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Sounds perfect Wahhhh, I don’t wanna

In der simplen Prämisse von “Leave the World Behind” steckt durchaus das Potenzial für ein suspenselastiges Kammerspiel um isolierte Fremde oder einen überhöhten Weltuntergangs-Thriller. Stattdessen wandelt der Film bei seinem Versuch, beides zu sein, bloß lustlos auf ausgetretenen Pfaden und kann auch von einer heiligen Trias aus Ali, Hawke und Roberts nicht gerettet werden. Formal fallen Regisseur Esmail zwar gelegentlich einige aufmerksamkeitsheischende Kamerafahrten und Kompositionen ein, allerdings stehen diese eher neben dem Material, als es zu unterstützen. So wird anfangs etwa effektiv eine Bedrohung im Ferienhaus selbst suggeriert, die inhaltlich jedoch nie zur Entfaltung kommt. Jedes Mysterium mündet in erstaunlich geradlinigen zweieinhalb Stunden in seine naheliegendste Auflösung und muss ständig wiederholt werden. Da helfen leider auch zahlreiche Parallelmontagen nur wenig, zumal, wenn fast immer mindestens eine der ineinander geschnittenen Szenen entweder langweilt oder bis ins Komische verzerrt wird, während der Soundtrack generisch-unheilvoll dröhnt.

Wenn er nicht gerade mit dem mühsamen Aufbau uneingelöster Spannung beschäftigt ist, unterstreicht der Film trotz interessanter Ansätze - etwa des wiederholten Motivs überforderter Erwachsener, die bei der Sorge um ihre Kinder versagen - verlässlich seine abgedroschensten Aspekte. So werden etwa Plattitüden über unsere Abhängigkeit von moderner Technik formuliert, die so auch aus einem Richard David Precht-Interview stammen könnten. Lediglich in einer Szene mit zu Geschützen mutierten, ferngesteuerten Teslas gelingt hierzu ein originelles Bild, das allerdings eher wegen seiner absurden Komik besticht, derer sich Esmail wenig bewusst zu sein scheint. Nie entfaltet der Film die nervenzerfetzende Wirkung seiner zahlreichen Vorgänger und versucht seinen Zuschauer*innen zudem abermals zu zeigen, dass die Menschen in Krisensituationen misstrauisch und gespalten sind (Rassismus! Paranoia! Individualismus!), sich aber manchmal auch zusammenraufen können. Anthropologie aus der misanthropischen Mottenkiste - “Aha!”, schreien jene, die es ja schon immer gewusst haben. Dann doch lieber nochmal “Night of the Living Dead”, der viele Jahre zuvor politisch schon so viel bissiger war. Erst mit dem allerletzten Bild weist “Leave the World Behind” in Richtung einer thematischen Resonanz, die ein anderer, wesentlich kompakterer Film hätte ausloten können. Selbst ein Seitenhieb auf Netflix darf nicht fehlen, der jedoch nicht verschleiern kann, dass der Film selbst in der Streaming-Suppe verkocht.

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EO (2022)

Ganz ohne Anthropomorphismen geht’s nicht. Fremdverstehen als Horizontverschmelzung hat ihre Grenze an unserer Imagination, Einfühlung bleibt gekettet an die Einfühlenden als Ausgangspunkt. Wenn ein Film uns also tierische Erfahrungswelten vermitteln will, wird er uns entgegenkommen müssen, und wo er das nicht tut, leistet das Publikum den Anthropomorphismus durch Projektion eben selbst. Nichtsdestotrotz schießt Skolimowskis EO (der Film) nicht selten übers Ziel hinaus: EO (der Esel) muss weinen, wenn er seiner Besitzerin entrissen wird, er träumt von der Freiheit, die er in galoppierenden Pferden erblickt, und er blökt erbost, wenn er Fische in Aquarien gefangen sieht. Es reicht Skolimowskis tierethischem Plädoyer nicht aus, dass ein leidendes Tier unsere Empathie ohnehin stets herausfordert, EO muss zugleich nachvollziehbarer Protagonist seiner eigenen kleinen Passionsgeschichte sein.

