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Sprachkontakt -Sprachmischung -Sprachwahl -Sprachwechsel

2018, Sprachkontakt -Sprachmischung -Sprachwahl -Sprachwechsel

Die Studie untersucht den Zusammenhang zwischen Sprachverwendung, sozialer Positionierung und kollektiver Identitätsbildung in Weißrussland zwischen dem Weißrussischen, Russischen und der weißrussisch-russisch gemischten Rede (Trasjanka). Die soziodemographische und ökonomische Struktur der drei „Kodes“ wird mittels Umfrage und Interviews bei drei Generationen erfasst. Die Konstellation ist grundlegend diglossisch: Russisch herrscht im öffentlichen Raum, die Trasjanka viel stärker als bisher angenommen im privaten (besonders bei der älteren Generation). Weißrussisch ist völlig marginalisiert. Für die spezifisch weißrussisch-kollektive Identität, die durchaus festzustellen ist, spielt keiner der Kodes eine nennenswerte Rolle, bestenfalls das Weißrussische auf symbolisch-musealer Ebene.

Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel Titelei – Inhalt – Einleitung aus letzter Korrekturfahne (zur einführenden Information) Bernhard Kittel, Diana Lindner, Mark Brüggemann, Jan Patrick Zeller, Gerd Hentschel Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede „Trasjanka“ in Weißrussland Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gefördert durch: VW-Stiftung, Az. 11/83 371 Umschlagabbildung: Thomas Robbers, Oldenburg (www.thomasrobbers.de) Cover Design: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-631-74662-2 (Print) E-ISBN 978-3-631-77219-5 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-77220-1 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-77221-8 (MOBI) © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Berlin 2018 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com Danksagung Der vorliegende Band ist ein Ergebnis des Projektes Die Trasjanka in Weißrussland – eine „Mischvarietät“ als Produkt des weißrussisch-russischen Sprachkontakts: Sprachliche Strukturierung, soziologische Identifikationsmechanismen und Sozioökonomie der Sprache, das den beiden Unterschriebenen von der Volkswagen Stiftung, Hannover (Gz: II/83 371) im Rahmen des Programmes Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas bewilligt wurde. Durchgeführt wurde es zwischen 2008 und 2014. Wir danken außer der forschungsfördernden Organisation zahlreichen Kollegen. Herauszuheben sind unsere Projektpartner David Rotman und Sjarhej Zaprudski, beide von der Weißrussischen Staatsuniversität Minsk, ohne die die umfangreichen Feldarbeiten in Weißrussland nicht hätten durchgeführt werden können, und unseren drei Koautoren. Weiterhin gebührt unser Dank †Fёdar Piskunoŭ (Minsk), Natallja Kraŭčanka und Sviatlana Tesch (Oldenburg) sowie Natallja Vereemeeva (Minsk), die uns auf verschiedenen Etappen der Arbeiten ihre Unterstützung gewährt haben. Ohne die Arbeit vieler unserer studentischen Hilfskräfte hätte die Monographie ebenso wenig vorgelegt werden können. Letztlich danken wir Lars Behnke (Oldenburg/Kopenhagen), ohne dessen umfangreiche und akribische Unterstützung die Druckvorlage kaum zustande gekommen wäre. Oldenburg und Wien, im August 2017 Gerd Hentschel Bernhard Kittel Inhaltsverzeichnis Anmerkung zur Transliteration ............................................................... 11 Einleitung ..................................................................................................... 13 1. Analyseperspektive auf Sprachwahl und Sprachwandel ........ 25 1.1 Sprachverhalten im gesellschaftlichen Kontext ................................ 26 1.2 Die soziolinguistische Perspektive auf sprachliches Handeln und soziale Einflussfaktoren ............................................................. 32 1.3 Sprachwahl im sozialen Kontext ....................................................... 37 2. Sprachliche Strukturierung und sprachliches Handeln ......... 49 2.1 Sprachgesellschaften, Sprach- und Sprechgemeinschaften ............... 49 2.2 Sprachpolitik und sprachliche Anpassungsleistungen ....................... 52 2.3 Zielsetzungen sprachlicher Handlungen ........................................... 60 3. Wertzuschreibungen als Grundlage sprachlichen Handelns ............................................................................................... 69 3.1 Der ökonomische Wert der Sprache .................................................. 75 3.2 Der symbolische Wert der Sprache.................................................... 81 3.3 Sprachliche Wertzuschreibungen und individuelle Identitätskonstruktion ....................................................................... 90 3.4 Sprachwandel als kollektive Handlung ............................................. 96 3.5 Die soziale Situation von Sprachentscheidungen und ihre Folgewirkungen ................................................................................ 98 8 Inhaltsverzeichnis 4. Historisch-politische Entwicklung, Sprache und Sprachenpolitik in Weißrussland ................................................... 103 4.1 Entwicklung der weißrussischen Nation und politische Geschichte Weißrusslands .............................................................. 104 4.2 Die Konstruktion einer weißrussischen Identität............................. 116 4.3 Die Entwicklung der Sprachenpolitik und sprachlichen Situation 125 5. Die weißrussisch-russisch gemischte Rede ............................... 139 5.1 Historische Entwicklung und sozioökonomischer Kontext ............. 