mit Schwerpunkt auf dem Einfluss
der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank in
Afrika und Europa. Die Methode mag in Zukunft anders sein, doch die Bestimmung der genauen Route
wäre immer noch so schwierig wie heute. Aber sie
würde höchstwahrscheinlich ein hochkomplexes
soziales System offenbaren, das mit der Idee des
Handels verbunden ist: Der Weg zum Reichtum.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Khurram Saleem und Benjamin Serbe
Die Analyse von Bernstein
Bernstein ist ein Harz, das Pflanzen ausscheiden und das im Laufe der Zeit Reifungsund Vernetzungsprozesse durchläuft. Geologische Bedingungen, wie z. B. vulkanische
Aktivitäten, können diese Prozesse beschleunigen. Mit Hilfe wissenschaftlicher
Methoden lassen sich fossile Harze unterschiedlichen Alters hinsichtlich ihrer
botanischen Herkunft, ihres geologischen Umfelds und ihrer geographischen Herkunft
vergleichen. Solche vergleichenden Studien können die Herkunft bestimmter
Bernsteinfunde ermitteln und somit dazu beitragen, die Verbreitungswege von
Bernstein in verschiedenen geographischen Regionen zu rekonstruieren. Chemisch
gesehen sind Bernsteine wasserunlösliche komplexe Gemische aus organischen
Verbindungen wie Terpenen. Sie unterscheiden sich durch ihre Materialeigenschaften
sowie durch das Vorhandensein von organischen und anorganischen Einschlüssen.
Harze aus derselben botanischen Quelle können unterschiedliche Prozesse durchlaufen,
die zu einer Vielzahl fossiler Harze führen. Baltischer Bernstein macht den größten Teil
des weltweiten Bernsteins aus und enthält als besonderes Merkmal Bernsteinsäure.
Um die Herkunft eines bestimmten Bernsteinfundes zu untersuchen, werden verschiedene Analysemethoden mit geologischen, paläogeographischen und paläoklimatischen Hintergrunddaten
kombiniert. Ein zerstörungsfreier Ansatz erforscht
die chemischen Profile von Bernsteinfunden mit
spektroskopischen Analysen. Die spektralen Profile hängen vor allem von der geographischen
Herkunft der Proben, ihren botanischen Quellen
sowie von den Reifegraden und den geologischen
Bedingungen ihrer Umwandlung ab. Während der
Fossilisierung durchlaufen die Harze zahlreiche
chemische Prozesse, und diese spezifischen Merkmale können durch Techniken wie Raman- und Infrarotspektroskopie quantifiziert werden.
72
Raman-Spektroskopie
Betrachtet man das durch die Raman-Spektroskopie ermittelte chemische Profil, so zeigt sich,
dass der Abbau fossiler Harze zum Verlust von
Kohlenstoff-Doppelbindungen führt, was durch
die geringere Intensität der Bande bei 1640 cm-1
im Vergleich zu 1440 cm-1 in den Spektren deutlich
wird. Daher wurde das Intensitätsverhältnis zwischen diesen beiden Banden als Indikator für den
Reifegrad der organischen Materie vorgeschlagen,
insbesondere für fossile Harze. Das durch RamanSpektroskopie gemessene chemische Profil eignet
sich für den Vergleich des Alters von Proben, die
unter gleichen oder ähnlichen Druck-TemperaturBedingungen in Wirtslagerstätten und aus den
gleichen botanischen Quellen verändert wurden.
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Der Weg zum Reichtum – Bernsteinstrassen im bronzezeitlichen Europa
FTIR-Analyse der
Bernsteinfunde von Kaliningrad, Russland (1a,
1b, 1c) und Skallingen,
Dänemark (2a, 2b, 2c)
(Diagramm: K. Saleem).
Infrarot-Spektroskopie
Wenn Infrarotstrahlung mit einem Molekül in
Wechselwirkung tritt, werden Schwingungsenergieniveaus angeregt, was zu einem Absorptionsspektrum mit klar definierten Banden im Bereich
zwischen 400 und 4000 cm-1 führt, die den Bindungen zwischen Atomen und/oder funktionellen
Gruppen entsprechen. Die für eine bestimmte
Probe erhaltenen Spektraldaten können mit anderen Proben verglichen werden, um Unterschiede oder Ähnlichkeiten festzustellen. Mit Hilfe der
Fourier-Transformations-Infrarot-Spektroskopie
(FTIR) lässt sich ein Muster erkennen, das als „baltische Schulter“ bezeichnet wird: Im Bereich zwischen 1250 und 1110 cm-1 erscheint eine horizontale Bande, gefolgt von einem starken Abfall und
einer gut definierten Bande bei 1155 cm-1. Dieses
Muster wurde bisher bei keiner anderen europäischen fossilen Harzart beobachtet. Es wird angenommen, dass die einzigartige baltische Schulter
auf das Vorhandensein von Bernsteinsäureestern
zurückzuführen ist, bei denen es sich um organische Komponenten handelt, die spezifisch für den
baltischen Bernstein sind. Daher eignet sich die
zerstörungsfreie FTIR-Technik besonders gut für
die Durchführung von Herkunftsstudien prähistorischer Bernsteinartefakte.
73
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Andrea Ricci
Die Macht des Wassers –
Konnektivität durch Wasser
in Mesopotamien
Die Verfügbarkeit von Wasser ist ein entscheidender Faktor für das Leben. Die lebensspendende
und lebenserhaltende Kraft des Wassers macht seine Kontrolle zu einem der wichtigsten
Elemente für die Schaffung und Erhaltung der menschlichen Zivilisation. Die Kontrolle
natürlicher Wasserläufe sowie der Bau und die Instandhaltung von Wassersystemen
sind auf verschiedenen Ebenen stets entscheidend für die Gestaltung sozialer, kultureller
und ökologischer Konnektivität. Die Kontrolle von Wasser und Wasserwegen schafft
Möglichkeiten, dass neue Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Individuen und
Gemeinschaften entstehen. Darüber hinaus sind Wasserläufe häufig eine effiziente
Transporthilfe. In allen Regionen jenseits der gemäßigten regenreichen Zone wurden
bereits vor Jahrtausenden Techniken zur Zufuhr und Ableitung von Wasser von und zu
bestimmten Orten entwickelt, die seither die Gestaltung von Kulturlandschaften prägen.
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Die Macht des Wassers – Konnektivität durch Wasser in Mesopotamien
Komplexe, sich überlagernde Strukturen von
Reliktkanälen südlich von Babylon, Irak, gesehen
auf einem CORONA-Satellitenbild vom August
1968 (Mission 1104; mit freundlicher Genehmigung
des USGS).
Antike Urbanisierung und
Wasserwirtschaft
Die Erforschung des Wassers ist schon seit
langer Zeit Bestandteil archäologischer und historischer Untersuchungen. Die großen antiken Zivilisationen entwickelten sich an den Ufern von Flüssen,
die ideale Bedingungen für Landwirtschaft, Gartenbau und Wasserwirtschaft boten. Die Einrichtung
groß angelegter Bewässerungssysteme erfordert
die Verwaltung der nötigen Arbeitskräfte und eine
komplexe Technik. Sie ist daher mit dem Entstehen
staatlicher Institutionen verbunden. Mesopotamien – das Land zwischen den beiden Flüssen Tigris
und Euphrat – stellt eine der wichtigsten Fallstudien
in der Diskussion über die Entwicklung und das
Wachstum der antiken Urbanisierung im Zusammenhang mit der Wasserwirtschaft dar. Insbesondere im südlichen Mesopotamien, d.h. in der Region
südlich von Bagdad bis an den Persischen Golf, führt
der Abfluss der Flüsse jedes Jahr zu Schwemmlandablagerungen entlang der Wasserläufe. Diese Ablagerungen bestehen hauptsächlich aus Schlamm
(d.h. einer Mischung aus nährstoffreicher Erde
und Wasser) und machen den Boden sehr fruchtbar, so dass dort eine üppige Vegetation gedeihen
kann. Untrennbar mit dieser Wasserlandschaft verbunden, haben die Gemeinschaften im südlichen
Mesopotamien – auch Sumer oder Babylonien genannt – mindestens seit dem 6. Jahrtausend v.u.Z.
eine Reihe von Technologien und Kenntnissen zur
Kontrolle und Organisation der Wasserressourcen
entwickelt und angewandt. Die Bauern entlang der
Flüsse Tigris und Euphrat errichteten Dämme, um
die Überschwemmungen von ihren Feldern fernzuhalten, und gruben Kanäle, um das Wasser aus
den Flüssen auf ihre landwirtschaftlichen Flächen zu
leiten. Es entstanden komplexe Kanalsysteme, und
zahlreiche städtische Zentren wie Uruk, Eridu und
andere florierten bereits im 5. Jahrtausend v.u.Z.
Seit der Entstehung dieser frühen Städte haben
sich die Nutzung und Anwendung von Bewässerung
über die Jahrtausende hinweg weiterentwickelt und
umfassten im 2. und 1. Jahrtausend v.u.Z. auch imperiale, auf Wasser beruhende Investitionen. Die
Kontrolle und Instandhaltung der Bewässerungssysteme hat die südmesopotamischen Schwemmlandschaften für immer geprägt.
Wasserwege verbinden Menschen und
Güter
Die regionale Beschaffenheit des Bodens und
die Landschaftsformen Mesopotamiens bieten
Möglichkeiten und setzen gleichzeitig Grenzen für
den Auf- und Ausbau der lokalen Wassersysteme.
In der sehr flachen Landschaft von Sumer bieten
Wasserwege die Möglichkeit eines reibungsarmen
» Die Kontrolle natürlicher
Wasserläufe sowie der Bau
und die Instandhaltung
von Wassersystemen sind
auf verschiedenen Ebenen
stets entscheidend für
die Gestaltung sozialer,
kultureller und ökologischer
Konnektivität. «
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
lichen Flächen bietet. Dies wird durch die älteste
bekannte Aufzeichnung eines Grenzstreits belegt,
die eine Reihe von Konflikten um Land und die Verwaltung des Kanals zwischen den Städten Lagaš
und Umma während der frühen Dynastie III (ca.
2600-2334 v.u.Z.) beschreibt. Die Gründe für die
Aufgabe von Kanälen können mangelnde Wartung,
Verstopfung durch Ablagerungen, wirtschaftliche
Faktoren oder Naturkatastrophen sein. Wenn dies
geschieht, können Dörfer und Städte aufgrund des
Wassermangels mit dramatischen Folgen konfrontiert werden, es sei denn, die Kontrolle über die
Wasserversorgung wird durch das Ausheben eines
neuen Kanals oder die Reaktivierung eines früheren
Kanals wiedererlangt. Gleichzeitig müssen andere,
vielleicht weniger effiziente Wege für die Kommunikation und den Verkehr erkundet werden.