Klug ist demgegenüber die Entscheidung, den Film episodisch anzulegen, aber auf den narrativen Kitt zwischen den einzelnen Episoden zu verzichten: Wieder und wieder landen wir mit EO in Situationen, ohne das Wie und Warum zu kennen, und nähern uns so vielleicht tatsächlich der Unverständlichkeit menschlichen Treibens für das Eselchen an - und so auch der Ungerechtigkeit dessen, was ihm widerfährt. Denn von was in diesen Miniaturen ab einem gewissen Punkt mit zunehmender Verlässlichkeit erzählt wird, sind stets menschliches Versagen, Grausamkeiten und Barbarei. Das Zivilisationsbild, das Skolimowski zeichnet, könnte in seinem Pessimismus plumper nicht sein, und dafür ist dann auch jede konstruierte narrative Wendung recht. Hier ebenso wie beim Soundtrack wird auf den rhetorischen Vorschlaghammer gesetzt, wo etwa Bressons Zum Beispiel Balthasar, der für EO offensichtlich Pate stand, durch seine karge Stilisierung umso stärker und erhabener wirkte.

Am meisten überzeugt EO (der Film) folgerichtig dann, wenn weder Menschen zu sehen sind, noch gesprochen wird. Der gelegentlich freischwebenden Kamera, die Terrence Malicks Werkzeugkiste entsprungen sein könnte, ist ein ästhetischer Wert ebenso wenig abzusprechen, wie den in aggressives Rot getauchten, formal noch experimentelleren Sequenzen. Sehenswert ist der Film daher schließlich doch, schon allein für eine dieser Szenen, die gerade nicht die Perspektive des Esels ins Zentrum stellt, sondern eines vierbeinigen Roboters. Die Äquivalenz, die sich hier andeutet, hätte vielleicht zu einem interessanteren Film führen können. Letztlich ist aber auch gegen den einfachen, auch manipulativen, dafür formal innovativen Film, der EO geworden ist, nicht allzu viel einzuwenden. Wer will diesen Eselsaugen schon böse sein.

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Election (2005)

Demokratie als Schein und als Mythos, den sich eine Gemeinschaft über sich selbst erzählt, die eigentlich vom Egoismus weniger “großer Männer” gelenkt wird. Hinter verschlossenen Türen regiert bereits die Barbarei, aber wehe dem, der altehrwürdige Traditionen auch öffentlich mit Füßen tritt. Alles Ständische und Stehende verdampft: Wo sich solche Gemeinschaften vielleicht früher mal durch gemeinsame Ziele und Ideale definiert haben mögen, gibt es nun höchstens noch befristete Bündnisse zwecks Profitmaximierung - die ökonomische annektiert schließlich auch die politische Sphäre.

Tos ist nicht der erste Mafiafilm mit der Einsicht, dass es keine Ganovenehre gibt, wie er dies und mehr jedoch herausarbeitet, ohne je den Genrerahmen eines suspensevollen Gangsterthrillers verlassen zu müssen, ist eine Klasse für sich (und gleicht hinsichtlich dieser Kombination aus Satire und formaler Geschliffenheit seinem Breaking News aus dem vorherigen Jahr). Im Grunde ist Election ein Actionfilm, nur, dass die Action hier in eine dynamische Reihe von Transaktionen, Verhandlungen und Erpressungen aufgelöst wird, während die physische Gewalt meist stumpf und nicht gerade cool daherkommt.

Der Blick der Zuschauer*innen ist dabei stets ein Stück distanziert, kaum eine der immerhin zahlreichen Figuren wird zu so etwas wie einem Charakter entfaltet. Stattdessen bleiben sie gänzlich auf ihr Handeln und ihre Funktion in einem verworrenen Machtgeflecht reduziert, perfekte ökonomische Subjekte, angetrieben von einem diffusen Eigeninteresse und sonst wenig. Da kann es schon mal passieren, dass derjenige, den man gerade noch leidenschaftslos verprügelt hat, im nächsten Augenblick zum Verbündeten wird, weil die Obrigkeit neue Allianzen geschmiedet hat. In diesem Umgang mit seinen Figuren und in seiner Erzählweise überhaupt ist der Film letztlich von derselben gnadenlos effizienten Logik angetrieben wie die Welt, von der erzählt, ist wirtschaftliches Modellkino.

