Die Kunst, Die natur zu Kennen
ProDuKtion, Fixierung unD transFer von naturwissen in Der Frühen neuzeit
Dominic Olariu
Ein außergewöhnliches Büchlein, im Jahr 1500 im damals
deutschsprachigen Straßburg gedruckt, konzentriert in
sich das assoziative Potenzial, um das Spannungsfeld
der in den Werken dieser Ausstellung nachwirkenden Naturauffassung an der Wasserscheide zwischen Mittelalter
und Neuzeit zu beleuchten. Damals destillierten Apotheker und niedere Ärzte Elixiere aus Naturdingen für den
Einsatz bei Beschwerden und gegen Krankheiten. „Kleines
Destillierbuch“ wird es genannt, aber es hat es in sich. Der
Wundarzt Hieronymus Brunschwig (um 1450–um 1512)
beschäftigt sich darin, erstmalig in dieser Ausführlichkeit,
mit der Erzeugung von den „Heilwässern“. Technische
Kapitel und Illustrationen (Abb. 2) zeigen Phiolen, Töpfe,
Röhren und Öfen und geben Anleitungen zur Herstellung
sowie Nutzung der Apparatur und der Utensilien, botanische erläutern für jedes einzelne Kraut seine Identifikation, Heilkräfte und Anwendungsgebiete, biologische
Paragrafen beschreiben Heilsubstanzen von Tieren wie
Hirschen, Schnecken oder Dachsen, mineralogische Passagen befassen sich mit Steinen, chemische Anleitungen
erklären die Extraktion der Wirkkräfte aus den behandelten Naturdingen und medizinische Passus schließlich sind
dem Aderlass, Arztbesuch am Krankenbett und allerhand
Krankheiten gewidmet. Was wir heute mit den Augen der
gegenständlichen Trennung sehen, war den Zeitgenossen
eine medizinisch-naturkundliche Abhandlung.
Bereits das Titelblatt (Abb. 1, Detailabbildung links) signalisiert, dass die Beschäftigung mit der Natur ein essentieller
Aspekt des Traktats ist. Es öffnet sich eine weite, umzäunte Landschaft, die der Leser über eine bereits abgenutzte
Pforte betreten soll. Dort gedeihen diverse Pflanzen, Blumen, Büsche und Bäume, auch eine exotische Palme ist zu
finden, Hirsche laben sich am Wasser eines Teichs, in dem
Enten nach Fischen tauchen, und Ziegen strecken sich
nach den niederen Zweigen der Bäume. Kräuterkundler mit
Hacken, ein hockendes Kräuterweib und eine blumenbekrönte Edeldame beschaffen Pflanzen für Spezialisten, die
in Öfen Destillate brennen und diese in Glasflaschen abfüllen. In diesem natürlichen Einklang konnte der Leser sich
152
durch den adäquaten Einsatz der Heilsubstanzen halten,
das war die Botschaft des Holzschnitts. Die Naturdinge
standen demnach in unmittelbarem Bezug zur Zweckdienlichkeit für den Menschen, ihre Erforschung fand nicht um
ihrer selbst willen statt.
Was also war Naturwissenschaft in der Renaissance? Die
amerikanische Wissenschaftshistorikerin Paula Findlen
erinnerte jüngst daran, dass „Naturgeschichte eine wahrhaft enzyklopädische Wissenschaft war, an der weite Teile
der Gesellschaft teilhatten, auch wenn diese damals noch
nicht als eine geeinte Gruppe agierten“.1 Die Auffächerung
und Spezialisierung in einzelnen Disziplinen war in vielen
Bereichen eine erst in und nach der Renaissance einsetzende Entwicklung, als sie es unternahm, neues Wissen
zu finden, es neu zu ordnen und zu kategorisieren, was zur
Umschreibung dieser Periode als „Zeitalter des Neuen“ führte.2 Naturkunde war eine historische Wissenschaft, weil sie
sich mit Werken der Vergangenheit auseinandersetzte, mit
so eminenten Schriften wie der „Historia naturalis“ von
Plinius d. Ä. (23/24–79, Kat. 61), der „De materia medica“ („Die Heilsubstanzen“) des Pedanios Dioskurides (um
40–90) oder des „Liber de natura rerum“ („Das Buch der
Naturdinge“) des Thomas von Cantimpré (1201–1270/72),
den Konrad von Megenberg (1309–1374) weitgehend in
seinem „Buch der Natur“ (Kat. 42) verdeutschte. Naturgelehrte waren insbesondere damit beschäftigt, die antiken Werke richtig zu verstehen, weil ihnen diese nur als
lateinische Abschriften oder griechische und arabische
Übersetzungen, in die sich über jahrhundertelanges Abschreiben ganz natürlich Fehler eingeschlichen hatten,
überliefert waren.
