Der vorliegende Beitrag ist eine stark gekürzte Version eines Beitrags aus dem soeben
erschienenen Band: Körner, Alex; Kuppe, Julian; Schüßler, Michael (Hg.): Der
Widerspruch der Kunst, Frank & Timme, Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin
2015.
erschienen in: CEE IEH, Conne Island Newsflyer, #228, November 2015, Leipzig
Schein der Freiheit
Was ist der Status von Kunst in einer Gegenwart, in der avantgardistische Kunst nicht
mehr gesellschaftsgefährdend, sondern gesellschaftsstützend ist, in der sie darum »unter
dem freundlichen Lächeln der Mächtigen und dem gesitteten Wohlwollen des
staatserhaltenden Publikums« blüht (Améry 2007: 590)? Fast scheint es unter diesen
Umständen aussichtslos, noch an der Konzeption ästhetischer Theorie Theodor W.
Adornos festhalten zu wollen, die aus dieser Perspektive vielfach als veraltet angesehen
wird. Dieser Text soll dennoch dem Versuch gewidmet sein, aufzuweisen, dass diese
ästhetische Theorie so unverändert aktuell ist, wie die Verhältnisse, denen sie sich
verdankt.
Kunst, Widerstand, Versprechen
Die Vorstellung Adornos davon, wie der Schleier der falschen, fetischistisch vollzogenen
Vermittlung durch ästhetische Erfahrung und deren philosophische Reflexion zerrissen
werden könnte, wird schon in Die Aktualität der Philosophie, seiner Antrittsrede als
Privatdozent von 1931, deutlich. Darin entwickelt er, im Anschluss an Ernst Blochs
Überlegungen zur Deutung und zur »Gestalt der unkonstruierbaren Frage« (Bloch 1977:
209ff., vgl. 145ff., 287), sowie von in eine ähnliche Richtung weisenden Betrachtungen
Benjamins, ein Modell von Philosophie als Deutung. Diese wird von ihm als Rätsellösung
verstanden, die darin besteht, die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben.
Deutung erhellt eine Frage jäh und augenblicklich und bringt sie zugleich zum
Verschwinden, indem eine Konstellation ihrer singulären und versprengten Elemente
gefunden wird, die als Antwort lesbar ist (vgl. Adorno 1973: 335).
In der Ästhetischen Theorie kehrt dieses Motiv im Rätselcharakter der Kunst (Adorno
1970: 192) und in ihrem davon ausgehenden Wahrheitsgehalt wieder. Ausgangspunkt der
ästhetischen Theorie Adornos ist die gesellschaftlich produzierte Verkennung bzw.
Verleugnung (vgl. Görg 2003: 49) wertförmiger Vermittlung, die zum Schein von
naturhafter Unmittelbarkeit führt (vgl. Adorno 1979: 369). Der Wahrheitsgehalt
authentischer Kunstwerke geht demgemäß aus der objektivierten Darstellung dieses
falschen Bewusstseins, der falschen Objektivität, hervor, das in der ästhetischen
Erscheinung zur Wahrheit jener wird (vgl. Adorno 1970: 196). Mit diesem Begriff
ästhetischer Negativität verkehrt sich der Sinn des Mimesisbegriffs. Hier nimmt Mimesis
ans Tote, ans Verhärtete und Entfremdete, an die zweite Natur als »erstarrte Geschichte«
(Adorno 1973: 357), kritischen Charakter an, die dem Bann des naturhaft erscheinenden
gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs entgegenwirkt, indem sie ihn zeigt (vgl.
Adorno 1970: 39).