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Rouge (1987)

Zu Anfang Bilder wie bei Sirk, wie bei Fassbinder, cineastischer Exzess als Form der überhöhten Emotionen von Melodrama: bunte Fenster tauchen die Räume in ihr farbiges Licht, überall Kleider und Tapeten mit intrikaten Mustern, dazwischen schweift die Kamera ruhelos umher oder sucht im Gegenteil streng komponierte Anordnungen, und immer wieder findet sie Spiegel, die diese nochmal verdoppeln. Dann der harte Sprung in die Gegenwart, die Farben entweichen. Das Gesehene entpuppt sich als Erinnerung einer Geisterfrau, die auf der Suche nach ihrem Geliebten ein modernes Pärchen heimsucht. Ihr Zuhörer stellt fest, wie sehr ihre leidenschaftliche Geschichte ihn an kantonesische Filme erinnere: Nostalgie und Kino (und früher die chinesische Oper), verwandt in den Sehnsüchten, um die sie kreisen, Gefühle, die die Zeit überdauern, Verbundenheit bis in den Tod.

Soziologie der Liebe: Leicht enttäuscht stellen die modernen Liebenden fest, dass sie heute nicht mehr füreinander sterben würden. Das Leben ist zu kostbar geworden. In der Vergangenheit zerschellen derweil die Anderen an den gesellschaftlichen Konventionen und sehen nur Suizid als Ausweg. Der Abbau von Hierarchien und Ritualen, er scheint mit verringerter Intensität der Gefühle bezahlt zu werden. Melodrama – ein Genre für andere Zeiten? So einfach macht es sich der Film nicht, er wollte eigentlich gar nicht so dringend sterben (er hatte die Mittel für ein anderes Leben) und sie hat ihm eigentlich gar nicht so sehr vertraut. Und die Gegenwart ist so schrankenlos dann auch wieder nicht - es ist immer noch nicht leicht, eine Frau zu sein. Ohnehin, wie an der Stadt Hong Kong, deren radikaler Wandel hier wie beiläufig nachvollzogen wird, sind auch an der Liebe die Umstände der Zeit letztlich nicht spurlos vorbeigegangen, die Wirklichkeit löst romantische Ideale eben nur selten ein. Ein Wiedersehen gibt es, aber es fällt anders aus als gedacht, und kann auch nur, wo sonst, am Filmset stattfinden.

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Nomad (1982)

Mit seinem Interesse an Jugendkultur, einem Klima sexueller Befreiung und der Ablehnung einer einengenden Gesellschaft trägt Nomad, ein früher Vertreter der Hong Kong New Wave, viele der typischen Zeichen filmischer Erneuerungsbewegungen. Die Erzählstruktur des Films selbst ist anfangs nomadisch: ruhelos und diskontinuierlich spielt er sich ab als eine lose Folge urbaner Begegnungen, romantischer Gesten und sommerlicher Eskapaden. Durch den Verzicht auf ein narratives Telos lässt er sich ganz von der unerschöpflichen Lust seiner vier Hauptfiguren leiten, schwankt mit ihnen von einem emotionalen Extrem ins andere, und durch ihre Augen (und Tams Kamera) sieht die Welt für einige Zeit wunderschön aus.

Die Kultur von Hong Kongs Jugend ist, gleich ihrer Träume von der Flucht ins Ausland, dezidiert global; Bowie und Beethoven werden ebenso begierig aufgenommen wie Kabuki und japanische Drogen. So schickt etwa Pong, um ungestört mit seiner Freundin schlafen zu können, Mutter und Schwester für einen englischsprachigen Film ins Kino, den diese nicht mal verstehen können. Die erhoffte Zweisamkeit findet jedoch ihr jähes Ende, als plötzlich sein Großvater mit einem Dutzend Männer die Wohnung betritt, um Mahjong zu spielen. Was sich hier als Komödie abspielt, wiederholt sich in der zweiten Hälfte des Films als Tragödie. Der Versuch, sich einen utopischen Rückzugsort fernab der Zivilisation aufzubauen, erweist sich als Trugschluss; ein Satz wie „Wir sind die Gesellschaft“ ist in einer globalisierten Welt ohne Außen nichts weiter als jugendliche Naivität. Die Mühlen der Geschichte holen jeden ein und zermalmen verlässlich, wer ihnen entgehen will.