139 5.2 Untersuchungsleitende Hypothesen ................................................ 147 6. Design, Operationalisierung und Datenerhebung.................. 161 6.1 Design ............................................................................................. 161 6.2 Quantitative Analyse: Sozioökonomie der Sprachnutzung ............. 164 6.3 Qualitative Analyse: Spracheinstellungen und Identität .................. 168 6.4 Struktur der Stichprobe ................................................................... 171 7. Sozialstrukturelle Bestimmungsfaktoren der Sprachverwendung .......................................................................... 177 7.1 Verbreitung der gemischten Rede .................................................... 177 7.2 Sprachliche Sozialisation ................................................................ 190 7.3 Soziale Einflussfaktoren der Sprachverwendung ............................ 194 7.4 Kontextspezifischer Sprachgebrauch .............................................. 203 7.5 Fazit ................................................................................................ 229 8. Sprachverhalten, Wertzuschreibungen und Identitätszuordnungen ................................................................... 237 8.1 Ökonomische Wertzuschreibung und Sprachverhalten ................... 237 8.2 Symbolische Wertzuschreibung und Sprachverwendung ............... 246 Inhaltsverzeichnis 9 Sprachverhalten und kulturelle Identität ...................................... 246 Sprachverhalten und kulturelle Überzeugungen .......................... 250 8.3 Sprachverhalten und Spracheinstellungen....................................... 257 8.4 Fazit ................................................................................................ 262 9. Spracheinstellungen und Sprachidentität ................................ 265 9.1 Sprachverhalten und Spracheinstellungen....................................... 265 9.2 Die Identität der WRGR-Sprecher .................................................. 271 Die „Reflektierten Identifizierer“ ................................................ 275 Die „Konzeptlosen Patrioten“ ............................................................279 Die „Teilidentifizierer“ .................................................................... 282 9.3 Fazit ................................................................................................ 284 10. Resümee und Schlussfolgerungen............................................... 289 Anlage 1: Fragebogen in russischer Sprache ................................. 299 Anlage 2: Deutsche Übersetzung des russischen Fragebogens .......................................................................... 307 Literatur ..................................................................................................... 315 Anmerkung zur Transliteration Ein besonderes Problem stellt in einer Studie, die sich auf einen offiziell zweisprachigen Staat bezieht, die Wiedergabe von Orts- und Personennamen dar. So ist in Bezug auf Weißrussland grundsätzlich zu entscheiden, ob eine wissenschaftliche Transliteration aus dem Weißrussischen oder aus dem Russischen erfolgen soll. Beide Alternativen erzeugen in vielen Fällen den Eindruck einer gewissen „Künstlichkeit“, nämlich dann, wenn der jeweilige Name im breiten Diskurs in einer der beiden Sprachen deutlich geläufiger ist als in der anderen. Man denke hier etwa an die weißrussische, auf Russisch schreibende Literaturnobelpreisträgerin von 2015, die der breiten Öffentlichkeit – auch in Weißrussland – eher unter dem russischsprachigen Namen Svetlana Aleksievič als unter der weißrussischen Variante Svjatlana Aleksievič bekannt ist. Umgekehrt gibt es heutige und historische Akteure, die vor allem im Diskurs der Weißrussischsprachigen von Bedeutung sind, etwa der weißrussische Aufständische von 1863/64, Kastus’ Kalinoŭski (russisch: Konstantin Kalinovskij) oder, im heutigen Weißrussland, Aleh Trusaŭ (russisch: Oleg Trusov), Vorsitzender der Gesellschaft der weißrussischen Sprache (und im Übrigen russischstämmig). Aufgrund dieser Gemengelage ist die Wahl der Transliteration, gleichgültig, ob sie zugunsten des Weißrussischen oder des Russischen ausfällt, politisch-symbolisch markiert. Für die vorliegende Publikation wurde eine Entscheidung zugunsten der Transliteration aus dem Weißrussischen getroffen, womit lediglich insofern eine politische Stellungnahme einhergeht, als den Autoren die sozial und politisch de facto schwächere der beiden Staatssprachen Weißrusslands, das Weißrussische, erhaltenswert erscheint, ohne dass dies mit einer Ablehnung der Rolle des Russischen in Weißrussland verbunden wäre. Aus dem Weißrussischen transliteriert werden mithin außer den Ortsnamen im heutigen Weißrussland sämtliche Namen historischer und gegenwärtiger Akteure des Landes, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Ausnahmen bilden Persönlichkeiten wie Adam Mickiewicz oder Tadeusz Kościuszko, die zwar ebenfalls aus den heutigen weißrussischen Gebieten stammen, aber weithin als zentrale Figuren der polni- schen Geschichte wahrgenommen werden. Auch Namen wie die der ethnisch litauischen Fürsten des Großfürstentums Litauen werden nicht aus dem Weißrussischen transliteriert, sondern in ihrer litauischen Variante wiedergegeben (Mindaugas statt Mindoŭh). Orts- und Personennamen aus dem Gebiet des heutigen