Erscheint in der ästhetischen Negativität, der Negation der Wirklichkeit im ästhetischen
Schein, die Wahrheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wodurch diese als unversöhnte
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und antagonistische gezeigt wird, so sieht Adorno scheinbar im Widerspruch dazu in der
ästhetischen Form des Kunstwerks zugleich die Möglichkeit von Versöhnung aufbewahrt
(vgl. Wellmer 1983: 145). Bezieht sich der Moment des Aufscheinens der Wahrheit der
Wirklichkeit mehr auf das mimetische Ausdrucksvermögen der Kunstwerke, so bezieht
sich der utopische Gehalt, der auf Versöhnung weist, eher auf das ästhetische
Formprinzip, wobei beides miteinander vermittelt ist. Das Entscheidende dieses
Formprinzips, das auf Versöhnung deutet, besteht darin, dass hier mimetischer Ausdruck
und rationale Konstruktion sich in einer dialektischen Figur zu »Rationalität in der
Mimesis« verbinden (Adorno 1970: 488, Brunkhorst 1990: 275). Was in Kunst aufscheint
ist eine »nicht länger gewalttätige Rationalität« (Adorno 1970: 381), eine Rationalität, die
das Divergierende gewaltlos integriert, so Mimesis und Rationalität, Sinnlichkeit und
Vernunft, und die Antagonismen der Realität damit transzendiert, ohne die Illusion zu
erzeugen, es gäbe sie nicht mehr (vgl. ebd.: 283). Es kommt damit im Kunstwerk eine
andere Form von Vernunft zum Ausdruck als die vorherrschende, aus Naturbeherrschung
hervorgegangene instrumentelle Vernunft. Im Kunstwerk wird wirklich, was gesellschaftlich
bisher Utopie geblieben ist: die vernünftige Beherrschung des Verhältnisses von Natur und
Menschheit (Benjamin 1991a: 147), die Beherrschung der Naturbeherrschung: »Durch
Beherrschung des Beherrschenden revidiert Kunst zuinnerst die Naturbeherrschung«
(Adorno 1970: 207). Beherrschung des Beherrschenden wäre zu verstehen als die
Aufhebung der Herrschaft der naturwüchsigen Naturgeschichte in Form des Naturzwangs
der ersten Natur auf der einen Seite und der bloß instrumentellen und daher irrationalen
Vernunft der gesellschaftlichen zweiten Natur auf der anderen Seite durch »zweite
Reflexion« (Adorno 1970: 105, 209, 430, 2003: 201f.) in ästhetische Rationalität. Auf
dieser Ebene ließe sich das antinomische Verhältnis von Autonomie und Souveränität des
Ästhetischen (vgl. Menke 1991: 9ff.) innerhalb des Rahmens der negativen Dialektik
Adornos verstehen: Es stellt sich hier dar als ein Verhältnis von Autonomie, die in der
ästhetischen Eigengesetzlichkeit begründet ist, zur Souveränität, als einem Überschreiten
der außerästhetischen Vernunft, die ebenfalls in der ästhetischen Eigengesetzlichkeit
begründet liegt. Souverän ist die Kunst gegenüber der Gesellschaft dadurch, dass dabei
außerästhetische instrumentelle Vernunft innerästhetisch in ästhetische Rationalität
aufgehoben wird. Die ästhetische Form, wie sie Adorno bestimmt, ist nicht dadurch
souverän, dass sie eine Überwindung, Zersetzung oder Krise der Vernunft wäre, sondern
weil sie eine andere Form von Vernunft modellhaft darstellt. Diese Form von Vernunft wird
in der ästhetischen Autonomie durch zweite Reflexion der instrumentellen Vernunft
gewonnen und stellt sich dem absoluten Anspruch dieser damit als Widerstand entgegen.
Dies ist eben dadurch möglich, weil in der Kunst eine rationale Identität aufscheint, die
eine Vermittlung von Momenten instrumenteller und mimetisch-ästhetischer Rationalität
darstellt (vgl. Brunkhorst 1990: 182).
In der Eigengesetzlichkeit des ästhetischen Formprinzips liegt bei Adorno die Autonomie
der Kunst begründet. Die Eigengesetzlichkeit kommt den Kunstwerken dadurch zu, dass
sie, als authentische, Selbstzweck an sich sind, »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (Kant
1968: 85). Damit sind sie keinen anderen Bestimmungen unterworfen, als den sich aus
der ästhetischen Form selbst ergebenden. Aus der gewaltlosen Einheit der beiden
widerstrebenden Momente, dem mimetischen Ausdruck und der rationalen Konstruktion in
der Eigengesetzlichkeit des authentischen Kunstwerks, ergibt sich sein Widerstand (vgl.
