Hugo Rafael Chávez Frías (*1954)
Friedrich Welsch
Hugo Rafael Chávez Frías
Persönliche Daten
28.07.1954
Geburt in Sabaneta, Staat Barinas; als Hugo Rafael getauft nach seinem Vater Hugo de los Reyes und seinem
Paten, dem späteren zweifachen Staatspräsidenten Rafael
Caldera.
1971
Abschluss der Sekundarstufe und Eintritt in die Venezolanische Militärakademie.
1974
Eheschließung mit Nancy Colmenares, drei Kinder (geschieden 1992).
Teilnahme an der Feier zum 180. Jahrestag der Schlacht
von Ayacucho in Peru, die das Ende der spanischen Kolonialherrschaft in Südamerika besiegelte; Kontakt mit
General Velasco Alvarado, Militärpräsident der Revolutionären Regierung Perus.
1975
Leutnant der Artillerie, Diplom in Militärwissenschaft.
1977
Mitbegründer des (kurzlebigen) Venezolanischen Volksbefreiungsheers.
1982
Mitbegründer des Bolivarischen Revolutionsheers 200,
ab 1983 umbenannt in Revolutionäre Bolivarische Bewegung 200.
1990
Oberstleutnant.
1989-1990
Graduiertenstudium in Politikwissenschaft an der SimónBolívar-Universität Caracas, ohne Abschluss.
Februar 1992
Leitet den gescheiterten Militärputsch gegen die Regierung Pérez, steht ebenfalls hinter dem zweiten gescheiterten Putsch vom 27. November.
1992-1994
Untersuchungshaft wegen Rebellion; Einstellung des
Verfahrens auf Weisung des Staatspräsidenten Caldera.
1997
Heirat mit Marisabel Rodríguez; eine Tochter (Rosinés);
geschieden 2004.
Dezember 1998 Wahl zum Staatspräsidenten Venezuelas.
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Juli-Dezember
1999
Juli 2000
April 2002
Dez.-Febr.
2002-2003
2003
August 2004
Oktober 2004
Dezember 2005
Dezember 2006
Januar 2007
Dezember 2007
November 2008
Februar 2009
Friedrich Welsch
Verfassunggebende Versammlung, Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela durch Volksabstimmung
gebilligt.
Relegitimation aller Wahlämter, Chávez wiedergewählt.
Vorübergehender Sturz Chávez’ durch Militärputsch.
General- und Erdölstreik.
Erste sozialpolitische Missionen begonnen.
Volksabstimmung zur Amtsenthebung von Chávez: abgelehnt.
Regional- und Kommunalwahlen, der Patriotische Pol
gewinnt 20 der 22 Staaten und drei Viertel aller Wahlämter.
Parlamentswahlen; wegen Boykotts der Opposition erringt der Patriotische Pol alle Mandate.
Präsidentschaftswahlen; Chávez wiedergewählt.
Ausrufung des Beginns der Sozialistischen Revolution.
Volksabstimmung über den sozialistischen Umbau der
Verfassung: abgelehnt.
Regional- und Bürgermeisterwahlen; die Opposition baut
ihre Positionen aus, sie gewinnt in den vier bevölkerungsreichsten Regionen und verteidigt ihre Führung in zwei
weiteren.
Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung zur
unbegrenzten Wiederwahl aller Mandatsträger, angenommen.
1. Hugo Rafael Chávez Frías
Ähnlich wie sein Vorbild Simón Bolívar und sein Mentor Fidel Castro
hat Hugo Chávez bereits zu Lebzeiten Kultstatus erreicht, zumindest
in Kreisen nostalgischer oder utopischer Linker rund um den Globus.
Davon zeugen hagiographische Abhandlungen wie Gotts In the Shadow of the Liberator, Wagenknechts Aló Presidente, Golingers Bush
vs. Chávez oder gar hagiolatreutische wie Yánez Rondóns Un soldado
presidente und Eleizaldes Chávez Nuestro, dessen Titel sich an
das 1992 entstandene Gebet an Chávez anlehnt, ein abgewandeltes
Vaterunser. Der an zahlreichen Drehorten produzierte Dokumentarfilm des Starregisseurs Oliver Stone über Chávez dürfte dieses Bild
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noch unterstreichen. Dass Chávez auf der internationalen Bühne so
fragwürdige Kollegen wie Iraks Hussein, Irans Ahmadinedschad,
Weißrusslands Lukaschenko oder Zimbabwes Mugabe zu seinen besten Freunden zählte bzw. zählt, nimmt ihm bei seinen Bewunderern
nichts von seinem Glanz.
Aber auch die Mehrzahl seiner Gegner attestiert Chávez Charisma
und Volksnähe. War es also die Ahnung oder Planung seines künftigen Werdegangs, die ihn als jungen Soldaten neben dem Büchlein
“Die Nationale Revolution Perus” von Velasco Alvarado Plechanows
Schrift über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte in seinen
Tornister packen ließ? Rückblickend erinnert er sich daran, dass ihn
der Text damals beeindruckte; in seiner Lebenspraxis hat er ihn allerdings umgekehrt, denn im Gegensatz zu Plechanows These hält er
sich nicht für ein – ersetzbares – Werkzeug geschichtlicher Notwendigkeit, sondern für den unersetzlichen Gestalter einer neuen Welt.
Ein klarer Beleg dafür ist sein durch keine Zweifel erschütterter und in
seinen Reden immer wieder verkündeter Glaube, durch geschichtliche
Fügung sei er dazu auserkoren, den Traum Bolívars zu verwirklichen
und nicht nur Venezuelas, sondern auch Südamerikas Geschicke in
eine strahlende Zukunft zu lenken.
Die tatsächlichen Errungenschaften der 1999 eingeleiteten bolivarischen Revolution sind jedoch angesichts dieser Messlatte und des
Symbolwerts ihrer Galionsfigur eher bescheiden. Statt Venezuelas
Wirtschaft und Gesellschaft dank der höchsten Erdöleinkommen in
der Geschichte des Landes auf den Weg einer nachhaltigen Entwicklung zu bringen, hat sie die diesem Ziel diametral entgegengesetzte
traditionelle Rentenmentalität geradezu zur ihrer raison d’etre erhoben und die Erdölabhängigkeit auf historisch ebenso unerreichte Höhen getrieben.
2. Werdegang und Aufstieg
Hugo Rafael Chávez kam im Juli 1954 als zweiter der sechs Söhne
des Lehrerehepaars Hugo de los Reyes und Elena Chávez zur Welt, in
Sabaneta, dem Hauptort einer Landgemeinde in den endlosen Weiten
der Llanos im venezolanischen Bundesstaat Barinas. Es gab zu jener
Zeit dort noch keine Geburtshilfestation; eine Hebamme stand Hugos
Mutter bei seiner Geburt zur Seite, ebenso wie bei seinen Brüdern.
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Der Gründer der christdemokratischen Partei, Rafael Caldera, übernahm die Patenschaft des zweiten Sohnes seines aktiven Parteifreundes Hugo de los Reyes, der deshalb Hugo Rafael getauft wurde.
Wie er selbst sagt, erinnert sich Hugo gern an seine unbeschwerte
Kindheit in Sabaneta. Später siedelten die Eltern wegen besserer eigener Entfaltungsmöglichkeiten und schulischer Betreuung der Kinder
nach Barinas über, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats.
Das Haus, das sie dort kauften, bot nicht ausreichend Platz für die
sechs Söhne. Deshalb wuchsen die beiden Ältesten, Adam und Hugo,
unter der Obhut ihrer Großmutter Rosa auf, die von beiden als Ersatzmutter verehrt wurde und nach der Hugo Rafael seine Tochter aus
zweiter Ehe benannte. Hugo schloss im Gymnasium von Barinas 1971
die Sekundarstufe ab und bestand anschließend die Aufnahmeprüfung
an der Militärakademie in Caracas.