Überregionale Flussnetzwerke
Tontafel, die einen Teil eines landwirtschaftlichen Gebiets und
Kanäle in der Nähe der Stadt Nippur zeigt, Kassitenzeit, ca. 1500
v.u.Z. (Objektnummer CBS13885 Penn Museum. ©: https://www.
penn.museum/collections/object_images.php?irn=98408).
Transports, der die Beförderung von Waren erleichtert. Boote können von Tieren und/oder Menschen
effizienter bewegt werden, als es beim Transport
von Waren auf dem Landweg der Fall ist. Die Ausrichtung von Wasserversorgungsstrukturen und
Kanälen bestimmt die Lage und das Muster von
Siedlungen und in einigen Fällen sogar die interne
Verteilung von Gebäuden, Straßen und Infrastrukturen, einschließlich der Häfen. Ein gegrabener Kanal verbindet die Städte und Dörfer entlang seines
Verlaufs. Diese Bedingungen vermögen es, neue
menschliche Beziehungen zu schaffen. Die Menschen treffen während des Baus und der Nutzung
des Kanals zusammen, was Kommunikation und
den Austausch von Waren und Ideen ermöglicht,
aber auch das Potenzial für Streitigkeiten über die
Kontrolle von Wasser und neuen landwirtschaft-
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In größerem Maßstab dienten Wasserwege oft
als entscheidende Verbindung für die Bewegung
über große Entfernungen. So dehnten sich im 4.
Jahrtausend v.u.Z. die Uruk-Gemeinschaften des
südlichen Mesopotamiens nach Norden sowie in
die Susiana-Ebene im Iran im Osten aus. Möglicherweise geschah dies auch im Zusammenhang mit der
Beschaffung von Rohstoffen (z. B. Metalle, Steine,
Holz), die im südmesopotamischen Schwemmland
fehlen. Zu dieser Zeit verbanden weitreichende kulturelle und wirtschaftliche Netzwerke weit entfernte
Regionen in Interaktionsgemeinschaften, die sich in
den Becken von Tigris und Euphrat konzentrierten.
Entlang ihrer Täler wurden zahlreiche neue Ortschaften gegründet, und es kam zu verschiedenen
Wechselbeziehungen zwischen lokalen Gruppen
und den südlichen Gemeinschaften. Schreib- und
Verwaltungsgeräte, die zuerst im Süden erfunden
wurden, tauchten auch im Norden entlang der Täler
von Tigris und Euphrat und ihrer Nebenflüsse auf.
Das beweist die Bedeutung dieser beiden Hauptrouten auch für den Wissenstransfer. Trotz des Zusammenbruchs der komplexen Uruk-Netzwerke gegen
Ende des 4. Jahrtausends v.u.Z. blieben Tigris und
Euphrat auch in den folgenden Jahrtausenden als
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Die Macht des Wassers – Konnektivität durch Wasser in Mesopotamien
Eines der Fragmente der Stele der Geier, Frühdynastische III. Periode, ca. 2600-2334 v.u.Z. (Objektnummer AO50 Louvre Museum.
©: CC BY-SA 3.0; vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stele_of_Vultures_detail_01a.jpg).
entscheidende Kommunikationswege für ganz Südwestasien bestehen und prägten die soziokulturellen und wirtschaftlichen Interaktionen.
Im alten Mesopotamien förderten die Verbindungen zwischen Wasser und Mensch die Entstehung und Entwicklung städtischer Systeme sowie
die Einrichtung lokaler und weitreichender Routen
und Netzwerke. In dieser spannenden Zeit, die die
frühen Wurzeln unserer Zivilisation darstellt, entstanden entlang der Achsen der Wasserkraft Urbanisierung, Arbeitsspezialisierung, Bürokratie und
neue soziokulturelle Netzwerke. Inmitten dieser reichen, sedimentierten Geschichte bietet das Wasser
weiterhin wichtige Formen der Verbindung und gibt
Anlass zu neuen Kämpfen um seine Kontrolle.
» Im alten Mesopotamien
förderten die Verbindungen
zwischen Wasser und
Mensch die Entstehung und
Entwicklung städtischer
Systeme sowie die
Einrichtung lokaler und
weitreichender Routen und
Netzwerke. «
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Wie kam Buddha zu den Nordmännern nach Schweden?
Jens Schneeweiß
Wie kam Buddha zu den
Nordmännern nach Schweden?
Im Jahr 2015 wurde in Schweden eine unscheinbare Briefmarke herausgebracht, auf der eine
kleine Buddha-Statuette dargestellt ist. Der Markenwert sieht vor, dass der BriefmarkenBuddha innerhalb Schwedens auf Reisen geht. Die dargestellte Statuette hat jedoch eine
ungleich weitere Reise zurückgelegt. Sie wurde fast 60 Jahre zuvor bei Ausgrabungen
auf der Insel Helgö unweit des wikingerzeitlichen Fernhandelszentrums Birka gefunden.
Der Fund war damals eine Sensation, und er gehört bis heute zu den herausragendsten
frühgeschichtlichen Funden Schwedens. Dennoch gibt der weise lächelnde Buddha Rätsel
auf und wird die Details seiner langen und weiten Reise wohl immer für sich behalten.
Wir wissen, dass die nur 8,4 Zentimeter hohe Bronzestatuette im 6. Jahrhundert n.u.Z.
im Swat-Tal im heutigen Pakistan hergestellt wurde. Sie war mit Einlagen aus Silber, Glas
und Kupfer versehen, von denen sich Spuren erhalten haben. Als sie 1956 im dritten Jahr
der Ausgrabungen im 6000 Kilometer entfernten Helgö gefunden wurde, hatte sie noch
einen Lederriemen um den Hals, mit dem sie wahrscheinlich irgendwo befestigt war.
Was führt einen kleinen Buddha vom Himalaya zu den Wikingern in den Norden Europas? Wer
hat ihn auf welchem Weg dorthin gebracht? Um das
herauszufinden, wäre es gut zu wissen, wann genau
der Buddha Skandinavien erreicht hat. Helgö war
der wichtigste Vorgängerort von Birka und hatte seine Blütezeit in der Mitte des 1. Jahrtausends n.u.Z.
Im 6. Jahrhundert gab es hier eine reiche Schmuckwerkstatt und Goldschmiede, in der Gold und Edelsteine verarbeitet wurden. Sie kamen ebenfalls von
weit her und wurden wahrscheinlich über Netzwerke vermittelt, die auf spätantike Strukturen zurückgingen. Mit zunehmender Veränderung des Meeresspiegels wurde die Zufahrt nach Helgö jedoch
ungünstiger, und die Bedeutung ging langsam auf
Birka über. Bei den Grabungen 1956 wurden keinerlei Beobachtungen zum Fundkontext gemacht, die
Briefmarke der schwedischen Post, 2015 (nach Piotr
Jerzy Naszarkowski 1952; Quelle: https://www.lastdodo.
de/de/items/5697253-der-spaten-eisenzeit-wikingerzeit).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
So exotisch und fremd die kleine BuddhaStatuette auf den ersten Blick wirkt, so ist
sie doch wahrscheinlich auf einem Weg nach
Skandinavien gereist, den mit ihr und nach
ihr Zigtausende von Objekten – vornehmlich
Silbermünzen – zurückgelegt haben. «
»
helfen würden zu entscheiden, wann zwischen dem
6. und 9. Jahrhundert der Buddha dort in den Boden
kam. Überlegungen zur Route, die er genommen
haben könnte, können hier vielleicht weiterhelfen.
Das Swat-Tal, seinerzeit ein wichtiges Zentrum
des Buddhismus, liegt an einem südlichen Abzweig
der mittleren Seidenstraße, die über Baktrien, Samarkand und Buchara nach Westen zum Kaspischen Meer und weiter zum Mittelmeer verlief. Auf
der Seidenstraße wurde nicht nur Seide von China
nach Europa transportiert, sondern auch etliche andere Güter, Religionen, Krankheiten und Ideen (vgl.
Beitrag von J. Hilpert und J. Kneisel in diesem Band).
Ziemlich sicher machte sich der Buddha im persönlichen Besitz eines Reisenden auf der Seidenstraße
auf den Weg nach Westen. Die Vorherrschaft um die
Seidenstraße war stark umstritten. Im 7. Jahrhundert übernahmen die Chinesen der Tang-Dynastie
die Kontrolle von den Persern, was zu einer Blütezeit dieser Handelsroute führte. Im Jahr 751 kam es
zur Schlacht am Talas, in der die Araber die TangChinesen schlugen und endgültig ihre Macht in
Zentralasien manifestierten. Sie war der Höhepunkt
jahrzehntelanger Machtkämpfe und gilt als eine
Entscheidungsschlacht der Weltgeschichte. Seither
kontrollierte die arabische Dynastie der Abbasiden
die mittlere Seidenstraße. Das Kalifat der Araber
war groß und mächtig. Samarkand und große Teile
der Seidenstraße gehörten dazu, das Tal des Swat
lag nun im äußersten Osten, wo das Kalifat bis an
den Indus reichte. Im Westen umfasste es weite
Teile Nordafrikas. Das riesige Reich blühte auf und
80
zog Gelehrte und Händler aus aller Welt an. Bagdad
wurde die neu gegründete Hauptstadt. In der „Runden Stadt“, der Metropole des noch jungen Islam,
lebten Juden, Christen, Buddhisten und viele weitere, die vom Wohlstand angezogen wurden.
Vielleicht hatte einer von ihnen den kleinen
Buddha mitgebracht, der nun schon über 150 Jahre alt war. Für einen Gegenstand mit religiöser Bedeutung ist solch ein Alter nichts Ungewöhnliches.
Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass eines der
berühmtesten diplomatischen Geschenke der europäischen Geschichte ebenfalls aus Indien stammte: der Elefant Abul Abbas (†810). Der abbasidische
Kalif Hārūn ar-Raschīd, den auch die Märchen aus
1001 Nacht kennen, gab ihn als großzügige Gegengabe einer Gesandtschaft für Karl den Großen
mit. Abul Abbas war wahrlich ein Geschenk kaiserlicher Würde. Daher sind wir über den Weg des
Elefanten von Indien über Bagdad und Italien bis
nach Aachen recht gut informiert – hinsichtlich der
kleinen Buddha-Statuette sind wir jedoch auf Vermutungen angewiesen. Fest steht immerhin, dass
die abbasidischen Kalifen nicht nur diplomatische
Beziehungen nach China, Indien und Westeuropa
unterhielten, sondern dass auch die Blüte des wikingischen Wirtschaftsraums im Osten Europas sehr
eng mit dem Abbasidischen Kalifat verbunden war
(vgl. Beitrag von J. Schneeweijß und H. Piezonka in
diesem Band). Praktisch zur gleichen Zeit, seit dem
8. Jahrhundert, erschlossen die Nordmänner, Wikinger oder Waräger, die großen Stromgebiete der
osteuropäischen Waldzone als Handelswege in den
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Wie kam Buddha zu den Nordmännern nach Schweden?