Äußerst diffizil erwies sich dieses Unternehmen in jenen
Bereichen, die an sich komplex waren und aufgrund ihrer Bedeutung eine Vielzahl an Kopien produziert hatten.
Die medizinische Pflanzenkunde gehörte dazu und war
zunächst die Domäne mit dem intensivsten naturkundlichen Aktivismus (vgl. Kat. 69). In diesem Bereich waren
die überlieferten Pflanzennamen durch Pluralität gekennzeichnet, denn gehobene Universitätsärzte, Wundärzte,
153
Barbiere, Frauenärzte, Klosterärzte, Stadtapotheker,
Seifenmacher, Kräutersammler, Bauern usw. hatten im
Mittelalter ihre eigene Terminologie benutzt, die von den
regionalen Gewohnheiten, Dialekten und den eigenen
Kenntnissen geformt wurde. Außerdem waren die Pflanzennamen durch die unzähligen Übersetzungen und
Abschriften korrumpiert. Plinius hatte z. B. von einer auf
Griechisch Pentafillon und Latein Quinquefolium genannten Pflanze geschrieben, sodass um 1490 ein Gelehrtenstreit darüber entbrach, welches Kraut damit gemeint war.
Doch noch 1530 konnte sich der Arzt und Pflanzenexperte
Otto Brunfels (1488–1534) in seinem umfassenden und
weitberühmten Kräuterbuch „Herbarum vivae eicones“
(1530, „Lebende Bilder der Kräuter“) nicht für eine korrekte Definition entscheiden. So ließ er Plinius’ Kapitel und
Abb. 1 Hieronymus Brunschwig, Liber de arte distillandi de simplicibus. Das buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige[n] ding,
1500, Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Inc.c.a. 3867, Titelblatt,
urn:nbn:de:bvb:12-bsb00031146-3
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sämtliche phytologischen Deutungen der vorangegangenen 40 Jahre abdrucken, inklusive der diversen Namen
und Identifizierungen.
Doch die Beschäftigung mit der Natur blieb nicht nur den
Gelehrtenstuben vorbehalten, auch wenn dort ein Großteil
des Wissens bewältigt wurde. Brunschwig war sich dessen wohlbewusst. Während er für sein Buch die Angaben
zu den Heilmitteln aus den Schriften vertrauenswürdiger
Autoren selbst exzerpierte, übernahm sein Verleger für
die Illustrationen die groben, wenig klaren Holzschnitte
eines kurz zuvor in Straßburg erschienenen Kräuterbuchs
(1485/86, „Gart der Gesundheit“).3 Es ist daher sehr
aussagekräftig, dass Brunschwig den Leser zur eigenen
Anschauung der erwähnten Pflanzen in der Natur aufforderte, weil die schlechten Bilder nur für die Kenner der
Heilmittel ein Anhaltspunkt sein könnten.4
Essenziell different zur Attitüde des Mittelalters gegenüber
der Natur war in der Renaissance der Anspruch, tradierte
Kenntnisse zu hinterfragen und zu kontrollieren. Die persönliche Überprüfung von Daten, wobei der optischen
Beobachtung die größte Bedeutung zukam, erwuchs zur
Leitlinie der Epistemik und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur, und der altgriechische Begriff autopsia (eigenes Anschauen) qualifizierte sich zum
Schlagwort.5
Die Botanik war jedoch nur eines der Interessenfelder der
neuzeitlichen Naturkunde, auch wenn sie anfangs zusammen mit der Anatomie die einfallsreichsten Neuerungen
produzierte, ganz offensichtlich weil beide Bereiche sich
in einer Zeit, in der die Pest die menschliche Fragilität immer wieder bitter zur Schau stellte, direkt auf die Gesundheit des Menschen auswirkten. Ärzte kamen geradezu naturkundlichen Universalgelehrten gleich und ein Großteil
der fortschrittlichsten Publikationen stammte in der Tat
von ihnen. Brunfels’ Kräuterbuch, „De historia stirpium
commentarii insignes“ (1542, „Ausgezeichnete Kommentare zur Geschichte der Pflanzen“) des Leonhart Fuchs
(1501–1566, Kat. 71, 72) und „Das Kreütter Buch“ (1546)
von Hieronymus Bock (1498–1554) sowie der kommentierte Anatomieatlas „De humani corporis fabrica“ (1543,
„Bau des menschlichen Körpers“) von Andreas Vesalius
(1514–1564) bestachen mit innovativen Abbildungen,
die Studien erleichterten und neue Forschungen auf diesen Gebieten ermöglichten. Sie waren Spitzenwerke aus
einer enormen Quantität von Schriften und Druckwerken
über die Wundarznei, die Lehre vom Körperbau, die Kräuterkunde, die Agronomie, den Bergbau, die Mineralogie etc.