In seiner Schulzeit zeigte Hugo Chávez großes Interesse für den
Baseball-Sport und das Fach Geschichte. Er träumte von einer Karriere als Baseball-Spieler in einer der Mannschaften in der Spitzenliga
der USA. Seiner eigenen Aussage zufolge war es seine gute Leistung
in diesem Sport, die ihm die Aufnahme in die Militärakademie sicherte. Er entschied sich für den freiwilligen Wehrdienst, weil er in der
Militärausbildung die Gelegenheit sah, sportlich bestmöglich gefördert zu werden; aus der erträumten Sportlerkarriere wurde dann aber
doch eine Offizierslaufbahn. Sein Interesse für Geschichte hatte er
schon seit seiner Schulzeit durch die eifrige Lektüre aller möglichen
Autoren bedient, derer er habhaft werden konnte. Den Schriften Bolívars widmete er dabei besondere Aufmerksamkeit. Er lernte sie auswendig und versäumt es in seinen Reden nur selten, auch längere Passagen zu zitieren. In seiner Antrittsrede als frisch vereidigter Staatspräsident im Februar 1999 ließ er Bolívar einunddreißig Mal als
Wegweiser und Ratgeber für die zukünftige Politik seiner Regierung
zu Wort kommen.
Hugo Chávez verfolgte seine militärische Karriere zielstrebig und
absolvierte den Offizierslehrgang mit guten Leistungen. Den Truppendienst versah er in verschiedenen Einheiten und Landesteilen. Zum
Zeitpunkt des gescheiterten Staatsstreichs im Februar 1992 hatte er
den Rang eines Oberstleutnants des Heeres erreicht. Erstaunlicherweise war seine schon sehr früh begonnene konspirative Tätigkeit, die
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seinen Vorgesetzten keineswegs unbekannt war, seiner Karriere nicht
abträglich.
Schon kurz nach Abschluss der Offiziersausbildung – Chávez gehört der ersten Offiziersgeneration Venezuelas an, deren Ausbildung
einem Hochschulstudium gleichgestellt ist und zu einem akademischen Titel führt, nämlich dem Diplom in Militärwissenschaften und
-künsten – gründete er das kurzlebige Befreiungsheer des Venezolanischen Volkes (1977). Dem folgten das ebenfalls kurzlebige Komitee
Bolivarischer, Patriotischer und Revolutionärer Militärs (1980) und
schließlich das Revolutionäre Bolivarische Heer (1981-1982), in dem
bereits der spätere Putschkamerad Francisco Arias Cárdenas mitwirkte
und das sie 1983 unter dem neuen Namen “Revolutionäre Bolivarische Bewegung 200” (MBR-200, Erinnerung an den 200. Geburtstag
Simón Bolívars) auch für Zivilisten öffneten. Schon von den ersten
Anfängen an schmiedeten diese konspirativen Gruppen und Bewegungen Pläne für einen Staatsstreich. Nach einigen vergeblichen Anläufen einigten sie sich schließlich auf den 3. Februar 1992, ein weiteres geschichtsträchtiges Datum, nämlich der Geburtstag des BolívarGefährten und militärisch erfolgreichen Generals José Antonio de
Sucre. Wegen logistischer Schwierigkeiten erfolgte der Putschversuch
dann erst am frühen Morgen des 4. Februar; bei einem zweiten Versuch am 27. November desselben Jahres waren Chávez und seine
Kameraden vom 4. Februar zwar nicht beteiligt – sie befanden sich in
Haft –, aber eingeweiht, denn während der kurzfristigen Einnahme des
staatlichen Fernsehsenders wurde ein Manifest von Chávez verlesen.
Die beiden versuchten Staatsstreiche von 1992 sind Fortsetzungen
einer längeren Tradition militärischer Eingriffe in die Politik, nämlich
der – ebenfalls gescheiterten – Rebellionen gegen das sich konsolidierende System der repräsentativen Demokratie im Jahr 1962 (in Carúpano und Puerto Cabello). Das gilt sowohl für die Verbindung zwischen putschenden Militärs und sympathisierenden oder gar die Fäden
ziehenden zivilen Spießgesellen oder Guerillas als auch für die angewandte Taktik eines Militärfokismus (Militärrebellen als Ersatz der
vanguardistischen Partei), nämlich die Einnahme wichtiger Garnisonen durch Waffengewalt als Zündfunke für geplante oder erträumte
revolutionäre Volkserhebungen sowie für das strategische Ziel, nämlich die Umgestaltung des politischen Systems, der Wirtschaft und
der Gesellschaft. Die Taktik scheiterte in vier blutigen Versuchen;
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schließlich war es ausgerechnet die lange verschmähte Taktik der
demokratischen Legitimation durch Wahlen, die die Verfolgung der
revolutionären Strategie möglich machen sollte.
Man mag es als eine Ironie der Geschichte ansehen, dass der einzige Versager beim gescheiterten Staatsstreich von 1992 seinen Mythos als Rächer der Entrechteten – eine der Grundlagen seiner späteren
Erfolge – auf sein Scheitern als Taktikchef im Gefecht zu gründen
verstand. Trotz der überlegenen Feuerkraft seiner Truppe in Caracas
gelang es Hugo Chávez nicht, den nur schwach verteidigten Präsidentenpalast oder die ebenso so schwach besetzte Residenz des Staatspräsidenten einzunehmen. Seine Spießgesellen hingegen erreichten die
gesteckten taktischen Ziele an strategischen Standorten der Streitkräfte. Chávez’ Versagen in Caracas, das einer seiner damaligen Kameraden auf Feigheit zurückführte – im Unterschied zu ihnen führte
Chávez seine Truppe nicht an, sondern steuerte sie fern von seinem
sicheren Kommandoposten im Militärmuseum – vereitelte die symbolische Übernahme der Regierung und damit die Auslösung der von
den zivilen Mitverschworenen vorbereiteten Volkserhebung.
Unvergessen bleibt der auf Wunsch der Regierung von Chávez im
Fernsehen live gesendete Aufruf an seine Kameraden, die Waffen
niederzulegen. Er nutzte die ihm damit gebotene Gelegenheit, sich in
einem Augenblick höchster Einschaltquoten an das gesamte Volk
wenden zu können, um das vorläufige Scheitern seiner Pläne für ein
bolivarisches Venezuela einzugestehen und dafür die Verantwortung
zu übernehmen. Die kurze Vorstellung machte ihn auf einen Schlag
im ganzen Land bekannt und viele sahen in ihm einen Helden, wenn
auch in diesem Augenblick einen tragischen, der die edlen Absichten
der Putschisten verkörperte und damit zu kapitalisieren vermochte.
Noch im selben Monat beherrschten Chávez-Kostüme den traditionellen Kinderkarneval in Caracas.
Seine Haftzeit (Februar 1992-März 1994) verbrachte Chávez mit
Lektüre und Gesprächen mit Sympathisanten, die ihn besuchten und
ihm bei der Grundlegung eines politischen Netzwerks zur Unterstützung seiner Idee einer bolivarischen Revolution hilfreich waren. Zahlreiche Systemgegner aller ideologischen Schattierungen – die Spanne
reicht von nostalgischen Stalinisten und sonstigen Altlinken bis hin zu
Teilen der Unternehmerschaft – ließen den Kontakt zu ihm nicht abreißen. Im März 1994 wurde er mit den übrigen Untersuchungshäft-
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lingen der gescheiterten Putschversuche vom Februar und November
1992 auf freien Fuß gesetzt, nachdem Staatspräsident Caldera das
Verfahren gegen sie wegen Rebellion noch vor der Urteilsverkündung
niedergeschlagen hatte, “um die in den Streitkräften durch die Putschversuche verursachten Wunden zu heilen”.
Nach seiner Freilassung bereiste Chávez das gesamte Land, um
sein Mantra der bolivarischen Revolution im direkten Kontakt mit den
Menschen zu verbreiten, wie es Rómulo Betancourt, der Gründer der
verhassten Volkspartei Acción Democrática (AD), vor vielen Jahren
vorgemacht hatte. Mit Unterstützung einiger Finanziers und im Verbund mit Splitterparteien und Protestbewegungen baute er das bereits
aus der Haft heraus angelegte, landesweite Symathie-Netzwerk auf,
das zum Fundament seiner später gegründeten Partei Movimiento
Quinta República (MVR) wurde.