Süden. Es entstand der „Weg von den Warägern zu
den Griechen“, wie er in mittelalterlichen Quellen
genannt wird. Gemeint ist das Byzantinische Reich,
dessen Hauptstadt Konstantinopel über den Dnepr
und das Schwarze Meer zu erreichen war; die Wolga
führte gleichzeitig zum Kaspischen Meer und damit
direkt zum Kalifat der Abbasiden, wo Pelze und Sklaven gegen begehrtes Silber einzutauschen waren.
Von diesem Handel zeugen Tausende arabischer Silbermünzen, sogenannte Dirham, die in Osteuropa
und in Skandinavien gefunden wurden. Die großen
osteuropäischen Flusssysteme waren aber nicht nur
eine Straße des Silbers, der Pelze und der Sklaven,
sondern hier verkehrten Händler und Krieger gleichermaßen wie Gesandtschaften. Im 9. Jahrhundert
gewann die direkte Verbindung von Buchara nach
Bolgar an der Wolga als nördlicher Zweig der Seidenstraße an Bedeutung. Hier spielten die Chasaren, die ungefähr in jener Zeit zum Judentum konvertierten, eine wesentliche Mittlerrolle.
Mit dem Aufschwung des Silberhandels kam
auch der Aufstieg Birkas, Helgö hatte da seine Blütezeit längst hinter sich. Doch verlassen war die
Insel keineswegs. Neben anderen Funden belegen
auch arabische Dirham des 8. und frühen 9. Jahrhunderts, die nicht nur aus Gräbern, sondern unter
anderem auch aus der unmittelbaren Umgebung
der Buddha-Statuette stammen, dass die Insel bis in
die Wikingerzeit genutzt wurde. Ein weiterer außergewöhnlicher Fund muss in diesem Zusammenhang
genannt werden: die emaillierte Krümme eines
Krummstabs aus dem späten 8. oder frühen 9. Jahr-
hundert. Das Stück aus einer Kupferlegierung ist 9,3
Zentimeter hoch, stammt aus Irland und wurde nur
sieben Meter von unserem Buddha entfernt gefunden. Uns interessiert hier zunächst die Datierung,
die in denselben Zeitraum verweist wie die Dirham.
Seit dem späten 8. Jahrhundert nahmen die Überfälle der Wikinger auf Klöster auf den Britischen Inseln
und Irland zu, sie erreichten im 9. Jahrhundert ihren
Höhepunkt. Es ist demnach plausibel, dass die von
dort mitgebrachte Krümme irgendwann in den Jahrzehnten um oder kurz nach 800 in Helgö niedergelegt wurde, möglicherweise von einem Teilnehmer
an einer Überfahrt nach Irland. Ob es sich dabei
aber um ein Geschenk, um eine Art Weihegabe oder
Rohstoff zur Schmuckherstellung gehandelt hat, ist
nicht bekannt. Wir wissen nicht, ob diese beiden
exotischen Funde, die aus komplett verschiedenen
Welten und Zeiten stammen, mit derselben Absicht
nach Helgö gelangten, ja, ob sie überhaupt etwas
miteinander zu tun hatten. Sicher ist nur, dass sie
gänzlich unterschiedliche Wege genommen haben.
Beide Wege waren in der frühen Wikingerzeit viel
befahren und wohlbekannt.
Gewissheit wird nicht zu erlangen sein. Aber
es mag doch eine Bedeutung haben, dass der Buddha und die Krümme unweit eines als „Tempel“ angesprochenen Gebäudes bzw. eines wohl als heilig
verehrten Ortes gefunden wurden. Die ganze Insel
wird auch als jahrhundertealtes überregionales Heiligtum angesehen. Es darf wohl sicher angenommen
werden, dass diejenigen, die den Buddha und den
Krummstab zu diesem Ort brachten, gewusst haben, dass diese Gegenstände in ihrem ursprünglichen Kontext eine religiöse Bedeutung hatten, denn
genau das haben beide Objekte gemeinsam. Insofern sind sie vielleicht doch als bewusst niedergelegte Weihegaben anzusehen. So exotisch und fremd
die kleine Buddha-Statuette auf den ersten Blick
wirkt, so ist sie doch wahrscheinlich auf einem Weg
nach Skandinavien gereist, den mit ihr und nach
ihr Zigtausende von Objekten – vornehmlich Silbermünzen – zurückgelegt haben.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 5:
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Kapitel 5: Wege von Ritualen und Wissen
Wege von Ritualen und Wissen
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Fynn Wilkes und Henry Skorna
Am Ende des Weges – Was Gräber
uns über Netzwerke und Kontakte
in der Urgeschichte verraten
Gräber, vielseitige Quellen der
Archäologie
In der Archäologie ist die Beschäftigung mit der
Vergänglichkeit – dem Tod – alltäglich. Überreste
vergangener Gesellschaften, ob nun Häuser, Gruben
oder Gräber, sind die Quellen unserer Forschungsdaten. Diese liefern uns einen vielschichtigen Blick
in die Vor- und Frühgeschichte. Zum einen lassen
sich anhand der Art der Bestattungsweise vergangene Glaubenswelten interpretieren und diskutieren,
zum anderen verraten uns die Gräber viel über soziale Strukturen früherer Gesellschaften. Doch was
können uns die Gräber, die Toten und ihre Grabbeigaben über urgeschichtliche Transportwege von
Rohstoffen sowie soziale Fernkontakte verraten?
Im Karpatenbecken im Südosten Europas liegen eine Reihe von Gräberfeldern, an denen sich
solche Fragen gut untersuchen lassen. Ab der Jungsteinzeit wurde diese Region, die über fruchtbare
Böden verfügt, zunehmend von landwirtschaftlichen Gesellschaften bewohnt. Sie siedelten jedoch
in erheblicher Entfernung zu den Orten, an denen
wichtige Rohstoffe wie Feuerstein, Obsidian, Kupfer
oder Bernstein gewonnen wurden. Diese Rohstoffe
wurden benötigt, um daraus wichtige Werkzeuge,
aber auch prestigeträchtigen Schmuck zu fertigen.
84
Deshalb war ein weitreichendes Transport- und
Handelsnetzwerk innerhalb des Karpatenbeckens
und darüber hinaus von großer Bedeutung.
Betrachtet man die Entfernungen in prähistorischer Zeit, darf man nicht vergessen, dass der
Transport zu Fuß oder später mit der Entwicklung
des Rads (älteste Funde in Slowenien stammen aus
der Zeit um 3200 v.u.Z.) viel Zeit in Anspruch genommen hat. Als Produkte lokalen Ursprungs gelten solche, die im Umkreis einer Tagesreise (ca. 30 km) zu
erhalten waren. Für die Beschaffung von Rohstoffen
aus mittleren und großen Distanzen wurden dagegen mehrere Wochen bis Monate benötigt. Eine
besondere Rolle im Austausch und Handel von Rohstoffen kam dabei den Flüssen zu. Funde aus zwei
Bestattungen geben exemplarisch Auskunft darüber, wie weit solche Netzwerke vor 6000 Jahren bereits reichten.
Das Grab 201 von Rákóczifalva (Ungarn,
um 4350-4000 v.u.Z.)
Im östlichen Karpatenbecken, nahe des Flusses
Theiß, liegt der Fundort Rákóczifalva, der eine Siedlung und ein Gräberfeld aus der Kupferzeit mit ca.
80 Gräbern umfasst. Der Fundort wurde zwischen
2005 und 2007 durch das János-Damjanich-Muse· Booklet Serie · 02
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Am Ende des Weges – Was Gräber uns über Netzwerke und Kontakte in der Urgeschichte verraten
um in Szolnok und das Archäologische Institut der
Loránd-Eötvös-Universität in Budapest ausgegraben. In Grab 201 wurden die Überreste eines Mannes in hockender Position mitsamt einem großzügigen Grabinventar freigelegt. Seine Beigaben
umfassten ein goldenes Stabende, eine Kupferaxt,
zwei Feuersteinklingen, drei Pfeilspitzen aus Obsidian, sechs Keramikgefäße, Tierknochen und einige
Fragmente von rotem Ocker.
Während Material und Dekor der Keramikgefäße lokalen Ursprungs sind, belegen die Kupferaxt sowie die Obsidian- und Feuersteinartefakte,
dass bereits in der Kupferzeit ein Transport- und
Handelsnetzwerk von Rohstoffen über größere Distanzen existierte. Kupfer, Obsidian und Feuerstein
kommen in der Region um Rákóczifalva nicht vor
und mussten daher von ihren Lagerstätten aus bis
zum Fundort transportiert worden sein.
Anhand chemischer Untersuchungen, sogenannter Spurenelement- und Blei-Isotopenanalysen, konnte für die Kupferaxt eine chemische Signatur ermittelt werden. Diese wurde mit den Werten
bekannter Kupferabbaugebiete in Europa verglichen. Dabei wurden zwei mögliche Lagerstätten ermittelt. Am wahrscheinlichsten stammt das Kupfer
aus der ca. 330 Kilometer südlich gelegenen Region
von Majdanpek in Serbien, unweit der Donau. Bevor die Axt an der Seite des Mannes in Grab 201 niedergelegt wurde, muss der Rohstoff oder vielleicht
sogar die fertige Axt über die Flusstäler von Donau
und Theiß gereist sein – eine Strecke, die deutlich
weiter als die 330 Kilometer Luftlinie ist und die für
die damalige Zeit eine große Entfernung dargestellt
haben muss.