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Memoria (2021)

Film als lebendiges Bewusstsein, in dem Träume, Natur, Geschichte und Jenseitiges Teil derselben Realität werden. Weerasethakul variiert seinen Cemetery of Splendour, betont aber vielleicht noch stärker als dort die metaphysischen Aspekte seines Kinos, das in seinen langsamen Atemzügen Unaussprechliches erahnen lässt. Über seinen schwülen Naturbildern und zwielichtigen urbanen Schauplätzen scheint stets schon eine Geisterwelt zu schimmern - oder sind es doch nur Radiofrequenzen? Wieder und wieder insistiert er so lange auf seinen ahnungsvollen Einstellungen, bis sie mehr zu zeigen scheinen, als man sieht. Wer sich auf diesen gemächlichen Rhythmus, das beständige Vermischen des Profanen und des Fantastischen einlässt und bereit ist, seiner undurchdringlichen Logik zu folgen, bekommt vielleicht eine Ahnung von den beängstigenden wie anziehenden, allumfassenden Vernetzungen, die Weerasethakul weniger prätentiös behauptet, als dass er sie spürbar macht. In einem Meer aus Eindeutigkeit sind seine Filme befreiend enigmatische Inseln, die Zuschauer*innen aktivieren, ohne sie zu bedrängen.

Das Entscheidende Medium ist dabei, die Prämisse verrät es bereits, der Ton, als bloßes Geräusch ebenso wie als Musik. Unsichtbar, alles überdeckend einerseits, als Echo noch über Jahre vernehmbares, alles verbindendes Element andererseits. Aber eben auch ganz praktisch betrachtet: Wie er im Tonstudio entsteht, als Musik zum Ausdruck wird, uns verknüpft und berührt - oder uns anruft. Daher ist Memoria auch nicht einfach “nur” ein Film über das Schürfen nach tieferen Schichten der Erde, sondern auch über das Greifen nach dem nächsten Menschen, die Suche nach einer Berührung, in der wir beginnen, den Anderen zu verstehen. Und darüber, dass in dieser Berührung vielleicht der Schmerz der Geschichte, wie er sich in alles einschreibt, begriffen und geteilt werden kann.

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The French Dispatch (2021)

Unter den heute erfolgreichen Regisseur*innen dürfte Wes Anderson wohl derjenige sein, der am ehesten anhand seiner formalästhetischen Konstanten wiedererkannt wird. Wer dafür seine Filme guckt (und das wäre nicht der schlechteste Grund), wird von “The French Dispatch” abermals nicht enttäuscht werden: Der Film strotz erneut vor zentralperspektivischen, symmetrischen Kompositionen, zweidimensionalen Kamerafahrten und sorgsam arrangierten Details. Umso überraschender, dass Anderson über weite Strecken auf Farbe verzichtet, zählen doch seine monochromen Pastellbilder zu ebendieser Liste an Wiedererkennungsmerkmalen. Man wittert plumpe Nostalgie, gerade in einem Film, der sich eines so leicht romantisierten Sixties-Frankreichs als Schauplatz bedient. Interessant wird diese formale Entscheidung jedoch gerade dadurch, dass sie gebrochen wird: An entscheidenden Punkten ergießt sich plötzlich doch Farbe über das Bild und ist ebenso schnell wieder verschwunden. Es handelt sich um Bilder von Malerei, von Musik, von Poesie und schließlich um einen ganzen Cartoon. Gegenüber der Historizität des Stoffes, die neben der Schwarz-Weiß-Ästhetik dadurch verstärkt wird, dass wir hier Reportagen aus einem Magazin sehen, das schon gar nicht mehr existiert, betont “The French Dispatch” so die Zeitlosigkeit von Kunst, Genuss und Kreativität. Und das ist doch nun mal echte Romantisierung.