Zunächst aber wollte er sich nicht auf die Mechanismen der repräsentativen Demokratie einlassen, um sein Ziel einer Neugestaltung des
politischen Systems zu erreichen, sondern propagierte eine antipolitische und vor allem Anti-Parteien-Taktik der Protestbewegungen,
Volkserhebungen, Wahlenthaltung. Eine zivile Version des vorher
verfolgten Militärfokismus, d.h. statt rebellierender Militärs ersetzten
jetzt systemsprengende Brennpunkte die vanguardistische Partei. Erst
sein Mentor und Mäzen Luis Miquilena, ein vermögender Unternehmer, der in der Vergangenheit in der venezolanischen Linken aktiv
gewesen war, verstand ihn davon zu überzeugen, dass er für die demokratische Legitimation seines Projekts kämpfen und sich Wahlen
stellen musste: Wahlurnen statt Straßenschlachten und Brandbomben.
Miquilenas Rat bewirkte 1997 einen taktischen Umschwung des
MBR-200, der sich als genialer Schachzug erwies. Chávez ließ sich
für die Präsidentschaftswahl des Jahres 1998 als Kandidat der aus dem
MBR-200 hervorgegangenen Partei MVR aufstellen und schickte
seine Organisation im Verbund mit zwei weiteren Parteien unter dem
Namen “Patriotischer Pol” für die Gouverneurs- und Parlamentswahlen ins Rennen. Sein Leitmotiv im Wahlkampf war die Demokratische
Revolution: Neugründung der Republik durch die Einberufung einer
Verfassunggebenden Versammlung, die dem korrupten Parteienstaat
ein Ende machen würde.
Bei den Parlaments- und Regionalwahlen im November 1998 erzielte der Patriotische Pol auf Anhieb einen durchschlagenden Erfolg:
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etwa ein Drittel aller zu vergebenden Posten des Senats und des Abgeordnetenhauses, der Gouverneure und der Länderkammern. Die im
Dezember durchgeführte Präsidentschaftswahl gewann Chávez mit
beeindruckenden 56% der Stimmen, 16 Punkte vor seinem Gegenkandidaten. Aber der Erfolg in einer demokratischen Wahl, mit den Mitteln der repräsentativen Demokratie, machte aus Chávez keineswegs
einen Demokraten, vielmehr ist er struktureller Militär geblieben, auch
in der Politik, die er in Umkehrung des Clausewitz’schen Diktums als
Fortsetzung des Krieges sieht, so in einem Interview mit Blanco
Muñóz im September 1997 (1998: 536):
Ich habe oft Clausewitz zitiert, für den der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. [...] wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik ist, dann können wir im Umkehrschluss auch sagen, dass die Politik
die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist. Für mich ist das hier
ein Kampf, ein politischer Krieg.
Hierarchische Organisationsprinzipien, Befehl und Gehorsam, sind in
seiner Persönlichkeit tiefer verwurzelt als die Bereitschaft zur Diskussion, Vermittlung oder gar zum Kompromiss. In Gesellschaft von
Militärs fühlt er sich wohl, ihnen vertraut er, deshalb besetzte er zahlreiche Posten mit Kameraden: Gouverneure, Minister, Bürgermeister,
Chefs öffentlicher Unternehmen und Ämter, Botschafter. Auch das
sagte er Blanco Muñóz in aller Deutlichkeit, als Hinweis darauf, dass
er sich auf das Militär als vertrauenswürdigen Wächter des Wahlergebnisses verlasse (Blanco Muñóz 1998: 415):
In den Kasernen gibt es eine starke Strömung, die sich dort gehalten hat
und unsere Möglichkeiten 1998 positiv einschätzt, die nur darauf wartet,
was passieren wird. [...] Manche sagen, Andrés Velásquez hätte vor drei
Jahren gewonnen, und möglicherweise stimmt das. Nun unterscheidet
uns aber von jenen Projekten, dass das unsrige aus den Kasernen stammt,
es wurde dort geboren und hat dort nach wie vor seine Wurzeln. Diese
Komponente muss man in die Waagschale werfen, sie wiegt schwer im
Kräfteverhältnis.
Unmittelbar nach seiner Amtseinführung am 2. Februar 1999 – bei der
er den Text des Schwurs dahingehend abänderte, dass er sagte, er
schwöre auf eine todgeweihte Verfassung – dekretierte eine Volksabstimmung über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, die er nach einigen juristischen Plänkeleien durchsetzte und
gewann (25. April). Bereits im Juli wurden die Wahlen zu dieser Versammlung durchgeführt und der Patriotische Pol erhielt über 100 der
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128 Mandate. Die von der Versammlung erarbeitete Verfassung des
nunmehr in Bolivarische Republik Venezuela umgetauften Landes
wurde in einer Volkabstimmung am 19. Dezember 1999 mit mehr als
70% Ja-Stimmen gebilligt, allerdings bei einer mageren Beteiligung
von nur 47% der Wahlberechtigten. Die neue Verfassung stützte sich
zum Zeitpunkt ihrer Billigung mithin auf die ausdrückliche Zustimmung von nicht mehr als einem Drittel der Wähler.
Die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela mit ihren
350 Artikeln stärkt die politischen Partizipationsrechte der Bürger
durch die Einführung von Elementen der direkten Demokratie in den
Rahmen des repräsentativen Systems, aber sie vertieft auch die in
präsidialen Systemen ohnehin oft problematische Machtkonzentration
beim Staatspräsidenten und schwächt dafür die Länder- und Gemeindekompetenzen. Statt der sonst üblichen drei etabliert sie fünf Gewalten: neben Legislative, Exekutive und Judikative noch die Wählerund die Moralische Gewalt; während jene die zum Verfassungsorgan
erhobene Wahlbehörde darstellt, setzt sich diese aus dem Rechnungshof, der Generalstaatsanwaltschaft und der Bürgeranwaltschaft zusammen.
Im Jahr darauf wurden Neuwahlen aller Wahlämter ausgerufen,
um die Verfassungsorgane im Kontext der neuen Verfassung zu legitimieren. Chávez und der ihn tragende Patriotische Pol kamen dabei fast auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament; er gewann die
Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung vor seinem ehemaligen
Putschkameraden Arias Cárdenas, ebenso wie die überwiegende
Mehrheit der Gouverneure und Landesparlamente. Die oppositionellen Gruppierungen konnten sich nur auf der Gemeindeebene einigermaßen behaupten.
Sowohl der aggressive Diskurs als auch die auf Konfrontation angelegte Politik der Regierung Chávez spalteten die venezolanische
Gesellschaft von Anfang an in zwei Lager: Gefolgsleute und Gegner –
die er aus seiner militärisch geprägten Sichtweise stets als Feinde bezeichnet. Anfangs ließen sich seine Gegner auf die Konfliktstrategie
ein und trugen zur Vertiefung der Spaltung bei, indem sie ihre zentrale
Aufgabe der politischen Überzeugungsarbeit vernachlässigten und
stattdessen auf Kraftproben und Druck durch nicht immer gewaltfreie
Protestaktionen setzten, also dieselbe Taktik, die die Systemgegner
um Chávez in den neunziger Jahren angewandt hatten. Dabei hatten
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sie allerdings im Unterschied zum Chávez der neunziger Jahre keine
packende Alternative wie die demokratische Revolution zu bieten,
sondern waren sich nur in dem Ziel einig, sein Regime abzulösen.