Die drei Pfeilspitzen aus Obsidian sind bisher
keiner chemischen Analyse unterzogen worden,
allerdings gibt es in Europa nur wenige Lagerstätten dieses Vulkanglases. Untersuchungen anderer
Fundorte in der Region ergaben eine Herkunft des
Obsidians meist aus dem Tokajer Gebirge, das am
nördlichen Rand des Karpatenbeckens liegt. Diese
Gebirgslandschaft ist über den Fluss Hornád mit
der Theiß verbunden. Der Obsidian für die Pfeilspitzen wird mit großer Wahrscheinlichkeit ca. 210
Kilometer flussabwärts über die Theiß nach Rákóczifalva gelangt sein. Zu den Klingen aus Feuerstein
fehlen leider exakte Angaben zur Art des Feuersteins, allerdings muss das Material für diese Artefakte ebenfalls über eine beträchtliche Distanz zum
Fundort gelangt sein. Bekannte Lagerstätten für
unterschiedliche Feuersteinarten, wie zum Beispiel
Radiolarit oder Balkan-Flint, liegen mehr als 150 Kilometer entfernt. Als Rohstoff oder Endprodukt sind
sie über das Flussnetzwerk der Donau, Theiß und
Maros nach Rákóczifalva transportiert worden. Zum
goldenen Stabende – eine kleine zylindrische Tülle
– liegen in der Fachliteratur keine Analysen vor. Es
ist anzunehmen, dass der Ursprung des Artefakts im
Karpatengebirge liegt.
Mit den Beigaben im Grab 201 von Rákóczifalva
lässt sich also bereits für die Kupferzeit vor 6000 Jahren ein ausgeprägtes Netzwerk von Transportwe-
» Diese Rohstoffe wurden benötigt, um daraus
wichtige Werkzeuge, aber auch prestigeträchtigen
Schmuck zu fertigen. Deshalb war ein weitreichendes
Transport- und Handelsnetzwerk innerhalb des
Karpatenbeckens und darüber hinaus von großer
Bedeutung. «
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Am Ende des Weges – Was Gräber uns über Netzwerke und Kontakte in der Urgeschichte verraten
Das Karpatenbecken und die im Text genannten Orte und Flüsse. Regionen mit einer Vielzahl
an Rohstofflagerstätten sind farbig markiert,
außerhalb dieser Regionen gibt es vereinzelte
bekannte Lagerstätten (Kartengrundlage: European Environment Agency/ Creative Commons
Attribution 4.0 International).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Dokumentation und Probenentnahme an Knochenmaterial
aus Jelšovce im Fundmagazin des
Archäologischen Instituts der
Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Foto: H. Skorna).
gen und Handelsbeziehungen für Rohstoffe im Südosten Europas belegen. Der Transport der Rohstoffe
für die Anfertigung der Artefakte im Grab erfolgte
entlang der Flüsse und über ein weiträumiges Geflecht an Siedlungen, bis sie zu dem später in Grab
201 bestatteten Mann gelangten und ihm zu Lebzeiten als Werkstoff und Schmuck oder Zeichen seiner
sozialen Stellung dienten.
Das Grab 110 aus Jelšovce (Slowakei, um
ca. 2100 bis 1600 v.u.Z.)
Am Ufer des Flusses Nitra, der in die Donau
mündet, liegt bei Jelšovce der Bestattungsplatz einer
frühbronzezeitlichen Gesellschaft. Das Gräberfeld
wurde zwischen 1982 und 1987 durch Jozef Bátora
und dem Archäologischen Institut der Slowakischen
Akademie der Wissenschaften in Nitra ausgegraben
und untersucht. In einem Zeitraum von ca. 500 Jahren wurden hier 630 Tote teils mit reichen Beigaben
bestattet. Im Grab 110 war eine Frau im Alter zwi-
88
schen 50 und 60 Jahren in einer hockenden Position
beigesetzt. Ein Teil der Beigaben sowie die naturwissenschaftlich untersuchten Knochen der Toten weisen auf ein umfassendes Netzwerk des Waren- und
Rohstoffaustausches sowie auf eine hohe Mobilität
der bronzezeitlichen Menschen hin. Als Beigaben
waren der Frau ein Goldohrring, eine Bernsteinperle, eine Kupfernadel, ein Kupferdolch sowie eine
Obsidianklinge und zwei Keramikgefäße mit in das
Grab gelegt worden. Die Keramikgefäße sind, bezogen auf Material und Verzierung, höchstwahrscheinlich lokalen Ursprungs. Nicht eindeutig belegbar ist
die Quelle des Kupfers, aus dem die Kupferobjekte
gefertigt sind. In nur etwa 40 Kilometern Entfernung
liegt bei Zlaté Moravce in den westlichen Karpaten
eine Metall-Lagerstätte, aus der das Kupfer stammen könnte. Gleichwohl ist in den Kupferbeigaben
im Grab durch die bereits früher erwähnten Untersuchungen eine Kupfersorte identifizierbar, die auch
für die Herstellung frühbronzezeitlicher Objekte aus
Niederösterreich und Süddeutschland verwandt
wurde. Das Gold des Ohrrings dürfte aus dem benachbarten Flusstal der Žitava stammen, in dem
bis in die Neuzeit Flussgold gewonnen worden ist.
Darauf weist auch der Namen des Städtchens Zlaté Moravce – auf Deutsch: Gold Morawitz – hin. Die
Klinge aus Obsidian ist dagegen ein eindeutiger Import über einen langen Transportweg. Die nächsten
bekannten Lagerstätten des Vulkanglases sind die
Gebirgszüge des Zempliner bzw. Tokajer Gebirges
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Am Ende des Weges – Was Gräber uns über Netzwerke und Kontakte in der Urgeschichte verraten
Damals wie heute ist der Austausch von
Waren, Rohstoffen und Ideen einer der
Motoren der menschlichen Entwicklung. «
»
in der Ostslowakei und Ungarn in einer Entfernung
von ca. 260 Kilometern, wobei der mögliche Transportweg über die Flüsse deutlich länger ist.
Aber die weiteste Reise, die schließlich bis in
das Grab der Frau in Jelšovce führte, wird der der
Bernstein absolviert haben. Nach der chemischen
Analyse handelt es sich um den baltischen Bernstein, dessen bekanntestes Vorkommen im südöstlichen Ostseeraum liegt. Zwar wird Bernstein in
anderen Teilen des nördlichen Mitteleuropas seit
ca. Ende des 19. Jahrhunderts auch bergmännisch
gewonnen, aber es ist anzunehmen, dass er in prähistorischer Zeit an den Stränden der Ostseeküste
gesammelt worden ist. Die am wenigsten aufwendige Route von der Ostsee (ca. 600 km) führt entlang
der Flussnetzwerke der Oder und March durch die
mährische Pforte zur Donau und Nitra in die heutige
Slowakei, ein weiter Weg mit langer Reisezeit (vgl.
Beitrag von B. Serbe in diesem Band).
Zahlreiche naturwissenschaftliche Methoden
werden in den vergangenen Jahren zunehmend
auch in der Archäologie angewandt. Dazu zählen
besonders Isotopenanalysen an menschlichen
Überresten aus Gräbern zur Rekonstruktion von Ernährung und Mobilität. Auch in Jelšovce wurde die
Strontiumisotopenanalyse zur Rekonstruktion der
Mobilität verwendet. Die untersuchten Skelettreste der Bestatteten aus Grab 110 weisen darauf hin,
dass sie zumindest ihre Kindheit und frühe Jugend
nicht in der Umgebung von Jelšovce verbracht hat.
Diese naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden werden derzeit im Rahmen des Exzellenzclusters ROOTS in einer großangelegten Studie
am Gräberfeld Jelšovce weitergeführt, um anhand
von Isotopen (Stickstoff und Kohlenstoff) Einblicke
in die Ernährungsweise dieser bronzezeitlichen Gesellschaft zu erhalten.
Das Ende des Weges?
Sowohl das Grab 201 von Rákóczifalva als auch
das Grab 110 aus Jelšovce weisen auf umfassende
Austauschnetzwerke und auf individuelle Mobilität
in den prähistorischen Gesellschaften hin. Mit Blick
auf die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der
heute Waren sowie Informationen gehandelt und
ausgetauscht werden, ist es erstaunlich, dass bereits vor 6000 Jahren, also noch vor Erfindung des
Rades, über große Distanzen und unter deutlich
schwierigeren Bedingungen Waren transportiert
wurden und unterschiedliche Gesellschaften miteinander vernetzt waren.
Damals wie heute ist der Austausch von Waren, Rohstoffen und Ideen einer der Motoren der
menschlichen Entwicklung. Die sich ständig weiterentwickelnden wissenschaftlichen Methoden werden die Forschung zukünftig in die Lage versetzen,
ein noch besseres Verständnis von Routen und
Netzwerken prähistorischer Gesellschaften zu erlangen und damit die Wurzeln unserer heutigen Gesellschaft zu ergründen.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Meerjungfrauen, Gesichter, Häuser und Vögel – Symbole der Konnektivität
Jutta Kneisel
Meerjungfrauen, Gesichter,
Häuser und Vögel –
Symbole der Konnektivität
Heute: Starbucks & Co.
Die grüne Meerjungfrau auf weißem Grund ist
ein globales Symbol für Lifestyle, Status und Prestige. Das Symbol vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl
zu einer polyglotten Gemeinschaft, jugendlich, mobil, weit gereist, finanziell gut gestellt und städtisch.
Besucherinnen und Besucher der Starbucks-Läden
erfahren Konnektivität, soziale Anerkennung und
haben Zugang zum Internet. Starbucks verwirklicht das Konzept eines dritten Ortes neben dem zu
Hause und Arbeitsplatz, an dem die Menschen sich
wohlfühlen. Gleichzeitig kann durch die große Auswahl an Getränken die eigene Individualität betont
werden. Starbucks ist ein Unternehmen aus den
USA, das sich ab Mitte der 1990er Jahre über Amerika hinaus global ausbreitete. Im Jahre 2002 wurden
die ersten zwei Filialen in Berlin eröffnet. Weitere Filialen in anderen Großstädten und an internationaDie Verteilung von Starbucks & Co. in Deutschland
nach Häufigkeiten und der US Militärstandorte in
Deutschland (Karte: J. Kneisel).
len Flughäfen folgten. Es sind die Orte der Zielgruppe: Junge Städter und Reisende, die in dem Symbol
einen Garanten für gleichbleibende Qualität, ein angenehmes Umfeld und einen Internetzugang sehen.
Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad wurde das
Logo der Meerjungfrau immer wieder verändert,
um es international anzupassen, bis schließlich der
Schriftzug seit 2011 ganz weggefallen ist. Die Meerjungfrau reicht als Erkennungszeichen aus.