Abb. 2 Hieronymus Brunschwig, Liber de arte distillandi de simplicibus. Das buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige[n]
ding, 1500, Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Inc.c.a. 3867, fol. 18v, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00031146-3
155
Abb. 3 spectator oculos inserito Calceolari musaei admiranda contemplator et volup animo tuo facito vor der Prima Sectio aus: Giovanni Battista Bertoni/
Benedetto Ceruti/Girolamo Viscardi, Musaeum Franc. Calceolari iun. veronensis, 1622, Faltblattstich, GRI Digital Collections, Digital image courtesy of
the Getty's Open Content Program
156
(vgl. Kat. 64, 71–76). Die Fortschritte in der Buchdrucktechnik und der Xylographie, mit der komplexere Sachverhalte
verbildlicht werden konnten, trugen erheblich dazu bei.
Die Akkumulation von (transdisziplinären) Informationen, wie auf den immerhin 235 Seiten im Folioformat des
„Kleinen Destillierbuchs“, ja das Übermaß erworbener
Daten, erforderte eine eigene Ordnung und ein eigenes
Informations-Management und wurde typisch für die Neuzeit, auch wenn das Phänomen an sich bereits aus älteren
Zeiten bekannt war. Die amerikanische Kulturhistorikerin
Ann Blair ging so weit, diese „Informationsobsession“6 als
eine Konsequenz neuer kultureller Attitüden des Wissensdrangs und weniger als eine Folge der zeitgenössischen
Entdeckungsreisen und innovativen Technologien zu verstehen. Die Expedition zur Neuen Welt hatte den Kontakt
mit neuen, bis dahin vollkommen unbekannten Geheimnissen zur Folge, die eine wissenschaftliche Dichotomie
provozierten: zum einen Skepsis hinsichtlich des Wahrheitsgehalts altangestammter Erfahrungen und dadurch
den Ansporn, diese auf den Prüfstand zu stellen; zum anderen Argwohn gegenüber den Berichten aus den neu erkundeten Territorien. Doch so sehr die geografische Erweiterung der bekannten Welt eine drastische Erfahrung des
Fremden bewirkte, so sicher setzte die Fahndung nach
neuen Spezies weitaus früher ein. Eine Vielzahl zuvor nie
beschriebener Pflanzen der Alpenregion – Edelweiß, Waldmeister, Schwarzviolette Akelei, Stein-Storchschnabel
usw. – taucht z. B. in einer Gruppe norditalienischer Kräuterbücher7 des letzten Drittels des 14. Jahrhunderts auf.