Im April rief ein unter dem Namen “Demokratische Koordination”
zusammengewürfeltes Bündnis aus Parteien aller Schattierungen, denen sich inzwischen auch Dissidenten des Chávez-Lagers angeschlossen hatten, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Nichtregierungsorganisationen zu einer Großdemonstration in Caracas auf, die
eine bis dahin nicht gekannte Massenmobilisierung auslöste. Als die
unübersehbare Menschenmenge ins Regierungsviertel überzuschwappen drohte, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dort
zusammengerufenen Chávez-Anhängern, denen auf beiden Seiten
mehrere Menschen zum Opfer fielen. Der Präsident ordnete daraufhin
den Einsatz von Truppen an – derselbe Chávez, der den Truppeneinsatz anlässlich der Rebellion vom Februar 1989 gegen das Anpassungsprogramm einer demokratisch gewählten Regierung zur Rechtfertigung seines Staatstreichs herangezogen hatte.
Seine Spitzenmilitärs verweigerten nicht nur den Gehorsam, sondern forderten ihn zum Rücktritt auf. Ob er sich der Forderung tatsächlich gebeugt hat, konnte bisher nicht aufgeklärt werden, jedenfalls
gab Generalinspekteur Rincón (der später von Chávez zum Verteidigungsminister befördert wurde) im Kreis des Generalstabs spät in der
Nacht Chávez’ Rücktritt vor laufenden Kameras bekannt:
Das Oberkommando der Streitkräfte der Bolivarischen Republik Venezuela bedauert die beklagenswerten Ereignisse des gestrigen Tages. In
deren Anbetracht wurde der Präsident zum Rücktritt aufgefordert, den er
vollzogen hat.
Nach einigem Hin und Her wurde ausgerechnet der Chef des Arbeitgeberverbandes als de-facto-Präsident eingesetzt. Er erließ umgehend
ein Dekret, das sämtliche Verfassungsorgane aufhob und verspielte
sich damit den Rückhalt eines Teils der militärischen Führung, der
dann seinerseits Chávez mit tatkräftiger Unterstützung durch die mit
ihm sympathisierende Bevölkerung ins Amt zurückholte. Es war ein
bis heute nicht aufgeklärter Staatsstreich mit mehreren, rasch aufeinanderfolgenden Phasen und Protagonisten. Eine später im Parlament
vereinbarte Wahrheitskommission nach südafrikanischem Muster als
Ausgangspunkt für die nationale Versöhnung wurde nie verwirklicht.
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Ein weiterer Höhepunkt der Konfliktstrategie der Opposition war
ein Generalstreik mit nachfolgender Lahmlegung der gesamten Erdölindustrie (Dezember 2002-Februar 2003). Das führte zu einer Situation der Unregierbarkeit, die schließlich in einem international moderierten Runden Tisch mit der Einigung auf ein Abberufungsreferendum gegen Chávez aufgelöst wurde. Zu diesem Zeitpunkt befand er
sich in einem Umfragetief, er musste also die Durchführung der
Volksabstimmung so weit wie möglich hinauszögern und in der Zwischenzeit in der öffentlichen Meinung Boden gutmachen.
Den entscheidenden taktischen Rat in dieser Hinsicht erteilte ihm
Fidel Castro. Der empfahl ihm, assistenzialistische Wohltaten und
Dienstleistungen parastaatlich über die Parteiorganisation des MVR
und befreundete Bewegungen sowie Nachbarschaftsgruppen anzubieten und so direkt, unbürokratisch und formlos eine große Masse Bürger zu erreichen und an sich zu binden. Das war die Geburtsstunde der
Missionen: Alphabetisierung nach kubanischem Muster, Gehirnwäsche einbegriffen, gesundheitliche Betreuung in Armenvierteln durch
dort installierte Barfußärzte, Fachberater für Sportvereine, Kampagnen zur vereinfachten (und unkontrollierten) Ausgabe von Personaldokumenten und dadurch Aufstockung des Wählerverzeichnisses, all
das mit technischer und personeller Unterstützung seitens Kuba (gegen Bezahlung, versteht sich).
Schon nach einem halben Jahr verbesserten sich die Umfragewerte
deutlich und Chávez gewann die Volksabstimmung im August 2004
mit großem Vorsprung. Die daraufhin gelähmte und demoralisierte
Opposition wurde bei den Regionalwahlen im Herbst desselben Jahres
vollends an den Rand gedrängt und entschied sich anlässlich der Parlamentswahlen des Jahres 2005 für einen Wahlboykott, wie ihn
Chávez nach seiner Haftentlassung in den neunziger Jahren propagiert
hatte; seitdem waren die Chávez-Anhänger in der Nationalversammlung unter sich. Später trennte sich eine kleine Gruppe Dissidenten
vom Chávez-Lager und etablierte eine Art parlamentarische Opposition, die jedoch nach der geltenden Geschäftsordnung keinerlei Einfluss auf die Tagesordnung nehmen kann und nur beschränktes Rederecht genießt.
Chávez’ Stern strahlt immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so
hell wie einst. Eine erste zahlenmäßige Wahlniederlage musste er
hinnehmen, als er per Volksabstimmung die Umwandlung der Verfas-
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sung zu einem sozialistischen Programm nach kubanischem Muster
absegnen lassen wollte. Unerwarteterweise verhinderten die Bürger
sein Ansinnen mit knapper Mehrheit (Dezember 2007). Als symbolische Niederlage erwiesen sich die Regionalwahlen vom November
2008, bei denen der Chávez-Pol wichtige Bundesstaaten und Bürgermeisterposten verlor, obwohl er insgesamt mehr Stimmen erhielt und
auch drei Viertel der zu vergebenden Mandate erringen konnte.
Erst nach dem Referendum vom Februar 2009 kann Chávez wieder aufatmen: Es gelang ihm, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die die unbegrenzte Wiederwahl des Staatspräsidenten sowie aller
übrigen Mandatsträger zulässt. So hofft er, sich seine Führerposition
auf lange Sicht unangefochten sichern zu können. Allerdings bestätigte das Referendum auch die Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft in zwei unversöhnliche Blöcke: Einem guten Drittel ChávezAnhänger steht ein knappes Drittel Gegner entgegen und zwischen
beiden fluktuiert ein neutrales, sich bei Wahlen enthaltendes Drittel,
dessen Mobilisierung bzw. fortgesetzte Demobilisierung für die beiden Pole von strategischer Bedeutung ist.
3. Regierung
Am 2. Februar 2009 feierte Chávez mit einer fast achtstündigen Rede
vor der Nationalversammlung sein zehnjähriges Jubiläum im Amt des
Staatspräsidenten, in der er die Errungenschaften der bolivarischen
Revolution pries. Der Rückgriff auf seine – wesentlich kürzere – Rede
zur Amtseinführung im Februar 1999 erlaubt es, die Situation des
Landes und seiner Bevölkerung in einigen zentralen Aspekten zu vergleichen.
Chávez hatte damals ebenfalls Bilanz gezogen, nämlich die der
von ihm so bezeichneten “Vierten Republik”, d.h. der vierzigjährigen
Periode vom Sturz der Militärdiktatur Pérez Jiménez im Jahr 1958 bis
zum Chávez-Wahljahr 1998. Er beklagte unter vielen anderen Missständen, die Regierungen hätten in diesem Zeitraum 15 Marshallpläne
verschleudert, mit denen man Europa fünfzehn Mal hätte wiederaufbauen können; die gesellschaftlichen Probleme der Armut, Wohnungsnot, Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit und fehlenden Bildungschancen seien unerträglich; die Staatsverschuldung belaste die
kommenden Generationen. Als Lösung versprach er die Verringerung
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der Abhängigkeit vom Erdöl und die Wiederentdeckung und -belebung der Landwirtschaft als Lebensgrundlage der Bevölkerung, also
die Abkehr vom sozioökonomischen Paradigma des Rentenstaats.