Eine Karte der Starbucks-Filialen nach Häufigkeiten zeigt eben diese Konzentration auf Großstädte wie Berlin, München, Hamburg, Frankfurt oder in
Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet. Einzelne Filialen streuen über ganz Deutschland, einschließlich
Dresden, Leipzig oder Rostock. Doch lässt sich eine
deutliche Konzentration im Südwesten des Landes
erkennen. Orte wie Grafenwöhr oder Ramstein mit
unter 7000 Einwohnern passen nicht in das Bild der
Zielgruppe. Dies sind Standorte des US Militärs. Kartiert man die aktiven Basen in Deutschland, so zeigt
sich eine Übereinstimmung im Südwesten Deutsch-
91
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
lands. Offensichtlich spielt neben dem jung-dynamischen städtischen Publikum auch der Heimateffekt
für Angehörige des US-Militärs eine Rolle, denn nur
so lässt sich der Starbucks in Spangdahlem, einem
Ort mit knapp 1000 Einwohnern, erklären. Starbucks
ist somit ein Label, dass auf zwei Ebenen funktioniert. Zum einen steht es in Deutschland stellvertretend für die amerikanische Kultur (als eines von
vielen Dingen). Zum anderen verbindet es sich mit
einer sozialen Gruppe, die das Tragen der Meerjungfrau auf einem Kaffeebecher mit einem bestimmten
Lebensgefühl verbindet. Die Meerjungfrau symbolisiert die Konnektivität dieser Gruppe, bringt Prestige
und ein Zugehörigkeitsgefühl.
An dieser Stelle sollen noch zwei weitere Labels
genannt werden: Hard Rock Café und Häagen-Dazs.
92
Das Hard Rock Café startete seine Geschäfte wie
Starbucks Anfang der 1970er Jahre und breitete sich
von London über Nordamerika bis nach Europa aus.
Der erste deutsche Ableger wurde 1992 in Berlin eröffnet. Auch hier wird ein Lebensgefühl vermittelt:
Amerikanisches Essen, Musik und Ausstellungstücke aus der Musikszene machen den Besuch zu einem besonderen Erlebnis. Jedoch ist die Zielgruppe
eine ältere. Insgesamt kleiner als Starbucks, gibt es
nur vier Filialen, die sich auf die vier größten Städte
Deutschlands verteilen: Berlin, Hamburg, München
und Köln. Häagen-Dazs ist ebenfalls ein amerikanisches Produkt, dass seit den 1990er Jahren mit
seinen Cafés verstärkt auch in Europa und Asien expandiert. Bereits seit Ende der 1980er Jahre gibt es
das hochpreisige Speiseeis in Deutschland. Anders
· Booklet Serie · 02
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2023
Meerjungfrauen, Gesichter, Häuser und Vögel – Symbole der Konnektivität
Gesichts-, Haus- und Kistenurnen sowie
Vogelfiguren der späten Bronze- und
frühen Eisenzeit (1100-500 v.u.Z. ).
1. Gesichtsurne, Rzadkowo, Polen
(Foto: A. Heimann, CAU Kiel).
2. Gesichtsurne, Bilsen, Schleswig-Holstein
(Foto: S. Jagiolla, CAU Kiel).
3. Hausurnen, Sachsen-Anhalt
(Foto: K. Göken, Museum für Vor- und
Frühgeschichte, Staatliche Museen zu
Berlin).
4. Kistenurne, Schleswig-Holstein
(Foto: Museum für Archäologie Schloss
Gottorf, Landesmuseen Schleswig-Holstein).
5. Vogelfigur, Polen
(Foto: T. Skorupka, Archäologisches
Museum Poznań).
Alle drei Marken werben mit einem Logo, das
einen hohen Wiedererkennungseffekt hat und im
Fall von Starbucks und Hard Rock Café auch mit lokal geprägten Souvenirs verknüpft ist. T-Shirts oder
Kaffeebecher, die das Symbol des Unternehmens
mit dem Städtenamen verbinden, verschaffen dem
Träger ein gewisses Prestige. Die Klientel gehört zu
unterschiedlichen Gruppen mit einer jeweils gemeinsamen Konnektivität. Doch gibt es einen gemeinsamen Nenner. Zum einen ist das die Verortung
in Großstädten als Schmelztiegel und Tourismuszentren, an denen eine Interkonnektivität gegeben
ist. Zum anderen ist es die Lage abseits der Zentren
in Regionen, wo sich Fremde angesiedelt haben, die
ihre heimische Kaffeetradition pflegen möchten, wie
Rammstein und Spangdahlem. Ein dritter Standortfaktor sind Orte mit einer besonderen Ressource,
wie das Outlet Center in Wustermark, zu der viele
Menschen kommen.
Vor 3000 Jahren: Gesichtsurnen & Co.
als Starbucks ist die amerikanische Herkunft nicht
am Namen erkennbar. Gewollt ist die Anlehnung an
das Dänische, als eine Art europäisches Gütesiegel.
Inzwischen gibt es 18 Filialen in Deutschland, davon
sechs in Berlin und vier in Frankfurt. Die anderen
verteilen sich auf Großstädte. Die einzige Ausnahme bildet der Standort Wustermark, eine Kleinstadt
in Brandenburg mit knapp 10.000 Einwohnern im
Speckgürtel von Berlin. Das Café ist in einem Outlet-Center untergebracht und damit an Handel
und Markentourismus gebunden. Aufgrund seiner
Hochpreisigkeit ist auch hier ein gewisses Prestige
mit dem Verzehr des Eises verbunden. Gleichzeitig
verhält man sich gesundheitsbewusst und ökologisch korrekt, da dieses Eis damit wirbt, frei von Zusatzstoffen zu sein.
Diese räumlichen Verknüpfungen zwischen
Logo und Symbol für ein Lebensgefühl lassen sich
auch in der Bronze- und Eisenzeit Europas verfolgen. Die Zeit zwischen 1100 und 600 v.u.Z. umfasst
das Ende der Bronzezeit und den Beginn der Eisenzeit. Längst ist die Vernetzung quer durch Europa erfolgt. Rohstoffe wie Kupfer und Zinn, aber auch Gold,
Bernstein oder Salz sind zu wichtigen Handelswaren
geworden. Die Seltenheit der Ressourcen macht
weite Reisen sowie Zwischenhändler zwischen Rohstoffquellen und Endabnehmern notwendig.
Ab 1100 v.u.Z. entwickelt sich in einem der bronzezeitlichen „Ballungsräume“ eine Bestattungssitte,
die Gesichter auf Urnen formt. Die Urnen werden
damit vermenschlicht. Das langhalsige und bauchige
Gefäß wird durch das Gesicht zu einem Körper, der
den menschlichen Leichenbrand umschließt. Die anfangs eher undeutlichen und kleinen Gesichter werden mit der Zeit immer größer. Ab 900 v.u.Z. verbreitet sich die Sitte dieser Bestattung im Ostseeraum
und nach Mitteldeutschland. Etwas später finden
sich erste Gefäße auch in Nordpolen und Italien. Die
Gesichter sind unterschiedlich ausgeprägt und vari-
93
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
»
Für die Kisten-, Haus- und Gesichtsurnen
zeigt sich, ähnlich wie bei Starbucks,
Hard Rock Café und Häagen-Dazs,
eine Verbindung in Zentren, an denen
unterschiedliche Vorstellungswelten
zusammentreffen und spezifische
Bestattungsformen gepflegt werden. «
ieren stark. Eine andere Urnenform dieser Zeit sind
Hausimitationen aus Ton, sogenannte Hausurnen,
die in Italien ab dem 14. Jahrhundert v.u.Z. belegt
sind. Ab dem 9. Jahrhundert kennen wir sie aus Mitteldeutschland, Skandinavien und Polen. Eine dritte
Urnenform stammt aus Brandenburg und ist vor allem an der Spree und Havel verbreitet. Es handelt
sich um Tonkisten, die den Leichenbrand enthalten.
Die rechteckige Form ist ungewöhnlich und setzt besonders beim Deckel töpferisches Können voraus.
Ein wichtiges Symbol der späten Bronzezeit und
frühen Eisenzeit ist der Vogel. Mit dem Bestattungsritual verknüpft sind tönerne Vögel oder Vogelklappern, die vor allem in Brandenburg und Großpolen,
aber auch in Süddeutschland auf den Gräberfeldern
gefunden werden. Vogeldarstellungen in Form von
Ritzungen finden sich auch vereinzelt auf Urnen in
Polen, Deutschland und Skandinavien.
Diese vier unterschiedlichen Formen der Bestattungssitte sind nicht gleichmäßig verteilt. Jede
Urnenform weist ein anderes Verbreitungsgebiet
auf, und zwischen den einzelnen Vorkommen liegen
größere Lücken. Dennoch gibt es Überlappungen in
Kleinregionen, in denen mindestens zwei der drei
Urnenformen vorkommen. Es sind Regionen wie
Nordjütland, Dithmarschen in Schleswig-Holstein,
94
das Nordharzgebiet oder Fundregionen um Seddin,
Brandenburg und Schwanebeck, Mecklenburg-Vorpommern. Alle diese Kleinregionen zeichnen sich
durch eine auffällige Konzentration von Bronzefunden aus, die für ein lokales Zentrum mit weitreichenden Austauschverbindungen stehen. Gleichzeitig sind es ressourcenreiche Regionen mit Bernstein
(Nordjütland, Albersdorf, Nordpolen) oder Salz
(Harzgebiet) oder Regionen, die an Austauschrouten
zwischen Schweden und den Alpen (Kupfer) liegen,
wie Seddin oder Schwanebeck. An diesen Orten treffen verschiedene Vorstellungswelten aufeinander
und finden Ausdruck in unterschiedlichen Bestattungsformen. Diese Zentren bilden ein Netzwerk
und sind durch Routen verbunden, auf denen Rohstoffe zwischen Skandinavien und Italien und auf
dem Seeweg im Baltikum verhandelt und getauscht
werden. In den Regionen dazwischen sind andere
Bestattungsformen populär bzw. bestimmen den
rituellen Alltag, wie beispielsweise die Vogelfiguren. Diese Gruppen sind eher nach Süden und Südwesten orientiert und nicht nach Norden.
Für die Kisten-, Haus- und Gesichtsurnen zeigt
sich, ähnlich wie bei Starbucks, Hard Rock Café
und Häagen-Dazs, eine Verbindung in Zentren,
an denen unterschiedliche Vorstellungswelten zu· Booklet Serie · 02
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Meerjungfrauen, Gesichter, Häuser und Vögel – Symbole der Konnektivität
Nordjütland
Nordpolen
Dithmarschen
Schwanebeck
Seddin
Harz
N
0
150 km
Dichtekartierung
Die Urnen liegen im Abstand von:
Gesichtsurne
km2
0
30
80
400
1000
Hausurne
km2
0
60
120
800
2000
Kistenurne
km2
0
60
120
800
2000
sammentreffen und spezifische Bestattungsformen gepflegt werden. In diesen Zentren kommen
während der jüngeren Bronze- und beginnenden
Eisenzeit Menschen aus unterschiedlichen Regionen zusammen, tauschen Güter, Ideen, Wissen und
Vorstellungswelten aus, die ihren Widerhall im reichen archäologischen Fundgut der Kleinregionen
finden. Die Region und die Menschen profitieren
von der Interkonnektivität.