Adorno 1970: 81, 303, 513, Lindner 2014: 163f.) gegen die empirische Realität der
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dieses Widerstandsmoment von Kunst ist zugänglich durch
ästhetische Erfahrung. In der ästhetischen Erfahrung vollzieht sich durch ihren
Prozesscharakter mit der Negation außerästhetischer automatischer Wiedererkennung
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eine Negation außerästhetischer automatischer und identifizierender Erfahrung. Daraus
geht das Moment ästhetischer Negativität hervor (vgl. Menke 1991: 47ff.). Die ästhetische
Negativität kann so eine Unterbrechung automatischer identifizierender Erfahrung
bewirken und erlaubt damit einen anderen, einen reflexiven Modus von Erfahrung. Kunst
wäre also nur dann authentische Kunst im Sinne Adornos, wenn sie das Subjekt im
Vollzug seines eigenen Immanenzzusammenhangs, der dem gesellschaftlichen
korrespondiert, in der ästhetische Erfahrung irritiert. Der Modus außerästhetischer
Erfahrung wird dabei durch den Modus ästhetischer Erfahrung in einem Akt der
»Subversion der verstehenden Identifizierung« (ebd.: 50) negiert und so die
außerästhetischen Verstehensmuster durch ästhetische Erfahrung momenthaft
erschüttert. Im Moment einer solchen ästhetische Erfahrung kann das Subjekt also reflexiv
aus dem alltäglichen gesellschaftlichen Immanenzzusammenhang, aus der objektiven
gesellschaftlichen und seiner eigenen subjektiven zweiten Natur herausgehoben werden.
In Kunstwerken kann nach Adorno eine veränderte Gestalt von Statik und Dynamik im
Sinne eines zu Versöhnung veränderten Verhältnisses der Menschheit zur Natur für
Augenblicke aufblitzen (vgl. Adorno 1979: 236).
Kulturindustrie, Ästhetisierung, Simulation
Indem Geschichte bis heute »Vorgeschichte« (Marx 1961: 9) geblieben ist, in der sich der
in die gesellschaftlichen Verhältnisse transformierte Naturzwang nach wie vor
unbeherrscht durchsetzt und Fortschritt und gesellschaftliche Dynamik als Ausdruck
dieses unbeherrschten gesellschaftlichen Naturzwangs auftreten, bringt sie ganz offenbar
erhebliche soziale und ökologische Widersprüche hervor, die innerhalb des Rahmens der
bestehenden Verhältnisse nicht zu lösen sind. Die kapitalistischen Gesellschaften des
Westens befinden sich seit mindestens einem Jahrhundert schon in dieser Konstellation.
War im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine revolutionäre Aufhebung dieser
Zustände zumindest vorstellbar, sind mit dem 1. Weltkrieg, dem Scheitern der
anschließenden Revolutionsversuche, dem Aufstieg faschistischer Bewegungen und
insbesondere mit dem Nationalsozialismus und Auschwitz historische Zäsuren gesetzt
worden, die solche Hoffnungen auf eine revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen
Bedingungen kaum noch möglich erscheinen lassen. Auch die nachfolgende Entwicklung
erscheint als eine einzige Demonstration der Übermacht der gesellschaftlichen
Verhältnisse gegenüber den Menschen, die sie hervorbringen. Diese gesellschaftliche
Konstellation hat Konsequenzen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ein Kernpunkt
gesellschaftlichen Handelns scheint deshalb schon seit über einhundert Jahren vor allem
darin zu liegen, die scheinbare Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen
Verhältnissen, die als unbezwingbare Naturmacht erscheinen, auf verschiedenste Art zu
bewältigen.
Es gibt daher nicht zufällig seit der Zeit der Lebensreformbewegung und der
künstlerischen Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert immer wieder Überschneidungen
von Kunst und sozialen und politischen Bewegungen, die sich veränderte gesellschaftliche
Bedingungen zum Ziel setzen. Benjamin beschrieb die »Ästhetisierung der Politik« als
Eigenart des Faschismus und stellte die »Politisierung der Kunst« als Forderung des
Kommunismus dagegen (Benjamin 1991: 469). Was Benjamin damit anzeigt, dürfte weit
über den Faschismus hinausreichen und wäre als ein Merkmal von Politik überhaupt seit
mindestens einem Jahrhundert zu analysieren. Was mit der Ästhetisierung von Politik
vollzogen wird, ist die Bewältigung der scheinbaren Ohnmacht der Gesellschaft ihr selbst
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gegenüber dadurch, dass die gesellschaftlichen
Inszenierungen zum Verschwinden gebracht werden.