Ins Schwanken gerät der Film immer dann, wenn er darauf stößt, dass das Frankreich der Sechziger Jahre nicht nur eine Fundgrube für minutiös durchgetaktete Kurzgeschichten und aufwändige Sets ist, sondern auch eine politische Wirklichkeit hatte. Andersons visueller Stil, der alles der präzisen Bewegung und Komposition unterordnet, um die Welt in ein pastellfarbenes Puppenhaus umzuformen, ist entgegen seiner Kritiker*innen der Ernsthaftigkeit per se nicht unfähig - seine häufigen abrupten Ausbrüche an Sentimentalität zeugen auch hier wieder von einem Interesse an seinen Figuren, das über deren Reduktion auf eine Ansammlung von charmanten Spleens weit hinausschießt, allein für diese Momente wäre der Film schon sehenswert. Gesellschaftliche Zustände wiederum verkommen dabei zum bloßen Hintergrundrauschen von Figurendrama und pittoresker Ästhetik - da wird dann Polizeigewalt schon mal ohne weiter nachzufragen zur überzeichneten Pointe aufgeblasen. Insbesondere die 68er Studierendenrevolten fallen dieser Vereinnahmung zum Opfer. Wo etwa noch Godards “Die Chinesin” dem studentischen Tatendrang zwar mit einigem Sarkasmus und Bedauern, aber letztlich doch auf Augenhöhe begegnete, tauchen politische Forderungen bei Anderson gar nicht erst auf - es kann sich für ihn scheinbar nur um das Werk triebgesteuerter Kinder und ungeformter Poeten handeln. Jugendlicher Idealismus ja, aber nur noch als Vibe, bei dem es um nichts geht. Dass Anderson sich gerade für diese Charaktere sogar einmal dazu hinreißen lässt, zur destabilisierten Handkamera zu greifen, ist dann auch nicht als plötzlicher Einbruch der außerfilmischen Realität in die luftleere Anderson-Welt zu deuten, sondern als Zugeständnis wenigstens an die junge Liebe.

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Titane (2021)

Während “Raw” zwar durchaus transgressive Bilder und ein provokatives Thema beinhaltete, im Kern jedoch von einer grundsoliden Metapher zusammengehalten wurde, genehmigt sich Ducournaus “Titane” mehr Ambivalenzen und Überdeterminierungen, lässt sich schwieriger festlegen - und türmt zugleich bereits in der ersten halben Stunde mehr Perversion und Gewalt aufeinander, als es ihr Vorgänger über die ganze Laufzeit schaffte. Dabei scheint sie ihre heftigen Genreeffekte irgendwo an der Schnittstelle zwischen New French Extremity und David Cronenberg nie allzu ernst zu nehmen, sodass ihr ein schwieriger Spagat zwischen viszeralem Ekel und schwarzem Humor gelingt. Vor allem anderen ist “Titane” daher ein Film fürs Kino, fürs gemeinschaftliche Zusammenzucken und kathartische Auflachen.

Trotz dieser durchgängig verspielten Haltung gibt es da einen Umbruch im Erzählrhythmus des Films, der sich in ein durchaus sensibles, von Vincent Lindons verletzlich-neurotischer Schauspielleistung getragenes (Wahl-)Familiendrama verwandelt, welches in seinen Wendungen und psychologischen Tiefenflügen mindestens so normüberschreitend ist wie die blutigere erste Hälfte. Die Beziehung, die hier zwischen den Hauptfiguren entwickelt wird, schillert zwischen verschiedenen Arten der Liebe, väterlicher, romantischer und sexueller. In vergleichbarer Weise bedient “Titane” dabei den zentralen Topos jedes guten Body Horrors, wenn er die vermeintlich stabilen Grenzen des Körperlichen auflöst und den Körper so in seiner identitätsbildenden Funktion attackiert. Das gilt einerseits ganz unmittelbar angesichts der Häufigkeit des Eindringens von Objekten, die eher nicht zum Penetrieren verwendet werden sollten, in Öffnungen, die eher nicht penetriert werden sollten. Es gilt aber insbesondere für Alexia, die Unterscheidungen zwischen Männlichem und Weiblichem ebenso zunehmend unterläuft wie zwischen Mensch und Maschine, Organischem und Anorganischem. “Titane” steuert dabei auf ein eigenwillig zärtliches Gleichgewicht zu, das möglicherweise hinter solchen binären Zuschreibungen liegt und in dem es bedingungslose Akzeptanz gibt. Und das kann nur ein gleichermaßen ekliger und komischer, wie poetischer Prozess sein.

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Speed Racer (2008)