Exotika wie der tropische Balsamapfel und Sesam werden
respektive um 1430 und 1449 erstmals beschrieben und
sind noch vor Kolumbus’ Einschiffung in Pflanzeninventarien geläufig.8 Spätestens 1528 sind amerikanische
Pflanzen in italienischen Apothekerstuben schließlich verfügbar.9
Das Bedürfnis nach Klassifikationen war eines der Symptome der Erkundung des Neuen. Als der italienische Arzt
und Botaniker Andrea Cesalpino (1519–1603) 1563 in
Pisa mehr als 750 Trockenpflanzen auf Papierbögen aufklebte, um sie dann in einem einzigen Band zu vereinen
und so eines der ersten Herbarien der Geschichte zu
schaffen (vgl. Kat. 70), ging er vor „wie ein Musiker, der,
bevor er sein Musikstück beginnt, zunächst überprüft, ob
eine der Tasten verstimmt ist. Also legte ich alle Simplizia,
die mir zu Händen gekommen waren, vor mich und verteilte sie zunächst grob, indem ich einer ersten Eingebung
zufolge voneinander getrennte Familien bildete.“10 Dank
eines florierenden Pflanzenhandels in Frankreich war um
1534 in Paris die Gemeine Drachenwurz, jenes Heilkraut,
von dem Plinius bewundernd geschrieben hatte, es sei seinerzeit am Fuße der Pyrenäen zu finden gewesen, in allen
Apothekerstuben feil, in Deutschland dagegen, wie der
Marburger Arzt Euricius Cordus (1486–1535) berichtete,
nur aus Büchern bekannt.11 So entwickelten sich Zentren
naturkundlicher Kompetenz, die von vielen Faktoren wie
der zur Verfügung stehenden Finanzierung, beratenden
Koryphäen, technischem Fachwissen, Verkehrswegen
usw. abhängig waren.
Zu Drehscheiben naturkundlicher Kenntnisse entwickelten sich in der Renaissance die Universitäten wie jene in
Tübingen, wo Leonhart Fuchs 1538 als Rektor verordnete,
dass die Medizinprofessoren mit ihren Studenten auf die
Felder hinausziehen müssten, um mit ihnen „das Antlitz
der Pflanzen genau zu betrachten und ihnen die lebenden
Bilder zu erläutern“ (vgl. Kat. 71, 72).12 Vor allem aber Naturaliensammlungen in Kirchenschätzen, an Fürstenhöfen
oder in Privatbesitz erlaubten Gelehrten das direkte Studium seltener Objekte und einen theorienbildenden sowie
wissenskonstituierenden Meinungsaustausch. So hatte
der Jurist Graf Wilhelm Werner von Zimmern (1485–1575)
ein umfangreiches Naturalienkabinett in Herrenzimmern
auf seinem Sitz aufgebaut, „darin er von jugendt uf mancherlai seltzame gebain, stain, horn und anders, das die
natur wunderbarlichen gewürkt und seltzam mag genennt
werden, auch von frembden nationen zusammengebracht“
(Abb. 3). Es stand allen Interessierten offen, dort diese
sonderbare Ansammlung „wol zu sehen und auch zu verwundern“,13 und sie prägte in den 1560er-Jahren den Terminus technicus Wunderkammer. Dieser Umstand verdeutlicht, dass die Renaissance-Gelehrten von einer Mischung
aus gebannter Faszination und Wissbegierde getrieben waren. So ist es keineswegs kurios, wenn der hl. Hieronymus
(um 347–419/420) als Innbegriff des Gelehrtentums in
Stuben dargestellt wurde, die in ihrer Kumulation von Naturalia an derartige Kammern erinnern.14 Der Arzt Samuel
Quichelberg (1529–1567), ein Flame von Geburt, aber aus
konfessionellen Gründen vor allem in Augsburg und München aktiv, schlug daher 1565 vor, derartige Anthologien
von Naturgegenständen, zu denen er auch Artefakte gesellt haben wollte, in einem theatrum genannten Bau zu
vereinen und in vier Sälen zu ordnen.15 Sein Konzept einer
architektonischen Enzyklopädie in Form eines runden, um
einen Innenhof angeordneten Bauwerks kann nicht nur
als Vorläufer moderner Museen in Textform verstanden
157
werden, sondern es veranschaulicht auch die Signifikanz,
die die objektnahe Diskussion für die Gelehrten besaß.