In den zehn Jahren seiner Amtszeit spülte vor allem das Erdöl Mittel in Höhe von 65 Marshallplänen in die Staatskasse, aber für die von
ihm 1999 konstatierten gesellschaftlichen Probleme wurden nicht nur
keine strukturellen Lösungsansätze gefunden, sondern sie haben sich
zum Teil noch verschlechtert. Die Wohnungsnot hat sich zwischen
1999 und 2009 fast verdoppelt und trotz spürbarer Verbesserungen in
den Bereichen Armut, Gesundheitsversorgung und Bildung, vor allem
durch die assistenzialistischen “Missionen”, kann von einer nachhaltigen Steigerung der Lebensqualität der Bevölkerung nicht die Rede
sein, denn die Abhängigkeit vom Erdöl war 2008 höher als je zuvor
und die Landwirtschaft trug deutlich weniger zur Nahrungssicherheit
bei: Venezuela importierte 2008 über die Hälfte seines Nahrungsmittelbedarfs.
Das Rentenparadigma wurde also nicht nur nicht durch ein produktionsorientiertes ersetzt, sondern noch verfestigt, ohne dass deshalb die menschliche Entwicklung signifikant vorangekommen wäre.
Als Chávez die Regierung übernahm, rangierte Venezuela im Human
Development Index auf Platz 61 und litt unter einer markanten Ungerechtigkeit bei der Einkommensverteilung, ebenso wie – mit geringfügigen Unterschieden – alle übrigen Länder Lateinamerikas. Nach dem
letzten Bericht zur menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen, der acht Chávez-Regierungsjahre erfasst, hatte es diesen Platz
nicht verlassen, und an der Verteilungsungerechtigkeit hatte sich so
gut wie nichts geändert.
Die wenig überzeugende tatsächliche Leistung der Regierung hinsichtlich der Umsetzung früher unerreichter Erdölrenten in menschliche Entwicklung drückt sich am deutlichsten darin aus, dass die Zahl
der in Armut lebenden venezolanischen Familien nach regierungseigenen Zahlen seit 1999 konstant geblieben ist, auch wenn ihr Anteil
leicht von 29 auf 33% sank. Die vervielfachte Staatsrente wurde mithin von der Regierung des Helden der Armen nur höchst unzulänglich
zur Hebung ihres Lebensstandards verwandt, aber dennoch geben sie
ihre Hoffnung noch nicht auf. Deshalb kann Chávez auch weiterhin
auf ihre Unterstützung bauen, wenn auch sicher nicht unbegrenzt.
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Die außenpolitische Bilanz der Regierung Chávez erscheint dagegen in positiverem Licht. Im Rahmen ihrer globalen Dimension
entfaltete er schon zu Beginn seiner Amtszeit eine intensive Reisediplomatie und überzeugte seine Kollegen der OPEC-Länder von der
Notwendigkeit, die Organisation durch bessere Koordination und disziplinierteres Marktverhalten zu stärken, wie es schon die Regierung
Betancourt lange davor mit ihrer Initiative zur Gründung des Kartells
vorgemacht hatte. Mit dem Ergebnis des von ihm angeregten und
durchgeführten zweiten Gipfeltreffens in der Geschichte der OPEC im
September 2000 in Caracas kam er diesem Ziel näher und leistete
damit einen Beitrag zur Stabilisierung des Erdölmarkts und der tendenziellen Verbesserung der Preise für die Exportländer.
Demgegenüber erscheint die Entkopplung der traditionell engen
Verbindung mit den USA in sicherheitspolitischer und auch wirtschaftlicher Hinsicht sowie deren Ablösung durch strategisch gedachte Beziehungen zu China, dem Iran, zu Russland und Weißrussland
weniger sinnvoll. Schließlich sind die USA der nächstliegende Markt
für das venezolanische Erdöl und dessen spezifische Beschaffenheit
erschwert seine Verarbeitung in dafür nicht gerüsteten Raffinerien.
Aber auch politisch gesehen erwiesen sich die neuen strategischen
Partner nicht als sehr hilfreich, als sich Venezuela vergeblich um
einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bemühte, ein
Schritt, den Chávez innenpolitisch als Beleg für die weltpolitische
Bedeutung des Landes darstellte. Wie ein Beobachter bemerkte, kann
man diesen Richtungswechsel als Umkehrung der US-inspirierten
Doktrin der Nationalen Sicherheit aus den Zeiten des Kalten Krieges
deuten: Die Konflikthypothese der Abwehr der sowjetischen Einflussversuche nach außen und der von dorther geförderten Guerilla im
Innern wurde ersetzt durch die Abwehr der Oligarchie bzw. Lakaien
Washingtons im Innern und des US-Imperialismus nach außen.
Seine größten außenpolitischen Erfolge erzielte Chávez in Lateinamerika und der Karibik. Sie mögen dem proklamierten Ziel der Förderung der Integration des Subkontinents nicht immer dienlich gewesen sein, haben aber ohne Frage die bolivarische Revolution regional
gestärkt. Mit seiner Scheckbuchdiplomatie schaffte er sich einen Kreis
befreundeter Länder, die im Rahmen der von ihm inspirierten und
finanzierten Alternativa Bolivariana de las Américas (ALBA), einem
Gegenentwurf zur US-inspirierten Idee einer amerikanischen Freihan-
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delszone, die Segnungen des Erdölbooms mit Venezuela teilen und im
Gegenzug ihrerseits Loyalität praktizieren. Im Rahmen des Energieabkommens von Caracas liefert Venezuela den befreundeten Ländern
Erdöl zu Vorzugskonditionen (Petroandina, Petrocaribe, Petrosur) und
erwartet dafür die politische Unterstützung seiner außenpolitischen
Initiativen. Besonders eng ist in diesem Zusammenhang die Verbindung mit den Unterzeichnerstaaten der ALBA: Bolivien, Dominica,
Ekuador, Honduras, Kuba und Nikaragua. Die venezolanisch inspirierte multinationale Entwicklungsbank BANCOSUR als Gegenentwurf zur Interamerikanischen Entwicklungsbank und der multinationale Fernsehsender TELESUR als Gegengewicht gegen die Nachrichtendominanz der internationalen Medienkonzerne runden das Bild ab.
Andererseits bremste Chávez aber auch schon länger bestehende
Integrationsansätze des Subkontinents aus. Mit dem ebenso plötzlichen wie unerwarteten Austritt aus der Andengemeinschaft – weil
Kolumbien und Peru sich um vertragskonforme bilaterale Handelsabkommen mit den USA bemühten – schwächte er diese Gruppe, auch
wenn Kolumbien nach wie vor als einer der wichtigsten Handelpartner
rangiert. Venezuela schloss sich stattdessen dem Gemeinsamen Markt
des Südens – MERCOSUR – an, in dem Chávez nun die von den übrigen Partnern bis dahin aus pragmatischen Gründen eher hintangestellte politische Komponente zu stärken sucht und damit die Priorität
der Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Frage stellt.
Eines der Instrumente, mit denen Chávez im lateinamerikanischen
Kontext und darüber hinaus Sympathien für seine bolivarische Revolution zu gewinnen sucht, ist der 2003 gegründete Bolivarische
Volkskongress, ein stets gut dotiertes und mit attraktiven Reisemitteln
ausgestattetes Netzwerk von Einzelpersonen, Indigenen Gemeinschaften, Nichtregierungsorganisationen, Nachbarschafts- und Basisgruppen, das der Integration des Subkontinents Vorschub leisten soll. Wie
die bereits vorher genannten Chávez-nahen Netzwerke ist auch dieses
nicht von unten entstanden, sondern von oben angeschoben worden
und keineswegs selbsttragend.
Besondere Erwähnung verdient die Achse Venezuela–Kuba. Der
Einfluss Fidel Castros auf Chávez ist unbestritten und wird von diesem auch ohne Umschweife bestätigt, denn er sieht sich als mit ihm in
einem Vater-Sohn-Verhältnis stehend. Der kubanische Vizepräsident
Carlos Lage brachte die Qualität der Achse auf einen Nenner, als er
562
Friedrich Welsch
bemerkte, Kuba hätte zwei Präsidenten, nämlich Fidel Castro und
Hugo Chávez. Venezuela und sein Erdöl zu Vorzugsbedingungen sind
unverzichtbarer Teil der kubanischen Überlebensstrategie und Kuba
korrespondiert mit der – selbstverständlich in Rechnung gestellten –
solidarischen Entsendung von Ärzten, Ausbildern und Sicherheitspersonal nach Venezuela.