Russland werden aus dem Russischen, Orts- und Personennamen aus der heutigen Ukraine aus dem 12 Anmerkung zur Transliteration Ukrainischen transliteriert. Im Fall der ukrainischen Hauptstadt wird auf ukrainisch „Kyjiv“ zugunsten der im „Westen“ geläufigeren Variante „Kiev“ verzichtet (auch in Bezug auf den historischen Staat „Kiever Rus’“); Gleiches gilt für die Herrscher der Kiever Rus’ („Vladimir“ statt „Volodymyr“). Für Städte wie Moskau oder Warschau wird der im Deutschen übliche Ortsname verwendet. Einleitung Sprache bedeutet für den Einzelnen in erster Linie Kommunikation. Sie vermittelt Beziehungen und ist die Grundvoraussetzung für die Vergemeinschaftung der Menschen. Berücksichtigt man jedoch die Zahl der Sprachen auf der Welt, die im Atlas of the World´s Languages auf 6.000 geschätzt wird (Asher & Moseley 2007), so wird auch das Potenzial von Sprache deutlich, als Unterscheidungsmerkmal zu wirken, das viele andere Ordnungskonzepte außer Kraft setzt. Im Durchschnitt kommen je nach Schätzung auf jeden Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen 31 bis 36 Sprachen. Die rund 1.000 lebendigen Sprachen allein in Afrika und Südamerika, von denen Schätzungen ausgehen, lösen diese Kontinente in viele kleine Gruppen auf, deren Zugehörigkeitskriterien in keiner Weise mit politischen Grenzen kongruent sind (vgl. Sasse 2001). Europa ist im Vergleich dazu mit etwa 150 Sprachen, darunter Amts-, Regional- und Minderheitensprachen, noch relativ übersichtlich (Sprachrat 2010). Aber dennoch, auch in den slavischen Sprachen, zu denen das Weißrussische gehört, gibt es Fragen, welche Varietäten als Sprache zu zählen sind und welche nicht (vgl. Hentschel 2003). Eine klare Unterscheidbarkeit von nah verwandten Sprachen (wie z.B. Weißrussisch und Russisch) ist dabei eng mit der Ausbreitung und Durchsetzung überregionaler Schriftsprachen verbunden (vgl. Bechert & Wildgen 1991:12). Für die soziologische Forschung ergeben sich aus der sprachlichen Strukturierung eines Landes nicht nur neue Fragen nach den Mechanismen gesellschaftlicher Positionierung, sondern auch nach der Ausbildung kollektiver Identitäten. Hier liegt ein Konfliktpotenzial vor, und zwar hinsichtlich unterschiedlicher Ebenen der Identitätsbildung (regional, ethnisch, national u.a.), aber auch hinsichtlich unterschiedlicher konkurrierender nationaler Konzepte. Sprache ist in diesem Kontext ein wichtiges Machtinstrument. Die Etablierung einer allgemein verbindlichen Hoch- oder Standardsprache innerhalb eines Staates (ggf. in einzelnen seiner Teile) ist oft eine politisch brisante Entwicklung, da die Beherrschung und Verwendung der Standardsprache Voraussetzung für gesellschaftliche Positionierungen ist. Daraus ergeben sich sensible Fragen der Ein- und Ausgrenzung, sozialer Ungleichheitsdimensionen und gesellschaftlicher Spaltungen. Insbesondere in „mehrsprachigen Ländern“1 können weitere 1 Der Begriff „mehrsprachiges Land“ ist insofern diffus, als er nicht zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit (in ihrer Ausprägung bei den Individuen) unterscheidet. Staatliche Mehrsprachigkeit bei weitgehender Abwesenheit von 14 Einleitung Forschungsfragen zum Zusammenhang zwischen sozialem Kontext, sprachlichen Wertzuschreibungen und Gruppenzugehörigkeiten untersucht werden. Einen besonderen Fall stellen dabei Sprachen- und Identitätskonflikte zwischen Sprechern eng verwandter Sprachen dar, und zwar dann, wenn für die jeweiligen Sprachträger ein gewisser Grad an ethnischer Verwandtschaft bzw. Nähe anzunehmen ist. An Sprache und Sprachen in einer Gesellschaft lassen sich Mechanismen sozialer Integration sowie die Blockade solcher Mechanismen erforschen. Die gegenwärtige soziologische Forschung bezieht sich jedoch nur insofern auf Sprache, als diese Mittel zur Kommunikation ist. Mit diesem eingeschränkten Zugang werden soziale Fragen lediglich indirekt bearbeitet. In der deutschen Soziologie gab es lediglich eine kurze Phase, in der eine explizit sprachsoziologische Forschung betrieben wurde und der direkte Zusammenhang zwischen Sprachverwendung und deren sozialen Folgen im Mittelpunkt stand. Der Ertrag dieser Forschungsrichtung blieb bescheiden, nicht zuletzt, weil Fragen nach den Ungleichheitsdimensionen von Sprache offen blieben. Die vorliegende Studie versteht sich als Versuch, das sprachsoziologische Forschungsparadigma wieder aufzugreifen und einen Zugang zu finden, mit dem der Zusammenhang zwischen Sprachverwendung, sozialer Positionierung und kollektiver Identitätsbildung erfasst werden kann. Mit diesem Zugang will sie exemplarisch die Spezifika der Sprachenproblematik in einem auch offiziell mehrsprachigen Land veranschaulichen, dessen zwei Staatssprachen aufgrund ihrer engen genetischen Verwandtschaft und strukturellen Ähnlichkeit eine spezifische Prädisposition zur Sprachmischung aufweisen. Für die empirische Überprüfung des zu entwickelnden theoretischen Zugangs bieten die Nachfolgestaaten der Sowjetunion geeignete Konstellationen. Durch die klare politische und gesellschaftliche Dominanz des Russischen in der Sowjetunion (spätestens ab den 1930er Jahren)2 hat die gesellschaftliche Zweisprachigkeit eine enorme Ausweitung erfahren. So war ganz abgesehen davon, dass es gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit liegt in Staaten vor, in denen die Amtssprachen areal komplementär verteilt sind, etwa Belgien (Ausnahme Brüssel und nähere Umgebung von Brüssel), Kanada (Ausnahme Québec) und die Schweiz (hier mit Ausnahme der Italienisch- und Rätoromanischsprachigen, unter denen individuelle Mehrsprachigkeit weit verbreitet ist). In den nicht-russischen Republiken der Sowjetunion dagegen führte die staatlich propagierte individuelle Zweisprachigkeit aus Russisch und der Sprache der Titularethnie weitgehend zu einer auch gesellschaftlichen Zweisprachigkeit, mit klarer Dominanz des Russischen. 