Das Sammeln von Informationen war nicht allein die Leistung einzelner Individuen. Ein erfolgreicher Naturwissenschaftler war Teil eines vielgliedrigen Netzwerks mit vertrauenswürdigen Mitgliedern, die ihm glaubhafte Daten
lieferten. Conrad Gessners (1516–1565) umfangreiche
Besprechung der Fauna „Historia animalium“ (1551–
1558, „Geschichte der Tiere“, Kat. 75, 76) konnte nur zustande kommen, weil ihm Freunde und Korrespondenten
unzählige Spezimen, Bilder und Beschreibungen zukommen ließen.16 Die Verflechtung eines derartigen Netzwerks
veranschaulicht der in Köln geborene Arzt Cornelius Sittard
(† 1551), welcher von 1533 bis 1544 in Norditalien Medizin studierte. Während einer Romfahrt erhielt Sittard
mehrere Zeichnungen von Fischen mit dazugehörigen
Erläuterungen von einem dort praktizierenden Amsterdamer Arzt und schickte sie Gessner zu, der sie in sein Werk
integrierte. Dieselbe Reise nutzte Sittard, um zusammen
mit anderen Nicht-Italienern, die ihn begleiteten, neue Erkenntnisse in der Pflanzenkunde zu gewinnen.17 Dieses
Wissen trug er um 1544 nach Nürnberg, wo er sich niederließ und es anwandte.
In seinem persönlichen Exemplar der „Historia stirpium“
(vgl. Kat. 71, 72),18 das hier erstmals vorgestellt wird und
das er nach seiner Rückkehr aus Italien erwarb, markierte
Sittard zahlreiche Stellen und fügte sauber geschriebene
Glossen zu den medizinischen und phytologischen Angaben von Fuchs hinzu. Seine Anmerkungen dokumentieren
ein sichtliches Interesse für die Form und Farbe der Kräuter. In der Abbildung von Iuniperus/Weckholder19 malte
er die Früchte grün aus und versah einige zusätzlich mit
einer schwarzen Schraffur, um ihr Verdunkeln im reifen
Zustand darzustellen. Bei Aconitum/Dolwurtz war er unzufrieden mit den von Fuchs gemachten Angaben zum Stängel, der ihn mit jenem des Farns verglichen hatte, und fand
die Illustration unzulänglich, sodass er anmerkte: „Aber
wie genau ist der Stängel des Farns[?]“.20 Mehrmals fügte
Sittard die regionale Namensgebung ein oder korrigierte
Fuchs’ Terminologie kritisch, indem er die entsprechenden
Illustrationen mit Zusätzen ergänzte: „Einige nennen sie in
Nürnberg Gitagina“ oder „In Nürnberg wird sie Goltwurtz
genannt“.21 Zu einer Art der Walwurtz vermisste er die
Illustration, „Aber wo ist die Abbildung der Pflanze!“, und
die Darstellung zu Anethum/Dyll missbilligte er scharf:
„Schlecht ist dieser Dill hinsichtlich seiner Blätter dargestellt.“22
158
Sittards Handhabung von Bildern demonstriert die Signifikanz der Visualisierungen von Naturalia. Maler, Grafiker,
Schneider von Holzschnitten usw. nahmen eine führende Stellung in der Wissensvermittlung ein. Die Zeichner
Hans Weiditz (um 1500–1536) und David Kandel (um
1520–um 1590) stellten z. B. die Zeichnungen für die Holzschnitte in Brunfels’ Werk und Hieronymus Bocks „Kreütter Buch“ (1546) her. Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553)
besaß seit 1520 die einzige Apotheke in Wittenberg und
ein entsprechendes Apothekenprivileg.23 Neben dem Bezug aller für den Malbedarf notwendigen Artikel mag sie