Zusammengefasst hat sich Venezuela als Mittelmacht in der Region etabliert. In der Karibik, in Mittelamerika und im Andenraum
konnte es sich Satelliten heranziehen, denen gegenüber es subimperialistisch auftritt. Über die venezolanischen Botschafter in diesen Ländern, die von Oppositionellen dort auch schon als “Prokonsuln” bezeichnet worden sind, sitzt Chávez als stiller Partner an den jeweiligen
Kabinettstischen.
4. Anhängerschaft
Chávez gilt als Anwalt der armen und vernachlässigten Schichten der
venezolanischen Bevölkerung. Diese Einschätzung ist nicht falsch,
muss aber relativiert werden, wenn man sich von der diskursiven auf
die empirische Ebene begibt und die soziologische Zusammensetzung
der Chávez-Anhänger und -Gegner genauer betrachtet. Seine Anhängerschaft (Mitglieder und Sympathisanten der Parteien des Patriotischen Pols) weist keine markanten soziodemografischen Unterschiede
auf gegenüber seinen Gegnern (Mitglieder und Sympathisanten der
Oppositionsparteien) oder den Unabhängigen: Die Korrelationen für
Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Einkommen oder Schichtzugehörigkeit sind statistisch nicht signifikant. Demgegenüber sind die Unterschiede hinsichtlich der politischen Kultur der Gruppen gewichtig:
Chávez-Anhänger sind empfänglicher für Autoritarismus, staatszentrierter und weniger sozialismusfeindlich als seine Gegner oder die
Neutralen, bei ausnahmslos hoch signifikanten Korrelationen. Außerdem stellen sie das Gros der Begünstigten der assistenzialistischen
Missionen; ihre Beziehung zu Chávez und seiner Regierung dürfte
mithin auch klientelare Elemente enthalten.
Angesichts solcher Autoritarismusnähe ist es nicht verwunderlich,
dass es unter den Chávez-Anhängern auch gewaltbereite, faschistoide
Unterströmungen gibt, die von Staat, Regierung und Partei – die man
als weitgehend deckungsgleich betrachten kann – zumindest geduldet,
Hugo Rafael Chávez Frías
563
wenn nicht gar gefördert werden. Dazu gehören die sogenannten
“Kollektive”, d.h. Schlägertrupps, die sich in einigen Wohngebieten
von Caracas und anderenorts zu parapolizeilichen Schutztruppen im
Vigilante-Stil aufgeschwungen haben. Auf ihr Konto gehen zahlreiche
Gewaltaktionen zur Einschüchterung oppositioneller Persönlichkeiten,
Medien und Organisationen, zu denen sich ihre Anführer in öffentlichen Interviews ausdrücklich und nicht ohne Stolz bekannt haben.
Eine Strafverfolgung wegen solcher Übergriffe hat es nicht gegeben.
Das laissez-faire der Staatsorgane hinsichtlich ihres Aktivwerdens im
Sinne der Rechtsordnung hat Venezuela zu einem der Länder mit den
höchsten Tötungsraten abgleiten lassen; selbst Kolumbien und der
Irak wurden überholt.
5. Wirkung – der Narziss aus Sabaneta
Hugo Chávez ist ein begnadeter Kommunikator und Kommunikation
– allerdings als Einbahnstrasse verstanden – ist der Schwerpunkt seiner Tätigkeit als Staats- und Regierungschef. Regieren findet für
Chávez nicht am Kabinettstisch statt, sondern vor Mikrofon und Kamera, mit dem Kabinett als Staffage. So erläutert er dem Volk in einer
leicht verständlichen Bildersprache, was sich gerade auf den welt-,
regional- und landespolitischen Bühnen abspielt und was er in diesem
Kontext getan hat oder zu tun gedenkt. Handverlesene Bürger werden
auf das jeweilige Podium geleitet, damit sie dem Führer Petitionsschriften übergeben oder für empfangene Wohltaten danken können.
Coram publico erteilt er Verfassungsorganen, Ministern, Gouverneuren und sonstigen Anordnungsempfängern detaillierte Aufträge, ermahnt sie, ihm zu Ohren gekommene Schwachstellen in ihrem Bereich zu beseitigen oder entlässt sie bzw. benennt schon Nachfolger,
wenn die Vorgänger noch im Amt sind. Allein aus diesem Grund ist
es für Amtsinhaber, Journalisten und Postenanwärter unumgänglich,
die Sendungen von Anfang bis Ende zu verfolgen.
Medienbeobachter wie Nielsen haben gemessen, dass Chávez von
seiner Regierungsübernahme im Februar 1999 bis Ende 2008 etwa
330 sonntägliche “Aló presidente”-Sendungen von durchschnittlich
fünf Stunden Dauer und 2.000 sogenannte “cadenas” – Gleichschaltungen aller Radio- und Fernsehsender – mit einer Durchschnittsdauer
von mehr als einer halben Stunde – die längste dauerte mehr als acht
564
Friedrich Welsch
Stunden – absolviert hat. In Arbeitstagen zu acht Stunden und mit den
entsprechenden Feiertagen und Ferien gemessen hat er damit in knapp
zehn Jahren über anderthalb Arbeitsjahre an Mikrofonen verbracht.
Dieser Regierungsstil ist zeitaufwendig, ineffizient und hinsichtlich der tatsächlichen Ergebnisse kaum bewert- oder messbar, kommt
aber bei den Menschen gut an. Vor allem in den benachteiligten
Schichten haben viele das Gefühl, dass Chávez sie ernst nimmt, ein
Ohr für sie hat, sie fühlen sich auf der politischen Bühne präsent und
geben schon allein deshalb Chávez langfristig Kredit: Selbst wenn
ihre Probleme nach wie vor dieselben sind und sich strukturell nichts
verändert hat, an Nichtbeachtung liegt es nicht. Chávez ist ja nachweislich mit Petitionen erreichbar und wie beim Lotto darf man die
Hoffnung nicht verlieren und muss unbedingt weiter mitspielen; es
braucht halt Zeit und Chávez wird es richten.
Der von Chávez praktizierte Regierungsstil ist einer Revolution
angemessen, jedoch definitiv nicht ergebnisgeleitetem und -verpflichtetem Regierungshandeln. Insofern ist der Weg das Ziel: Die Revolution rechtfertigt sich allein um ihrer selbst willen, denn sie spricht
diejenigen an, die sich vorher an den Rand gedrängt fühlten. Sie befinden sich zwar objektiv nach wie vor am Rand, aber subjektiv stehen
sie im Rampenlicht.
In einer solchen Situation kann eine Opposition, die auf Schwachstellen, Fehler und mangelnde Leistungen der Regierung hinweist, nur
Verrat im Schilde führen. Chávez ist seine eigene Opposition und
Kontrollinstanz, öffentlich und vor aller Augen, wenn er in seinen
sonntäglichen Führungsevents Macht nicht nur demonstriert, sondern
unvermittelt erlebbar werden lässt. Somit ersetzt der Diskurs die
Wirklichkeit, denn in den von Chávez vorgetragenen oder angekündigten Maßnahmen ist das Ergebnis bereits vorweggenommen. Die
Gegenwart wird ausgeblendet, für sie ist zwischen der mythenbeladenen Chavez’schen Geschichtsbetrachtung und fälschenden -klitterung
einerseits und der stets beschworenen strahlenden Zukunft andererseits kein Platz, wie er selbst andeutet (Díaz Rangel 2006: 18): “[...]
wir müssen versuchen, uns die Janus-Vision zu eigen zu machen, jener Vision des mythologischen Gottes Janus, der ein Gesicht der Vergangenheit und eines der Zukunft zugewandt hatte.”