2 Natürlich war diese Dominanz bereits im russischen Zarenreich angelegt. Einleitung 15 außerhalb der „russischsprachigen“ Kerngebiete zahlreiche Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache gab, Russisch de facto die obligatorische Zweitsprache in anderen Schulen (Comrie 1999). Weißrussland ist hier ein besonders interessanter Fall. Es ist aktuell wie viele andere ehemalige Sowjetrepubliken ein Land mit zwei Staats- bzw. Amtssprachen: Russisch und Weißrussisch. Anders als in vielen anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion (nicht zuletzt anders als in der Ukraine) hat die Ethnosprache Weißrussisch abgesehen von der Zeit von der Gewinnung der staatlichen Selbständigkeit bis zur ersten Präsidentschaft A. Lukašėnkas keine Förderung – im Sinne einer „positiven Diskriminierung“ – als Kommunikationsmittel im öffentlichen Raum und in staatlichen Institutionen erhalten. De iure ist das Weißrussische dem Russischen gleichgestellt, in der Praxis allerdings ist eine extreme Asymmetrie zwischen beiden Sprachen festzustellen. So ist Russisch zweifellos das Hauptkommunikationsmittel im öffentlichen Raum, Weißrussisch wird jedoch z.B. für Straßenbeschilderungen und planmäßige Ansagen der Minsker U-Bahn benutzt (außerplanmäßige Ansagen dagegen, die nicht vorab aufgezeichnet wurden, erfolgen auf Russisch). Auch in der Medienlandschaft hat das Russische ein starkes Übergewicht. In den staatlichen Rundfunk- und Fernsehsendern ist die Präsenz der weißrussischen Sprache äußerst begrenzt. Im privaten Bereich dominiert das russischsprachige Angebot noch stärker, ganz abgesehen davon, dass es ein reiches Spektrum von elektronischen Medien aus Russland (über Satelliten, Internet etc.) gibt. Weißrussischsprachige Auslandssender wie TV Belsat, euroradio.fm und Radyë Racyja (Polen) oder Radyë Svaboda (Tschechien) erreichen vor allem ein „oppositionsaffines“ Publikum. Ähnlich ist die Dominanz des Russischen bei den Zeitungen und Zeitschriften. Die Auflagen von Büchern in weißrussischer Sprache sind deutlich kleiner als die Auflagen vergleichbarer russischsprachiger Bücher, die in Weißrussland erscheinen, was zum Teil, aber nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass russischsprachige Bücher auch für den Markt außerhalb von Weißrussland produziert werden. Anschaulich wird dies in den großen Buchhandlungen im Zentrum von Minsk, wo die Regale mit weißrussischsprachigen Büchern in der Regel nur einen kleinen Teil der Verkaufsfläche einnehmen. Auch in historischer Perspektive war das Weißrussische stets in einer schwachen Position. Zwar basierte die einschlägige Schriftsprache im Großfürstentum Litauen im Spätmittelalter ganz wesentlich auf weißrussischen Varietäten. Aber diese erste „weißrussische Schriftsprache“ („Altweißrussisch“) wurde im 17. Jh., nach der polnisch-litauischen Realunion (1569), vom Polnischen verdrängt. Polnisch spielte bis ins 19. Jh. eine starke Rolle als Schrift- und Kultursprache in Weißrussland, selbst als Weißrussland bereits gänzlich Teil des russischen Zarenreiches war. Nach dem sog. Zweiten Polnischen Aufstand 1862/63, an 16 Einleitung dem auch Weißrussen beteiligt waren, wurde – begleitet von einer allgemeinen repressiven Politik zuungunsten anderer Sprachen – das Russische dominant, um es bis heute zu bleiben. Nur zwei Ausnahmen sind zu konstatieren. Die erste betrifft die 1920er Jahre, als die junge Sowjetunion im Rahmen der (auf Russisch) sog. „Korenizacija“ (wr. „karanizacjyja“, dt. „Verwurzelung“) eine breite Förderung anderer Sprachen betrieb. Anknüpfungspunkt für diese Sprachenpolitik waren bereits zuvor begonnene Versuche autochthoner Intellektueller, die Verwendung des Weißrussischen zu propagieren und dieses hierzu als Schriftsprache mit einer ersten Kodifizierung zu etablieren. (Nach der Februarrevolution von 1905 hatte die Regierung des Zaren die Sprachenpolitik gelockert.) Dieses Phänomen wird im Lande die „Erste Wiedergeburt“ des Weißrussischen genannt, in Reminiszenz an die in der frühen Neuzeit untergegangene „altweißrussische“ Schriftsprache im Großfürstentum Litauen. Die zweite Ausnahme, entsprechend „Zweite Wiedergeburt“, ist in den oben bereits erwähnten Jahren von der Gewinnung der Unabhängigkeit (1991) bis zur Wahl A. Lukašėnkas zum Präsidenten (1994) zu sehen. Die Emanzipationsbestrebungen für den weißrussischen Ethnolekt im öffentlichen Leben, vor allem im Schulwesen, einzudämmen, war ein Wahlversprechen Lukašėnkas gewesen, so dass dieser Wechsel der Sprachenpolitik nicht ohne Unterstützung weiter Teile der Gesellschaft erfolgte.3 Bei der letzten Volkszählung von 2009 gaben entsprechend nur 23,4 % der Bevölkerung an, Weißrussisch täglich zu benutzen. Dabei ist prinzipiell zu berücksichtigen, dass diese Gruppe sich in mindestens zwei Sprechergruppen teilt. Zum einen ist dies die kleine Zahl der Sprecher des Standardweißrussischen, als die vor allem Teile der künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Intelligenz in den Städten (in erster Linie Minsk) angesehen werden. Zum anderen umfasst diese Zahl viele Sprecher weißrussischer