ihm auch die Inspektion diverser Heilkräuter und Tiere,
wie der Europäischen Sumpfschildkröte (vgl. Kat. 2 &
S. 194–195),24 erlaubt haben.
William Ivins, der im New Yorker Metropolitan Museum of
Art als Kurator arbeitete, war 1953 davon überzeugt, erst
die Mechanik des Buchdrucks habe „präzis wiederholbare
bildliche Aussagen“25 produzieren können und dadurch
einen wahrhaft wissenschaftlichen Austausch ermöglicht. Die Forscher hätten so identische und vielfach reproduzierbare Bilder als Grundlage für objektive Diskussionen gehabt. Ivins’ Standpunkt wirkt, so recht er in vielerlei
Hinsicht hat, forciert. Die Naturforscher der Renaissance
waren hinsichtlich der Verfahren zur morphologischen
Vermittlung ihrer Untersuchungsgegenstände äußerst innovativ. Pandolfo Collenuccio (1444–1504), bemüht um
die Identifizierung zweier Pflanzen, schickte diese 1493
von einer Reise nach Augsburg an seinen Freund Angelo
Poliziano (1454–1494), um ihn und die „eruditi“ (Gelehrten)26 von Florenz nach ihrer Meinung zu fragen. Derselbe
Collenuccio nahm die Illustrationen eines öffentlich ausgestellten Kräuterbuchs in einer Apotheke Venedigs zur
Grundlage für seine Pflanzenidentifizierungen.27 Derartige Ausstellungen waren nicht selten, denn Brunfels teilt
in seinem „Conrafayt Kreüterbuch“ (1532)28 mit, er habe
selbst großartig ausgemalte Pflanzenbücher inspiziert. In
der Tat war die Zahl illustrierter Kräutermanuskripte vom
14. zum darauffolgenden Jahrhundert auf das Sechsfache angestiegen,29 und über die astronomisch hohe Zahl
der Zeichnungen von Naturalia im 16. Jahrhundert kann
nur gemutmaßt werden.
Seit dem 15. Jahrhundert produzierten spezialisierte
Werkstätten präzise und detaillierte Abdrucke von eingefärbten Pflanzenteilen fürs Studium. Mit Letzteren
konnten sie wie mit Modeln sogar multiple Drucke ausführen und verkauften diese Naturselbstdrucke in Form
von Papierheften.30 „Das ist ein neues Prinzip, die Natur
Abb. 4 Naturselbstdruck der Echten Betonie aus: Icones Stirpium impressae à Theophilo Kentmano Medico 1583, in: Plantarvm
At[que] Animantivm Nvnqvam Hactenvs Impressarvm imagines, Partem in Italia; partem in alijs nationibus Collectæ, & ad uinum
expressæ, impr. III libros digestæ, à Joanne Kentmanno Medico 1549, fol. 255v, Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia
Bibliothek, urn:nbn:de:gbv:32-1-10024299140
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3
4
5
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7
Abb. 5 Eingeklebte Trockenpflanzen aus: Caspar Ratzenberger, Herbarium. Bd. 1, 1556–1592, fol. 35v–36r, Naturkundemuseum Kassel
8
der Pflanzen zu lernen“, weil es „den Augen jede Fiber und
jeden Knoten entgegenspringen lässt“, kommentiert 1583
der Pädagoge Michael Böhme (1542–1616) aus Pirna die
Technik des Naturselbstdrucks (Abb. 4, vgl. Kat. 77–82).31
Bücher mit eingeklebten Trockenpflanzen gestatteten spätestens um 1465 die direkte Inaugenscheinnahme und
erlebten im 16. Jahrhundert eine wahre Blüte innerhalb
der Pflanzenforschung. Aus dem Herbarium des Arztes
Caspar Ratzenberger (1533–1603), das dieser über vier
Jahrzehnte zusammenstellte und 1592 dem Landgrafen
Moritz von Kassel (1572–1632) darbrachte, sollten „Junge Medici und Medicinnae Tyrones [Studenten] ynnerhalb
160
von acht tagenn soviell aus und Einländische Kreuther
und Simplicia kennen lernen als ich ohnferniglichenn wol
inn zehenn oder zwölff iharenn zu lernenn und zu kennenn
nicht vermochte, wie dann disfalls diyser mein Herbarius
inn einer Bibliotheca solchenn Tyronnibus Nützlichenn
und sehr dienlichenn seinn würde“32 (Abb. 5, vgl. Kat. 70).
Derartige Praktiken attestieren für die Gruppen der Naturgelehrten profunde Diskurse mithilfe von Visualisierungen von Naturalia, die nicht allein auf Druckwerken
beruhten. Diese Artefakte, von denen diese Ausstellung
einen Ausschnitt zeigt, sollten verstärkt in die aktuelle
Forschung miteinbezogen werden.
9
10
11
12
13
Findlen, Paula: Natural history, in: Park, Katharine/Daston, Lorraine
(Hg.): Early modern science (= The Cambridge history of science 3),
Cambridge 2006, S. 435–468, S. 435.