In seiner einbahnstraßigen Kommunikation mit den Bürgern benutzt Chávez eine aggressive, militärisch geprägte und gewaltorien-
Hugo Rafael Chávez Frías
565
tierte Sprache. Auseinandersetzungen mit der Opposition oder mit
Dissidenten sind Gefechte und Kriege, Gegner müssen nicht überzeugt, sondern vernichtet werden, weil sie Vaterlandsverräter sind und
im Land nichts verloren haben. Gelegentlich versteigt er sich zu Äußerungen, die in manchen Ländern strafrechtliche Konsequenzen zeitigen könnten, z.B. wenn er die bekannten antisemitischen Klischees
wiederholt, die Juden seien die Mörder Christi, die sich aller Reichtümer bemächtigt hätten.
Das alles trägt dazu bei, die politische Berechenbarkeit der Regierung Chávez zu erschweren. Ein Augenblickseinfall während eines
Aló-presidente-Events kann langfristige politische Folgen zeitigen,
z.B. weil es ihm in den Sinn kommt, ein Unternehmen, Gebäude oder
sonstige Einrichtungen für das Volk zu requirieren, deren Enteignung
er dann umgehend anordnet. In diese Kategorie politischer Entscheidungen gehört auch die Ausweisung des israelischen Botschafters, die
neben vielen anderen vor allem den Außenminister überraschte.
In der Summe deuten diese Elemente auf eine narzisstische Persönlichkeit, bei der mehrere Kriterien des DSM-IV-Standards dieser
psychopathologischen Störung als gegeben betrachtet werden können:
grandioses Gefühl der eigenen Bedeutung, das sich in sehr häufigen
Eigennennungen ausdrückt (schon bei seiner Antrittsrede 1999 nannte
er sich elf Mal selbst beim Namen), Glaube an seine Einzigartigkeit
(nur Chávez kann diesem Land und dem ganzen Kontinent eine Zukunft sichern), Verlangen nach Bewunderung (inszenierte Bäder in
der Menge), schonungslose Nutzung und Instrumentalisierung anderer
(viele Freunde haben sich deshalb von ihm losgesagt) oder arrogante
Verhaltensweisen gegenüber Andersdenkenden.
Mit seinen Stärken und vor allem auch mit seinen – gelegentlich
eingestandenen – Schwächen hat sich Hugo Chávez aber bereits jetzt
einen Platz in den vorderen Rängen der venezolanischen Historiografie erworben, sei es als Held oder Schurke. Er hat sich darüber hinaus
eher zu den Herzen als den Köpfen seiner Landsleute Zugang verschafft. Sollte er sich je gezwungen sehen, zwischen den Herzen seiner Mitbürger und seiner Machtfülle entscheiden zu müssen, so
braucht man nicht lange zu raten, wie diese Entscheidung ausfallen
würde. Wer Politik als Krieg versteht, verhandelt nicht und paktiert
nicht, sondern siegt oder geht unter, ungeachtet der Kollateralschäden.
Kein Platz für Freiheit des Denkens.
566
Friedrich Welsch
Literaturverzeichnis
Blanco Muñóz, Agustín (1998): Habla el comandante. Caracas.
Díaz Rangel, Eleazar (2006): Todo Chávez. De Sabaneta al socialismo del siglo XXI.
Caracas.
Kommentierte Bibliografie
Internet
Über Hugo Chávez gibt es im Internet mehr Eintragungen als über jeden
anderen Staatschef Lateinamerikas oder auch Bundeskanzlerin Merkel; seine
nordamerikanischen Lieblingsgegner Bush und Obama übertreffen ihn allerdings haushoch. Seine sonntäglichen Marathonprogramme in Radio und
Fernsehen, in denen er politische Entscheidungen nicht nur bekannt gibt oder
erläutert, sondern allzu häufig auch ad-hoc trifft, kann man unter <http://
www.alopresidente.gob.ve> verfolgen und unter <www.presidencia.gob.ve>
finden sich aktuelle Nachrichten ebenso wie Dokumente. Ein internationales
Chávez-Portal ist <http://www.aporrea.org> (14.04.2009).
Biografien
Die am gründlichsten recherchierte Chávez-Biografie ist ohne Zweifel Chávez sin uniforme (Caracas, 2004) des Journalistenehepaars Alberto Barrera/Cristina Marcano mit Übersetzungen ins Englische, Portugiesische und
Italienische. Ein vorzüglich dokumentiertes Werk, das das Phänomen Chávez
und die nach ihm benannte politische Bewegung verstehen hilft. Alberto
Garrido setzt sich in seiner “Antibiografie” kritisch mit Detailaspekten dieser
Biografie auseinander: Chávez con uniforme (Mérida, 2007).
Zur Heldenverehrung neigen Richard Gott: In the Shadow of the Liberator. Hugo Chávez and the Transformation of Venezuela (London/New York,
2000) und Bart Jones: ¡Hugo! The Hugo Chávez Story. From Mud Hut to
Perpetual Revolution (Hanover, N.H., 2007). Gott verknüpft in einer der
frühesten Chávez-Biografien in journalistischer Manier den Werdegang des
Protagonisten mit der politischen Entwicklung des Landes. Jones schreibt mit
über 500 Seiten die bisher umfassendste Biografie. Wie Gott verwebt er den
Werdegang seines Protagonisten mit der politischen Entwicklung Venezuelas. Chávez-freundliche Quellen überwiegen eindeutig bei beiden Autoren.
Die von Christoph Twickel vorgelegte, ebenfalls umfangreiche Schrift
Hugo Chávez. Eine Biografie (Hamburg, 2006), ist eine gut lesbare Darstellung des Werdegangs von Hugo Chávez, den er wie seine Journalistenkollegen Gott und Jones mit vielen Details und auch einigen kritischen Anmerkungen politisch kontextualisiert. Abträglich sind allerdings einige ungenügend recherchierte und auch widersprüchliche Passagen sowie die mangelnde
Distanz zu seinem Sujet.
Hugo Rafael Chávez Frías
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Sehr kritisch ist Krauzes Auseinandersetzung mit der Figur von Hugo
Chávez: El poder y el delirio (Caracas, 2008). Der Autor schreibt eine in
lateinamerikanischen Kontext eingebettete Gegenwartsgeschichte Venezuelas, in deren Zentrum er die Person und Politik von Hugo Chávez stellt. Die
überwiegend aus dem Lager der Chávez-Gegner herangezogenen Quellen
lassen Krauzes Voreingenommenheit gegen sein Sujet durchscheinen.
Musterbeispiele für faktenferne Chávez-Verherrlichungen sind Rosa Miriam Elizalde und Luis Báez: Chávez Nuestro (Havanna, 2005): “Chávez ist
so außergewöhnlich, dass man ihm gegenüber nicht unvoreingenommen sein
kann” und Luis Enrique Yánez Rondón: Un soldado presidente (Caracas,
2007), vom Autor firmiert mit “Vaterland, Sozialismus oder Tod”, dem von
Chávez ausgegebenen Schlachtruf der Streitkräfte.
Gespräche mit Hugo Chávez
Agustín Blanco Muñoz: Habla el comandante (Caracas, 1998). 14 ausgedehnte Interviews nach der Niederschlagung des Verfahrens gegen Chávez
durch Präsident Caldera, zwischen März 1995 und Juni 1998 im Präsidentschaftswahlkampf, den Chávez gewann. Die Chávez-Saga aus der Sicht ihres
Protagonisten. Aus ihr erhellt sich, dass Chávez Demokratie vor allem als
Mittel zum Zweck der Revolution ansieht.
Eleazar Díaz Rangel: Todo Chávez. De Sabaneta al socialismo del siglo
XXI (Caracas, 2006) und Marta Harnecker: Understanding the Venezuelan
Revolution. Hugo Chávez Talks to Marta Harnecker (New York, 2005) sind
Beiträge zur Hagiolatrie.
Weggefährten sprechen über Hugo Chávez
Im Rahmen seiner Buchreihe Testimonios Violentos veröffentlichte Agustín
Blanco Muñóz seine eingehenden Gespräche mit den Chávez-Kameraden
und Mitanführern des gescheiterten Militärputschs vom Februar 1992 sowie
mit der Historikerin und ehemaligen Chávez-Gefährtin Herma Marksman:
Chávez me utilizó. Habla Herma Marksman (Caracas, 2004); El Comandante
irreductible. Habla Jesús Urdaneta Hernández (Caracas, 2003); La Maisantera de Chávez. Habla Luis Valderrama (Caracas, 2005).