Gerne würde man über ein großes Werk wie “Speed Racer“ schreiben, es sei seiner Zeit voraus gewesen, aber dazu müsste man unterschlagen, wie unverbraucht und befremdlich es noch immer wirkt, wie es sich vielleicht noch mehr als zur Zeit seines Erscheinens den Blockbuster- und eigentlich sämtlichen Sehgewohnheiten widersetzt. Während die überwältigende Mehrheit der Filme bis heute versucht, ihre Herkunft aus dem Computer zu verschleiern, stellt “Speed Racer“ sie ostentativ aus und wird so zum Experimentierfeld der Möglichkeiten digitalen Filmemachens. Fauvistisch, wie hier mit leuchtenden Farben gespielt wird, unübersehbar der Verzicht auf “Realismus“ als obersten Maßstab visueller Effekte. Die Oberflächen der Objekte in “Speed Racer“ sind konsequent glänzend und glatt, ohne deshalb steril zu wirken oder an Taktilität einzubüßen, gerade weil sie eine einheitliche Welt bilden, die womöglich einem lebendigen Cartoon so nahe kommt wie es nur geht. Auch nutzen die Wachowskis die digitale Technik, um mit ihrer Kamera unmögliche Sprünge und Fahrten zu vollführen, verschiedene Aufnahmen übereinanderzuschichten und ineinander übergehen zu lassen. So erproben sie eine Filmsprache, die nicht mehr den physischen Begrenzungen des Apparats unterworfen sein will und erreichen, durchaus in expressionistischer Tradition, eine vollkommene ästhetische Überformung der filmischen Welt. Gerade bei der Montage, womöglich derjenige Aspekt von Film, der am ehesten den Namen seiner “Grammatik“ verdient, wird dies offensichtlich: Wann immer es geht, werden Schnitte versteckt, nicht um raumzeitliche Einheit zu suggerieren, sondern um einen stetigen Fluss gerade disparater Zeit- und Handlungsebenen zu erzeugen und mehrere Bilder in derselben Einstellung zu kombinieren. Das bleibt keine Spielerei, sondern erzeugt einen dynamisierten filmischen Raum mit einem eigenen narrativen Sog – das erste Rennen ist neben einer Einführung in den Stil des Films auch ein elegantes Meisterstück klassischer, emotional involvierender Exposition.

Diese formale Innovationskraft steht zunächst im Dienst eines ziemlich einfachen Plots, was “Speed Racer“ von jenen, die ihn zum Kultfilm stilisieren wollen, den Ruf krasser Bilder mit einer schwachen Story eingebracht hat. Und in der Tat sind weder Schauspiel noch Drehbuch hier sonderlich subtil, was wiederum der Orientierung am Animevorbild geschuldet sein mag. Das war der zeitgenössischen Kritik, größtenteils Unwillens, an einen Film Gedanken zu verschwenden, der primär an Kinder vermarktet wurde, genug, ihn (bestenfalls) mit Begriffen wie “bonbonbuntes Pop-Spektakel“ abzufertigen. Die Tatsache, dass der Film keine Scham hat, sein Melodrama mit ebenso breitem Pinsel zu malen wie seine Bilder, und dass er die überhöhten Emotionen und einfachen Psychologien von Figuren mit Namen wie Speed, Mom und Pops Racer ernst nimmt, statt sie ironisch-distanziert auszustellen, was wohl Grund genug, ihn selbst nicht mehr ernst zu nehmen.

Wer derart allergisch auf emotionale Aufrichtigkeit reagiert, verstellt sich allerdings nicht nur den Blick auf die innovative visuelle Erzählkunst von “Speed Racer“, sondern auch auf einen zutiefst metacinematischen Text. In den Händen der Wachowskis wandelt sich die seichte antikapitalistische Mär von der liebevollen Arbeiterfamilie, die sich gegen ein korruptes, den Sport nicht ehrendes System durchsetzt, zum Manifest der Möglichkeit von Kunst innerhalb eines kunstfeindlich-kommerzialisierten Systems. Die Absichtserklärung der Schwestern, mit “Speed Racer“ ähnlich die etablierte Filmgrammatik durchkreuzen zu wollen wie einst der Kubismus in der Malerei, mag man anmaßend finden, aber sie trifft doch den Kern der Sache. Nicht umsonst ist im Grunde das erste, was wir zu sehen bekommen, ein von Speed gebasteltes Daumenkino, das sich zu einer Renn-Fantasie im kindlichen Zeichentrickstil auswächst, und das letzte Rennen beinhaltet eine Anspielung auf die Vorzeit des Kinos in Form der fotographischen Studien Eadweard Muybridges. Solche Referenzen verorten “Speed Racer“ einerseits in einer Tradition filmtechnischer Innovationen und positionieren ihn unbescheiden als den nächsten vergleichbaren Sprung. Andererseits setzt der Film so früh das Erträumen neuer Bilderwelten mit dem Geschwindigkeitsrausch des Autorennens in eins, sodass Speeds unbeirrbarer Glaube an die Würde des Rennsports mindestens ebenso sehr ein Bekenntnis zur Kunst wider die zynische Industrie ist.