Park, Katharine/Daston, Lorraine: Introduction: The age of the new, in:
Dies. (Hg.): Early modern science (wie Anm. 1), S. 1–17.
Die Holzstöcke sind Kopien jener im „Hortus sanitatis“ („Garten der
Gesundheit“), Mainz 1491, die ihrerseits auf die verkleinerten Holzstöcke des Nachdrucks des „Gart der Gesundheit“ durch Grüninger,
1485/86, beruhen. Baumann, Brigitte/Baumann, Helmut: Die Mainzer
Kräuterbuch-Inkunabeln „Herbarius Moguntinus“ (1484), „Gart der
Gesundheit“ (1485), „Hortus Sanitatis“ (1491). Wissenschaftshistorische Untersuchung der drei Prototypen botanisch-medizinischer
Literatur des Spätmittelalters, unter Berücksichtigung der Vorläufer
„Etymologiae“ (um 630) (= Denkmäler der Buchkunst 15), Stuttgart
2010, S. 238f.
Brunschwig, Hieronymus: Liber de arte distillandi de simplicibus. Das
buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige[n] ding, Straßburg
1500, 116v: „[…] darumb ist nit zu achten allein uff die figuren,
sunder uff die geschrifft und dz erkennen durch die gesicht und nit
durch die figuren […].“
Zur Beobachtung Daston, Lorraine: Observation, in: Dackerman, Susan
(Hg.): Prints and the pursuit of knowledge in early modern Europe,
Cambridge, Mass., u. a. 2011, S. 126–133. – Park, Katharine: Observation in the margins, 500–1500, in: Daston, Lorraine (Hg.): Histories
of scientific observation, Chicago 2011, S. 15–44. – Egmond, Florike:
Eye for the detail. Images of plants and animals in art and science.
1500–1630, London 2017.
Blair, Ann: Too much to know. Managing scholarly information before
the modern age, New Haven 2010, S. 11.
British Library, London, Add. 41623 (Codex Bellunensis) sowie seine
Abschriften. Die Abschriften, die hier zum Teil erstmalig als solche
erkannt werden, sind nur in Fragmenten erhalten und befinden sich
in: University Library, Philadelphia, Schoenberg Collection, LJS 475;
Städel-Museum, Frankfurt, Inv.-Nrn. 15243, 15242 & 15244. – Zu den
Pflanzen Mariani Canova, Giordana (Hg.): Codex bellunensis. Erbario
bellunese del XV secolo, Londra, British Library, Add. 41623. Commentario, Bd. 2, Feltre 2006, S. 61 („pilago“, Leopondium alpinum), S. 55
(„piloxela de montania“, Galium odoratum), S. 56 („Livistricum montanum“, Aquilegia atrata & „pecholonbin“, Geranium columbinum).
Im Manuskript Bibliothèque universitaire, Montpellier, MS 277, das hier
zum ersten Mal Niccolò Roccabonella (um 1385–1459) zugeschrieben wird, beschreibt dieser erstmalig den Balsamapfel, fol. 118v–
119r, anschließend im Manuskript Biblioteca Marciana, Venedig,
MS Marc. Lat. VI, 59 = 2548, Liber de simplicibus, wo sowohl der
Balsamapfel (fol. 140rf.) als auch Sesam (fol. 103rf.) naturgetreu
dargestellt werden.
Der Apotheker Zenobius Pacinus (tätig in den 1520er-Jahren) erzeugt
zwei Naturselbstdrucke ein und desselben Zweigs einer Amerikanischen Kermesbeere: Bibliothèque nationale de France, Paris, MS Jd
50, fol. 2v, 180r.
Caruel, Teodoro: Illustratio in hortum siccum Andreae Caesalpini,
Florentiae 1858, S. 2f.
Plinius, Naturalis historia, XXV, 6, zu dracunculus. – Cordus, Euricius:
Evricii Cordi Simesusii medici Botanologicon, Coloniae 1534, S. 136.
– Dilg, Peter: Das Botanologicon des Euricius Cordus. Ein Beitrag zur
botanischen Literatur des Humanismus, Marburg 1969, S. 262f.
Roth, Rudolf von (Hg.): Urkunden zur Geschichte der Universität
Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877, S. 312.