Vogelfigürchen
Zentren
Die Verteilung von Gesichts-,
Haus- und Kistenurnen und
Vogelplastiken. Die Urnen sind
nach Dichte des Vorkommens
kartiert. Zentrale Regionen mit
Überlappungen von mehreren
Urnentypen sind gelb markiert
(Karte: J. Kneisel).
95
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Lutz Käppel
Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum
als Reise zur Erkenntnis oder Was das
moderne Konzept der „Theorie“ mit einer
religiösen Praxis im Alten Griechenland
zu tun hat
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Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum
Theorie und Praxis, Theorie und Modell, Theorien und Daten – kaum ein Begriff steht
so sehr im Kern aller Konzepte von Wissen wie der Begriff der Theorie: im normalen
Alltag wie auch in den strengsten Disziplinen der Wissenschaft. Was eine Theorie ist,
scheint oberflächlich betrachtet klar: „Eine Theorie ist [...] eine durch Denken gewonnene
Erkenntnis im Gegensatz zum durch Erfahrung gewonnenen Wissen. In der Wissenschaft
bezeichnet Theorie [...] ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen, das dazu
dient, Ausschnitte der Realität und die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu
erklären [...]“ (so z. B. Wikipedia s.v. „T.“). Weitergehende wissenschaftstheoretische
Entwürfe differenzieren dieses Bild und kommen ihrerseits zu höchst theoretischen
Theorien von Theorie anhand aktueller Verwendungen und Konzepte. All den modernen
Auffassungen scheint dabei weithin gemein zu sein, dass sie das Faktisch-Statische einer
vorliegenden Theorie betonen, nicht zuletzt um sie als Begründungsinstrument vom
Prozessualen und Veränderlichen der Praxis, der Realität, den Daten etc. abzuheben.
Umso mehr führt ein Blick auf die historischen
Wurzeln des Begriffs zu einem überraschenden Befund: Das griechische Wort theoria bezeichnete nämlich ursprünglich eine rituelle Festgesandtschaft und
ihre Fahrt zu einem der großen griechischen Heiligtümer der Antike: Delos, Didyma, Klaros, Dodona,
Eleusis, Samothrake mit ihren Orakel-, Mysterienoder Stammesfesten, aber auch Olympia, Delphi,
Nemea und Isthmia mit ihren ‚Sport‘-festen waren
die bevorzugten Ziele. Regelmäßig – meist einmal im
Jahr, wie nach Delos, aber auch alle vier Jahre, wie
nach Olympia – begaben sich Festgesandtschaften
(theoriai) aus den griechischen Stadtstaaten (Poleis)
zu den Götterfesten dieser Zentralheiligtümer. Sie
etablierten auf diese Weise ein Netzwerk politischreligiöser Beziehungen, das die griechischen Poleis
nicht nur mit eben diesen Heiligtümern, sondern
auch untereinander verband. In Form von ,Zentren‘
(Heiligtümer), ,Knotenpunkten‘ (Poleis) und ,Verbindungen‘ (theoriai) formierte sich so ein lebendig-dynamisches Netzwerk von religiös-politischen ‚Konnektivitäten‘, auf dem letzten Endes die griechische
Identität als kulturell-religiöses Konstrukt beruhte.
Das Wort theoria selbst geht auf theorós, den
‚Festgesandten‘, zurück, was wiederum vom Verb
theáomai, ‚schauen‘ abgeleitet ist. Die theoroí reisten
Wichtige Ziele von theoroí in Griechenland
(nach I. Rutherford 2013, 8).
97
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Büste des Solon von Athen
(ca. 640-560 v.u.Z.): Kopie nach
griechischem Original (ca. 110
v.u.Z.) im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel (Foto:
© CC BY-SA 3.0; vgl. https://
en.wikipedia.org/wiki/Solon).
also zu den jeweiligen Heiligtümern und ‚schauten‘
bei den Opferritualen, musischen Aufführungen
oder sakralen Sportwettkämpfen zu. Ihre Tätigkeit
wiederum wird durch das davon abgeleitete Verbum theoréo bezeichnet, das nun nicht mehr nur das
‚Schauen‘ selbst beinhaltet, sondern die gesamte
theoria vom Aufbruch über die Reise bis hin zur Teilnahme am Ritual mit seiner religiösen Show. Hauptziel und Höhepunkt der gesamten Unternehmung
war es freilich, eben dieser ‚Show‘ zuzu‚schau‘en.
Schließlich war sie danach benannt. Es gehört nicht
viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass für die
98
Aristoteles-Porträt in moderner Büste, römische Kopie nach
einer Skulptur des Bildhauers
Lysipp, Rom, Palazzo Altemps
(Foto: Public Domain; vgl.
https://en.wikipedia.org/wiki/
Aristotle#/media/File:Aristotle_Altemps_Inv8575.jpg).
einzelnen Teilnehmer, die oft aus abgelegenen kleinen Gemeinden kamen, gesamtgriechische religiöse
Großveranstaltungen wie das Apollonfest auf Delos
oder die Olympischen Spiele mit ihren pompös inszenierten Ritualen eindrückliche Erlebnisse darstellten: Man fuhr dorthin, um d a s zu sehen.
Bereits früh begann nun das Wort theoria jenseits dieser spezifischen Anwendung ein ‚Eigenleben‘ zu entwickeln. Das wohl eindrücklichste Beispiel dafür sind die vermeintlichen Bildungsreisen
des athenischen Staatsmannes Solon. Er war nicht
nur Politiker, sondern auch Dichter und galt als
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Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum
» Bereits früh begann das Wort
theoria jenseits dieser spezifischen
Anwendung ein ‚Eigenleben‘ zu
entwickeln. «
einer der sogenannten Sieben Weisen. Da in der
Tradition zum Bild des Weisen in archaischer Zeit
das Reisen in ferne Länder gehörte, soll auch er sich
nach seiner Verfassungsreform im frühen 6. Jahrhundert v.u.Z. auf Reisen nach Ägypten, Zypern und
Kleinasien begeben haben. Der Historiker Herodot
(spätes 5. Jahrhundert v.u.Z.) berichtet nun im 1.
Buch seiner Historien, dass sich Solon, um nach der
Verfassungsreform nicht zu einer Änderung einzelner Elemente seines Gesetzeswerkes gezwungen
werden zu können, für zehn Jahre außer Landes
begab und unter dem Vorwand einer theoria mit
dem Schiff abgefahren sei. So sei er nach Ägypten
und schließlich in die Stadt Sardes (in der heutigen
Westtürkei) zu König Kroisos gelangt, wo er tiefsinnige Gespräche über das menschliche Glück geführt
habe. Interessant an Herodots Schilderung ist nun
aber, dass aus dem ‚Vorwand‘ der theoria zusehens
eine Übertragung des Wortes von der terminologisch engen Bedeutung der Pilgerfahrt auf einen allgemeinen Bildungswert des Reisens erfolgt: Solons
Reise zu den Sehenswürdigkeiten der Welt ist am
Ende die theoria. Daher lässt Herodot den Kroisos
seinen Gast Solon sogar mit den Worten begrüßen: „Wir haben viel Kunde von dir erhalten wegen
deiner sophia, deiner Klugheit, und deiner pláne,
deines Umherschweifens: Als ein philosophéon, als
ein Philosophierender (d. h. einer, der die Klugheit/
das Wissen liebt), hast du um der theoria willen viele Länder der Erde bereist.“ Hier wird der Wunsch
nach Wissenszuwachs durch Reisen ausgerechnet
mit den beiden Schlüsselwörtern belegt, die in der
Geschichte des wissenschaftlichen Denkens der Folgezeit die entscheidende Rolle spielen sollten: philosopheîn und theoria – Philosophie als Pilgerfahrt zur
Schau. Übrigens heißt es etwas später im 4. Buch
der Historien auch vom ägyptischen König Anacharsis, er habe ein großes Gebiet als theorós bereist.
Einen systematischen Ort in der Philosophie
erhielt das Wort theoria erst mit Platon im 4. Jahrhundert v.u.Z. Ein gewisses Fundament hat diese
Entwicklung wohl darin, dass schon vor ihm der Philosoph Anaxagoras die Betrachtung der Himmelskörper als theoria bezeichnet und zum Ziel allen
Lebens erklärt haben soll. Auch war seit Parmenides die Reise und der Weg hinauf zur Wahrheit als
Gedanke in der Philosophie durchaus präsent. Doch
erst mit Platon wurde der Begriff der ‚Theorie‘ Teil
des philosophischen Apparates. Er taucht immer
dann auf, wenn der Weg aus dem Hier und Jetzt der
materiellen Welt zu den rein geistigen Ideen und
Prinzipien beschrieben und terminologisch fixiert
werden soll. Zunächst ist das Wort theoria noch
deutlich als Metapher erkennbar. So lässt Platon am
Anfang seiner Schrift vom ‚Staat‘ Sokrates als theorós vor die Mauern der Stadt gehen, um das spektakuläre Bendis-Fest anzusehen – eine symbolische
Vorwegnahme der Pilgerfahrt zu den Ideen, die im
Höhlengleichnis im 7. Buch ihren Höhepunkt findet.
Sokrates führt sein tiefsinniges Gespräch über die
Unsterblichkeit der Seele im Gefängnis in Erwartung
des Todes genau während der Zeit, zu der die athe-
99
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
» Besonders die Tatsache, dass ‚Theorie‘
um ihrer selbst betrieben wird, lässt sie als
ebenbürtiges Pendant neben die alte sakrale
theoria treten. «
nische theoria zum Apollonfest auf Delos unterwegs
ist, was die Vollstreckung des Todesurteils verzögert. Auch sind die Beschreibungen des Aufstiegs
der Seele zur Schau des Schönen oder zur Schau der
Wahrheit der religiösen theoria den Mysterienfeiern
in Eleusis nachgebildet. ‚Theoretische‘ Philosophie
erfolgt für Platon dabei stets mit einer Loslösung
aus dem Bekannten, einer Schau des Wahren sowie
einer Rückkehr zum (und einer Neubewertung des)
Bekannten. Philosophische Theorie ist damit philosophische Praxis ebenso wie die sakrale theoria in
hohem Maße politisch-soziale Praxis war: kein umfassendes philosophisches Handeln ohne das kontemplative Element der ‚Schau‘ der Wahrheit.