Dialekte, die vor allem auf dem Land noch verbreitet sind, wie weit auch immer sie bereits vom Russischen beeinflusst sein mögen. Demgegenüber gaben im Zensus von 2009 70,2 % der Befragten an, im Alltag hauptsächlich das Russische zu verwenden. Russisch ist die wichtigere Sprache für die soziale Positionierung. Ohne Russischkenntnisse ist i.d.R. keine berufliche Integration und keine Kommunikation im öffentlichen Leben in Weißrussland möglich. Im Gegensatz zu den Angaben zur Sprache des Alltags steht der deutlich höhere Anteil (60,8 %) von Weißrussen, der Weißrussisch in derselben Volkszählung als Muttersprache bezeichnete. Allein diese Diskrepanz zwischen üblicherweise 3 Fundierte Einsichten in diese Hintergründe bieten die Arbeiten von Bieder (1991; 1996; 2000; 2001; 2008). Einleitung 17 gesprochener Sprache und Muttersprache ist brisant. Das Bekenntnis zur Muttersprache ist hier als ein weitestgehend symbolischer Akt der Identifikation zu verstehen, auch wenn im Zensus 2009 die Frage nach der Muttersprache von der Erläuterung begleitet wurde, dass die in der Kindheit zuerst erworbene Sprache gemeint sei (BLS 2012). Die Identifikation mit der „Sprache des Herzens“ ist typisch für Länder, in denen der faktische Status einer Standardsprache, also ihre Bedeutung im Alltag der Menschen, deutlich niedriger ist als ihr formeller Status. Die im Vergleich zur Frage nach der „Alltagssprache“ deutlich höhere Zahl der Nennungen des Weißrussischen als Muttersprache zeugt von dessen hoher Identifikationskraft. Die Muttersprache ist elementarer Bestandteil der nationalen Identität und bleibt als Identitätsmerkmal auch dann erhalten, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Neben dem Weißrussischen in seiner kodifizierten Standardvariante, diversen weißrussischen Dialekten und dem Russischen als Hauptverkehrssprache existiert in Weißrussland ein weiteres sprachliches Phänomen, das für die Analyse sozialer Integrationsprozesse relevant ist: die sogenannte Trasjanka. Sie ist eine Mischung aus weißrussischen und russischen Elementen und Strukturen. Aus traditionellsprachwissenschaftlicher Sicht in Weißrussland selbst wird sie i.d.R. nicht als „Sprache“ bzw. systemhafte Varietät angesehen, sondern als reines Phänomen der Rede. Um die negative Konnotation des Begriffs „Trasjanka“ zu vermeiden, wird im Folgenden die neutrale Bezeichnung „weißrussisch-russisch gemischte Rede“ (WRGR) verwendet, außer in Fällen, in denen aus anderen Publikationen zitiert wird. Weißrussische Sprachwissenschaftler, die einen traditionellen strukturalistischen Standpunkt vertreten, sprechen der WRGR in der Regel jegliche Systematizität ab. Das heißt, sie sehen sie als „chaotisches“, spontanes Mischen der beiden sog. Gebersprachen an. Demgegenüber attestieren westliche Forscher wie die beteiligten Linguisten an unserem Projekt (z.B. Hentschel 2013; 2014a; 2017) sowie der amerikanische Weißrussist Woolhiser (2014) der WRGR einen gewissen Grad von Konventionalisierung der Mischung und sprechen von Koinéisierung. Diese Ansätze, die moderneren Paradigmen der Soziolinguistik (wie dem „variationist paradigm“ in der Folge William Labovs) folgen, betonen somit eine Überlagerung von konventionalisiertem und spontanem Mischen, d.h. von systematisierten und reinen Redephänomenen (vgl. dazu Trudgill 1986: 95; Auer 1999).4 Wichtig im Zusammenhang mit den obigen Feststellungen zur Alltagssprache ist Folgendes: Hentschel & Kittel (2011b) kommen zum Schluss, dass 4 Einen Überblick über diese divergierenden Standpunkte bieten Hentschel (2014b) und Bieder (2014). 18 Einleitung die WRGR für eine siebenstellige Zahl von Weißrussen als primäre Varietät der Alltagskommunikation anzusehen ist. Angesichts dieser hohen Zahl stellt sich die Frage, wie sich die Sprecher der gemischten Rede im Zensus verhalten haben, in dem die WRGR bzw. deren pejorative begriffliche Entsprechung „Trasjanka“ (natürlich) nicht als Antwortoption vorgesehen war. Die meisten der Respondenten, die auch an der vorliegenden Untersuchung beteiligt waren, halten die WRGR für eine Varietät des Weißrussischen oder für eine selbstständige Sprache, ein kleinerer Teil hält sie für eine Varietät des Russischen.5 In zeitlicher Hinsicht ist die WRGR seit den 1960er Jahren in Weißrussland weit verbreitet, hat sich aber schon zu Beginn des 20. Jhs. aus dem Sprachkontakt der weißrussisch sprechenden Landbevölkerung und der russisch sprechenden Stadtbevölkerung entwickelt. Ihre breite Etablierung in der weißrussischen Bevölkerung wird als Resultat der Industrialisierung und Urbanisierung Weißrusslands gesehen (vgl. Zaprudski 2007). Sie gilt deshalb bisher vorwiegend als städtisches Phänomen. Praktiziert wird sie gegenwärtig zweifellos vor allem in informellen Situationen. Hierdurch kommt ihr eine spezifische, Gemeinschaft stiftende Bedeutung zu, ähnlich einer lokalen Mundart, die nur in familiärer vertrauter Umgebung gesprochen wird. Damit könnte die WRGR ein wichti- ger Teil der sozialen Identität ihrer Sprecher sein. Gleichzeitig kann mit ihrer Verwendung auch eine Abgrenzung gegenüber der ganz überwiegend russischsprachigen Öffentlichkeit im Land verbunden sein bzw. ein Rückzug ins Private demonstriert werden. Auch eine Abgrenzung gegenüber jenen (sehr wenigen) Mitbürgern ist als Möglichkeit zu erwägen, die in der Öffentlichkeit üblicherweise die weißrussische Standardsprache verwenden, was vielfach als regimekritisches, oppositionelles Symbol verstanden wird. Durch