Zimmern, Froben Christoph von: Zimmerische Chronik. Band IV. Hg.
von Karl August Barack, Freiburg–Tübingen 1882, S. 105.
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Vgl. dazu Agnes Thums Beitrag „Cranachs Innsbrucker Hieronymusbild: Die Sprache der Natur“ im vorliegenden Band.
Quichelberg, Samuel: Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi,
München 1565.
Kusukawa, Sachiko: The sources of Gessner’s pictures for the Historia
animalium, in: Annals of Science 67 (3), 2010, S. 303–328, S. 312.
– Zum Austausch von Geschenken Findlen, Paula: The economy of
scientific exchange in early modern Italy, in: Moran, Bruce T. (Hg.):
Patronage and institutions. Science, technology, and medicine at the
European court 1500–1750, Rochester, N. Y., 1991, S. 5–24.
Egmond, Florike/Kusukawa, Sachiko: Circulation of images and
graphic practices in Renaissance natural history: the example of
Conrad Gessner, in: Gesnerus 73 (1), 2016, S. 29–72, S. 43.
Leonhart Fuchs, De historia stirpium commentarii insignes, HerzogAugust-Bibliothek, Wolfenbüttel, A: 3 Med. 2°.
Fuchs: Historia (wie Anm. 18), S. 78.
Fuchs: Historia (wie Anm. 18), S. 86: „Sed quomodo est filix caula […]“
Eigene Übersetzungen.
Fuchs: Historia (wie Anm. 18), S. 127 zu Lolium/Ratten: „Gitaginam
vocant quidam hanc Norimbergiae […]“, S. 365 zu Lilium croceum/
Goldtgilg: „Goltwurtz Norimbergia dicitur.“
Fuchs: Historia (wie Anm. 18), S. 696: Symphytum petraeum „Sed ubi
est plantae delineatio!“, S. 30: „Male depictum est hoc anethum in
foliis.“
Noble, Bonnie: Lucas Cranach the Elder. Art and devotion of the
German Reformation, Lanham 2009, S. 14f. & Fn. 79 mit Literatur.
Vgl. dazu Agnes Thums Beitrag „Cranachs Innsbrucker Hieronymusbild: Die Sprache der Natur“ im vorliegenden Band.
Ivins, William Mills: Prints and visual communication, Cambridge,
Mass., 1978, S. 24.
Das geht aus einem Brief Polizianos an Collenuccio hervor. Poliziano,
Angelo: Angeli Politiani et aliorum virorum illust. epistolae cum
praefatione in Suet. expositionem, Amsterdam 1644, Buch 7, S. 267.
Collenuccio, Pandolfo: Defensio Pliniana, Ferrara [1493], Kap. De
penthaphyllo, unpaginiert.
Brunfels, Otto: Contrafayt Kreüterbuch. Nach rechter vollkommener
Art, vnd Beschreibungen der Alten, besstberümpten Ärtzt, vormals in
Teütscher sprach, der masßen nye gesehen, noch im Truck außgangen. Sampt einer gemeynen Inleytung der Kreüter Urhab, Erkantnüsß,
Brauch, Lob, und Herrlicheit, Straßburg 1532, Kap. XX, unpaginiert.
Toresella, Sergio: Alla ricerca di antichi erbari, in: Erboristeria domani,
September 1996, S. 84–90, S. 89, gibt für das 14. Jh. 44, für das
15. Jh. 232 bekannte Kräuterbücher an.
Die frühesten Naturselbstdrucke sind im „Codex Aratus“ (um 1425),
Universitätsbibliothek, Salzburg, MS M I 36, fol. 145v, 154v–177v zu
finden. Dort wie auch im Manuskript Museum national d’histoire
naturelle, Paris, MS 326 sind multiple Drucke zu finden.
In zwei Gedichten, die den Kräuterdrucken des Theophilus Kentmann
(1552–1610) vorangestellt sind. Herzogin Anna Amalia, Bibliothek,
Weimar, MS Fol 323: Plantarvm At[que] Animantivm Nvnqvam
Hactenvs Impressarvm imagines, fol. 211rf.
Ratzenberger Herbar, Naturkundemuseum, Kassel, Bd. 1, fol. 3v der
Vorrede.
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