Widersprüche
durch
imaginäre
Die zentralen gesellschaftlichen Bearbeitungsweisen des Widerspruchs, dass wirkliche
gesellschaftliche Veränderung sich gegenwärtig als so notwendig wie scheinbar unmöglich
erweist, scheint aus dieser Perspektive heraus vor allem in einer Art Pseudoaktivität zu
bestehen. Ein wesentliches Muster besteht dabei in imaginären Inszenierungen oder
Simulationen, die in scheinhaften Revolten gegen den Fetischismus, die Unterwerfung
unter fetischisierte Verhältnisse als deren Beherrschung erscheinen lassen. Diese, mit den
Begriffen Pseudoaktivität, imaginäre Inszenierung oder Simulation beschriebenen,
gesellschaftlichen Erscheinungen haben ihren Ursprung in einer bestimmte
gesellschaftliche Konstellation, die als romantischen Konstellation bezeichnet werden
kann. Diese ist bestimmt von nicht erfüllten oder nicht erfüllbar scheinenden revolutionären
gesellschaftlichen Veränderungen. So ist schon seit der Frühromantik, im Nachgang der
französischen Revolution, ein Spannungsverhältnis der sich wechselseitig bedingenden
und aufeinander einwirkenden Sphären der Kunst bzw. des Ästhetischen und des Sozialen
festzustellen (vgl. Klinger/Stäblein 1989, Klinger 1995).
Kunst wird nach Benjamin dann zum Teil der Produktion einer Phantasmagorie als
Ausdruck des vom Warenfetischismus produzierten falschen Bewusstseins, in der der
Schein des Neuen zurückgeworfen wird auf den Schein des immer wieder Gleichen, wenn
sie das Neue zu ihrem obersten Wert macht (vgl. Benjamin 1983: 55). Genau dies scheint
es gegenwärtig zu sein, wozu Kunst der Gesellschaft vor allem dient: den Schein zu
erzeugen, als gäbe es Neues im Gleichen, Verändertes inmitten des Unveränderten.
Kunst als gesellschaftliche Institution scheint damit gegenwärtig weitgehend nach dem
Muster zu funktionieren, welches Ingolfur Blühdorn als dasjenige sozialer Bewegungen
und auch als dasjenige gegenwärtiger Politik und Demokratie beschreibt, dem der
Simulation (vgl. Blühdorn 2007: 13f., Blühdorn 2013: 182).
Als Ästhetisierung der Politik fasst es Benjamin, wenn das Recht der Menschen auf
Veränderung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse seinen Ausdruck in deren
Konservierung erhalten soll (vgl. Benjamin 1991: 467, 506). Es wird dabei also nur eine
Illusion der Veränderung dieser Verhältnisse erzeugt, ohne dass die Verhältnisse
tatsächlich in dem genannten Sinne verändert werden würden. Es kann daher danach
gefragt werden, ob nicht die gegenwärtige Kunst genau diesem von Benjamin
beschriebenem Schema der Ästhetisierung der Politik entspricht, indem sie die Illusion der
Möglichkeit wirksamer politischer Intervention mit den Mitteln der Kunst darstellt. Dadurch,
dass dies durch die Kunst in der Kunst mit Mitteln der Kunst erfolgen soll, bleibt die
Intervention vollständig innerhalb des Raums der Kunst, aber es wird der Eindruck
erzeugt, die Intervention ginge über den Bereich der Kunst hinaus tatsächlich bis in die
gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge hinein. Die Unmöglichkeit dieser Annahme
ist in der Autonomie der Kunst begründet. Diese Autonomie der Kunst, die aus ihrer
Formbestimmtheit hervorgeht, also ihr nicht-praktisch-werden-können, ist gerade das
Moment an der Kunst, das der gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegensteht.