Auch Chávez-Spezialist Alberto Garrido hat umfassende Interviews mit
Freunden und Mentoren seines Protagonisten veröffentlicht, darunter Mi
amigo Chávez. Conversaciones con Norberto Ceresole (Caracas, 2001). Der
rechtslastige argentinische Soziologe Ceresole, Holocaust-Leugner, übte mit
seinen Thesen zum Verhältnis zwischen Führer, Armee und Volk sowie einem “post-demokratischen Venezuela” in Caudillo, Ejército, Pueblo: la
Venezuela del Presidente Chávez (Caracas, 1999) einen gewissen Einfluss
auf Chávez aus. Garrido sprach ebenfalls mit der Chávez-Gefährtin Herma:
El otro Chávez. Testimonio de Herma Marksman (Mérida, 2002). In Testi-
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Friedrich Welsch
monios de la Revolución Bolivariana (Caracas, 2002) kommen die GuerillaFührer der sechziger Jahre Douglas Bravo, Gabriel Puerta Aponte und Francisco Prada ebenso zu Wort wie die militärischen und zivilen Mitverschwörer
William Izarra, Francisco Arias und Francsico Visconti sowie Nelson
Sánchez und Pablo Medina, der zeitweilige Chávez-Berater Norberto Ceresole, Gefährtin Herma Marksman und die kolumbianischen Guerilla-Sprecher
Simón Trinidad (FARC – Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia)
und Milton Hernández (ELN – Ejército de Liberación Nacional).
Niedergang des Punto-Fijo-Systems und Chávez’Aufstieg
Alberto Arvelo Ramos warnt in El dilema del Chavismo. Una incógnita en el
poder (Caracas, 1998) schon während des Präsidentschaftswahlkampfs 1998
vor autoritären Neigungen im Chávez-Umfeld. Manuel Caballero teilt in La
gestación de Hugo Chávez (Caracas, 2000) die demokratische Entwicklung
in Venezuela seit dem Sturz der Militärdiktatur im Jahr 1958 in Aufstieg (bis
1978) und Niedergang, der schließlich 1998 Chávez zur demokratischen
Legitimation verhilft. Carlos Raúl Hernández und Luis Emilio Rondón sehen
in La democracia traicionada. Grandeza y miseria del Pacto de Punto Fijo
1958-2003 (Caracas, 2005) demokratiemüde Gruppen der kulturellen und
wirtschaftlichen Elite als Wegbereiter des Chávez’schen Messianismus. In
dem von Jennifer McCoy und David Myers herausgegebenen Sammelband
Venezuela: del Pacto de Punto Fijo al Chavismo (Caracas, 2007) werden
Einzelaspekte und Themen der politischen Dynamik von 1958 bis zur Regierung Chávez untersucht, z.B. die Armut, das Militär, die Unternehmer, Zivilgesellschaft, Intellektuellen, Beziehungen zu den USA, das Parteiensystem,
die Dezentralisierung, Wirtschaftentwicklung, öffentliche Meinung und
der Systemwandel von einer repräsentativen zur partizipativen Demokratie.
Ebenso akribisch geht auch Eduardo Morales Gil vor in Auge y caída de la
democracia antes de Hugo Chávez (Caracas, 2001). Mit dem gescheiterten
Staatsstreich von 1992 befassen sich der damalige Verteidigungsminister
Fernando Ochoa Antich in Así se rindió Chávez (Caracas, 2007), der christdemokratische Parlamentarier Gustavo Tarre Briceño in El 4F. El espejo roto
(Caracas, 2007) und mit zahlreichen Dokumenten untermauert die Journalistin Angela Zago: La rebelión de los ángeles (Caracas, 1992).
Die Regierung Chávez
Die Entwicklung Venezuelas seit der Übernahme der Regierung durch Hugo
Chávez wird, ebenso wie dessen Person, sehr kontrovers diskutiert. Die
Spanne reicht von sehr kritischen bis wohlwollenden, aber gut dokumentierten und recherchierten Studien hin zu propagandistischen Schriften. Die Systemtransformation zwischen der Wahl Chávez’ bis zur Legitimation der
Staatsorgane unter der neuen Verfassung analysieren Carrasquero et al.: Ve-
Hugo Rafael Chávez Frías
569
nezuela en transición: elecciones y democracia 1998-2000 (Caracas, 2001).
Der Sammelband von Oliver Diehl und Wolfgang Muno: Venezuela unter
Chávez – Aufbruch oder Niedergang? (Frankfurt, 2005) vermittelt Einblicke
in die Zusammenhänge zwischen Demokratie und Erdöl, die Außenpolitik
der Regierung Chávez, die Dynamik der sozialen Lage und die Gewalt in der
Gesellschaft. Mehrere Aufsatzsammlungen von Alberto Garrido tragen zum
Verständnis der Strategie und Taktik der Regierung Chávez nach innen und
außen bei: Las guerras de Chávez (Caracas, 2006); Revolución Bolivariana
2005 (Mérida, 2005); Notas sobre la Revolución Bolivariana (Mérida, 2003).
José Luis Farías: La muerte en tiempos de Chávez (Caracas, 2006) dokumentiert die sprunghafte Zunahme der Gewalt unter Chávez. Die Sammelbände
von Mary Ferrero: Chávez y el movimiento sindical und Chávez, la sociedad
civil y el estamento militar (beide Caracas, 2002) sowie Marinellys Tremamunno: Chávez y los medios de comunicación social (Caracas, 2002) beleuchten das Verhältnis der Regierung zu den Gewerkschaften, der Zivilgesellschaft, dem Militär und den Medien. Gregory Wilpert schließlich legt
mit Changing Venezuela by Taking Power (London/New York, 2007) eine
informationsreiche, wohlwollende Analyse der Wirtschafts-, Sozial- und
Außenpolitik vor, die sich trotz mancher Schwächen und weitgehender Beschränkung auf regierungsamtliche und -nahe Quellen auch um ausgewogene
Einschätzungen bemüht.
Die enge Beziehung zwischen Castro und Chávez als Staatspräsident
kann man in der von David Deutschmann und Javier Salado herausgegebenen
Sammlung von Fidel-Reden, -Briefen und -Dialogen mit seinem jüngeren
Kollegen in Venezuela und Chávez (Bogotá, 2006) näher betrachten.
Vor allem wegen ihrer einseitigen Quellenauswahl zählen die folgenden
Publikationen aus meiner Sicht zur Kategorie der Tendenz- und Propagandaschriften: Dario Azzellini: Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts? (Köln, 2007); Eva Golinger: Bush vs. Chávez. La guerra de Washington contra Venezuela (Caracas, 2006); Ernst Fürntratt-Kloep: Venezuela.
Der Weg einer Revolution (Köln, 2006); Nikolas Kozloff: Hugo Chávez. Oil,
Politics, and the Challenge to the U.S. (New York, 2007); und der von Sahra
Wagenknecht herausgegebene Sammelband Aló Presidente. Hugo Chávez
und Venezuelas Zukunft.
Redensammlungen von Hugo Chávez
Hugo Chávez: El golpe fascista contra Venezuela (Havanna, 2003); Reden
während des Streiks der Erdölindustrie 2002-2003; Sergio Rinaldo (Hrsg.):
La unidad latinoamericana. Hugo Chávez (Bogotá, 2006); Chávez-Reden zur
lateinamerikanischen Integration 1999-2006.
Alle Titel von Alberto Garrido sind digital verfügbar und können
heruntergeladen werden von den Seiten <http://www.wbc.e4gs.com/wbc5/
570
Friedrich Welsch
sección.asp?pid=78&sid=4173> bzw. 4251. In <http://www.analitica.com/
bitbiblioteca/ceresole/caudillo.asp> (14.04.2009) ist die zitierte Schrift Ceresoles verfügbar.