gemischtes Sprechen entzieht man sich dem sprachenpolitischen Konflikt (vgl. Brüggemann 2014). Aus dieser Perspektive stellt die WRGR für Weißrussland ein Problem dar, weil sie für beide Standardsprachen, besonders für die weißrussische, als Bedrohung wahrgenommen wird. Entsprechend negativ wird sie von führenden weißrussischen Sprachwissenschaftlern qualifiziert, wie Zaprudski (2014) darlegt: Nina Mečkovskaja bezeichnet die Trasjanka als „Sackgasse hybriden Sprechens“. H. Cychun stellt fest, „eine Kultivierung der Trasjanka ist eine Art Paralyse der sprachlichen Aktivität des Individuums“. L. Sjameška sieht in der Trasjanka die 5 In der Ukraine liegt mit der ukrainisch-russischen gemischten Rede (URGR), pejorativ als „Suržyk“ bezeichnet, ein ähnliches Phänomen wie die WRGR vor. Auch hier ist darauf hingewiesen worden, dass Fragen nach der Alltagssprache im Zensus oder ähnlichen Erhebungen sehr unzuverlässige Ergebnisse liefern, wenn sie die gemischte Rede nicht berücksichtigen (vgl. Kulyk 2010: 395). Einleitung 19 „Zerstörung beider Sprachsysteme“. S. Plotnikaŭ sagt, „Trasjanka-Rede ist unattraktiv und sogar unschön im Klang“. A. Michnevič meint, „Trasjanka ist ein schädliches Ergebnis schlechter Beherrschung der eigenen, heimatlichen Sprache und auch anderer Sprachen“. Und S. Prochorova versteigt sich zur Meinung, „Trasjanka ist ein ungeheuerliches Sprachengemisch, nicht nur ein Indikator für das niedrige Kulturniveau des Landes, sondern ein Formierungssystem kulturloser Personen mit Wirrwarr in Kopf und Seele“. Das vorliegende Buch stellt die sprachsoziologischen Ergebnisse des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojektes zur WRGR vor. Ein vollständiges Publikationsverzeichnis, das auch die zahlreichen sprachwissenschaftlichen Studien des Projekts umfasst, findet man unter <http://www.uni-oldenburg. de/slavistik/forschung/sprachwissenschaft/schwerpunkt-mischvarietaeten/ publikationen-wrgr/>. Das Forschungsvorhaben war interdisziplinär angelegt und umfasste sprachwissenschaftliche wie soziologische Fragestellungen. Forschungsleitend waren insbesondere drei Fragen: 1. Wie verbreitet sind die in Weißrussland gesprochenen Sprachen oder Kodes, also das Weißrussische, das Russische und die WRGR? 2. Können soziale Einflussfaktoren die Verwendung der Kodes erklären? 3. Welche individuellen Wertzuschreibungen liegen der Verwendung der Kodes zugrunde? Allen drei Fragen wird explizit mit einem besonderen Fokus auf der WRGR nachgegangen. Während die erste Frage einem rein deskriptiven Interesse folgt, dienen Frage zwei und drei der Erarbeitung analytischer Erklärungen. Diese setzen an dem bereits erwähnten Umstand an, dass in Kreisen weißrussischsprachiger Eliten die WRGR neben dem Russischen als zusätzliche Bedrohung der weißrussischen Sprache und Kultur gilt. Wie die angeführten Zitate andeuten, verbindet sich diese Stigmatisierung mit dem Vorwurf der fehlenden Bildung und einer allgemeinen Kulturlosigkeit, wenn nicht des Verrats an der Heimat. Wir argumentieren, dass solche Urteile nicht zuletzt auf einem mangelnden Verständnis der sozialen Funktion fußen, welche die WRGR für ihre Sprecher erfüllt. Ebenso wenig berücksichtigen Stigmatisierungen dieser Art die Motivation, die zum Sprechen und zum Erhalt der WRGR als privates Kommunikationsmittel in Weißrussland führt. Aufgabe der Studie ist es, herauszufinden, welche Funktion das Russische, die WRGR und das Weißrussische in bestimmten Situationen erfüllen. Diese drei prinzipiell wählbaren sprachlichen Kodes (zur Wählbarkeit der WRGR im Diskurs vgl. Hentschel & Zeller 2012) werden im Folgenden zur terminologischen Vereinfachung als „Sprachen“ bezeichnet, auch wenn die WRGR gegenwärtig keine Sprache im Sinne einer Standard- oder Literatursprache ist. Für die Entwicklung einer theoretischen Perspektive auf das Sprachverhalten werden 20 Einleitung mehrere Ansätze miteinander verknüpft. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Sprache ein soziales Element ist, das diverse Funktionen hat. Im Sprachverhalten kommt immer auch die gesellschaftlich-kulturelle Prägung der Sprecher zum Ausdruck. In der Sprache manifestiert sich der kollektiv geteilte Werthorizont einer Sprachgemeinschaft;6 handelt es sich um eine „nationale“ Sprachgemeinschaft, so verbindet sich mit dem Sprachverhalten zugleich eine bestimmte Perspektive auf die Kultur des jeweiligen Landes. Aus Sicht eines Sprechers schafft Sprache Zugehörigkeiten und Distanzen im Verhältnis zu anderen Sprechern, je nachdem, ob diese aus Sicht des Urteilenden die „eigene“, eine „fremde“ oder eine zwar nicht „fremde“, aber negativ bewertete Sprache verwenden. Eine besondere Rolle spielen solche Abgrenzungen bekanntermaßen auf nationaler Ebene: In Staaten, die sich als Nationalstaaten begreifen, wird die „nationale“ Standardsprache als Symbol betrachtet, das die Gemeinschaft nach innen eint und nach außen abgrenzt. Terminologisch ist hierbei zu beachten, dass der deutsche Begriff „Nationalsprache“ meist auf diese nationale Standardvarietät abhebt, während z.B. im Russischen die wörtliche Übersetzung „nacional’nyj jazyk“ eindeutig ein Sammelbegriff ist, der nicht nur die Standardsprache, sondern auch Dialekte, Soziolekte etc. umfasst. Da die WRGR zwischen dem Weißrussischen und dem Russischen steht, entzieht sie sich natürlich einer solchen Zuordnung, was Teil ihrer Problematik ist. Sprache ist aber auch innergesellschaftlich ein Mittel zur Schaffung von Gruppenzugehörigkeiten, die