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Kai Grehn.docx Mögen Sie Emily Dickinson

2021, Do you like Emily Dickinson?

Perfectly composed ( radio)play based on poetry and letters of Emily Dickinson. This well know poetess in the USA lacks acknowledgement in Germany and other European countries. This makes "Do you like Emily Dickinson" an interesting discovery for many listeners in G.

Kai Grehn: „Mögen Sie Emily Dickinson?“ Wenn man um das Jahr 1860 herum in Amherst, einer kleinen, aber renommierten Universitätsstadt im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts, unter den Honoratioren der Bürgerschaft jemanden in Gehrock und Zylinder gefragt hätte: „Mögen Sie Emily Dickinson?“ wäre die Antwort vermutlich ein verlegenes Lächeln und ein Hochziehen der Augenbrauen gewesen. Denn Emily Dickinson, die Tochter aus angesehenem Juristenhaushalt, kannte fast niemand. Sie verzog sich ins Haus, mied Partys, auf der geeignete Ehepartner für die Sprösslinge gefunden werden sollte und tat etwas, was man jungen Damen nur – wenn überhaupt – in der Abgeschiedenheit des eigenen Kämmerchens zubilligte: sie schrieb Gedichte. Sieben wurden zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. 1.789 waren es jedoch, die ihre jüngere Schwester Lavinia nach Emilys Tod im Jahre 1886 zusammentrug und einen Verlag für sie fand. Inzwischen war die Zeit reif für die Vielfalt ihrer Themen. Liebe und Tod – seit jeher die Fixsterne der Poesie - für die metaphysische Obdachlosigkeit, die Unsterblichkeit. Die Suche nach den letzten Dingen, Eschatologie. Doch nicht nur das: auch die Schönheit des Augenblicks, ein schnell vorüberziehender Traum und immer wieder die Suche nach einer verwandten Seele klingt auf den in Versen, die sich dem Kanon der damals üblichen poetischen Standards entzogen. In einem ihrer Briefe an einen ungenannten Empfänger schreibt sie: „und wenn die gesamten Vereinigten Staaten über mich lachen! Mich hielte das nicht auf! Meine Sache ist’s zu lieben. Ich entdeckte einen Vogel, heute Morgen, weit – weit – unten in einem kleinen Strauch am Fuß des Gartens“ und dieser liebenswürdig belanglosen Feststellung folgt eine Frage, aus der sich die ganze Tragik dieser Dichterin ablesen lässt. „Und wozu singen? fragte ich, wenn niemand hört?“ Kai Grehn, der sich in vielen bemerkenswerten Produktionen einen Namen als Regisseur gemacht hat, hat sich auch als Übersetzer hervorgetan. In deutscher Sprache lag zwar seit 2008 der erste Band mit einer Auswahl aus Dickinsons Lyrik vor, als Bearbeiter der Briefe und Gedichte entschied Grehn sich jedoch für eine eigene Version, wobei er für die Übertragung der literarischen Briefe aus die Mitarbeit von Uda Strätling zurückgriff. Und war gut beraten dabei. Der Wortklang bei Grehn/Strätling ist im besten Sinne modern. Keine Altertümeleien stören das helle Kolorit, von dem sich die dunklen Töne gelegentlich sogar verführerisch abheben. Natur- und vor allem Tiergeräusche von Nachtigall und Kauz, Hunden und entfernten Amphibien werden in der Komposition von CocoRosie im wahrsten Sinne zusammengefügt. Mit ihr verdichtet sich die dunkle Stimmung der Nacht und des Gefühls einer ahasverischen Seele. An Mondnächten, so heißt es in Aussagen der Bürger von Amherst, habe man sie im weißem Gewand durch ihren Garten wandeln gesehen. In einem ihrer poetischen Selbstbekenntnisse ist tatsächlich auch von der „White Lady“ die Rede, wie die Zeitgenossen die gespenstische Erscheinung nannten. Ein ganz eigener Klang musste für die Radioproduktion von Radio Bremen gefunden werden, der dabei vom Deutschlandfunk als Koproduzent unterstützt wurde. Eine unerwartete, aber höchst künstlerisch und stilvolle Entscheidung traf Grehn, in dem er sich für das junge amerikanische Schwesternduo CocoRosie entschied. Beide Schwestern, Bianca („Coco“, geboren 1982 auf Hawaii) und Sierra Casady („Rosie“, geboren 1980 in Iowa) beherrschen eine Vielzahl von Instrumenten und finden auch vor allem durch Rosies sängerische Begabung und Eigenwilligkeit zu einer anspruchsvollen Klangsprache; bestrickende Melismen lassen ein verführerisches Aroma entstehen. Mag sein, dass das androgyne Timbre der Sängerin und gleichzeitig in der Tonfarbe eines fast erwachsenen Kindes nicht jedermanns Sache ist - aber der „flow“ wird für heutige, junge HörerInnen nahe und attraktiv wirken. Birgit Minichmayr zaubert mit ihrer wandlungsfähigen Stimme die Gefühlswelt einer von den Zeitgenossen unverstandenen und beiseite geschobenen Frau hervor, die in ihrer Dichtung und den brieflich festgehaltenen Erkenntnissen ihrer Zeit weit voraus war. Christopher Nell unterstreicht mit Gesang und Singstimme die Einzigartigkeit dieser Künstlerin. Dieser individuelle und von eindringlichem Kunstwillen geprägte Gestaltungswille sowohl der Autoren als auch des Hörspiels verführt zu einer intensivierten Wahrnehmung der poetischen Welt dieser Dichterin. Viele Produktionen haben im Laufe der Jahrzehnte mit der Frage gerungen, wie Poesie – zumal gereimt - in einem Prosatext hörbar gemacht werden kann. Viele Wege und Möglichkeiten sind gefunden worden, bessere und schlechtere; aber stets aufs Neue wurden Regisseure und auch Dramaturgen von solchen nicht immer leicht zugänglichen Stoffen angezogen. Angela di Ciriaco-Sussdorff Aug. 2021