Damit ist es ein leichtes, sich ebenfalls in bequemem Zynismus zu wiegen und die Wachowskis als naiv abzustrafen, würde nicht “Speed Racer“ letztlich zugleich den Beleg dazu liefern, dass es doch immer wieder zu Wundern kommt, bei denen absurde Budgets nicht in die Reproduktion von Altbekanntem gesteckt, sondern zum Aufstoßen genuin neuer filmischer Möglichkeiten verwendet werden – eine Woche vor diesem Film startete übrigens “Iron Man“ in den Kinos. Insbesondere das letzte Rennen weist die Wachowskis als große Utopistinnen aus: Sie steigern ihre Mittel bis hin zu Abstraktion, einem Rausch von Farben mit dem Ziel der ekstatischen Selbstüberschreitung des Protagonisten ebenso wie des Publikums. So wie Speed hier durch bloße Geschwindigkeit die filmische Realität selbst um sich herum biegt, glauben die Wachowskis an die Veränderung der Wirklichkeit qua ästhetischer Revolution. Mit einem Wort, “Speed Racer“ ist letztlich ein Plädoyer und eine Versicherung für – so viel Pathos muss sein – den Glauben ans Kino.

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Black Widow (2021)

Man mag sich fragen, wieso ein Film im Jahr 2021 einen abgehalfterten Sowjet-Propaganda-Superhelden, der sich Karl Marx auf die Finger tätowiert hat, als Witzfigur braucht, während auf der anderen Seite des großen Teichs Captain America mit neuem Anstrich immer noch als Symbol von allem, was recht ist, gelten darf. Oder sich wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit hier die USA als freiheitlicher Sehnsuchtsort die Figurenpsychologie prägt, weil es dort Baseball, Familie und “American Pie” gibt (den Song, nicht den Pie), wie hier also in einem schließlich von europäischen Standorten dominierten Film amerikanische kulturelle Hegemonie zelebriert wird. The End of History, etcetera, etcetera. Aber dazu müsste man dem Film mehr Kohärenz und Interesse an diesen ollen Kalter-Kriegs-Kamellen unterstellen, als er selbst beansprucht. Vordergründig geht es ihm natürlich eher um die Formulierung ein paar seicht-feministischer Thesen: dass Frauen jetzt endlich dieselben langweiligen Rollen ausfüllen (und dieselben langweiligen Filme drehen) dürfen wie ihre männlichen Kollegen, und dass, immerhin, Mädchenhandel schlecht ist und der freie Wille nicht gebrochen werden darf von den bösen Russen. Girl Power, etcetera, etcetera.

Dementsprechend wird auch der male gaze wenigstens oberflächlich gemieden: Black Widows Outfits sind gemütlicher, ihre Kampfanzüge funktionaler als sie es vor über zehn Jahren gewesen sein mögen, nie taxiert Cate Shortlands Kamera lüstern ihren latexüberzogenen Körper - womit freilich zugleich auch das letzte bisschen Sex aus dem notorisch lustbefreiten Marvel-Universum ausgetrieben wäre. Nichtsdestotrotz ist es angemessen, diese Bemühungen positiv hervorzuheben bei einem Film, bei dem ästhetisch sonst so wenig zu holen ist: farblich regiert das altbekannte öde Marvel-Grau, das höchstens mal von ein paar pflichtbewusst-sowjetischen Rottönen durchbrochen wird; keine Actionszene, die umhin käme, trotz der beachtlichen Mittel Disneys jede einzelne Bewegung durch Schnitte zu fragmentieren; selbst die visuellen Effekte sehen zum Teil erschreckend billig aus - fast, als wäre dieser Film eher fürs Streaming produziert worden. All das wäre vielleicht noch zu verschmerzen, wenn die schleppenden Dialoge dazwischen mit ihren abgewetzt-gefühlsheuchlerischen Konflikten weniger stümperhaft wären. Dass thematisch und erzählerisch vom Disney-Konzern keine Durchbrüche zu erwarten sind, versteht sich mittlerweile wohl von selbst. Dass die erfolgreichsten Filme der Welt aber auch handwerklich nur mit einem “Passt schon” durchgewunken zu werden scheinen, weil die Zuschauer für Marvel-Film Nr. 24 ebenso garantiert sind wie für die nächste Folge “Loki”, ist dann doch nichts weniger als eine künstlerische Bankrotterklärung.

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