sich regional über Dialekte, ansonsten auch etwa über schicht- oder altersspezifische Sprachstile begründen lassen. Diese Mechanismen sind in mehrsprachigen Gesellschaften wie der weißrussischen umso konfliktreicher. Denn die Einflussfaktoren auf das Sprachverhalten sind hier vielfältiger als in sprachlich homogeneren Gesellschaften und bedürfen daher komplexerer Erklärungsansätze. Wir nähern uns der Erklärung des Sprachverhaltens aus einer spezifisch soziologischen Perspektive und nutzen dafür das Modell der soziologischen Erklärung. Dadurch können makro-, meso- und mikrosoziale Einflüsse auf das Sprachverhalten analytisch getrennt voneinander betrachtet werden. Aus der makrosoziologischen Perspektive ist das Sprachverhalten der Bürger eines Landes im Wesentlichen von den sprachpolitischen Rahmenbedingungen 6 Der Begriff der „Sprachgemeinschaft“, dem im Englischen eher derjenige der „speech community“ (und nicht etwa „language community“ o.ä.) entspricht, wird vielfältig verwendet oder auch definiert (vgl. Patrick 2002). Er wird vorläufig mit unterschiedlicher intensionaler Breite verwendet. Einleitung 21 beeinflusst. Pierre Bourdieu liefert zu dieser Fragestellung entscheidende Impulse für unseren Erklärungsansatz (Bourdieu 1990). Wir gehen jedoch über Bourdieus Ansatz hinaus und fügen eine handlungstheoretische Erklärungsebene ein. Ziel dieser Perspektive ist es, die Motive der Sprecher stärker in den Blick zu bekommen, da diese in Bourdieus Ansatz aufgrund seines HabitusKonzepts zu stark auf gesellschaftliche Anpassung ausgerichtet sind. In Auseinandersetzung mit einschlägiger soziologischer und soziolinguistischer Literatur betrachten wir mit Blick auf mehrsprachige Gesellschaften sprachbezogene Wertzuschreibungen als wichtigsten Erklärungsfaktor für die Wahl einer bestimmten Sprache. Wir unterscheiden dabei zwischen einer ökonomischen und einer symbolischen Wertzuschreibung. Ein ökonomischer Wert wird Sprache zugeschrieben, wenn sie Einfluss auf die soziale Positionierung des Sprechers hat. Dies steht oft im Einklang mit sprachpolitischen Rahmenbedingungen, die in öffentlichen Kontexten maßgeblich dazu beitragen, eine Hauptverkehrssprache zu etablieren. In Weißrussland ist diese Hauptverkehrssprache das Russische, das – wie schon angedeutet – in allen wichtigen öffentlichen Kontexten wie dem Bildungs- und Arbeitsmarkt sowie dem staatlichen Verwaltungsapparat Hauptkommunikationsmittel ist. Symbolische Wertzuschreibungen hingegen können zum Erhalt auch solcher Sprachen beitragen, die sprachpolitisch nicht oder nur unzureichend gefördert werden. Die dafür in Frage kommenden symbolischen Werte können verschiedener Art sein. Dazu kann auch die vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligung der jeweiligen Sprache gehören. Diese Möglichkeit ist für das Weißrussische in Betracht zu ziehen, das im öffentlichen Leben des Landes nur eine marginale Rolle spielt, aber für die nationale und kulturelle Identität der Weißrussen ein wichtiges Symbol sein kann. Die WRGR dagegen kann einen besonderen symbolischen Wert in kleineren Gemeinschaften als der nationalen Sprach- oder Sprechergemeinschaft erhalten. Solche kleinere Sprachgemeinschaften wurden in der Soziolinguistik als „soziale Netzwerke“ (social networks) oder „Praxisgemeinschaften“ (communities of practice) modelliert (vgl. die Übersichten in Milroy 2002 und Meyerhoff 2002). Für die vorliegende Untersuchung sind in diesem Zusammenhang Mikrogruppierungen wie der Familien-, Freundes- und Kollegenkreis einschlägig. Sie können als Beispiele unterschiedlicher informeller (Sprach-) Praxisgemeinschaften angesehen werden, in die sich ein Individuum in der Regel integriert. Darüber hinaus könnte die WRGR als Mittel zur Abgrenzung gegen die beiden Standardsprachen Russisch und Weißrussisch bzw. die mit ihnen zusammenhängende „Ideologie der Standardsprachlichkeit“ (vgl. hierzu etwa Blomma- ert 2006) fungieren. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn sich die Sprecher der 22 Einleitung WRGR gegen ihre Stigmatisierung zur Wehr setzen oder einer Positionierung im Sprachenkonflikt zwischen Weißrussisch und Russisch ausweichen wollen. Denn weiterhin wird das Weißrussische – wie gesagt – häufig stereotyp als Sprache der national gesinnten Opposition gegen Präsident Lukašėnka betrachtet, das Russische dagegen als Sprache der Staatsmacht und der karrierebedingten sprachlichen „Anpassung“. Allerdings scheint sich in jüngster Zeit die Einstellung der Regierenden zum Weißrussischen etwas positiver zu gestalten (vgl. Petz 2015). Die Berücksichtigung der Wertzuschreibungen bietet für das sprachpolitisch gerahmte Sprachverhalten in mehrsprachigen Gesellschaften wesentliche Erklärungsansätze. Die Verknüpfung der genannten Perspektiven in einem soziologischen Modell soll deshalb vor allem erklären, wie sprachpolitische Rahmenbedingungen in Weißrussland einerseits und spezifische sprachliche Wertzuschreibungen andererseits das Sprachverhalten von Individuen beeinflussen und damit zur beobachteten sprachlichen Strukturierung Weißrusslands führen. Die Datenbasis ist zum einen eine quantitative Befragung in sieben weißrussischen Städten unterschiedlicher Größe. Hierzu wurde 2008/2009 eine Stichprobe von 200 Befragungen pro Stadt, also insgesamt 1.400 Respondenten, gezogen. Darüber hinaus wurden 2010/2011 leitfadengestützte Interviews mit Sprechern geführt, die in der quantitativen Befragung erklärt hatten, die WRGR zu verwenden. Die