Wenn Kunstwerke nach Adorno als Objektivation scheinbar objektiver gesellschaftlicher
Verhältnisse, indem sie sich als Schein diesen entgegenstellen, zur Erkenntnis des
falschen gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs führen können, so erscheint
fraglich, ob diese Konzeption unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen
noch als wirksam angenommen werden kann. Wenn in der Gegenwart auf Kunst die
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Funktion übertragen wird, Handlungsfähigkeit und Autonomie virtuell, als Simulation, zu
erzeugen, sie also nicht mehr die Übermacht der erstarrt erscheinenden gesellschaftlichen
Verhältnisse und den Eindruck des Ausgeliefertseins der leidenden Individuen an diese,
sondern im Gegenteil Verschiebung, Verflüssigung, Heterogenität, Fragmentarität,
Dekonstruktion, Pluralität, Kontingenz, d.h. die Vorstellung unbegrenzter Möglichkeit,
darstellen soll, dann scheint hier eine Umkehrung stattgefunden zu haben. Die Wahrheit
so konzipierter Kunst wäre nicht mehr auf die bei Adorno vorgestellte Weise der »Schein
des Scheinlosen« (Adorno 1970: 199), der Vorschein auf einen Zustand, der nicht mehr
notwendig scheinhaft wäre, wenn sie selbst schon imaginär den Schein der
Unmittelbarkeit des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs unmittelbar
aufbrechen soll. Sie gerät so zur Verdoppelung der falschen Identität von Schein und
Wirklichkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre nur noch entgegen
diesem Schein zu fassende Wahrheit wäre dann die Erstarrung und die Ohnmacht
angesichts hermetisch erscheinender gesellschaftlicher Objektivität.
Was Benjamin sich noch vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit versprach, eine Freisetzung revolutionären Potentials, scheint
endgültig untergegangen in Massenkultur und Kulturindustrie, wie Adorno es schon konträr
zu Benjamins Hoffnung sah. Etwas Sprengkraft scheint nun nur noch mittels doppelter
Negation aus Kunst herauszulösen zu sein. Damit ist aber ebenso die Notwendigkeit
philosophischer Reflexion verdoppelt, ohne die Explosivität nicht mehr freizulegen ist,
sondern im Modus des Pseudos verschwindet. Es scheinen daraus zwei Möglichkeiten zu
folgen: Entweder wird Kunst nur noch rein affirmativ gelesen und damit zur Simulation
oder es ist eine Verdopplung der Reflexion notwendig, um die Bedeutung der
Bedeutungslosigkeit (vgl. Bürger 1988) als Ausdruck des Scheiterns an der Übermacht der
Verhältnisse auszumachen. Die erste Tendenz wird bei Adorno in der These der
Entkunstung der Kunst gefasst, als »Praxis, welche die Kunst unreflektiert, diesseits ihrer
eigenen Dialektik der außerästhetischen annähert« (Adorno 1970: 271). Die
Unvereinbarkeit der Idee der Erschütterung des Ichs durch Kunst mit der Praxis der
Zerstreuung durch die Kulturindustrie, die das Ich schwächt, bezeichnet er als die innerste
Motivation der Entkunstung der Kunst. Kunst in der Kulturindustrie, als subjektiv scheinbar
befriedigendes Erlebnis, wird so zur kulturellen Ersatzbefriedigung (vgl. ebd.: 364f.). An
dieser Stelle bezeichnet Adorno sehr genau den Umschlag des Ästhetischen von der
Kunst zur Kulturindustrie, denn an diesem Umschlagpunkt geht die Wirksamkeit der Kunst,
ihre ästhetische, potentiell transformierende Kraft (vgl. Menke 2008: 24, 59ff., 78, 106),
unter.
Kunst wird in der Gegenwart, in der das Feld der Kunst praktisch ausnahmslos nach dem
Muster der Kulturindustrie strukturiert ist, vor allem in dieser Erlebnisform inszeniert und
wahrgenommen. Ihr wird damit eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen, die ihrer
Autonomie nicht gerecht wird, indem sie sie in den Dienst nimmt. Die Inanspruchnahme
von Kunst für ihr äußerliche Zwecke widerspricht der Autonomie, die aus ihrem inneren
Formzusammenhang hervorgeht. In dieser Unvereinbarkeit von Autonomie und
Heteronomie liegt daher letztlich, wie verdeckt auch immer, noch immer und
unausweichlich ihr Widerstand gegen die repressive kapitalistische Gesellschaft. In der
Gegenwart, in der Kunst fast ausschließlich als konsumierbares Erlebnis erscheint, wird
aber gerade die Autonomie der Kunst und der ästhetische Schein in Anspruch genommen,
um gesellschaftlich nicht vorhandene Autonomie imaginativ erscheinen zu lassen. Noch
die Sprödigkeit von Kunstwerken, die Adorno noch als negative Erscheinung ihrer
Wahrheit sah, wird in der Gegenwart, wie alles Abweichende, kulturindustriell vereinnahmt.