Seinen endgültigen Platz in einem System von
Wissenschaft findet das Element der Theorie bei
Aristoteles. Laut seiner Texte zur „Metaphysik“ ist
für ihn theoretische Wissenschaft diejenige, die
spekulativ nach den Prinzipien des Seins forscht:
Mathematik, Physik, auch Theologie (Metaphysik 5,
1026a und 10, 1064b). Theoria als Tätigkeit der reinen
Vernunft, des Noûs, stellt dabei die ideale, weil wahrhaft philosophische Lebensform dar, den Bios theoretikós, unterschieden vom Bios politikós, dem Leben
in der Politik, und dem Bios apolaustikós, dem Genussleben. So umschreibt es Aristoteles in seinem
als „Nikomachische Ethik“ bekannten Werk. Ein wesentliches Moment ist die Zweckfreiheit der Theorie:
Sie wird rein um ihrer selbst willen betrieben; insofern ist sie ‚frei‘ (Metaphysik. 1,981b. 982b) und wahrhaft göttlich (Nikomachische Ethik 10, 1177b). Damit
gilt: „Die Theorie ist das Angenehmste und Beste“
(Metaphysik 12,1072b).
100
Besonders die Tatsache, dass ‚Theorie‘ um ihrer selbst betrieben wird, lässt sie als ebenbürtiges
Pendant neben die alte sakrale theoria treten. Insofern war auch Aristoteles sich des metaphorischen
Charakters seiner Begriffswahl immer noch voll
bewusst: Hier wie dort erweist sich die ‚Show‘ der
Wahrheit – wie er es in seinem ‚Protreptikos‘, einer
Werbeschrift für die Philosophie, selbst gesagt hat –
als um ihrer selbst wertvoll (siehe Textkasten).
In der Neuzeit wandelte sich das Theoriebild
dann freilich erheblich. Mit dem Aufkommen der
modernen Naturwissenschaften bedurfte das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie, Theorie und
Praxis, Theorie und Wirklichkeit neuer Differenzierungen. Gleichwohl lohnt es sich wohl auch heute
noch, bei dem Wort ‚Theorie‘ immer auch ein wenig die alte Ebene seines Ursprungs mitschwingen
zu lassen: Eine regelmäßige Pilgerfahrt zur reinen
Schau, ganz um ihrer selbst willen, einfach so. Und
nach der Rückkehr zu den Phänomenen sieht man
die Welt mit anderen Augen, wie die theoroí, die aus
den griechischen Poleis auszogen, um nach ihrer
Rückkehr ihre Stadt nach dem, was sie erlebt und gesehen hatten, ein klein wenig besser zu machen...
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Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum
Aristoteles, Protreptikos
(B 44, übers. v. I. Düring)
Es darf uns daher nicht bekümmern, wenn sich das Philosophieren nicht als
nützlich oder vorteilhaft erweist, denn wir behaupten in erster Linie nicht, es
sei vorteilhaft, vielmehr es sei gut, und daß man es nicht um eines anderen,
sondern um seiner selbst willen wählen soll. So wie wir nämlich nach Olympia
reisen, um des Schauspieles selbst willen, auch wenn wir davon keinen
anderen Gewinn haben (denn das Zuschauen ist an sich mehr wert als viel
Geld), und wie wir die dramatischen Aufführungen an den Dionysien nicht
deshalb betrachten, um etwas von den Schauspielern einzunehmen – wir
geben sogar Geld dafür aus –, und wie wir viele andere Schauspiele höher
schätzen als eine Menge Geld, so wird man auch die Betrachtung des Weltalls
höher achten als alle jene Dinge, die nach der allgemeinen Ansicht als nützlich
gelten. Es kann gewiss nicht richtig sein, daß man viel Mühe auf Reisen zu
Leuten verwendet, die <auf der Bühne> als Frauen und Sklaven auftreten
oder <in Olympia> kämpfen und laufen, andererseits aber meint, daß man
die Natur der Dinge und die Wahrheit nicht ohne Entgelt betrachten solle.
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Wege zwischen den Welten – Die rituelle Ökologie von Flüssen
Henny Piezonka
Wege zwischen den Welten –
Die rituelle Ökologie von Flüssen
In den borealen Wäldern der nördlichen Hemisphäre sind Flüsse seit vielen Jahrtausenden
das wichtigste Landschaftsmerkmal im Zusammenhang mit der Mobilität der Menschen
und ihren dynamischen Lebenswelten. In einigen Regionen ist dies bis heute der Fall,
zum Beispiel in den Weiten der sibirischen Taiga, wo indigene Gruppen nach wie vor
ein teilweise mobiles Leben als Jäger-Fischer und Rentierzüchter führen. Die Vielzahl
von Gewässern in solchen dicht bewaldeten Umgebungen entspricht im Grunde einem
verzweigten System von Wegen und Pfaden, das den Menschen zur Verfügung steht, wenn
sie von A nach B gelangen wollen. Im Sommer erfolgt die Fortbewegung und der Transport
per Boot, und in der kalten Jahreszeit verwandeln sich die Flüsse in vereiste Straßen.
Flusswege sind für die Menschen in diesen Regionen von so großer Bedeutung, dass sie eine Grundeinheit für die Vorstellung von räumlichen und sozialen Strukturen bilden: Entfernungen werden in
der Anzahl von Flussbiegungen angegeben. Eine Erklärung zur Lage eines spezifischen Ortes bei der sibirischen indigenen Gruppe der Selkupen wäre z.B.:
„Unsere alte Sommerstation liegt an der 7. Biegung.“
Sowohl in der nordamerikanischen als auch in der
nordeurasischen Waldzone sind die Bevölkerungen
in Verwandtschaftsgruppen strukturiert, die mit den
jeweiligen Flusseinzugsgebieten zwischen den Wasserscheiden verbunden sind. Ethnisch-sprachliche
Gemeinschaften werden nach Flüssen identifiziert
und benannt (z.B. die Taz-Selkupen nach dem Fluss
Taz oder die Jugan-Chanten nach dem Fluss Jugan).
Neben diesen verbindenden und kategorisierenden
Funktionen können Flüsse auch Grenzen darstellen,
die an Furten oder Brücken überquert werden müsZelt eines selkupischen Fischers am Fluss
Taz, Sommer 2020. In der sibirischen Taiga sind
Mobilität, Lebenswelten und Kosmologien tief mit
Flüssen verwoben (Foto: A. Novikov, IAE SB RAS,
Novosibirsk).
sen. Sie verkörpern darüber hinaus den stetigen
Übergang vom Oberlauf zum Unterlauf, und Flussmündungen können wichtige Treffpunkte und Knotenpunkte in vernetzten Kommunikationssystemen
sein. Eng verbunden mit den jahreszeitlichen Zyklen, überschneiden sich an solchen Orten räumliche
und zeitliche Kategorien.
Flüsse verbinden Welten
In den traditionellen Lebenswelten in der Waldzone sind Flüsse als lineare und Verbindungen herstellende Strukturen jedoch noch viel mehr. Wie der
britische Anthropologe Tim Ingold es ausdrückte, ist
„jede Linie eine Beziehung [...] nicht zwischen einer
Sache und einer anderen [..., sondern] eher eine
Linie, entlang derer Materialien fließen, sich vermischen und mutieren“. In diesem Sinne sind Flüsse integrale Bestandteile des kosmologischen Geflechts,
in dem indigene Gemeinschaften leben, sowohl in
der nordeurasischen Taiga als auch in anderen dicht
bewaldeten Gebieten.
In der Kosmologie der Chanten und anderer
Jäger- und Fischergruppen Westsibiriens entspricht
103
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
der Lauf eines Flusses dem dreiteiligen Aufbau ihrer
Welt: Der Oberlauf ist mit der Oberwelt, der Welt
des Heiligen verbunden, die sich im Süden befindet
und mit dem Himmel gleichgesetzt wird. Die Ufersiedlungen der lebenden Menschen sind Teil der
mittleren Welt, der Menschenwelt. Und der Unterlauf führt in die Unterwelt, den Norden, das Reich
der Toten und der gefährlichen Geister. Anthropologen wie der russische Forscher Vladimir Adaev
sehen in diesem System die Widerspiegelung eines
alten, horizontal gegliederten Weltkonzepts, das in
der heutigen Kosmologie der Taigagruppen mit einer vertikalen Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterwelt kombiniert wird. Die Flüsse und Gewässer in
der Taiga sind die Heimat von Geistern, die für die
Menschen ungünstig oder sogar gefährlich sein können, indem sie z.B. die saisonalen Fischzüge beeinflussen. Daher gibt es an heiligen Orten entlang der
Flüsse eine Vielzahl von Tabus und Verboten, z. B.
hinsichtlich des Zugangs bestimmter Gruppen wie
Frauen zu gewissen Orten, aber auch in Form von
Fischerei- und Jagdtabus.
Die Landschaften der Vergangenheit
verstehen
In einer ethno-archäologischen Studie bei den
Jugan-Chanten beschreibt der britische Archäologe
Peter Jordan zahlreiche Zusammenhänge zwischen
den Eigenschaften und der Rolle der Flüsse innerhalb der Kosmologie und ihren Erscheinungsformen
als physische Muster in der Kulturlandschaft. So gilt
es beispielsweise als unglücklich, eine neue Siedlung oder Behausung flussabwärts von der alten zu
gründen. Flussaufwärts finden sich also immer die
jüngeren Häuser. Das zeigt, wie die kosmologisch
bedeutende Fließrichtung des Flusses die Wahl
neuer Wohnstandorte beeinflusst. Ebenso befinden
sich Friedhöfe nie flussaufwärts von nahe gelegenen
Siedlungen, und die Verstorbenen werden mit dem
Kopf nach Norden, in Richtung des Unterlaufs, bestattet.
Wir haben gesehen, wie innerhalb einer umfassenderen Kosmologie einer beseelten Welt die
sakrale Ökologie der Flüsse eng mit der (Wieder-)
104
Herstellung und Umwandlung sozialer, praktischer
und symbolischer Räume verwoben sein kann. Diese Praktiken und das Expertenwissen der heutigen
modernen Jäger und Fischer in den Wäldern des
Nordens bieten ein großes Potenzial für ein besseres Verständnis auch archäologischer Muster.