Stichprobe umfasste hier 105 Befragte, d.h. 15 pro Stadt. Die Äußerungen dieser Respondenten wurden zudem im sprachwissenschaftlichen Teil des Oldenburger Forschungsprojekts für die Entwicklung eines Sprachdatenkorpus genutzt.7 In die soziologische, qualitativ orientierte Datenanalyse flossen am Ende 42 Interviews ein. Ziel war hier die Ermittlung des Zusammenhangs spezifischer kultureller und nationaler Einstellungen mit bestimmten sprachbezogenen Einstellungen bei den Sprechern der WRGR. ***** Das vorliegende Buch umfasst, abgesehen von Vorwort und dieser Einleitung, zehn Kapitel. Das erste Kapitel präsentiert die analytische Perspektive, mit der wir Sprachverhalten untersuchen. Grundlegend dafür ist die Beschreibung des soziologischen Erklärungsmodells, welches Sprachverhalten vor dem Hintergrund sozialer Einflussfaktoren untersucht. Hierzu werden im zweiten Kapi- tel begriffliche Bestimmungen zu Sprachverhalten, Sprachgesellschaften und 7 Das Korpus steht unter <http://www.uni-oldenburg.de/ok-wrgr/> zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung. Einleitung 23 Sprachpolitik vorgenommen. Ausgangspunkt für die Erfassung sozialer Einflussfaktoren ist die Betrachtung einer mehrsprachigen Gesellschaft, die durch sprachpolitische Entscheidungen strukturiert wird. Die konkreten sozialen Einflussfaktoren auf das Sprachverhalten werden mit Bourdieus Ansatz zum Zusammenhang zwischen sprachpolitisch geschaffenem Sprachprestige, der Entwicklung sprachlicher Kompetenzen und dem Sprachverhalten betrachtet. Gleichzeitig werden kontextspezifische Betrachtungen zur privaten und öffentlichen Verwendung von Sprache als weitere Einflussfaktoren diskutiert. Das Kapitel schließt mit einer Differenzierung unterschiedlicher Funktionen von sprachlichen Handlungen. Das dritte Kapitel dient der Darstellung der Erklärung des Sprachverhaltens durch Wertzuschreibungen. Dazu werden die ökonomischen und symbolischen Wertzuschreibungen als Motivatoren des Sprachverhaltens diskutiert. Daran anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Sprache auf die Identität der Sprecher. Abschließend werden Folgewirkungen sprachlicher Handlungen einzelner Sprecher für die sprachliche Strukturierung einer Gesellschaft theoretisch ermittelt. Da für das Verständnis der sprachlichen Konstellation Kenntnisse über die Geschichte Weißrusslands sowie die aktuelle politische Situation unerlässlich sind, gibt das vierte Kapitel einen historischen Überblick der nationalen Entwicklung Weißrusslands. Ziel ist es, die spezifische Problematik nationaler Identitätsbildung sowie sprachpolitische Entwicklungen in Grundzügen nachzuzeichnen. Für die Darstellung der aktuellen Gestalt der nationalen Identität spielen die Zugehörigkeiten zu anderen Staatenbündnissen wie dem Großfürstentum Litauen sowie später Polen, in welchem das Großfürstentum nach der Realunion von 1569 trotz formalem Bestand gesellschaftlich aufging, dem Russischen Reich, und der Sowjetunion eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wird ein kurzer Überblick über die politische Entwicklung seit der Unabhängigkeit 1990 gegeben. Ein weiteres Unterkapitel des vierten Kapitels beschreibt die Versuche, eine nationale Identität in Weißrussland zu konstruieren. Dies ist Grundlage für die Erfassung möglicher Unterschiede bei den Identifikationsmechanismen der hauptsächlichen Sprecher der gemischten Rede im Vergleich zu den überwiegend weißrussisch oder russisch Sprechenden. Darauf aufbauend folgt ein Abriss der Sprachpolitik, die während der Zugehörigkeit zum Russischen Reich und der Sowjetunion und seit der Unabhängigkeit betrieben wurde. Auf dieser Grundlage erarbeitet das fünfte Kapitel das zentrale Objekt der Analyse, die Entwicklung und die sozioökonomische Einbettung der gemischten Rede als Folge des russisch-weißrussischen Sprachkontakts. Vor dem 24 Einleitung Hintergrund dieses Abrisses der Geschichte der Sprachen auf weißrussischem Gebiet wird schließlich eine Reihe von Hypothesen entwickelt, die in den folgenden analytischen Teilen zu prüfen sind. Ausgehend von der Darstellung der untersuchungsleitenden Hypothesen dient das darauffolgende sechste Kapitel der Darstellung der Methodik der Datenanalyse. Darin werden die einzelnen Schritte der Operationalisierung erläutert, der Aufbau des Fragebogens grundlegend erläutert und das analytische Vorgehen der Ergebnisdarstellung beschrieben. Das siebente Kapitel präsentiert die Ergebnisse der Untersuchung. Ausgangspunkt bildet die Darstellung der sprachlichen Strukturierung Weißrusslands in regionaler Hinsicht sowie im Wandel der Generationen. Im Detail wird auf die Verbreitung der gemischten Rede im Vergleich zu den anderen beiden Sprachen Russisch und Weißrussisch eingegangen und die sprachliche Sozialisation sowie die Selbsteinschätzung der Kenntnis der drei Sprachen untersucht. Der Einfluss sozialer Bestimmungsfaktoren auf das Sprachverhalten und der kontextspezifische Sprachgebrauch werden analysiert. Das achte Kapitel nimmt den Einfluss ökonomischer und symbolischer Wertzuschreibungen auf das Sprachverhalten ins Visier. Spezifische Spracheinstellungen werden zunächst quantitativ analysiert. Das neunte Kapitel bietet eine qualitative Auswertung der Tiefeninterviews hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen kollektiver Identität und Spracheinstellungen. Das zehnte Kapitel zieht ein Fazit und wagt einen Ausblick auf die Entwicklung der sprachlichen Konstellation Weißrusslands.