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Mit der Inanspruchnahme des Autonomen für das Heteronome verschwindet die
Autonomie der Kunst nicht, aber sie wird, indem ihr ein Zweck zugewiesen wird, der nicht
ihr eigener ist, zweckentfremdet, instrumentalisiert und damit ihrer Kraft beraubt (vgl.
Menke 2013: 11): »Was anders wäre, wird gleichgemacht« (Horkheimer/Adorno 1996: 18).
Es wird nicht durch manipulative Handlungsweisen gleichgemacht, sondern durch
gesellschaftliche Verhältnisse, die es anders kaum ermöglichen. Adorno bezeichnet diese
Konstellation mit dem Begriff der Neutralisierung: Die Kunstwerke, auch die radikalsten,
büßen durch ihre gesellschaftliche Integration tendenziell ihre Wirkmächtigkeit als
bestimmte Negation der Gesellschaft ein (vgl. Adorno 1970: 339, 348), womit aber ihr
Charakter und ihre Qualität als Kunstwerke nicht vollends durchgestrichen werden. Kunst
als Freiraum, als »Freiheit vom Sozialen im Sozialen« (Menke 2013: 14), ihr Fürsichsein in
ihren Relationen zur Gesellschaft (vgl. Adorno 1970: 337), wird wirklich nur in ihrer
formbestimmten Autonomie vom Sozialen. Der ästhetische Schein bleibt notwendig
Schein, zugleich aber, in wie auch immer verzerrter Gestalt, Vorschein von Versöhnung.
von Julian Kuppe
Anmerkungen
Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Band 7,
Frankfurt/M.
Adorno, Theodor W. (1973): Philosophische Frühschriften, Gesammelte Schriften Band 1,
Frankfurt/M.
Adorno, Theodor W. (1979): Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften Band 8,
Frankfurt/M.
Amery, Jean (2007): Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre.
Örtlichkeiten, Werke, Band 2, Stuttgart.
Benjamin, Walter (1983): Das Passagen-Werk, Frankfurt/M.
Benjamin, Walter (1991): Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I, Frankfurt/M.
Benjamin, Walter (1991a): Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/M.
Bloch, Ernst (1977): Geist der Utopie, Frankfurt/M.
Blühdorn, Ingolfur (2007): Sustaining the Unsustainable: Symbolic Politics and the Politics
of Simulation, in: Environmental Politics, 16/2, S. 251-75.
Blühdorn, Ingolfur (2013): Simulative
postdemokratischen Wende, Frankfurt/M.
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Neue
Politik
nach
der
Brunkhorst, Hauke (1990): Theodor W. Adorno, Dialektik der Moderne, München.
Bürger, Peter (1988): Das Verschwinden der Bedeutung. Versuch einer postmodernen
Lektüre von Michel Tournier, Botho Strauß und Peter Handke, in: Kemper, Peter (Hg.):
6
Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst
und Gesellschaft, Frankfurt/M, S. 294 - 312.
Görg, Christoph (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Zu einer kritischen Theorie der
ökologischen Krise, Münster.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1996): Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, Frankfurt/M.
Kant, Immanuel (1968): Kritik der Urteilskraft, Leipzig.
Klinger, Cornelia/Stäblein Ruthard (Hg.) (1989): Identitätskrise und Surrogatidentitäten.
Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation, Frankfurt/M.
Klinger, Cornelia (1995): Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen
Gegenwelten, München, Wien.
Lindner, Burkhardt (2014): Kritik und Weiterarbeit. Zu Adornos Theorie der
Kunstautonomie, in: Quent, Marcus und Eckhardt Lindner (Hg.) (2014): Das Versprechen
der Kunst, Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie, Wien, S. 157 – 186.
Marx, Karl (1961): Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Band 13, Berlin, S. 3-160.
Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno
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Menke, Christoph (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt
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Menke, Christoph (2013): Die Kraft der Kunst, Frankfurt/M.
Wellmer, Albrecht (1983): Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der
Modernität, in: Friedeburg, Ludwig von/Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983,
Frankfurt/M., S. 138 – 176.
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