Zum Beispiel können Studien über Lebensweisen
mittelsteinzeitlicher Jäger und Fischer in den nacheiszeitlichen Wäldern Mittel- und Nordeuropas von
diesen modernen Beispielen profitieren, da sie die
Rolle von Flüssen als Verbindungen, Ströme und Beziehungslinien und nicht als physische und mentale
Grenzen veranschaulichen. Die räumlichen Muster
markanter archäologischer Merkmale, die von steinzeitlichen Jägern und Fischern hinterlassen wurden,
wie z. B. Siedlungsplätze und Gräber, können angesichts der oben beschriebenen symbolischen, rituellen und praktischen Verflechtungen umfassender
bewertet und verstanden werden. So können wir
Archäologen, die biographisch meist in städtischen
Industriegesellschaften verankert sind, lernen, uns
den Fremden der Vergangenheit und ihren dynamischen Wegen und Routen durch die Waldwelten
besser zu nähern.
Aus dem Hubschrauber auf dem Weg zur Feldarbeit in der nördlichen Taiga hat man einen wunderbaren Blick auf die Taigaflüsse
(Foto: J. Schneeweiß).
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Wege zwischen den Welten – Die rituelle Ökologie von Flüssen
» In der Kosmologie der […] Jäger- und
Fischergruppen Westsibiriens entspricht der Lauf
eines Flusses dem dreiteiligen Aufbau ihrer Welt:
Der Oberlauf ist mit der Oberwelt, der Welt des
Heiligen verbunden […]. Die Ufersiedlungen der
lebenden Menschen sind Teil der mittleren Welt, der
Menschenwelt. Und der Unterlauf führt in die Unterwelt,
[…] das Reich der Toten und der gefährlichen Geister. «
Einheimische selkupische Jäger und Fischer erledigen ihre Aufgaben im Nahbereich mit dem Holzboot (Foto: C. Engel, Berlin).
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 6:
106
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Kapitel 6: Fazit und Ausblick
Fazit und Ausblick
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Lutz Käppel, Henny Piezonka, Andrea Ricci
Entlang des Weges –
Ein Blick zurück
nach vorn
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Entlang des Weges – Ein Blick zurück nach vorn
Menschen und Räume sind und waren stets verbunden durch Routen:
Pfade, Wege, Straßen – zu Lande, zu Wasser, bisweilen sogar durch die
Luft, über Stock und Stein ebenso wie über Holzbohlen, Pflaster und Asphalt. Ihnen folgten Tiere und Menschen, sie lenkten die Verbreitung von
Rohstoffen und Gütern, sie bestimmten die Bahnen, in denen Menschen
vor Not und Gefahren flohen, sie bildeten die physischen und imaginierten Adern von Netzwerken zwischen Gemeinschaften. Die Wurzeln dieser
menschlichen Routen, die wir in diesem Booklet freigelegt haben, führen
zurück bis ins Paläolithikum um 15.000 v.u.Z.: Modernste Forschungsmethoden konnten längst vom Meer überspülte Jagdrouten steinzeitlicher
Rentierjäger vor der Küste Helgolands identifizieren. Die sogenannte
‚Neue Seidenstraße‘ zwischen Asien und den Ländern Afrikas und Europas hatte nicht einen, sondern viele Vorgänger, die bis tief ins Altertum
zurückreichen. Auch Isolierung und Brüche von ehemals etablierten Routen, wie die der ‚Wikinger auf Abwegen‘, haben sich als Richtungsgeber
von kultureller Entwicklung erwiesen, indem Diasporasituationen teils als
Bewahrung altererbter Kultur, teils als Innovationsimpuls wirkten.
Diese und die vielen weiteren Beispiele im vorliegenden Booklet verdeutlichen, wie sehr die Entwicklungen menschlicher Gesellschaften von den
Routen bestimmt sind, über die sie sich verbinden – oder eben nicht verbinden. Moderne, in der urban-industrialisierten Erfahrung (bzw. Agenda) gründende Narrative von einer grenzenlosen, offen verfügbaren Welt
können Risse bekommen, wenn wir tief in die Vergangenheit blicken. Es
sind die Pfade, die ganz konkreten Verbindungen im materiellen wie im
geistigen Sinne, die das Leben der Menschen, ihr Dasein und ihre Entwicklung in der Welt prägen. Kommunikation und Dialog entlang der
Routen und Netzwerke müssen aufrechterhalten werden, denn sie waren und sind der Garant für ein gutes Zusammenleben der Menschen in
dieser Welt. Gerade sie sind jedoch immer auch gefährdet und bedürfen
der aufmerksamen Pflege.
In diesem Sinne ist einer jeder Blick zurück
stets auch ein Blick nach vorn ...
109
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
1/
Globalisierung?
Welche Globalisierung??
von Tim Kerig
Übersichtskarte
der Themen
2/
Wege in der Landschaft – Ökologische und
soziale Bedingungen für den Austausch
von Waren, Ideen und Menschen in der
Vergangenheit
von Walter Dörfler
8
7
9
15
3/
5
Gemeinsam unterwegs – Die
Verflechtung von menschlichen
und tierischen Wanderungen
von Henny Piezonka und Karolina
Varkuleviciute
13
11 2 17
12
16
3
4
Soziale Faktoren
Demographische Faktoren
Umweltfaktoren
4/
6
18
Klimaflucht
von Mara Weinelt
Politische Faktoren
Wirtschaftliche Faktoren
Fundort Hamburger Kultur
Helgoland
5/
Versunkene Pfade in der Nordsee – Auf den
Spuren spätpaläolithischer Rentierjäger
vor der Küste Helgolands von Berit Valentin
Eriksen und Wolfgang Rabbel
Ulaanbaator
Chittagong
1
6/
8/
Ursprünge der Seidenstraße
von Johanna Hilpert und
Jutta Kneisel
Wandeln auf alten Pfaden – Nutzen wir
noch immer keltische Wege?
von Franziska Engelbogen
7/
9/
„On the Road Again“: Reisewege
durch Jütland – Der Ochsenweg, eine
jahrtausendealte Route
von Jutta Kneisel, Bente Majchczack, Franziska
Engelbogen, Anna K. Loy, Oliver Nakoinz
Gekappte Verbindungen –
Drei Wikinger auf Abwegen
von Jens Schneeweiß und Henny Piezonka
Singapore
110
· Booklet Serie · 02
/
2023
10
Übersichtskarte der Themen
10 /
11 /
Rind und Wagen – der erste „Wilde Westen“ in
Europa? Die Innovation „Rad“ zwischen Ostsee und
Schwarzem Meer 3500-2500 v.u.Z.
von Johannes Müller
Wege übers Moor
von Jan Piet Brozio
12 /
19
3
Der Weg zum Reichtum –
Bernsteinstraßen im
bronzezeitlichen Europa
von Benjamin Serbe und
Khurram Saleem
13 /
Die Analyse von Bernstein
von Khurram Saleem und
Benjamin Serbe
6
14
14 /
Die Macht des Wassers –
Konnektivität durch Wasser
in Mesopotamien
von Andrea Ricci
15 /
6
Wie kam Buddha zu den
Nordmännern nach Schweden?
von Jens Schneeweiß
18 /
16 /
Theoria – Die Pilgerfahrt zum Heiligtum
von Lutz Käppel
Am Ende des Weges – Was
Gräber uns über Netzwerke und
Kontakte in der Urgeschichte
verraten von Fynn Wilkes und
Henry Skorna
19 /
17 /
Wege zwischen den Welten –
Die rituelle Ökonomie von Flüssen
von Henny Piezonka
Meerjungfrauen, Gesichter,
Häuser und Vögel – Symbole
der Konnektivität
von Jutta Kneisel
111
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Autorinnen und Autoren
Berit Valentin Eriksen
Exzellenzcluster ROOTS,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel /
Zentrum für Baltische
und Skandinavische
Archäologie, Stiftung
Schleswig-Holsteinische
Landesmuseen
Schloss Gottorf
Jan-Piet Brozio
Institut für Ur- und
Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Walter Dörfler
Johanna Hilpert
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Institut für Ur- und
Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Lutz Käppel
Franziska Engelbogen
Exzellenzcluster ROOTS /
Institut für Klassische
Altertumskunde,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
SFB 1266 / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
112
· Booklet Serie · 02
/
2023
Autorinnen und Autoren
Bente Sven
Majchczack
Tim Kerig
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Exzellenzcluster
ROOTS / Angewandte
Geophysik, Institut für
Geowissenschaften,
Christian-Albrechts
Universität zu Kiel
Jutta Kneisel
Johannes Müller
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Anna K. Loy
Oliver Nakoinz
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
113
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Khurram Saleem
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Materialwissenschaft
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Henny Piezonka
Prähistorische
Archäologie,
Freie Universität Berlin
Jens Schneeweiß
Exzellenzcluster ROOTS,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel /
Zentrum für Baltische
und Skandinavische
Archäologie, Stiftung
Schleswig-Holsteinische
Landesmuseen
Schloss Gottorf
Wolfgang Rabbel
Exzellenzcluster
ROOTS / Angewandte
Geophysik, Institut für
Geowissenschaften,
Christian-Albrechts
Universität zu Kiel
Benjamin Serbe
Andrea Ricci
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
114
· Booklet Serie · 02
/
2023
Autorinnen und Autoren
Henry Skorna
Fynn Wilkes
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Karolina Varkuleviciute
Young Academy,
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
Mara Weinelt
Exzellenzcluster
ROOTS / Institut für
Ur- und Frühgeschichte,
Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel
115
ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Weiterführende Literatur
TIM KERIG
Algaze, G., 1993. The Uruk world system: the dynamics of expansion of early Mesopotamian
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HENNY PIEZONKA AND KAROLINA VARKULEVICIUTE
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116
· Booklet Serie · 02
/
2023
Weiterführende Literatur
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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118
· Booklet Serie · 02
/
2023
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ROOTS of Routes: Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Impressum
»ROOTS of Routes:
Mobilität und Netzwerke zwischen Vergangenheit und Zukunft«
© 2023 Einzelne Autor*innen
Herausgegeben von Sidestone Press, Leiden
www.sidestone.com
Layout, Umschlaggestaltung & Bildbearbeitung: Tine Pape, Kiel
Redaktion: Eileen Küçükkaraca, Kiel
Veröffentlichung des Exzellenzclusters ROOTS
Kontakt
Sprecher: Prof. Dr. Johannes Müller
johannes.mueller@ufg.uni-kiel.de
Wissenschaftliche Koordination: PD Dr. Mara Weinelt, Dr. Andrea Ricci
office@roots.uni-kiel.de
Adresse
Exzellenzcluster ROOTS
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Leibnizstr. 3
24118 Kiel, Germany
www.cluster-roots.org
ISBN/EAN Paperback:
ISBN/EAN: PDF E-book
DOI:
978-94-6426-193-6
978-94-6426-194-3
https://doi.org/10.59641/z2700cl
Veröffentlicht mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
im Rahmen der deutschen Exzellenzstrategie – EXC 2150 ROOTS – 390870439.
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· Booklet Serie · 02
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2023